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Kapitel 1
ОглавлениеDie Schmerzen waren unerträglich. Nie hätte er geglaubt, dass so etwas überhaupt möglich war. Wie konnte sein Körper diese Belastung ertragen? Wieso war er noch am Leben? Wie durch eine dicke Schicht von Watte hörte er die Stimmen von Menschen die durcheinander schrien. Ihre Worte konnte er nicht verstehen. Grelles Licht drang durch seine Augenlider und fremde Hände tasteten über seine Haut, taten etwas das er nicht einordnen konnte. Es war ihm egal. Diese Schmerzen. Die Welt schien sich immer mehr vor ihm zurückzuziehen; ihn zu verstoßen. Die Geräusche wurden leiser und das Licht dunkler. Nur die Schmerzen blieben. Füllten sein Universum vollständig aus. Er fragte sich, wann er den Verstand verlieren würde. Dann versank auch dieser letzte Gedanke in einem Meer aus Qual. Jonathan hörte auf zu existieren; wenigstens in der Welt, in der er bisher gelebt hatte. Es gab noch einen anderen Ort. Einen Ort von dem so viele träumten und an den er nie geglaubt hatte.
Jonathan? Jonathan wo bist du? Was ist passiert? Hatte sie die Worte wirklich gesagt oder geschah das nur in ihrem Kopf? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie im Wagen gesessen hatte; auf dem Beifahrersitz. Sie fuhr nicht gerne. Wenn Jonathan am Steuer saß fühlte sie sich einfach sicherer. Sie hatte nicht auf die Straße geachtet; hatte einfach aus dem Fenster gestarrt ohne wirklich etwas zu sehen. Sie hatten nicht geredet. Klar. Sie waren beide unheimlich müde gewesen nach der langen Fahrt; ungefähr noch eine Stunde von zu Hause. Dann war plötzlich etwas mit der Landschaft hinter dem Fenster geschehen, das nicht zu stimmen schien. Es dauerte erstaunlich lange bis Jonathans verzweifeltes Brüllen und das Quietschen der Reifen bis zu ihr vordrangen. Als sie den Kopf herum riss und durch die Windschutzscheibe sah schien die Straße rasend schnell auf sie zuzukommen. Von unten? Ein fürchterliches Krachen und Schaben hämmerte auf ihre Ohren ein. Der Gurt hielt sie fest, aber dennoch schlug ihr Kopf mehrmals heftig gegen etwas hartes, das sich kalt anfühlte. Dann spürte sie etwas an ihrer Brust. Es tat weh; aber nicht besonders. Das Atmen fiel ihr plötzlich schwerer und von der Stelle aus an der das Ding ihre Brust berührte breitete sich Wärme aus. Sie versuchte nach unten zu sehen, konnte den Kopf aber nur ein kleines Stück bewegen, bevor ein stechender Schmerz, der von überall zugleich zu kommen schien die Bewegung stoppte. Trotzdem konnte sie sehen, dass sich eine Metallstrebe oder was auch immer es war durch das Armaturenbrett des Wagens gebohrt hatte; und wahrscheinlich auch durch ihre Brust. Sie hustete gequält, schluckte das Blut das plötzlich ihren Mund füllte und hustete erneut. Jonathan! Hilf mir doch. Warum lässt du mich hier alleine? Die Wärme die sich von ihrer Brust aus ausgebreitet hatte wich einer … beinahe ekelhaften Kälte. Wenn sie sich nur hätte bewegen können, aber ihre Muskeln gehorchten ihr noch immer nicht. Müdigkeit kroch langsam aus einer dunklen Ecke ihres Verstandes hervor wie klebriger Sirup, in dem ihre Gedanken nicht mehr richtig vorankamen. Langsam aber unaufhaltsam breitete sich die Schläfrigkeit aus und verdrängte schließlich sogar den Schmerz. Eine tiefe Ruhe, wie sie sie lange nicht mehr erlebt hatte erfasste sie und überzeugte sie davon, dass alles gut werden würde. Seltsam, dass Jonathan nicht hier war. Sie versuchte sich darauf zu konzentrieren eine Antwort auf die Frage zu finden warum er verschwunden war, aber es gelang ihr nicht. Sie schlief ein und erwachte nicht mehr.
… junges Paar heute Abend bei einem Verkehrsunfall getötet. Jonathan und Linda Ross erlagen beide noch am Unfallort ihren schweren Verletzungen. Die Ursache für den Unfall ist noch ungeklärt, aber die Behörden gehen davon aus, dass Jonathan Ross die Kontrolle über das Fahrzeug verloren hat, als er versucht hat einer Kollision mit einem Tier zu entgehen. Nun zu …
Jonathan öffnete die Augen und blinzelte als ihn das grelle Licht blendete das von allen Seite zu kommen schien. Also habe ich doch überlebt. Gestorben war er nur in seiner eigenen Fantasie. Eine Gehirnerschütterung. Oder Sauerstoffmangel. Irgend so etwas musste dafür verantwortlich sein. Aber die Schmerzen. Natürlich hatte er Schmerzen gehabt. Verdammt; er hatte immerhin einen Autounfall überlebt. Das so etwas wehtat war nichts ungewöhnliches. Er drehte den Kopf. Nichts. Die Schmerzen waren verschwunden. Er hob einen Arm. Wieder nichts. Seltsam. Sehen konnte er immer noch nichts. Außer dieses verfluchte grelle Licht. Wo war er überhaupt? Der Gedanke an einen Operationssaal schoss ihm durch den Kopf. Zeigten sie das nicht immer in diesen Serien? Blendend helle Lampen über blitzsauberen Operationstischen auf denen immer jemand lag, der beinahe schon tot war. War er auch so ein lebender Toter – vom Ende nur durch einen Drogencocktail und ein paar Maschinen getrennt? Bewegte er sich wirklich oder lag er im Delirium und bildete sich alles nur ein? Nun; er würde es auf keinen Fall herausfinden, wenn er weiterhin hier lag und fruchtlose Gedanken wälzte. Mit einem Ruck setzte er sich auf und wappnete sich innerlich gegen den Schmerz, der nicht kam. Er saß aufrecht; dessen war er sich relativ sicher. Sonst geschah nichts außergewöhnliches. Er sah sich um; blinzelte. Licht. Nichts als Licht. Steh auf! Es kam nicht oft vor, dass er sich selbst gegenüber diesen herrischen Ton anschlug, aber jetzt schien es notwendig zu sein, damit er nicht in Lethargie versank oder den Verstand verlor. Es war gar nicht so einfach die Beine aus einem Bett zu schwingen das man nicht sah. Wenn es überhaupt ein Bett war auf dem er lag. Es war leidlich weich also fiel ihm kaum etwas ein was es sonst sein mochte. Da war auch tatsächlich eine Kante. Seine Beine schwebten über einem Abgrund, der tausende Meter tief sein mochte. Plötzlich hatte er ein Bild vor Augen in dem er sich auf dem Gipfel eines Berges befand. Wenn er seinen sicheren Platz verließ würde er abstürzen. Rasend schnell bildeten sich Schweißperlen auf seiner Stirn. Du darfst dich nicht verrückt machen lassen. Ohne weiter zu zögern vollendete er die Bewegung und stellte die Beine... auf etwas hartem ab. Der Boden; woraus auch immer er bestehen mochte. Das Material war glatt und fühlte sich kühl an. Jonathan atmete tief durch, spannte die Muskeln und stand auf. Es gelang. Für einen Moment schwankte er unsicher und hätte sich beinahe wieder setzen müssen, aber er schaffte es. So musste es jemandem ergehen der plötzlich erblindete. Aber er war nicht blind. Oder doch? War das vielleicht eine seltsame Form von Blindheit von der er einfach noch nichts gehört hatte? Jonathan schloss die Augen. Das Licht drang nur noch stark gedämpft durch seine Lider. Als er die Augen wieder öffnete strahlte es hell wie zuvor. Er konnte also sehen. Zumindest den Unterschied zwischen hell und dunkel. Vielleicht gab es hier, wo immer dieses hier auch war, einfach nichts anderes zu sehen. Was für ein Ort soll das sein? Und wo war Linda? Sie hatte im Auto neben ihm gesessen. Ging es ihr gut, oder war sie... Mit voller Wucht fegte eine Welle aus Angst und Nervosität über ihn hinweg. Die Fesseln die die seltsame Situation seinem Geist auferlegt hatte zerrissen bei dem Gedanken an seine Frau. Er breitete die Arme aus, drehte sich hektisch im Kreis und tappte ziellos herum; suchte nach etwas das er berühren konnte; nach etwas Realem. Aber hier gab es nichts außer diesem kühlen, glatten Boden und dem Bett auf dem er gelegen hatte. Das musste die Hölle sein. Oder etwas ganz ähnliches. Jonathan ließ die Arme sinken und blieb schwer atmend stehen. „Linda!“ schrie er so laut er konnte. Seine Stimme wurde von keinem einzigen Hindernis zurückgeworfen und verklang einfach im Nirgendwo. Es gab keinen Nachhall, kein Echo. Er hatte schwach und kraftlos geklungen. Kein Schrei; eher ein heiseres Krächzen. Wenn sie noch nebeneinander im Wagen saßen und er sich alles andere zusammen fantasierte dann würde sie ihn hören; wenigstens wenn sie nicht bewusstlos war. Oder... daran wollte er gar nicht denken. Wenn er aber tatsächlich irgendwo anders war - in einem Krankenhaus zum Beispiel – dann war sie wahrscheinlich zu weit entfernt. Jonathan drehte sich erneut um die eigene Achse. Ein seltsames Krankenhaus musste das sein. Vielleicht war er doch in einem Irrenhaus gelandet; hatte den Tod seiner Frau nicht verkraftet und war ausgerastet. Er wäre nicht der Erste gewesen. Aber selbst in einem verdammten Irrenhaus hatten die Räume Wände. Das hier schien nicht einmal ein richtiger Raum zu sein. „Linda!“ schrie er noch einmal so laut er konnte, aber wieder wurde seine Stimme einfach verschluckt als wäre er von dichter Watte umgeben. Jonathan spürte den starken Impuls sich einfach auf den Boden zu setzen und darauf zu warten, dass etwas geschah. Dass jemand kam, um sich um ihn zu kümmern. Nur mit äußerster Mühe konnte er der Versuchung widerstehen. Wenn er nachgab würde er vielleicht nie mehr aufstehen. Ohne zu wissen wohin stolperte er weiter, die Arme vor sich ausgestreckt wie ein Blinder, der keine Ahnung hatte welche Hindernisse sich ihm in den Weg stellen würden.
Jonathan blieb keuchend stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn... besser gesagt wollte er es. Sein Handrücken berührte trockene Haut, die sich wie Pergament anfühlte. Vielleicht lag es daran, dass er seit Stunden nichts mehr getrunken hatte; vielleicht auch länger. Oder... Idiot schalt er sich. Immer noch spukte der Gedanke, dass er bei dem Unfall gestorben war in seinem Kopf herum. Dabei wusste er doch genau, dass Tote nicht mehr nachdachten. Wenn kein Strom mehr durch die Nervenzellen floss, dann erlitt ein Mensch das selbe Schicksal wie ein Computer dem man den Stecker zog. Das war seine Überzeugung seit er denken konnte. Nun ja. Vielleicht auch erst seit ein wenig später. Der Gedanke an ein Leben nach dem Tod war für ihn genauso lächerlich, wie der an einen fliegenden Elefanten. Er legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Nach wenigen Augenblicken schloss er gequält die Augen. Überall nur dieses verdammte Licht. Was hätte er nicht alles für ein Wenig undurchdringliche Dunkelheit gegeben; oder auch nur für einen einfachen Schatten. Wenn er nur nicht mehr diese grauenvolle Wüste aus Licht durchqueren musste in der etwas schreckliches lauerte. Irgendwo; verborgen und unsichtbar. Das spürte er nun ganz deutlich. Immer mehr verlor er sich in einer absurden Gedankenwelt. Obwohl er sich dessen bewußt war, konnte er nichts dagegen tun. Jonathan senkte den Kopf und taumelte weiter. Hier konnte es nicht überall so aussehen. Irgendwo musste ein Ausgang sein; oder etwas ähnliches. Er hoffte nur, dass er sich nicht ständig im Kreis bewegte. Hatte er nicht irgendwo gelesen, dass Wanderer die sich verirrten, oft aufhörten sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren, dadurch schließlich alle Orientierungspunkte übersahen und sich aus einem Grund, den er nicht mehr wusste ohne es zu wollen im Kreis bewegten? Hier gab es keine Orientierungspunkte, auf die er achten konnte, also woher zum Teufel sollte er wissen, ob er vielleicht genau am dem Punkt an dem er sich gerade befand schon gewesen war? Er konnte nur sicher gehen wenn er stehen blieb. Aber was dann? Die Bewegung war das einzige das ihm half seinen Verstand zu bewahren. Er taumelte weiter. Und immer weiter.
Jonathan rieb sich die Augen, presste die Lider fest zusammen und öffnete sie wieder. Es war immer noch da. Wenn ihm die eigene Fantasie keinen Streich spielte dann war da etwas, dessen Umrisse sich zusehendes aus der monotonen Helligkeit schälten während er näher und näher kam. Irgendwie sah es aus wie ein... Berg. Ja. Zerklüftete Felsen die so hoch aufragten, dass sich die Gipfel seinen Blicken entzogen. Wo bin ich hier nur gelandet? Jonathan schüttelte leicht den Kopf. Nichts um ihn herum schien irgend einen Sinn zu ergeben. So etwas konnte es – durfte es einfach nicht geben. Er kannte keinen Ort, an dem es unentwegt gleißend hell war. Dann war da noch der Boden sich anfühlte wie fugenlose Fliesen. Welcher Raum war so groß, dass man ohne mit irgendetwas zusammenzustoßen laufen konnte, bis man einfach nicht mehr konnte? Nein. Entweder war er bereits verrückt geworden und sprang sabbernd in einer Gummizelle umher während er sich das alles hier einbildete, oder aber er befand sich nicht mehr in der Welt in die er hineingeboren worden war. Jonathan runzelte die Stirn. Beide Möglichkeiten schienen ihm nicht sonderlich einladend zu sein, wobei die Erste noch weniger erschrecken war, als die andere. Um sich abzulenken konzentrierte er sich wieder auf den Berg, dem er sich auch während seiner Überlegungen stetig genähert hatte. Er war jetzt nah genug, um zu erkennen wie gewaltig dieses Felsengebilde wirklich war. Vor ihm ragte ein richtiges Bergmassiv auf; mindestens 3000 Meter hoch und wenigstens fünf Kilometer lang. Es sah aus als hätte jemand ein Stück aus einem Gebirge geschnitten und es hierher versetzt. Aber wie? Wozu? Hier schien niemand außer ihm zu sein, und das jemand das alles hier nur wegen ihm inszenierte erschien ihm ziemlich unwahrscheinlich. Es war nichts besonderes an ihm das diesen Aufwand rechtfertigte. Also musste etwas anderes dahinter stecken. Vielleicht war es völlig normal, dass diese ewige Ebene an irgend einer Stelle von einem Berg unterbrochen wurde. Normal nach den Maßstäben die hier galten. Wo auch immer dieses Hier eigentlich war. In deinem Kopf. Jonathan wurde langsamer als er den Fuß des Gebirges erreichte. Er legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Der Fels schien beinahe senkrecht über ihm aufzuragen. Irgendwo weit oben verschwand er in einer Art von leuchtendem Nebel. Was sollte er tun? Versuchen die Wand nach oben zu klettern um zu sehen was hinter diesem Nebel war? Den Berg nicht weiter beachten und weiter ziellos über die Ebene wandern, die wenn er Pech hatte tatsächlich unendlich war? Oder einfach die Tatsache akzeptieren, dass er den Verstand verloren hatte und sich einfach hinsetzen und darauf warten, dass jemand kam und ihn in eine Zelle brachte? Natürlich nicht ohne ihm vorher eine Spritze mit einem Mittel zu verpassen, das sich von einer Droge nur durch den Beipackzettel unterschied. Unschlüssig drehte er sich einmal im Kreis während sich in seinen Beinen ein seltsames Ziehen auszubreiten begann das von seiner zunehmenden Nervosität zeugte. Er musste etwas tun. Und zwar schnell. Bevor der animalische Teil seiner Persönlichkeit, der in jedem Menschen schlummerte – bei manchen weniger gut verborgen als bei anderen, die Kontrolle übernahm und ihn zu einer völlig irrationalen Handlung zwang die schlimme Konsequenzen für ihn haben mochte. Unwillkürlich musste er grinsen, als er sich fragte was denn angesichts der Umstände in denen er sich befand eine rationale Handlung sein mochte, die keine Gefahr bedeutete. Die verfügbaren Auswahlmöglichkeiten, die diese Bedingungen erfüllten erschöpften sich höchstwahrscheinlich darin, sich hinzusetzen und einfach gar nichts zu tun. Dieses Verhalten mochte das Risiko auf die Gefahr zu verhungern eingrenzen. Jonathans Grinsen verschwand schnell als ihm bewusst wurde, dass er sich tatsächlich bald mit diesem simplen Problem auseinandersetzen würde müssen. Wo sollte er hier etwas zu essen herbekommen; oder auch einfach nur Wasser? Er würde lange vor dem Zeitpunkt verdurstet sein an dem der Hunger unerträglich wurde. Es ist eigentlich scheißegal was du tust. Also kannst du auch gleich auf den Berg klettern. Jonathan war noch nicht bereit den Pessimismus seiner inneren Stimme zu teilen, aber er musste ihr doch in einem Punkt recht geben. So absurd es auch klingen mochte so konnte der Versuch den seltsamen Berg zu besteigen die einzig sinnvolle seiner begrenzten Möglichkeiten sein. Vielleicht konnte er von dort oben aus etwas sehen das ihm vom Boden aus verborgen blieb. Vielleicht war dort oben auch irgend etwas... hör auf nachzudenken und tu es. Auch diesmal musste er seinem Unterbewusstsein das sich vehement Gehör verschaffte beipflichten. Er konnte weiter über die eintönige Ebene wandern bis ihn die Kräfte verließen und er schließlich zusammenbrach und verendete wie ein waidwundes Tier, oder er konnte sich einer Herausforderung stellen, diesen Felshaufen besteigen und von oben auf dieses... Nichts herabsehen. Wenn er dabei starb, dann wenigstens mit der Gewissheit irgend etwas getan zu haben. Jonathan näherte sich einem Stück der beinahe senkrecht aufragenden Felswand, das ihm als einstieg geeignet schien und legte den Kopf in den Nacken. Sein Blick kletterte die Wand empor bis ihm ein heftiges Schwindelgefühl die Konzentration raubte. Er schloss die Augen, und ballte die Hände zu Fäusten. Er hatte immer schon Probleme mit großen Höhen gehabt. Deshalb war er auch nur ein oder zwei mal klettern gewesen. An einer Kletterwand während der Schulzeit. Er schluckte trocken. Es war absolut lächerlich zu glauben, dass er die Wand die vor ihm aufragte empor klettern konnte. Er hatte schon Schwierigkeiten mit einem Baum; wie sollte er da einen verdammten Berg bezwingen? Wozu? Jonathan öffnete die Augen, ging ganz nahe an den Fels heran und presste die Handflächen gegen den kühlen Stein. Unnachgiebig und unverrückbar. Den Berg kümmerte es nicht, dass ein Mensch an seinem Fuß stand und überlegte an ihm empor zu klettern. Jonathan tastete prüfend nach einem Vorsprung knapp über seinem Kopf und versuchte sich daran nach oben zu ziehen. Es war erstaunlich schwierig. Wie sollte er so jemals den Gipfel erreichen, der unendlich weit entfernt zu sein schien. Zum Teufel, er konnte ihn nicht einmal sehen. Da oben war nur Nebel. Wenn er Glück hatte rutschte er bereits in wenigen Metern Höhe ab und brach sich vielleicht ein paar Knochen. Wenn das Schicksal ihn weiter oben ereilte würde er sterben. Warum kletterst du überhaupt auf diese verdammte Wand? Was erwartest du dir davon? Jonathan wusste darauf keine Antwort. Der einzige Grund der ihm einfiel war der, dass er den Anblick der leeren Ebene aus der er gekommen war nicht mehr ertragen konnte. Die Aussicht in dieser leuchtenden Hölle zu verrotten erschien im schlimmer als ein schneller Tod nach einem Sturz. Er holte tief Atem und tastete nach dem nächsten Halt. Keuchend zog er sich weiter empor. Bereits jetzt bildeten sich die ersten Schweißtropfen auf seiner Stirn. Das hier würde eine Zeit lang dauern.
Jonathan hielt zitternd inne. Vorsichtig sah er nach unten und wandte sich sofort wieder ab, als er sah wie weit er bereits gekommen war. Er hatte die Grenze der einfachen Knochenbrüche längst hinter sich gelassen und war ins Reich des Todes vorgedrungen. Außerdem war es sehr schnell kälter geworden je höher er gekommen war. Viel schneller als er es sich jemals vorgestellt hatte. Er war sich ziemlich sicher, dass das nicht normal war. Aber was bedeutete das schon an einem Ort an dem überhaupt nichts normal war. Jonathan presste sich dicht an den Fels und klammerte sich mit den Händen an den trügerischen Halt. Er fühlte sich so ausgelaugt wie schon lange nicht mehr. Seine Muskeln brannten wie Feuer und das Atmen fiel ihm zusehends schwer. Dabei hatte er noch nicht einmal ein Viertel der Strecke geschafft. Er würde hier erfrieren oder einfach abstürzen sobald ihn die Kräfte endgültig verließen. Die Panik die eigentlich auf diesen Gedanken hätte folgen müssen blieb aus. Anscheinend hatte er bereits resigniert und mit seinem Leben abgeschlossen. Ihm blieb nicht viel Zeit wenn er überleben wollte. Bald würde er wegen der zunehmenden Schwäche das Interesse an Allem verlieren und sich einfach fallen lassen. Mühsam hob er den Kopf und sah nach oben. Dann löste er die rechte Hand von der Wand und griff nach dem schmalen Vorsprung. Seine Finger rutschten ab und beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren. Er fing sich, atmete tief durch und versuchte es noch einmal. Er streckte sich so weit er konnte und bekam die Kante zu fassen. Jetzt konnte er die andere Hand von der Wand lösen und auch damit nach dem Vorsprung greifen. Ächzend zog er sich ein Stück weit hoch und versuchte mit den Füßen irgend einen Halt zu finden während sein gesamtes Gewicht auf seinen Armen lastete. Seine Finger begannen erneut von der Kante abzurutschen an der er sich festhielt. Seine Füße schabten noch immer über den Fels ohne einen sicheren Tritt zu finden, auf dem sie stehen konnten. In Jonathans Magen begann sich ein flaues Gefühl auszubreiten. Vielleicht ein Vorbote der Todesangst die unweigerlich folgen musste schoss es ihm unvermittelt durch den Kopf. Sein linker Fuß blieb an etwas hängen. Eine kleine Spalte im Fels. Gerade genug um den Schuh hinein zu zwängen. Endlich konnte er etwas von seinem Körpergewicht auf sein Bein verlagern. Jetzt fand auch sein rechter Fuß Halt. Zischend entwich die verbrauchte Luft zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er die ganze Zeit den Atem angehalten hatte. Jonathan spürte neue Energie in seinem Inneren, die aus einer Quelle kam von der er bisher nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab. Er würde doch noch ein wenig länger leben. Plötzlich begann der Fels unter seinen Fingern zu bröckeln wie weiche Kreide. Hastig streckte er sich um etwas anderes zu fassen zu bekommen. Seine Hände tasteten über den unnachgiebigen Stein, der ihm keinen Halt mehr geben wollte. Er spürte wie der Sog der Tiefe immer stärker zu werden begann und sich sein Schwerpunkt immer weiter nach hinten verlagerte. Trotz der Kälte rann Schweiß in seine Augen und nahm ihm die Sicht. Seine Finger wurden zu Krallen, die panisch über den Fels kratzten. Ein Fingernagel blieb irgendwo hängen und wurde mit einem Ruck abgerissen. Greller Schmerz zuckte durch den Arm in Jonathans Gehirn und ließ eine kleine Explosion aufflammen. Für einen Moment verlor er völlig die Kontrolle über seinen Körper. Ein paar Muskeln spannten sich während andere ihre Aufgabe vernachlässigten und sich dehnten. Er kippte nach hinten und fiel. Er fragte sich, ob er es bis nach unten schaffen, oder vorher gegen die Wand prallen würde. Die Frage wird sich sehr bald auf dramatische Weise selbst beantworten dachte er. Er versuchte die Augen zu schließen, aber es gelang ihm nicht. Irgend etwas an der Welt die um ihn herum zu kreisen schien fesselte ihn und ließ ihn nicht auch nur für einen winzigen Moment wegsehen. Einmal sah der Boden der rasend schnell näher kam, dann die Felswand und schließlich den Himmel, oder den strahlenden Nebel hinter dem sich der Himmel befinden mochte. Jonathan biss die Zähne zusammen und machte sich bereit für den Aufprall der unweigerlich kommen musste; so gut man sich eben auf auf den Knochen zerschmetternden Zusammenprall mit etwas unnachgiebigem vorbereiten konnte. Plötzlich hörte er die Stimme seines Vaters. „Nimm es wie ein Mann Junge“. Unwillkürlich musste er grinsen. Sein Vater war ein so sturer Bock, dass er ihm durchaus zugetraut hätte ihm seine weisen Ratschläge auch unter die Nase zu reiben während er dem sicheren Tod entgegen stürzte. Das Grinsen verschwand von seinem Gesicht, als wieder einmal der Boden in sein Blickfeld rückte. Er war noch näher gekommen. Jonathan wunderte sich ohnehin, dass der Sturz so lange dauerte. Entgegen all der Geschichten die sich um den nahenden Tod drehten war nicht sein ganzes Leben an ihm vorbeigezogen, aber es wäre sich problemlos in der Zeit die vergangen zu sein schien ausgegangen. Wenigstens eine Zusammenfassung der wichtigsten Stationen. Verging die Zeit langsamer als sonst, oder... Wohlige Dunkelheit umfing ihn und riss ihn mit sich fort.
Jonathan erwachte und war für einige Augenblicke völlig orientierungslos. „Was...“ murmelte er und setzte sich ruckartig auf. Unbewusst tastete er seinen Körper nach Verletzungen ab, konnte aber keine entdecken. Er hatte keine Schmerzen. Überhaupt keine. Dann fiel ihm der Berg ein und er drehte hastig den Kopf hin und her. Das gesamte Bergmassiv war verschwunden. Dafür saß neben ihm ein dicklicher Mann mit schütterem Haar auf dem Boden und sah ihn mit einem traurigen Blick an. So ähnlich hatte ein Kollege einmal ein Reh angesehen, dass er angefahren hatte, als er und Jonathan nach einem Geschäftsessen nach Hause gefahren waren. Ray hatte Jonathan angeboten ihn mitzunehmen, obwohl sie beide ziemlich voll gewesen waren. Dieser Blick gefiel Jonathan ganz und gar nicht. „Wieso starren sie mich so an? Und wie kommen sie überhaupt hier her?“ Der Andere seufzte als hätte er es mit einem besonders uneinsichtigen Kind zu tun und rückte ein Stück von Jonathan ab. „Ich bin nicht hierher gekommen. Das warst du. Ich bin die ganze Zeit hier und warte auf Leute wie dich.“ Jonathan kniff die Augen zusammen und sah den fetten Kerl in der – was war das; ja es schien tatsächlich eine weiße Toga zu sein – weißen Toga durchdringend an. „Was soll das heißen?“ fragte er mit unverhohlener Ungeduld. Der Dicke schien es nicht zu bemerken, denn er ließ sich viel Zeit mit seiner Antwort. Vielleicht wusste er auch nicht was er sagen sollte. Als die Stille unerträglich wurde und Jonathan sich bereit machte aufzustehen und den seltsamen Kerl zu ignorieren begann der plötzlich doch noch zu sprechen. Jonathan ließ sich zurück sinken und hörte zu. Der Dicke war der erste Mensch den er seit... seit dem Unfall zu Gesicht bekam und er wollte sich die Gelegenheit etwas über diesen seltsamen Ort zu erfahren nicht entgehen lassen. „Ich warte hier weil die, die hierher kommen es ohne meine Hilfe nicht hinter diese Tür schaffen.“ Er schnippte beiläufig mit den Fingern und aus dem Nichts erschien eine hohe dunkelgrüne Tür mit einem schmiedeeisernen Knauf. „Ihr könntet alle nur immer und immer wieder auf diese verdammten Berge klettern und euch dabei den Hals brechen, wenn es mich nicht gäbe.“ Jonathan spürte, dass ihn irgend etwas an der Tür magisch anzog. Er stand auf und ging langsam darauf zu, ohne sich auch nur einmal umzusehen. Einem Teil von ihm entging nicht, dass auch der fette Kerl aufgestanden war und ihm folgte. Jonathan war es egal. Im Moment gab es kaum etwas das ihn interessierte Bis auf diese verdammte Tür, die ihn magisch anzog. Einen Augenblick lang fühlte er sich wie eine Marionette, die an unsichtbaren Fäden tanzte wann immer ein unsichtbarer Puppenspieler das wollte. Jonathan blieb dicht vor der Tür stehen und streckte vorsichtig die Hand nach dem Knauf aus; bereit jederzeit zurück zu zucken falls... ja was eigentlich? Falls die Tür ihn angreifen sollte? Beinahe hätte er laut aufgelacht. Er musste aufhören hinter jedem Gegenstand mehr zu vermuten als tatsächlich dahinter steckte, bevor er begann sich vor seinem eigenen Schatten zu fürchten. Er legte die Hand auf den Knauf und drehte. Nichts geschah. Er drückte und zog so fest er konnte, aber auch damit erreichte er rein gar nichts. Weder der Knauf noch die Tür ließen sich von seinen Versuchen beeindrucken. Er hätte genau so gut versuchen können eine massive Wand zu verschieben. Jonathan versuchte es noch ein paar mal und gab schließlich keuchend auf. Resignierend wandte er sich ab und sah den fetten Kerl an, der ihm mit einem beinahe widerlich verständnisvollen Blick zusah. Jonathan fletschte verärgert die Zähne wie ein ausgehungertes Raubtier. „Was?“ fragte er zischend. Der Dicke hob beschwichtigend die Hand. „Ich habe dir doch gesagt, dass du mich brauchst um hinter diese Tür zu gelangen“ sagte er mit tadelndem Unterton. Er redet mit dir wie mit einem störrischen Kind. Jonathan wollte auffahren, aber er beherrschte sich. Vielleicht brauchte er diesen seltsamen Mann tatsächlich, wenn er diesen Ort verlassen wollte. Um wohin zu gelangen? An einen anderen Ort, der noch viel verrückter war als dieser hier? Oder führte diese Tür hinaus aus... seinem Traum? … seinem Wahn? … in die Realität? Ganz egal was davon zutraf; hier konnte er nicht bleiben. „Dann hilf mir“ sagte er so ruhig er konnte und machte eine auffordernde Geste. Der Dicke faltete die Hände als wollte er beten und richtete den Blick nach oben als gäbe es dort etwas Interessantes zu sehen. „Na endlich hast du verstanden“ sagte er mit gespielter Erleichterung. „Aber so einfach ist das nicht. Weißt du, der Berg ist da um die, die ankommen zu prüfen. Nur wer Mut beweist darf durch diese Tür gehen. Ich würde sagen, dass du diese Prüfung bestanden hast.“ Der fette Kerl grinste breit. „Aber es gibt noch etwas, das du tun musst“. Von einem Moment auf den anderen veränderte sich der Gesichtsausdruck des Dicken. Er wirkte plötzlich gar nicht mehr wie ein Vater, der sich um sein Kind sorgte. Seine Gesichtszüge strafften sich und alles weiche verschwand. Auch die sanften Augen des Mannes glitzerten nun wie Eis im Sonnenlicht. „Du musst die Dunkelheit sehen“ sagte er mit seltsam hohler Stimme. Das Licht verschwand als hätte es jemand einfach abgeschaltet. Jonathan hatte für einen Augenblick das Gefühl zu fallen bevor er wieder festen Boden unter den Füßen spürte. Er konnte nichts sehen. Er hob den Arm und wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. Er fühlte die aufgewühlte Luft die über sein Gesicht strich aber er sah die Hand nicht. „Du musst die Dunkelheit sehen“ hatte der Mann gesagt. Nun, hier war sie. Ihm fiel etwas ein, was ihm sein Großvater einmal erzählt hatte. Dass man die Größe eines Raumes in völliger Dunkelheit ungefähr abschätzen konnte, wenn man ein lautes Geräusch machte und auf das Echo wartete. Ein Versuch konnte kaum schaden, wenn... Jonathan zuckte zusammen und lauschte angestrengt. Was wenn sich hier irgend etwas verbarg das ihm gefährlich werden konnte? Was wenn es nur darauf wartete dass er seinen Standort verriet, damit es ihn angreifen konnte? Oder war es darauf gar nicht angewiesen, weil es im Dunkeln genauso gut sehen konnte wie er im hellen Sonnenlicht? Er wusste nicht wie er auf den Gedanken kam, dass da überhaupt etwas war. Die Vorstellung erschien ihm kindisch und schmeckte nach einfacher Angst im Dunkeln, aber sie ließ ihn trotzdem nicht los. Je mehr er versuchte den Gedanken zu verdrängen, desto aufmerksamer lauschte er auf ein verdächtiges Geräusch das ihm verriet, dass er hier nicht alleine mit dem seltsamen Kerl in der Toga war. Als er tatsächlich etwas hörte stockte ihm der Atem und sein Herzschlag schien einige Takte auszusetzen. Da war ein Pochen. Ein seltsames, gleichmäßiges Pochen das näher zu kommen schien. Es klang wie etwas Hartes das in regelmäßigen Abständen auf dem Boden abgesetzt wurde. So als würde jemand einen Gehstock benutzen, den er bei jedem Schritt besonders hart aufsetzte. Oder... Reiß dich zusammen verdammt! Du bist kein kleiner Junge mehr. Er durfte sich nicht seiner Phantasie ergeben, die ihm ein ganzes Sammelsurium an schrecklichen Bildern vorgaukelte; alles war er jemals gelesen oder in Filmen gesehen hatte vermengte sich zu einem Kabinett des Grauens. Jonathan ballte die Hände zu Fäusten und atmete tief durch. Er hatte schon lange nicht mehr so viel Zeit in absoluter Dunkelheit verbringen müssen. Erstaunlich wie schnell die vergessenen Ängste der Kindheit unter den vielen Schichten der Erfahrung eines Erwachsenenlebens hervorbrachen wenn sich die äußeren Umstände ausreichend stark änderten. Das Pochen verschwand trotz dieses klaren Gedankens nicht sondern kam immer noch näher. Nicht mehr lange und der Ursprung des Geräusches würde direkt neben ihm angelangt sein. Was immer es auch war; bei seinem momentanen Glück war nicht anzunehmen, dass es etwas Gutes sein würde. Aber was konnte er schon dagegen tun? Er war völlig orientierungslos und lief bei jedem Schritt Gefahr sich zu verletzen oder Schlimmeres. Jonathan versuchte das Zittern das mittlerweile auch schon auf seine Zähne übergriff, die leise klapperten, in den Griff zu bekommen, aber er scheiterte kläglich. Die Angst hatte sich längst zu einem eiskalten Klumpen zusammengeballt, der seinen Magen vollständig auszufüllen schien. Ein letztes Mal hörte er das Pochen, ganz nahe jetzt, dann herrschte Stille. Jonathan lauschte angestrengt. Nein; es war nicht völlig still. Jemand oder etwas atmete zu seiner Linken. So nahe, dass Jonathan den Unbekannten oder was sonst hier herum strich berühren würde wenn er den Arm um eine Winzigkeit bewegte. Einen Moment lang konnte er den Impuls der ihn zwingen wollte in Panik zu fliehen zurückdrängen. Für einen kurzen Moment. Er biss sich auf die Lippen um nicht lauthals los zu schreien und rannte so schnell er nur konnte. Dass er sich den Schädel an einem Hindernis einrennen mochte interessierte ihn nicht mehr. Alles war besser als neben einem Wesen zu stehen, das man nicht sehen konnte und von dem man nicht wusste was es war. Es war die Erfüllung eines jeden kindlichen Alptraums. Jonathan wusste, dass es keine Monster gab; wenigstens sagte ihm das sein erwachsener Verstand der über einen langen Zeitraum darauf getrimmt worden war solche Möglichkeiten von vornherein auszuschließen; und dennoch rannte er wie von Furien gehetzt. Er verhielt sich genau wie ein verängstigtes Kind das vor den Auswüchsen der eigenen Fantasie davonlief. Fehlt nur noch, dass du dir in die Hosen pisst. Der zynische Part seiner inneren Stimme schien sich nicht von Unsichtbaren einschüchtern zu lassen und jagte immer noch seltsame Gedanken durch seinen Kopf wann immer sich eine Gelegenheit bot. Jonathan ignorierte die Stimme. Er war viel zu sehr damit beschäftigt ein Bein vor das andere zu setzen; eine Aufgabe die zunehmend schwerer wurde. Seine Muskeln brannten und er hatte langsam das Gefühl zu ersticken. Er war nie besonders sportlich gewesen und es grenzte schon fast an ein Wunder, dass er überhaupt so lange durchhielt. Was wenn du in Wahrheit im Kreis rennst? Diesmal fiel es Jonathan erheblich schwerer die Stimme zu ignorieren. Verdammt viel schwerer. Woher sollte er wissen wohin er rannte? Er konnte einen verfluchten Dreck sehen. Wenn er nur ganz leicht in irgend eine Richtung zog – vielleicht weil ein Bein um eine Winzigkeit kürzer war als das andere – dann brauchte das was vorher neben ihm aufgetaucht war nur darauf zu warten, dass er den Kreis vollendete. Jonathan wurde etwas langsamer und versuchte zu hören, ob ihm das Pochen, dass er vorhin gehört hatte folgte. Atmete da etwas hinter ihm, oder war das nur sein eigenes Keuchen? Unwillkürlich wandte er den Kopf und versuchte die Dunkelheit mit seinen Blicken zu durchdringen. Es war aussichtslos. Um ihn herum war auch jetzt nur absolute Schwärze. Fast so als wäre er in ein Fass voll schwarzer Tinte gestürzt. Er spürte feuchte Wärme, die über sein linkes Ohr strich. Die letzten Zweifel verschwanden wie weggewischt. Er war hier nicht alleine. Jemand oder etwas stand erneut direkt neben ihm. Noch näher als zuvor. Jonathan rannte erneut los. Sein Herz pochte wie wild und sein Atem raste. Es war ihm vollkommen egal, ob er im Kreis lief oder nicht. Er fühlte sich wie eine Fliege, die dem Netz der Spinne im letzten Moment entkommen war. Irgend etwas sagte ihm, dass er nicht stehen bleiben durfte, was immer auch geschah. Aber wie lange konnte er durchhalten? Wann würde er einfach aufgeben müssen? Panik rollte wie eine Welle heran und brandete gegen die Mauer der Vernunft, die seinen Verstand davor bewahrte in den Abgrund zu rutschen auf dessen Grund nur noch Instinkte herrschten. Als ihn etwas sanft wie eine Feder im Nacken berührte verlor er die Beherrschung und begann zu kreischen. Sein Verfolger bewegte sich völlig lautlos und konnte offenbar mühelos mit ihm Schritt halten. Es hatte keinen Sinn noch weiter davon zu laufen, aber dennoch rannte Jonathan weiter. Er versuchte sogar seine Geschwindigkeit noch zu steigern. Er hatte die Verwandlung vom Menschen, der glaubte seine Umgebung zu jeder Zeit zu beherrschen zur Beute die nicht anders konnte als zu fliehen endgültig vollzogen. Jahrtausende altes längst vergessenes Erbe brach sich seine Bahn und brachte Jonathan dem Tier näher, das auch nach unzähligen Generationen noch irgendwo in ihm war. Sein Kreischen brach ab, als er sich verschluckte und keuchend hustete. Er begann zu taumeln und musste schließlich völlig erschöpft stehen bleiben. Eine seltsame Gleichgültigkeit machte sich in seinen Gedanken breit und verdrängte die Panik. Sein Körper wappnete sich für das Unvermeidliche. Da war es wieder. Das Pochen das langsam näher kam. Und noch näher. Erneut hörte er den gleichmäßigen Atem seines Verfolgers. „Du hast die Dunkelheit gesehen“ sagte eine vertraute Stimme. Jonathan fuhr herum und starrte angestrengt zu der Stelle hin, an der der Sprecher stehen musste. War es tatsächlich der fette Kerl, der ihn irgendwie hierher in die Dunkelheit verfrachtet hatte, oder war es eine Täuschung, die ihn in Sicherheit wiegen sollte? Aber wozu sollte ein Jäger Beute täuschen, die ihm ohnehin nicht entkommen konnte? Vielleicht nur um sie zu verhöhnen. Jonathan unterdrückte den Impuls erneut zu fliehen – nur für den Fall, dass seine Vermutung stimmte und streckte stattdessen den Arm in die Richtung aus, aus der die Stimme gekommen war. Seine Fingerspitzen stießen gegen etwas Warmes, Weiches. Es fühlte sich an wie ein Mensch. Ein übergewichtiger, schwabbeliger Mensch. Es war der Dicke. Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, als es plötzlich hell wurde. Jonathan kniff die Augen zusammen, als sie wegen des gleißend hellen Lichts heftig zu tränen begannen. Erst nach und nach gewöhnte er sich wieder an das Licht und konnte es schließlich wagen die Augen wieder vollends zu öffnen. Vor ihm stand geduldig abwartend der fette Glatzkopf und lächelte ihn freundlich an. „Du hast es geschafft“ sagte der Kerl leichthin und ignorierte den mörderischen Ausdruck im Gesicht seines Gegenübers. „Was geschafft?“ zischte Jonathan. „Was geht hier eigentlich vor? Er trat drohend einen Schritt auf den Dicken zu, der daran aber keinen Anstoß zu nehmen schien und auch kein bisschen eingeschüchtert wirkte. Jonathan spürte wie die Unsicherheit, die er bei dem Anderen hatte hervorrufen wollen nun an ihm selbst zu nagen begann. Er begann sich zu fragen, was sich hinter der harmlosen Fassade des dicklichen Mannes verbergen mochte. An diesem Ort – oder all den verschiedenen Orten die sich innerhalb von was auch immer hintereinander reihten war nichts so wie es schien. Vielleicht war auch alles gar nicht real. Lag er in Wahrheit angeschnallt auf einem Bett, aufgegeben als hoffnungsloser Verrückter und fantasierte? „Was du hier siehst ist nicht Wirklich. Aber auch keine Fantasie. Es ist nichts, was du mit den Worten deiner Sprache ausdrücken könntest.“ Jonathan zuckte zusammen. Konnte der Kerl seine Gedanken lesen? Und was sollte das heißen, seine Sprache. Jonathans Theorie, dass sich alles was er momentan erlebte nur in seiner Fantasie abspielte erhielt dadurch neue Nahrung. Der glatzköpfige Kerl verhielt sich genau so wie man es von einer geheimnisvollen Figur in einem fantastischen Roman erwarten würde. Jonathan spürte wie er langsam ruhiger wurde. Es hatte keinen Sinn sich über Dinge aufzuregen, die gar nicht wirklich passierten. Es war völlig egal was hier mit ihm geschah. Wenn er aufwachte würde ohnehin alles wie weggewischt verschwinden. Und wenn er nicht mehr erwachte... nun, dann würde es auch irgendwann vorbei sein. Zum ersten mal seit – waren es Stunden oder Tage – fühlte er Müdigkeit in sich aufsteigen und gähnte ausgiebig. Seltsam; in einem Traum müde zu werden, den man träumt weil man nicht aufwachen kann. „Du kannst es nicht begreifen, also hör auf dir den Kopf darüber zu zerbrechen“ sagte der Dicke. Er hob abwehrend die Hand als Jonathan etwas erwidern wollte. „Ich habe meine Aufgabe erfüllt. Du kannst durch die Tür gehen.“ Er streckte einen Arm der kaum dünner als der Stamm eines mittleren Baumes war aus und deutete auf die Tür, die plötzlich ein Stück weit offen stand. Jonathan hatte keine Ahnung was sich dahinter befand, aber er setzte sich dennoch in Bewegung. Was hätte er auch sonst tun sollen. Er war froh, wenn er so schnell wie möglich aus der Gesellschaft dieses seltsamen Kerls verschwinden konnte bevor der ihn wieder mit einer unangenehmen Überraschung konfrontierte. Vielleicht traf er hinter der Tür auf einen geistig gesunden Menschen, der ihm sagen konnte was hier vorging und wie man diesen Ort ein für allemal verlassen konnte. Vielleicht war die Tür aber auch nur der Weg, der aus seiner Fantasie hinaus in die Wirklichkeit führte. Bevor er über die Schwelle trat blieb er unsicher stehen und sah noch einmal zurück. Der fette Glatzkopf grinste ihm immer noch mit diesem dümmlichen, irgendwie jovialen Gesichtsausdruck zu. Jonathan wandte sich von ihm ab, machte einen halben Schritt und blieb erneut stehen. Was wenn er tatsächlich erwachte nachdem er die Tür durchschritten hatte? Was wenn ihm das, was in der Realität auf ihn wartete überhaupt nicht gefiel? Für einen winzigen Augenblick dachte er daran hier zu bleiben. In diesem Nichts, in dem es nur ihn und den seltsamen Glatzkopf gab. Eine Umgebung in der kaum irgendwelche Probleme zu erwarten waren. Ewige Monotonie, bis er eines Tages starb. Er verwarf den Gedanken. Wenn er hier blieb würde er den Verstand verlieren und nur noch dahin dämmern. Ein Halb-Leben das gleichbedeutend war mit dem Tod. Über was denkst du da eigentlich nach verdammt? Du hattest einen Autounfall und bist irgendwie in Alices Wunderland geraten. Da stimmt doch etwas nicht. Jonathan wusste, dass die mahnende Stimme recht hatte. Er stolperte ziellos durch eine Welt, die es in dieser Form nicht geben konnte; nicht geben durfte, handelte aber dennoch nach den absurden Regeln die sie ihm aufzwang. Warum er das tat konnte er nicht genau sagen. Er spürte keinen äußeren Zwang, keinen Sog der Ereignisse Trotzdem verhielt er sich wie ein dressiertes Hündchen. Auch jetzt wo er darüber nachdachte verhielt er sich genau so wie es ein unsichtbarer Beobachter, für den er nicht mehr war als ein Versuchstier von ihm erwarten mochte. Er machte einen großen Schritt und trat endgültig durch die Tür.
Jonathan wurde schwarz vor Augen und er spürte wie ihn ein starkes Schwindelgefühl erfasste. Es war nicht das Gefühl des Fallens das er beinahe schon erwartet hatte, sondern ein vager Eindruck davon, wie sich jemand fühlen musste, der einen Schlag gegen den Kopf bekam. Er verlor jedoch nicht das Bewusstsein, sondern verharrte in einem Zustand der irgendwo zwischen Wachsein und Besinnungslosigkeit lag. Wie lange dieses Entlanggleiten am Rande des Bewusstseins dauerte wusste er nicht zu sagen. Sekunden; Stunden; vielleicht sogar Tage. Irgendwann verschwand das Schwindelgefühl so schnell wie es gekommen war und er erhielt sein Augenlicht zurück. Über ihm war der Himmel. Oder zumindest etwas, das den Himmel darstellen sollte. Es sah aus wie ein Kind ihn sich in seinen Träumen vorstellen mochte. Das Blau war von einer unnatürlichen Intensität und der gelbe Ball der Sonne strahlte schwach genug, dass man direkt hinein sehen konnte ohne Gefahr zu laufen, die Augen dadurch zu schädigen. Jonathan drehte sich zur Seite und sah das saftige, beinahe leuchtende Grün von makellosen Grashalmen an deren Spitzen Tautropfen glitzerten. Es fehlten nur noch... zwei riesige Schmetterlinge die zu tanzen schienen wie ein verliebtes Paar schwebten vorbei. Jonathan verkrampfte sich für einen Moment und sah ihnen misstrauisch nach. „Also gut“ murmelte er und dachte intensiv an etwas Anderes. Nichts geschah. Es gab hier also niemanden, der seine Gedanken las und die Dinge nach seinen Vorstellungen erschuf. Diese Erkenntnis beruhigte ihn ein wenig. Das alles hier war nicht seine kindliche Fantasie. Jonathan setzte sich langsam auf und sah sich um. Er sah Bäume. Wiesen. Felder. Alles war makellos, sauber und … unglaublich intensiv. Das Gras der Wiesen war saftig und grün wie in einem Werbeprospekt für Urlaub auf dem Land. Die regelmäßigen Halme wogten sanft in einer warmen, gleichmäßigen Brise. Auf den Feldern stand goldenes Korn. Jonathan fühlte sich direkt in die Welt eines Märchens versetzt, das ihm seine Mutter vor langer Zeit vorgelesen hatte. Fehlte nur noch ein sprechender Baum und was noch so alles in der Geschichte vorgekommen war, an die er sich nicht mehr besonders gut erinnern konnte. Er blinzelte mehrmals und seufzte ergeben, als sich das merkwürdige Bild nicht auflöste um einer realistischeren Umgebung Platz zu machen. Er stand auf und kämpfte gegen das Zittern in seinen Beinen an bis es schließlich nachließ. Unschlüssig was er als nächstes Unternehmen sollte drehte er sich im Kreis und suchte nach irgend einem Punkt in der Landschaft der ein lohnenswertes Ziel abgeben mochte. Er konnte nur auf sein Gefühl hören. Eine andere Möglichkeit zur Orientierung gab es nicht. Als er die langsame Drehung beendet hatte war er überzeugt, nichts gesehen zu haben das auch nur im Geringsten sein Interesse weckte. Als er sich bereits halb entschlossen hatte einfach in irgend eine Richtung loszumarschieren, erschien etwas vor seinem inneren Auge das er flüchtig wahrgenommen haben musste. Er wusste nicht was es war; einfach ein Ding, das nicht in die Landschaft zu passen schien. Jonathan drehte sich noch einmal im Kreis; langsamer als zuvor und suchte nach diesem Ding. Da ist es. Er kniff die Augen zusammen, aber er konnte noch immer nicht erkennen, was er eigentlich anstarrte. Er musste näher heran. Seine Beine setzten sich bereits in Bewegung bevor der Gedanke zu ende gedacht war. Sein ganzer Körper schien sich danach zu sehnen, dass etwas geschah. Egal was. Die monotone, perfekte Landschaft um ihn herum begann bereits an seinen Nerven zu zerren. Ohne, dass er es wollte beschleunigten sich seine Schritte immer weiter, bis er schließlich beinahe rannte. Das Ding auf das er sich zu bewegte zog ihn an wie eine Fata Morgana einen verdurstenden in der Wüste. Er hoffte, dass sich sein Ziel nicht als ebenso flüchtig erwies. Zumindest hielt es sich an die grundlegenden Naturgesetze und wurde langsam größer, während Jonathan näher kam. Die vorher noch verschwommenen Linien ordneten sich zu etwas das für einen Menschen des 21. Jahrhunderts unverkennbar war. Ein Auto. Ein verdammtes Auto. Mitten im Nirgendwo. Jonathan unterdrückte den Impuls sich die Augen zu reiben. Das Ding würde ja doch nicht verschwinden. Zumindest hoffte er das es sich damit verhielt wie mit allem hier. Vielleicht konnte er einfach einsteigen, den Motor starten und den Fuß auf das Gaspedal drücken. Egal wohin er fuhr; nur die Bewegung zählte, wo der Stillstand unerträglich war. Jonathan spürte wie sich sein Herzschlag beschleunigte und eine gewisse Nervosität von ihm Besitz ergriff. Zum ersten Mal seitdem er aufgewacht war stieß er auf etwas das einen Hauch von Normalität in diese seltsame Umgebung brachte. Ein Gegenstand der für ihn so normal war, dass er ihn unter anderen Umständen keines zweiten Blickes gewürdigt hätte erschien ihm plötzlich wie ein kleines Wunder. Und dieses Wunder stand nun direkt vor ihm, nur noch wenige Schritte entfernt. Die Kraft wich aus seinen Beinen als würde sie von einem gierigen Vampir heraus gesaugt. Er blieb stehen. Während er in Gedanken gewesen war hatte er nur am Rand seiner Wahrnehmung bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Erst jetzt erkannte er was es war. Dieses Auto würde niemals mehr irgendwohin fahren. Weder mit ihm noch ohne ihn. Das Ding war ein Wrack. „Totalschaden Mann. Vergiss es!“ hätte Garry in der Werkstatt gesagt, in der Jonathan seinen eigenen Wagen reparieren ließ wenn es mal wieder sein musste, weil das verdammte Ding wie so oft nicht anspringen wollte. Garry hätte sich schaudernd abgewandt, sich bekreuzigt und „Gott hab sie selig“ gemurmelt. Garry liebte die Autos, über die er redete wie über Frauen, mehr als die Menschen. Jonathan konnte sich nicht abwenden. Das Wrack zog ihn in seinen … ihren? Bann. Mit äußerster Mühe gelang es ihm ein unwilliges Bein vor das andere zu setzen. Ein Schritt. Und noch einer. War das Blut? Auf der gesplitterten Scheibe die schief in der vorderen Tür der Beifahrerseite hing klebte etwas, das wie eingetrocknetes Blut aussah. Hör auf dich selbst zu belügen. Du weißt verdammt gut, dass das Blut ist. Jonathan blinzelte nervös. Seine Augen fühlten sich trocken an. Er ließ seinen Blick an dem verbogenen Blech entlang gleiten. Er begann heftig zu zittern als das Erkennen wie ein greller Lichtblitz durch sein gelähmtes Gehirn fuhr. Er kannte diesen Wagen. Das Modell; die Farbe. Er selbst hatte genau so einen gefahren. Ganz genau so einen. Er kniff die Augen zusammen. Suchte nach etwas. Und da war es. Ein Kratzer in Form eines U, genau unter dem Türgriff. Die Stelle an der Linda... Jonathan hielt den Atem an. Das war doch unmöglich. Das war sein eigener verdammter Wagen. Der Unfall... war das was da vor ihm stand das Ergebnis? Was wenn er die Hand ausstreckte und die Tür öffnete? Würde er sich selbst hinter dem Steuer sehen? Das leere, blicklose Gesicht eines Toten, verklebt mit getrocknetem Blut? Würde sie auf dem Beifahrersitz sein? Mit verrenkten Gliedern und gebrochenen Augen? Ohne es zu wollen streckte er den Arm aus. Seine Finger näherten sich dem Griff, der als eines der wenigen Dinge heil geblieben zu sein schien. „Komm schon. Lass mich nicht länger warten“ schien das kalte Glänzen zu sagen. Jonathan konnte der Verlockung nicht widerstehen. Seine Neugierde war stärker als seine Angst vor dem was er sehen würde. Seine Finger schlossen sich um den Griff zu zogen daran. Die verzogene Tür leistete widerstand öffnete sich aber dennoch mit einem schnarrenden Geräusch als er seine Bemühungen verstärkte. Jonathan stolperte rückwärts und starrte mit leicht geöffnetem Mund in das Innere des Wagens. In seinem Gesicht zuckte es, als wäre unter seiner Haut etwas lebendig geworden, das nicht unter seiner Kontrolle stand. Der Beifahrersitz war leer. Auf dem Armaturenbrett klebte Blut. Aber auf dem Fahrersitz saß jemand. Reglos, nach vorne gebeugt, beinahe über dem Lenkrad hängend, wie jemand der einfach nur eingeschlafen war. Jonathan konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen, aber er wusste trotzdem wer er war; hatte es bereits einen Augenblick nach dem er die Tür geöffnet hatte gewusst. Am Steuer des zerstörten Wagens saß er selbst. Das war sein eigener Wagen den er gelenkt hatte bevor … vor was? … bevor er an diesen seltsamen Ort katapultiert worden war. Alles in ihm schrie danach die Tür zuzuschlagen und so schnell er konnte davon zu rennen, aber er konnte sich nicht bewegen. Wie ein hypnotisiertes Kaninchen starrte er sich unverwandt selbst an während sich die Gedanken in seinem Kopf jagten. Die Ausgabe seiner Selbst auf dem Fahrersitz trug die selbe Kleidung wie er. Über die Wange des Jonathans im Wagen verlief eine dünne bereits getrocknete Blutspur und irgend etwas das er nicht genau erkennen konnte schien sich in den Unterleib des Anderen … das bist du selbst Mann ... gebohrt zu haben. Jonathan versuchte die Hand auszustrecken, aber auf seinem Arm schien ein tonnenschweres Gewicht zu lasten. Er konnte sich einfach nicht selbst berühren. Der … du bist tot. Das siehst du doch. Es stimmte. Der Mann in dem Wagen sah nicht sonderlich lebendig aus. Aus seinem Gesicht war jede Farbe gewichen und er bewegte sich kein bisschen. Tot. Jonathan bekam das Wort nicht aus seinem Kopf. Es hatte einen seltsamen Klang. Er hatte einen Unfall gehabt und war gestorben. Und jetzt stand er hier vor seinem Wagen und starrte seinen eigenen Leichnam an. War es das was man als außerkörperliche Erfahrung bezeichnete? Das wovon die klinisch toten, die das Glück hatten wieder zu erwachen berichteten? Und wenn das dort drinnen wirklich er selbst war, wo war dann Linda? Vor allem wenn das ihr Blut ist sagte eine makabere Stimme in seinem Kopf. Er musste sie suchen. Es gab ohnehin nichts anderes was er tun konnte. Auch wenn das alles vollkommen absurd war, so musste er doch irgend etwas tun. Vielleicht hörte der Schrecken dann auf. Oder er begann genau dann, wenn er sie fand.
Jonathan lief im Kreis. In ständig größer werdenden Kreisen besser gesagt. Vom Wrack des Wagens aus hatte er begonnen die Gegend so systematisch abzusuchen wie es ihm ohne jegliche Orientierungspunkte möglich war. Auch hier hinter der Tür gab es jede Menge … Nichts. Genau wie auf der anderen Seite. Der Unterschied bestand darin, dass hier kein Nebel war. Ob das wirklich eine Verbesserung war getraute Jonathan sich nicht zu sagen. Vorher hatte er wenigstens nicht genau gesehen woran er war. Ohne den Nebel begrenzte nur die schärfe seiner Augen seine Möglichkeiten der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Da war nur der Wagen, im Moment irgendwo links von ihm und sonst nichts. Linda konnte er nur dann übersehen wenn sie weit genug von ihm entfernt flach auf dem Boden lag. Deshalb die Kreise. Jonathan gab sich keinen Illusionen hin. Diese Suche konnte er im besten Fall einige wenige Tage aufrecht halten bevor ihn die Kräfte verließen und er einfach zusammen brach. Egal wohin er schaute, da war Nichts zwischen ihm und dem Horizont das groß genug war, als dass er es auf die Entfernung hätte erkennen können. Er hatte keine Ahnung wie weit dieser Horizont entfernt war, aber die Strecke war sicher lang genug, um ihn vor unlösbare Probleme zu stellen, wenn er sie zu Fuß zurücklegen wollte; ohne Wasser und Nahrung. Wenn Linda weit genug entfernt war, konnte er hier im Kreis laufen bis er verdurstete oder einen Schlaganfall erlitt, ohne ihr jemals auch nur nahe zu kommen. Er kniff die Augen zusammen, als sich Tränen der Wut in seinen Augenwinkeln sammelten. Das Blut pochte in seinen Ohren; ihm wurde unsäglich heiß und er verspürte den Drang sich das Hemd vom Leib zu reißen, um sich abzukühlen. Womit hatte er es verdient, dass er hier gelandet war? Wer war dafür verantwortlich und warum zeigte er sich nicht endlich? Was konnte jemand davon haben ihn im Nirgendwo auszusetzen und ihn dann seinem Schicksal zu überlassen? Warum hatte er ihn nicht einfach umgebracht? Ganz abgesehen davon, dass du vielleicht bereits tot bist. Das wäre eindeutig schneller gegangen. „Was soll das?“ schrie er mit sich überschlagender Stimme. Etwas von seiner Wut strömte ebenfalls aus ihm heraus und er wurde wieder ruhiger; genug um nicht auszurasten und etwas Unüberlegtes zu tun, das ihn auch nicht weiterbringen würde. Nein. Er musste nach ihr suchen bis ihn die Kräfte verließen. Auch wenn er sie nicht fand hatte er es wenigstens versucht.
Jonathan blieb stehen als wäre er gegen eine Mauer gerannt, als plötzlich jemand, den er nicht sehen konnte lauthals lachte. Er drehte sich einmal um die eigene Achse und stierte mit tief in den Höhlen liegenden Augen in die Leere, die ihn immer noch umgab. Seine Kräfte ließen besorgniserregend schnell nach. Seiner Schätzung nach, hatte er sich bei seiner Kreisbewegung erst gute zwei Kilometer vom Wrack des Wagens entfernt, spürte aber schon jetzt, dass er nicht sehr viel weiter kommen würde. Und nun verspottete ihn auch noch ein verdammter Unsichtbarer, der ihn bereits wer weiß wie lange beobachtete. Das Lachen wurde leiser und verklang. Jonathan versuchte sich einzureden, dass sein Verstand langsam an den Strapazen zugrunde ging und er sich das Lachen nur eingebildet hatte. Er seufzte schwach und setzte seinen Marsch fort. Nachdem er nur einen einzigen Schritt zurückgelegt hatte wurde er erneut lauthals ausgelacht. Das Geräusch schien von überall zugleich zu kommen. Bedeutete das, dass der Unsichtbare an mehreren Orten zugleich aufhielt? Oder waren es mehrere verborgene Gestalten, die sich über seine Qualen amüsierten? Jonathan blieb stehen, streckte die Arme aus und schrie seine Wut heraus. „Was verdammt nochmal wollt ihr von mir? Könnt ihr mich nicht einfach zufrieden lassen?“ Das Lachen wurde zu einem dröhnenden Donnern das wie Brandung über ihn zusammenschlug. Jonathan unterdrückte den Impuls die Hände gegen die Ohren zu pressen. Er stand einfach nur da, mit ausgebreiteten Armen und ließ es über sich ergehen. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis es endlich wieder still war. Eine Stille die Jonathan bis vor Kurzem noch zuwider gewesen war in ihrer Allgegenwärtigkeit. Jetzt war sie ihm willkommen wie eine alte Bekannte. Wenn da nicht dieses verdammte Singen in den Ohren wäre. Jonathan verzichtete darauf weiter zu gehen. Er wartete, dass irgend etwas geschah. Es würde sich wohl kaum jemand die Mühe machen ihn zu beobachten nur um ein paar Mal wie ein Irrer zu lachen und sonst nichts weiter zu unternehmen. Die Möglichkeit, dass an diesem Ort immer jemand seine Heiterkeit weithin hörbar ausdrückte schloss er von vornherein aus. Seine ausgebreiteten Arme kamen ihm mit einem Mal lächerlich vor. Wie sollte er jemanden herausfordern, den er nicht sehen konnte; von dem er nicht einmal wusste, ob er tatsächlich existierte. Plötzlich löste sich Ebene um ihn herum in kleine Bruchstücke auf, die von einem Strudel aus Finsternis davon gerissen wurden. Das Licht verschwand mit der Ebene. Nur undurchdringliche Schwärze blieb zurück. Zumindest für eine gewisse Zeit. Dann loderten nicht weit von ihm entfernt Flammen auf. Etwas brannte. Jonathan konnte die Umrisse auf die Entfernung nur vage erkennen, aber dennoch wusste er sofort was er da vor sich hatte. Es war der Wagen. Sein Wagen. Eine Version davon, in der Linda möglicherweise eingeklemmt war. Der Wagen in dem vielleicht auch wieder er selbst saß; mit durchbohrter Brust. Jonathan handelte ohne weiter nachzudenken. Er rannte auf das brennende Fahrzeug zu. Als er näher kam sah er, dass die Flammen nur aus dem Motorraum schlugen. Außerdem wurde das Feuer langsam schwächer. Warum brennt nicht längst das ganze Ding? Jonathan ignorierte den Gedanken. Darüber konnte er sich später Gedanken machen. Er rannte noch schneller. Sein Herz hämmerte wie wild in seiner Brust und sein Atem ging nur noch stoßweise. Aber er konnte nicht stehen bleiben. Er musste sie sehen; sie aus dem Wrack zerren und sie von hier wegbringen. Der Beifahrersitz war leer. Etwa, weil er ihr in der Realität geholfen … Unsinn! Unterbrach ihn sein eigener wütender Gedanke. Wie konnte er ihr geholfen haben, wenn er doch selbst im Wagen saß und starb; oder bereits tot war. War sie ausgestiegen und hatte ihn einfach zurückgelassen? Kann sein. Hätte sie deine Leiche durch die Ebene schleppen sollen? Nachdem sie dich von dem Spieß befreit hat, der dich durchbohrt hat? Jonathan wusste, dass das tatsächlich eine Möglichkeit war. Dennoch fühlte er bei dem Gedanken, dass sie einfach gegangen sein mochte einen Stich in seiner Brust. Er hatte immer vorausgesetzt, dass sie nie von seiner Seite weichen würde; auch wenn das absolut keinen Sinn ergab. Erst jetzt überwand er seine innere Abwehr und richtete seinen Blick auf den Fahrersitz, den er bisher völlig aus seiner Wahrnehmung verbannt hatte. Der Sitz war nicht leer wie er eigentlich gehofft hatte. Dort saß er selbst; nach vorne gebeugt als würde er sich an das Lenkrad gelehnt ausruhen. Etwas in ihm wollte um den Wagen herum gehen und näher heran gehen; sehen, was seine Brust durchbohrt hatte; ob er bereits tot war, oder ob noch ein Rest von Leben in ihm war. Ein anderer weitaus vernünftigerer Teil riet ihm dazu einfach wegzusehen. Dieser Teil gewann schließlich die Oberhand. Beinahe erleichtert löste er den Blick von sich selbst und trat er einen Schritt zurück. Er begann nach Spuren zu suchen, die ihm etwas darüber verrieten ob Linda den Wagen aus eigener Kraft verlassen hatte und wohin sie, oder die die sie geholt hatten, sich gewandt haben mochten. Diese dunklen Flecken...Er beugte sich ein Stück hinab und nahm das was er sofort für Blut hielt näher in Augenschein. Sein Verdacht bestätigte sich. Es war Blut. Nicht viel, aber doch deutlich auf dem trockenen Boden zu erkennen. Außerdem waren da Spuren. Jonathan ging langsam rückwärts und verglich die Abdrücke dabei miteinander. Sie unterschieden sich zum Teil voneinander. Sie sahen alle völlig normal aus, waren aber unterschiedlich groß und tief. Es gab relativ kleine Abdrücke, die von jemandem stammen mussten der nicht besonders schwer war, eine Frau oder ein Kind und es gab zwei unterschiedliche Spuren, die sich aus größeren, tieferen Abdrücken zusammensetzten. Alle entfernten sich in der gleichen Richtung vom Wagen, wobei die kleineren Schuhe den Boden erst in einiger Entfernung von dem zerstörten Fahrzeug berührt hatten. Eine Schleifspur führte zu diesem Punkt. Vor Jonathans innerem Auge lief ein Film ab, der zeigte was vorgefallen sein mochte. Seine Frau hing besinnungslos in ihrem Gurt. Blut rann aus einer übel aussehenden Wunde an ihrem Bein herab. Zwei kräftige Gestalten näherten sich dem Wagen, verschwommen erkennbar durch die gesplitterte Seitenscheibe neben Lindas Kopf. Einer von ihnen riss die Tür auf, die zuerst Widerstand leistete, dann aber mit einem gequälten metallischen Kreischen nachgab. Er beugte sich in den Wagen, öffnete das Gurtschloss und zog Linda mit einer Leichtigkeit aus dem Sitz als wäre sie kaum schwerer als eine Puppe aus Plastik. Er schleifte sie ein Stück weit vom Wrack weg, bis auch der zweite Mann zugriff. An dieser Stelle hörten die Bilder plötzlich auf; als hätte der Vorführer in Jonathans Kopf die Filmrolle aus dem Projektor genommen ohne eine neue einzulegen. So konnte es gewesen sein. Du musst nur den Spuren folgen. Natürlich. Das war das schließlich alles was er hatte. Für einen Moment flackerten die Fragen in seinen Gedanken auf, wie der Wagen hierher gekommen war; wo hier überhaupt war und wer seine Frau aus dem Wrack gezerrt hatte; und wieso. Auf keine einzige davon wusste er eine Antwort und das beunruhigte ihn nicht annähernd so sehr wie es normal gewesen wäre. Es war zu absurd. Irgendetwas musste bei dem Unfall mit ihm passiert sein. Was er hier sah, musste einfach seiner Fantasie entspringen. Nichtsdestotrotz musste er einen Weg heraus finden; einen Weg, der ihn in die Realität zurückbrachte. Vielleicht versuchte Linda ihm die Richtung zu zeigen und sein Verstand machte daraus eine wilde Entführungsgeschichte. Diese Variante erschien ihm genaugenommen noch als die wahrscheinlichste. Die Möglichkeit, dass der Wagen wirklich hier auf einer leeren Ebene stand, die wer weiß wo sein mochte konnte er wohl getrost abhaken. Immer wieder seitdem er aufgewacht war versuchte er sich einzureden, dass er in seiner eigenen Fantasie gefangen war; nicht in einer fremden, völlig absurden Welt. Er war schließlich kein Kind mehr, das an Märchen glaubte. Nein. Er musste einfach nur nach seiner Frau suchen, den Brotkrumen folgen, die sie irgendwie für ihn auslegte. Dann würde alles gut werden. Einen Moment lang wartete er darauf, dass eine innere Stimme ihn von einem anderen Weg überzeugen wollte, ihm einredete, dass auch das Blödsinn war, aber in seinem Kopf blieb es still. Die Augen starr auf den Boden gerichtet wie ein Hund, der eine Fährte verfolgte bewegte er sich von einem getrockneten Tropfen Blut zum nächsten und von einem Fußabdruck zum anderen.
Jonathan blieb stehen, als er eine Veränderung in der ewig gleichen Landschaft bemerkte. Ungefähr einen halben Kilometer vor ihm – insofern sich die Entfernung ohne weitere Bezugspunkte abschätzen ließ – schien der Boden in einem ziemlich großen Gebiet dunkler zu werden, beinahe Schwarz. War das überhaupt noch feste Erde, oder gab es dort vorne vielleicht Wasser? Einen See? Oder gar eine Küste? Jonathan kniff die Augen zusammen und versuchte genauer zu erkennen worauf er sich zubewegte, aber es gelang ihm nicht. In dieser Einöde schien alles nahtlos ineinander überzugehen; sich zu einem nicht genau erkennbaren Brei zu vermengen. Egal. Geh einfach weiter, dann wirst du schon noch früh genug sehen was es ist. Jonathan nahm seine Fährtensuche wieder auf und hoffte, dass die Spur ihn genau dorthin führen würde, wo es … irgendetwas gab, für das sich der Aufwand lohnte. Wenn es Wasser war – kein Salzwasser – dann konnte er endlich trinken und danach länger durchhalten, als er ursprünglich angenommen hatte. Vielleicht würde er sie dann doch noch finden. Vielleicht war sie auch irgendwo dort vorne. Er spürte wie neue Energie durch seinen Körper pulsierte, wenn auch nur schwach. Dennoch bewahrte ihn dieser dunkle Flecken davor die Hoffnung endgültig zu verlieren und nur noch auf den Tod zu warten. Was wenn er nicht kommt? Jonathan runzelte für einen Moment die Stirn und schob den Gedanken dann so schnell er konnte von sich, ohne eine Antwort auf die Frage zu kennen. Es brachte nichts, wenn er sich über Absurditäten den Kopf zerbrach. Einfach einen Fuß vor den anderen setzen und dabei mit brennenden Augen auf den Boden starren. Mehr musste er nicht tun. Schon nach einigen Minuten fiel er wieder in diese seltsame Trance, die ihn nicht merken ließ wie weit er ging, wie sehr der Durst bereits in seiner Kehle brannte und wie der ziehende Schmerz in seinen Muskeln immer stärker wurde. In seiner Welt existierten nur noch die Spuren im harten Boden und der vage Gedanke an etwas Wertvolles, das er unter allen Umständen finden musste. Er war der Realität so weit entrückt, dass er beinahe zu spät wahrgenommen hätte worauf er zusteuerte. Der dunkle Bereich war kein See; es war überhaupt kein Gewässer. Die dunkle Färbung, die er aus der Entfernung wahrgenommen hatte rührte auch nicht davon her, dass der Boden eine anderen Beschaffenheit aufwies. Er hörte einfach auf. Jonathan blieb dicht vor einem gewaltigen Abgrund stehen und bemühte sich die letzten Schleier der Trance zu zerreißen, die ihn daran hindern wollten klar zu denken. Er rieb sich die Augen und warf noch einen Blick auf die Spuren, die dicht vor dem Abgrund aufhörten, als wären die, denen er folgte einfach weitergegangen und abgestürzt. Dann trat er ebenfalls noch einen Schritt nach vorne. Und noch einen. Bis dicht an die Kante. Als er sich leicht nach vorne beugte um hinunter zu sehen wurde das Schwindelgefühl übermächtig und er wich hastig ein Stück zurück. Diese … Spalte war nicht einfach nur tief. Sie war verdammt tief. Und irgendwo dort unten schimmerte es rot wie im Krater eines aktiven Vulkans. Was zum Teufel... Nach einem seltsamen Berg, der so gar nicht in die Landschaft zu passen schien stand er nun vor dem passenden Gegenstück dazu. Ein Abgrund mitten in einer Ebene, der sicher zwei- vielleicht dreitausend Meter tief war. Etwas, das es eigentlich nur auf dem Meeresgrund gab. Aber langsam gewöhnte er sich an die Überraschungen, die dieser Ort bereithielt. Jonathan sah sich lange aufmerksam um. Die andere Seite des Spalts, dort wo sich die Landschaft eintönig wie in jeder anderen Richtung auch fortsetzte war ungefähr zweihundert Meter entfernt. Jeden Gedanken daran den Spalt zu überqueren konnte er also getrost abschreiben. Wenn er auf die andere Seite wollte, dann musste er das Gebilde schon umrunden, was angesichts der schieren Größe einen gewaltigen Umweg bedeutete. Außerdem hörten die Spuren, denen er wer weiß wie lange gefolgt war hier auf. Wozu sollte er also den Spalt umrunden? Auf der anderen Seite gab es sowieso nichts das ihn interessierte. Nein. Er musste hinunter. Den gleichen Weg nehmen, den auch seine Frau genommen hatte. Jonathan tastete sich erneut bis direkt zur Kante des Abgrunds nach vorne und sah vorsichtig nach unten. Da musste irgendwo... Ja. Da war es. Eine Möglichkeit zum Abstieg. So etwas wie eine besonders steile natürliche Treppe, die in die Tiefe führte. Wenigstens nahm er das an. Er konnte schließlich kaum mehr als zehn Meter der Treppe erkennen, bevor sie im Abgrund verschwand. Es gab kaum einen Unterschied zu einer senkrechten Wand. Normalerweise würde niemand ohne entsprechende Ausrüstung diesen Abstieg wagen – es sei denn er wäre ein Freikletterer oder ein Verrückter, was genaugenommen das selbe war, aber hier war nichts normal. Jonathan hatte nichts bei sich als das war am Leib trug und davon eignete sich nicht ein einziges Stück für Gebirgsexpeditionen. Trotzdem musste er dort hinunter. Die andere Möglichkeit war hier oben zu verdursten. Jonathan drehte sich um, schluckte trocken und tastete mit dem rechten Fuß nach dem ersten Stufenabsatz. Er musste rückwärts absteigen um nicht sofort abzustürzen. Er war kein Bergsteiger; schon gar keine erfahrener. Sein Fuß traf auf Widerstand, der wie ein kurzer Versuch zeigte sein Gewicht tragen konnte. Also stellte er auch den linken Fuß auf dem Vorsprung ab. Seine Finger krallten sich in die Kante hinter der der feste Boden der Ebene begann. Es fiel ihm unglaublich schwer loszulassen um nach einem tiefer liegenden Halt zu greifen. Trotz allem was er durchgemacht hatte gewann die Furcht vor dem Tod in der Tiefe schnell die Oberhand über seine Gedanken und Gefühle. Im Moment wollte er einfach nur so schnell wie möglich wieder nach oben klettern um sich irgendwo zu verkriechen. Die Hand die er eben erst mit äußerster Willenskraft von der Kante gelöst hatte griff beinahe ohne sein Zutun wieder danach. Er kämpfte dagegen an und stoppte die Bewegung. Eine Ewigkeit stand er zitternd da, dicht an den Fels gepresst und versuchte die Angst zu überwinden, oder sie wenigstens zu ignorieren. Schließlich gewann er den Kampf und tastete mit der Hand nach unten. Nach einigen quälend langen Sekunden in denen sein Entschluss weiterzumachen erneut zu schwanken begann fand er endlich Halt. Wenn er in diesem Tempo weitermachte würde er noch während des Abstiegs verdursten und musste sich keine Sorgen mehr machen bei einem Absturz ums Leben zu kommen. Was würde wirklich passieren wenn du fällst fragte eine provozierende Stimme in seinem Kopf. „Keine Ahnung“ murmelte er. Es gab nur eine Möglichkeit die Antwort herauszufinden und die würde er garantiert nicht wählen. Sein rechter Fuß baumelte über dem Nichts und suchte nach der nächsten Stufe. Bereits jetzt stand Schweiß auf seiner Stirn. Es war viel weniger als sonst, wenn er unter extremem Stress stand. Sein Körper war anscheinend schon ziemlich dehydriert. In einer Welle überfiel ihn beinahe schmerzhafter Durst, der gleich darauf wieder verschwand. Er war es nicht gewohnt unter irgend einem Mangel zu leiden. Verdammt er war Amerikaner und kein Beduine, der sich sein ganzes Leben mit Entbehrungen herumschlagen musste. Das hier ist aber nicht Amerika. Jonathan kniff wütend die Augen zusammen. „Ach halt doch die Klappe“ knurrte er. Er setze das linke Bein nach und löste die rechte Hand von ihrem Halt. Weiter hinab.
Unter Jonathans linkem Fuß brach das hervorstehende Stück Fels ab, auf das er sein Gewicht verlagert hatte. Das verdächtige Knirschen war ihm nicht entgangen, aber seine Reaktion kam dennoch zu spät. Es gelang ihm nicht mehr mit dem anderen Fuß sicheren Halt zu finden, bevor der Fels brach. Seine Finger verkrampften sich, als ein Damm in ihm brach und die Panik jeden vernünftigen Gedanken fortspülte. Der Selbsterhaltungstrieb übernahm die Kontrolle und verlieh ihm Kräfte, von denen er nicht gewusst hatte, dass er sie besaß. Nur an den Fingerspitzen hing er über dem Abgrund, der immer noch unendlich tief zu sein schien. Lange würde er sich nicht mehr halten können. Er rutschte Millimeter für Millimeter ab. Seine Füße schabten über den Fels als er strampelte wie ein Käfer der auf dem Rücken lag. Er war damit auch ungefähr so erfolgreich wie einer dieser Käfer. Außer dass noch mehr Gestein zerbröselte und in den Abgrund rieselte erreichte er nichts. Nur mit Mühe gelang es ihm sich so weit zu beherrschen, dass er mit den Füßen systematisch nach einem Vorsprung suchte, der zumindest einen Teil seines Gewichts tragen konnte. Er musste die Finger so schnell wie möglich entlasten; noch eine Minute und er würde abrutschen und hilflos aus der Wand fallen. Von seinen Fingern aus begann brennender Schmerz sich über seine Hände zu den Armen vor zu arbeiten. Auch seine Schultern und eine Anzahl von Muskeln, deren Namen er nicht kannte sandten elektrische und chemische Hilferufe durch seinen Körper. Wie es wohl sein würde in die Leere zu stürzen, zu fallen und schließlich mit Knochen zerschmetternder Wucht irgendwo dort unten aufzuprallen? Jonathan neigte den Kopf so gut er konnte und sah an seinen hilflos baumelnden Beinen vorbei in die Tiefe. Das Schwindelgefühl mit dem er gerechnet hatte blieb aus. Stattdessen schien von dem Abgrund plötzlich eine unerwartete Verlockung auszugehen. Es war fast als würde ihn etwas rufen, das ihm einreden wollte wie gut es doch wäre einfach loszulassen. Er ertappte sich dabei, dass er einen Moment lang tatsächlich versucht war der Verlockung nachzugeben und aufzuhören, sich an diese schmerzhafte Existenz zu klammern. Sofort zwang er sich dazu, sich auf die vermeintlich einfache Aufgabe zu konzentrieren wieder Halt zu finden. Alles andere war jetzt unwichtig. Er sah wieder nach oben und erkannte, dass ihn nur noch seine Fingerkuppen davor bewahrten abzustürzen. Sie waren es, die sein ganzes Gewicht trugen. Hätte er ein ähnliches Kunststück auf einer Klimmzugstange versucht – er hätte schon lange aufgegeben. Welchen Unterschied doch die kreatürliche Angst machte. „Ein kleines Stück nach rechts mit dem rechten Fuß. Und ein kleines Stück nach unten.“ Jonathan stockte der Atem. Beinahe hätte er vor Schreck den schmalen Felsvorsprung losgelassen als er die Stimme irgendwo über ihm hörte. Wie konnte hier plötzlich jemand aufgetaucht sein, der mit ihm redete? Zum Teufel er hing in einer beinahe senkrechten Wand über einem unheimlich tiefen Abgrund und kämpfte um sein Leben und plötzlich sollte da jemand über ihm sein, der genügend Atem übrig hatte um mit ruhiger Stimme Ratschläge zu geben? Irgendwie rechnete er plötzlich damit, dass ihm einer dieser berühmten Bergsteiger zuwinken würde, locker in der Wand hängend als handelte es sich um eine einfache Kletterpartie, wenn er den Kopf hob. Als er wirklich nach oben sah erlitt er den zweiten Schock, der seine Finger erneut um einen Millimeter abrutschen ließ. Über ihm, nur knapp zwei Meter von ihm entfernt hing der fette Kerl in einem Seil dessen Ursprung Jonathan nicht sehen konnte und lächelte ihm freundlich zu. Mit einer seiner großen Hände deutete er auf eine Stellte irgendwo rechts von Jonathan. Wahrscheinlich findest du dort tatsächlich Halt. Natürlich. Wenn der fette Kerl ihn hätte umbringen wollen, dann hätte er einfach nur zu warten und zuzusehen brauchen, wie Jonathan schließlich abstürzte. Was hätte er davon ihm einen falschen Ratschlag zu geben, der die Geschehnisse wenn überhaupt nur unwesentlich beschleunigte? Jonathan folgte der Geste des fetten Kerls und tastete mit dem Fuß nach dem Vorsprung der dort sein mochte oder auch nicht. Was hatte er schon zu verlieren? In wenigen Augenblicken würde er zum ersten Mal in seinem Leben erfahren, was freier Fall wirklich bedeutete; und zugleich auch zum letzten Mal, wenn kein Wunder geschah. Jonathan schloss die Augen und streckte sich so weit er konnte. Und tatsächlich; da war etwas an dem sein Fuß Halt fand. Genug jedenfalls um seine schmerzenden Finger zu entlasten und endlich wieder tief durch zu atmen. Gleichzeitig mit dem Sauerstoff fluteten neue Kräfte durch seine Adern, die sie seine verkrampften Muskeln lockerten und ihm den Willen durchzuhalten zurückgaben, den er schon verloren geglaubt hatte. „Toll“ rief der fette Kerl mit fröhlicher Stimme und klatschte in die Hände. Jonathan verzichtete darauf nach oben zu sehen und ignorierte den seltsamen Fremden. Er musste weiter nach unten. Stück für Stück schob er sich weiter, immer wieder vorsichtig tastend, nach den Schwierigkeiten, die er gerade überstanden hatte in dem Bewusstsein, dass der Fels dieser Wand auch brüchig sein konnte. Gleichzeitig schwor er sich mit jedem Meter den er mühsam zurücklegte, nie wieder auf irgend etwas zu klettern das höher war als eine Leiter. Plötzlich fiel ein Schatten über ihn. Erstaunt sah er, dass der fette Kerl direkt neben ihm in der Luft schwebte, ohne sich irgendwo festzuhalten. Der Typ kann fliegen. „Das hat jetzt lange genug gedauert, findest du nicht auch? So war das nicht vorgesehen.“ Bevor Jonathan verstand was er damit meinte bewegten sich die großen Hände des Kerls, griffen nach seinen Fingern und lösten sie mit einem Ruck vom Fels. Für einen kurzen Moment gelang es Jonathan das Gleichgewicht zu halten. Dann kippte er wie ein Brett nach hinten und fiel. Er ruderte mit den Armen, überschlug sich und hörte mit zunehmender Panik, wie die Luft immer schneller an seinen Ohren vorbei rauschte. Wie lange würde es dauern, bis er gegen die Felswand prallte? Oder würde er ungebremst bis zum Boden der Schlucht fallen? Er wusste, dass er nicht schneller als mit einer gewissen Geschwindigkeit fallen konnte. Das hatte etwas mit der Gravitation zu tun; und mit dem Luftwiderstand. Genau wusste er es nicht mehr. Wenn er unten ankam würde er aber auf jeden Fall viel zu schnell sein, um auch nur den Hauch einer Überlebenschance zu haben. Jonathan hatte viele Geschichten gelesen, die besagten, dass vor dem sicheren Tod das ganze Leben wie ein geraffter Film an einem vorbeilief. Die Wahrheit war wesentlich profaner und beinahe beschämend. In seinem Kopf war nur Platz für kreatürliche Angst und sinnlose Gedankenspielereien. Keine großen Erkenntnisse bevor er abtrat; keine Einsicht getragen von der Weisheit der letzten Momente. Vielleicht bist du auch nicht...Jonathan blinzelte. Plötzlich raste der Boden unheimlich schnell auf ihn zu. Bevor er die Augen schließen konnte löschte ein greller Blitz seine Gedanken aus.
„Köstlich! Köstlich!“ sagte eine vertraute Stimme. „Ich sehe immer wieder gern dabei zu. Könnte den ganzen Tag lang nichts anderes machen.“ Bin ich... Jonathan begriff, dass er entgegen jeder Logik noch am Leben war. Und nur wenige Schritte von ihm entfernt stand dieser verdammte Kerl, dessen Füße knapp über dem Boden schwebten. Er ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass er etwas Besonderes war. Wenigstens wirst du nicht von einem Durchschnittstypen verspottet. Jonathan sah sich selbst, die Hände fest um den Hals des fetten Kerls gekrümmt, dem langsam die Luft ausging. Eine durchaus verlockende Vorstellung, die sich aber nicht in die Tat umsetzen ließ. Zumindest so lange er geschwächt war. Danach aber... „Wenn du dich stark genug fühlst darfst du es gerne versuchen“ sagte der Glatzkopf dessen Gesichtsausdruck sich von einem Moment auf den anderen drastisch verändert hatte. Er sah plötzlich beinahe bedrohlich aus und in seinen Augen blitzte etwas das Jonathan schaudern ließ. Erst jetzt begriff er, dass er es möglicherweise nicht mit einem etwas verschrobenen harmlosen Mann zu tun hatte. Vielleicht war er nicht einmal ein Mann. In einer Umgebung, die wahrscheinlich seiner eigenen Fantasie entsprang war schließlich alles möglich. Er fragte sich, ob ihm irgend etwas hier wirklich gefährlich werden konnte? Was, wenn er hier starb? Warum endete jeder Traum vom Fallen vor dem Aufprall? Was verbarg sich hinter diesem Moment? Endete das Leben, wenn der Traum jäh mit dem Aufprall abbrach? Jonathan setzte sich auf und wartete darauf, dass der Schock seines Absturzes nachließ und der Schmerz durch seine Glieder schoss. Aber es geschah nichts. Er richtete sich auf wie tausende Male zuvor und saß. Nichts weiter. Aufmerksam sah er an sich herab und ließ den Blick über den eigenen Körper schweifen, als hätte er ihn noch nie zuvor gesehen. Die Kleidung sah nicht anders aus als vor dem Absturz und seine Haut war unversehrt. Manche Menschen sahen schlimmer aus, nachdem sie einfach nur aus dem Bett gefallen waren. Vielleicht war er gar nicht... nein, die Felswände die zu beiden Seiten, nur ein paar Dutzend Meter von ihm entfernt aufragten belehrten ihn eines Besseren. Er saß am Grund der Schlucht. Und er hatte sich den Fall nicht einfach nur eingebildet. Jetzt frage ich mich schon ernsthaft, ob ich mir innerhalb meiner Einbildung etwas nur einbilde. Absurd. Jonathan konnte nicht anders. Seine Mundwinkel hoben sich und ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Absurd war genau das richtige Wort, das alles was in den letzten Stunden; oder waren es schon Tage?; ereignet hatte beschrieb, ohne zu untertreiben. Und scheinbar wurde es noch schlimmer. Jonathan fragte sich, ob er in der realen Welt langsam immer tiefer ins Delirium abglitt. Ob sie schon darüber nachdenken, wer in Frage kommt um das Formular für das Abschalten der Maschinen zu unterschreiben? Der fette Kerl wartete mit einem verkniffenen Ausdruck im Gesicht, aber mit stoischer Ruhe darauf, dass sich Jonathan wieder bewusst wurde, dass er nicht alleine war. Für ihn war es unerheblich, wie lange etwas dauerte. Zeit spielte für ihn keine Rolle. Jonathan löste den Blick von den glatten, senkrechten Felswänden, die seine Welt im Moment begrenzten und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem seltsamen Mann zu, der aus irgend einem Grund den Weg in seine Fantasie gefunden hatte. Er konnte sich nicht erinnern jemals jemanden gekannt zu haben, der so aussah. Vielleicht war es auch nur eine Figur aus einem Film, den er irgendwann einmal gesehen hatte. Warum sein Unterbewusstsein kein angenehmeres Bild heraufbeschwören wollte verstand er nicht, aber er konnte auch nichts daran ändern. Woran er auch dachte, der Kerl verschwand nicht. Er saß einfach nur da und starrte ihn mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen an. Er sah aus wie jemand der eine Katze beobachtete und fest damit rechnete, dass sie etwas Verbotenes tun würde. Aber Jonathan hatte nichts dergleichen vor. Das bedrohliche Glitzern in den Augen seines Gegenübers machte ihm mehr Angst als er sich eingestehen wollte. Dieser fette unscheinbare Mann konnte... schweben. Etwas das Jonathan nicht von sich behaupten konnte. Er hatte nicht die geringste Ahnung was der Kerl noch alles können mochte und er wollte es eigentlich auch gar nicht wissen. Jedenfalls würde er nun vorsichtiger sein. Und er hoffte, dass es ihm gelingen würde seine Gedanken im Zaum zu halten, die der andere scheinbar, zumindest zum Teil, lesen konnte. „Was willst du von mir?“ fragte Jonathan er mit schwacher Stimme, ohne wirklich mit einer sinnvollen Antwort zu rechnen, aber er musste einfach irgend etwas sagen, um das unheilvolle Schweigen zu brechen. Er hielt es einfach nicht mehr aus, dass der fette Kerl ihn mit diesen unheimlichen Augen unverwandt anstarrte. Er kam sich langsam vor wie die Fliege, die hilflos im Netz einer Spinne gefangen war, die sie mit unverhohlener Gier musterte während sie sich ihrem Opfer langsam näherte. „Ich? Ich will überhaupt nichts von dir. Ich bin nur hier um aufzupassen, dass du keinen Unfug anstellst.“ Jonathan sah überrascht auf und suchte im Gesicht seines Gegenübers nach Anzeichen, dass der sich über ihn lustig machte. Nichts. Immer noch war da nur diese kaum verhohlene Drohung. Was soll das heißen, auf mich aufpassen? Wer hat dich hergeschickt? Diese Fragen stellte er nicht. „Warum?“ war alles was er zustande brachte. Es fiel ihm unheimlich schwer die Worte die in seinem Kopf hin und her schwirrten wie Motten um das Licht, zu artikulieren. Seine Lippen schienen nicht mehr mit seinem Gehirn verbunden zu sein. „Weil er es will“. Jonathan riss die Augen auf und sah den fetten Kerl mit neu erwachtem Interesse an. Endlich hatte er eine Antwort erhalten, mit der er etwas anfangen konnte. Er. Wer war er? War er das etwa selbst? Ein Teil von ihm, der unbewusst den Traum steuerte, damit er sich nicht in eine falsche Richtung entwickelte? Als ob er das nicht schon längst getan hätte. Sein Gegenüber hob den schwabbligen Arm und ließ ihn seinen bereits geöffneten Mund wieder schließen. „Bevor du mich fragst, wer er ist, lass mich dir zuerst sagen, dass das hier kein Traum ist. Du liegst nicht in irgend einem Krankenhaus und fantasierst dir irgend einen Mist zusammen. Auch wenn das mit Sicherheit besser für dich wäre.“ „Und was ist das dann?“ Jonathan breitete die Arme in einer allumfassenden Geste aus. „Was zum Teufel soll das sonst sein? Ich meine … du schwebst verdammt nochmal. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich von einem Berg...“ Der fette Kerl streckte Jonathan abwehrend die Handflächen entgegen. „Pssst. Beruhige dich! Ganz ruhig. Er will ohnehin dass du erfährst wo du bist. Will er eigentlich immer; früher oder später.“ „Wer...“ „Wer er ist? Er ist alles. Und nichts, denn ohne ihn würde nichts existieren.“ Jonathan verdrehte die Augen. Er verspürte keine Lust irgendwelche Rätsel zu lösen. Aber das musste er auch nicht. Sein Gegenüber war noch nicht fertig gewesen. „Du bezeichnest ihn als Gott“ sagte der fette Kerl mit ernster Stimme und ohne das Gesicht zu verziehen. Jonathan verschluckte sich und hustete krampfhaft. Er wusste nicht wie er auf das Gesagte reagieren sollte. Seine Überzeugung, dass er nach einem Unfall auf einer Intensivstation im Koma lag und für alle anderen unmerklich den Verstand verlor verstärkte sich. Vielleicht saß er auch in irgend einer Gummizelle und flüchtete vor der Realität in diese seltsame Scheinwelt. „Gott“ murmelte er abschätzig und schüttelte kaum merklich den Kopf. „Die meisten reagieren wie du“ sagte der fette, schwebende Mann. „Sogar die, die von sich behaupten zu glauben. Egal woran. Am schwersten zu überzeugen sind aber Typen wie du, die an gar nichts glauben, außer an das was sie mit eigenen Augen sehen können und das was sie in schlauen Büchern lesen. Es dauert lange, bis sie begreifen, dass sie sich geirrt haben.“ Der Dicke lachte keckernd. Seine kleine Ansprache brachte Jonathan nicht dazu, auch nur ein bisschen mehr daran zu glauben, dass er sich nicht in einem Traum, sondern... ja wo eigentlich? … im Himmel?... in der Hölle? befand. Seine Mutter hatte versucht ihn so zu erziehen, dass er zu einem Kirchgänger wurde, war aber an den Bemühungen seines Vaters gescheitert, dagegen anzugehen. Dieser Einfluss hatte ihn zu dem gemacht, was er heute war; viel mehr als ein Skeptiker. In seinem Verstand war kein Platz für etwas so absurdes wie Gott oder ein Leben nach dem Tod. Hingegen hatte er kein Problem damit an Sauerstoffmangel oder eine Gehirnverletzung zu glauben. Der fette Kerl beobachtete ihn aufmerksam, mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen. Aber die Augen beteiligten sich nicht daran; waren kühl und ohne eine Regung. Wie ein Forscher, der ein Insekt studierte, von dem er sicher war, wie es sich verhalten würde. Ohne großes Interesse, nur der Pflicht folgend. Jonathan fragte sich zum wiederholten mal, wie es dazu kam, dass er sich diesen Mann einbildete, oder was immer dieses Wesen auch war. Noch immer konnte er sich an nichts erinnern, das die Ursache dafür sein mochte. Kein Buch, keinen Film und keine Person, die er gekannt hatte. Es schien fast so, als wäre der Kerl da, um seine schöne Theorie vom Traum, in dem er gefangen war zum wanken zu bringen. Nicht nur mit Worten, sonder mit seiner bloßen Anwesenheit. Es musste versuchen mehr über den Mann in Erfahrung zu bringen. Und das ging nur, wenn er mit ihm redete. „Du willst mit also einreden, dass du von... Gott geschickt worden bist? Sind wie hier vielleicht... im... Himmel?“ Die Worte kamen nur stockend, als wollte seine Zunge sich weigern ihn dabei zu unterstützen, sie zu formulieren. Himmel. Gott. Was für ein Schwachsinn! „Du bist nicht zufällig Jesus?“ fragte er mit einer Stimme die vor Sarkasmus triefte. Ihm war plötzlich nach kindischem Kichern zumute. Er glaubte nicht mehr an Gott seit er zehn Jahre alt gewesen war. Damals hatte er verstanden, dass das alles nur eine Geschichte war. Eine Geschichte für Erwachsene, die über den fehlenden Sinn in ihrem Leben hinwegtäuschen sollte. Na gut. Den zweiten Teil hatte er erst mit 16 verstanden. Damals, als das Leben plötzlich meistens beschissen war und er sich immer wieder aus irgendwelchen völlig nichtigen Gründen gewünscht hatte tot zu sein. Ein Zustand, den die meisten Jugendlichen irgendwann durchmachten. Wozu auch immer das gut war. Was hatte die Natur davon, wenn sich alle Kinder irgendwann in tickende Zeitbomben verwandelten, die irgendwann zu einigermaßen zurechnungsfähigen Erwachsenen wurden wenn sie die Wirren der Pubertät überlebten und sich zwischen 18 und 30 nicht tot soffen, oder sonst etwas Bescheuertes taten. Und jetzt nachdem er endlich ein solcher Erwachsener geworden war wollte ihm jemand einreden, dass Gott jeden seiner Schritte in einer Welt, die problemlos einem LSD-Traum entsprungen sein konnte überwachte. „Man könnte durchaus sagen, dass das hier der Himmel ist“ sagte der fette Kerl und riss Jonathan jäh aus seinen Gedanken. „Ah“ sagte Jonathan wenig geistreich. Was sollte man auch erwidern, wenn einem jemand mitteilte, dass man sich am Ziel aller Wünsche von Millionen von Gläubigen befand? Er fragte sich langsam ernsthaft warum er sich all diese Dinge in seinem Koma-Traum oder was immer es auch war einbildete. Warum plötzlich diese Religionsgeschichte? Er ging nicht in die Kirche, las keine Bücher in denen der Glaube irgend eine besondere Rolle spielte; verdammt er befasste sich überhaupt nie mit dem Thema. Wieder einmal meldete sich die leise Stimme, die ihn davon überzeugen wollte, dass er nicht träumte, sondern sich in einer, wenn auch merkwürdigen Realität befand. Langsam begann sie ihm lästig zu werden. „Zerbrich dir nicht den Kopf“ sagte der dicke Mann. „Du wirst schon noch begreifen, glaub mir.“ Jonathan wusste nicht, was er darauf sagen sollte, ohne sein Gegenüber zu bitten sich seine weisen Worte sonst wohin zu stecken. Und er wollte es nicht riskieren den seltsamen Typen noch einmal zu verärgern; auch wenn er nur eine Traumgestalt war. Er wollte diesen unheimlichen, durchdringenden Blick nicht mehr auf sich spüren. „Was kommt als nächstes?“ fragte er stattdessen und bemühte sich seiner Stimme einen möglichst gelangweilten Ton zu verleihen. Dann wurde ihm bewusst wie lächerlich das doch war, angesichts dessen, dass der Andere seine Gedanken lesen konnte. „Das hängt ganz von dir ab“. Anhand der Mine des fetten Kerls war nicht zu erkennen, ob ihn die kindischen Versuche ihn zu täuschen belustigten oder verärgerten. „Wenn du einsiehst, dass du dich nicht mehr in deiner Welt aufhältst wird er dir den Weg zeigen. Wenn nicht... nun; dann musst du ihn wohl selbst finden.“ Der fette Kerl kicherte hämisch. Er hörte sich an wie eine dieser hoffnungslosen alte Frauen, die sich auch über das Unglück freuten, weil es Abwechslung in ihre trostlosen, leeren Tage brachte. Jonathan achtete kaum darauf. Er dachte über seine Optionen nach und kam zu dem Schluss, dass er den Weg, wohin auch immer der führte, wohl selbst würde finden müssen. Er konnte nicht plötzlich damit anfangen an etwas zu glauben, nur weil das jemand von ihm verlangte; schon gar nicht, wenn sich dahinter etwas verbarg das er insgeheim verachtete, so wie den Glauben an eine höhere Macht, die sich um die Menschen kümmerte, wie ein Schuljunge um seine Ameisenfarm. Mit dem Unterschied, dass der Gott von dem in der Bibel die Rede war eine gehörige Portion Sadismus in sein Wohlwollen gegenüber seinen Schäfchen mischte. „Nur ein Traum“ murmelte er. Das breite Grinsen im Gesicht des fetten Kerls verschwand und machte einem beinahe traurigen Ausdruck Platz. Er schien nicht verärgert darüber zu sein, dass Jonathan ihn für eine Ausgeburt seiner eigenen Fantasie hielt. Er schwebte ein Stück höher und breitete theatralisch die Arme aus. „Warum fällt es euch nur so schwer zu glauben? Natürlich kann es immer nur ein Traum sein. Oder eine Form von Wahn. Eine andere Möglichkeit kommt euch nicht in den Sinn. Es verwundert mich nicht im Geringsten, dass er damit aufgehört hat euch zu behandeln wie Kinder, denen man einfach nicht böse sein kann. Ihr verleumdet ihn fortwährend; fühlt euch sicher in eurer Welt voll von Maschinen und... Dingen. Dabei vergesst ihr, dass ihr diese Welt eines Tages verlassen müsst.“ Der fette Mann kicherte so heftig, dass er sich beinahe verschluckt hätte. Es klang wie das ins Absurde beschleunigte Kreischen einer Katze und hatte kaum etwas menschliches an sich. Jonathan wich unwillkürlich ein Stück zurück und versuchte krampfhaft das Zittern zu unterdrücken, das in Wellen durch seinen Körper raste und dabei eine ausgeprägte Gänsehaut zurückließ. Seit er ein Kind gewesen war hatte er keinen so realistischen Traum mehr geträumt. Alles wirkte so verdammt echt, dass es ihm mehr Angst machte als ihm lieb war. Er wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Konnte er den fetten Kerl einfach ignorieren und weiter nach Linda suchen, ohne mit Konsequenzen zu rechnen? Oder war er dem Scheusal hilflos ausgeliefert? Da er das kichernde Ungeheuer nicht einfach fragen konnte blieb ihm wohl nichts anderes übrig als es einfach zu versuchen. Was dann geschah würde er dann schon sehen. Er konnte auch einfach hier bleiben und warten, bis sein Gegenüber ihm verriet, wie es weitergehen sollte, aber etwas in ihm sträubte sich dagegen. Wahrscheinlich war es einfach nur der Wunsch nicht mehr Zeit als nötig in der Gegenwart des fetten Kerls zu verbringen. Sich in der fremden Umgebung hoffnungslos zu verirren schien ihm immer noch besser, als noch eine einzige Sekunde länger hierzubleiben und sich das Gerede eines Mannes anzuhören, von dem er nicht viel mehr wusste, als dass er in der Lage war zu schweben. Vielleicht wusste er aber gerade damit auch schon zu viel. Einen Mann der die Fähigkeit besaß zu schweben konnte es nicht geben. Nicht in einer rationalen Welt, in der die Dinge sich an gewisse Gesetze hielten und nicht einfach beschlossen sich völlig anders zu verhalten. Jonathan wandte sich von seinem seltsamen Gegenüber ab und machte einen Schritt in jene Richtung, in die auch die Fußspuren verliefen. Die Fußspuren. Jonathan war ziemlich sicher, dass die Spuren bis vor wenigen Augenblicken noch nicht da gewesen waren. Es war als wären sie erst aufgetaucht, als er sich entschieden hatte ihnen weiter zu folgen. Was solls. Er machte noch einen vorsichtigen Schritt und blieb wieder stehen. Er wartete darauf, dass der fette Kerl etwas sagte, oder sonst irgend etwas unternahm, um ihn aufzuhalten. Den stärker werdenden Impuls sich umzudrehen unterdrückte er. Er wollte nicht in das grinsende Gesicht mit den kalten Augen sehen, unter deren Blick alle Kraft die er gesammelt hatte gefror. Noch ein Schritt. Stehen bleiben; kürzer diesmal; dann gleich zwei Schritte hintereinander; nur noch ein kurzes Innehalten. Dann war die Grenze überwunden. Sein Kopf hörte auf sich ständig drehen zu wollen und blieb starr nach vorne gerichtet. Seine Augen suchten nach den Fußspuren die ihm den Weg wiesen. Der schwebende Mann ließ ihn gehen; sicher nicht ohne eine Absicht damit zu verfolgen, die Jonathan nicht erkannte. Obwohl es dein eigener Traum ist. Ist das nicht irgendwie seltsam? Wie lange dauert so ein verdammtes Koma eigentlich; oder die Narkose der ich sicher nicht zugestimmt habe? Jonathan hatte das Gefühl, dass er nun schon eine Ewigkeit lang in diesem Traum gefangen war. Sicherlich mehr als nur ein paar Stunden; eher Tage. Das Wort Wachkoma hallte immer wieder durch die tieferen Schichten seiner Gedanken und machte ihn dabei von Mal zu Mal ein klein wenig nervöser. Er wollte... konnte sich nicht vorstellen, dass das hier niemals mehr endete und er in dieser Fantasiewelt gefangen war, bis er seinen letzten Atemzug tat. Niemand der seinen regungslosen Körper sah, würde erkennen was hinter der ewig gleichen Maske eines Gesichts, in dem sich kein Muskel bewegte vorging. Keiner würde wissen, dass er in einem Gefängnis umherirrte, das sein eigener Geist geschaffen hatte, auf der Suche nach einem anderen Menschen, den er natürlich niemals wirklich finden konnte. Für einen Moment war er versucht einfach nur lauthals zu schreien, bis ihn seine Stimme im Stich ließ. Aber wer würde ihn schon hören? Links und rechts ragten Felswände bis in schwindelnde Höhen auf und hinter ihm war irgendwo der fette Kerl. Was vor ihm lag wusste er nicht, aber vermutlich konnte er auch dort nicht mit einem interessierten Zuhörer rechnen. Wut verlor ihre Macht, wenn es nichts gab, an dem sie sich entladen konnte. Jonathan straffte die Schultern und ging weiter. Es gab ohnehin nichts anderes, was er hätte tun können. Die einzige Alternative war, zu dem fetten Monstrum zurückzukehren, das ihn mit kalten Augen anstarren würde, während es ihm einen Vortrag über den Glauben hielt. Danach verspürte Jonathan nicht das geringste Bedürfnis.
Jonathan atmete auf, als die Felswände, die den Weg bisher gesäumt hatten endlich zurückwichen und das Gefühl erdrückt zu werden in gleichem Maße nachließ. Mit jedem Schritt den er zurücklegte wurde der Abstand zwischen den Wänden größer. Es war als würde er einen Trichter in der falschen Richtung durchqueren. Der Winkel in dem die Wände auseinander strebten wurde immer größer, bis sich vor Jonathan eine unübersehbar große Ebene ausbreitete, die bis zum Horizont und darüber hinaus erstreckte. Aber das war es nicht, was ihn dazu brachte erstaunt innezuhalten. „Was zum...“ murmelte er und bemerkte nicht, dass sein Mund offen stehen blieb. Er wandte den Kopf hin und her, aber egal wohin er den Blick richtete zeigte sich doch überall das gleiche Bild. Grabsteine, Kreuze und Hügel aus frisch aufgeschütteter Erde. Das da vor ihm war nichts anderes als ein gigantischer Friedhof. Der größte den er jemals gesehen hatte; jemals sehen würde. So etwas konnte nicht wirklich existieren. Niemand würde auf die verrückte Idee kommen einen Totenacker anzulegen, der die Fläche eines kleinen Landes einnahm. Das war ziemlich abgedreht, selbst für einen Traum. Jonathan rieb sich die Augen, blinzelte und stellte seufzend fest, dass er immer noch auf den größten Friedhof aller Zeiten starrte. Er sah kurz nach unten und vergewisserte sich, dass die Fußspuren, denen er folgte auch wirklich dort hinaus, in das Meer aus kleinen Hügeln und religiösen Symbolen eines Totenkults wiesen. Sie taten es. Wenn die Spur nicht irgendwo unerwartet die Richtung, dann würde er ihr mitten durch die Ruhestätte der unzähligen Begrabenen folgen müssen. Er hatte sich nie vor Friedhöfen gefürchtet; warum auch?; aber jetzt konnte er das unangenehme Gefühl, das langsam aus seinem Magen empor kroch nicht vertreiben. Ach komm schon. Gib einfach zu, dass du die Hosen schon jetzt voll hast. Das war angesichts dessen, dass er sich nicht in der realen Welt aufhielt keine Schande. Hier konnte wer weiß was passieren. Vielleicht erhoben sich die Toten aus ihren Gräbern und zerrten ihn mit hinab in die feuchte Dunkelheit oder taten etwas anderes, kaum weniger Unerfreuliches. Wie hieß es doch immer in den Geschichten? Stirbst du im Traum, dann stirbst du auch in der wirklichen Welt. Vielleicht nicht genau in diesen Worten, aber es traf den Kern der Sache. Hatte wahrscheinlich etwas mit der Angst und dem Stress den sie auslöste zu tun. Jonathan erinnerte sich daran, dass er das mit der Angst mal in irgend einem Magazin über Psychologie gelesen hatte. Linda kaufte diese Magazine manchmal, wenn sie das Bedürfnis hatte etwas für ihre Bildung zu tun. Für gewöhnlich las sie ein oder zwei Artikel und warf die Zeitschrift dann auf einen Stapel, der in irgend einer Ecke verstaubte. Manchmal warf er auch mal einen Blick hinein und las die Titel der Artikel; vielleicht auch mal die ersten Sätze, aber kaum jemals mehr. Hin und wieder blieb dann auch etwas hängen, mit dem er wenn er Glück hatte irgendwann angeben konnte. In der Situation in der er sich befand wäre es ihm lieber gewesen, er hätte den ganzen Stapel durchgearbeitet und würde wirklich etwas von der menschlichen Psyche, am Besten seiner eigenen, verstehen. Vielleicht hätte er dann gewusst wie groß die Gefahr war, dass ihm wirklich etwas zustieß. Vielleicht hätte er dann auch einen Weg gefunden, der aus dieser Traumwelt herausführte. Jonathan schloss ergeben die Augen und atmete einige Male tief durch. Im Augenblick gab es nur einen einzigen Weg für ihn und der führte ihn weiter in den wirren Traum hinein. Zuerst ging er nur zögerlich weiter während sein Blick unstet umher irrte und nach verdächtigen Bewegungen suchte. Jeder Grabstein und jedes Kreuz erschienen ihm bedrohlich und düster. Als nach einiger Zeit noch immer nichts geschehen war gab er seine Vorsicht auf und beschleunigte seine Schritte. Um ihn herum gab es nichts mehr anderes als Gräber. So viele, als wären alle Menschen die jemals gestorben waren hier begraben. Und dann begriff er. Vielleicht war es das. Er bildete sich ein, an dem Ort zu sein, an den alle irgendwann einmal kommen mussten. Aber auch hier gab es kein Leben nach dem Tod. Nur ein anderes Loch in der Erde, in dem die leeren Hüllen verrotteten. Jonathan musste trotz der bedrückenden Umgebung grinsen. Auch im Traum blieb er einigen seiner Prinzipien treu und fand Wege absurde Konzepte wie ein Leben nach dem Tod durch etwas anderes zu ersetzen. Etwas Fantasy war in Ordnung, aber es durfte nicht ins religiöse abgleiten. Das Grinsen verharrte nicht lange auf seinem Gesicht. Schnell gewannen die stumme Drohung und eine Gefühl von Traurigkeit von dem er nicht genau wusste woher es kam die Oberhand. Er blieb vor einem der Gräber stehen und las die Inschrift auf dem makellosen Grabstein, der aussah als wäre er gerade erst fertig gestellt worden. Jonathan Ross, 1961-2009 stand da. Sonst nichts. Nur der Name und die Zahlen. Unglaublich, welche Details in diesem Traum steckten. So etwas hatte er noch nie erlebt. Egal wohin er sich wandte; es gab keine blinden Flecken, keine Sprünge die sie sonst so oft in seinen Träumen auftraten. Kaum jemand träumte eine Geschichte vom Anfang bis zum Ende, mit all ihren Nuancen und Zwischenstufen. Das war auch gar nicht möglich, da sonst die meisten Träume den Rahmen einer einzigen Nacht gesprengt hätten. Es gab aber auch Anzeichen, die zeigten, dass er sich in einer Welt aufhielt, die seiner Vorstellung entsprang. Warum zum Beispiel war er noch nicht halb wahnsinnig vor Durst? Warum ließ der Hunger nicht längst seinen Magen knurren? Doch nur deshalb, weil er solche Details nicht in seinen Traum einbaute. Und vorhin war er eine Schlucht hinabgestürzt und hatte sich dabei nicht einmal verletzt. Nein. Nichts hier existierte wirklich. Auch nicht die unzähligen Toten die überall um ihn herum begraben waren. Als er sich aus aus dem Wust seiner Gedanken befreit hatte und eben weitergehen wollte, nahm er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Zuerst glaubte er, dass der fette Kerl ihn aufgestöbert hatte um sich weiter über ihn lustig zu machen, aber als er genauer hinsah wünschte er sich es wäre nur das gewesen. Seine Augen weiteten sich, als wollten sie aus den Höhlen fallen. Das was dort drüben, nur wenige Meter von ihm entfernt vor sich ging hätte gut und gerne in einen beliebigen Gruselfilm gepasst. Aus der lockeren Erde grub sich eine Hand, die nur noch aus Knochen zu bestehen schien. Irgend etwas versuchte sich aus dem verdammten Grab zu befreien. Er wollte schreien, aber seine Stimmbänder waren wie gelähmt. Er brachte nicht einmal ein Krächzen hervor. Wie hypnotisiert starrte er auf die bleiche Hand, der nun langsam ein mit Erde beschmierter Arm folgte. Jonathan blinzelte angestrengt, aber das Bild verschwand nicht. Er versuchte sich zu erinnern, aus welchem Film er eine solche Szene kannte. Oder war es ein Buch gewesen? Irgendwoher musste sein Unterbewusstsein die Idee für das nehmen, was es ihm vorgaukelte. Wenn er... falls er wieder erwachte würde er darüber nachdenken seine Gewohnheiten zu ändern. Weniger von all dem, das die Fantasie dazu anregte im mystische Gefilde abzugleiten. Solltest du nicht endlich irgend etwas unternehmen? Bald wird unweigerlich ein Toter vor dir stehen. Jonathan erwachte aus seiner Starre. Egal ob Traumwelt oder nicht; er hatte keine Lust auf eine Unterhaltung mit einem Auferstandenen. Er rannte los so schnell er konnte und bemühte sich dabei die Spur, die ihn zu Linda führen musste nicht aus den Augen zu verlieren. Immer wieder redete er sich ein, dass er sich nicht umdrehen durfte. Wenn er das tat würde er stolpern oder irgend etwas anderes Unangenehmes würde geschehen. Vielleicht sah er auch nur, dass ein Toter bereits die Hand nach ihm ausstreckte und ihn aus leeren Augenhöhlen anstarrte. Er rannte und würde erst stehen bleiben, wenn ihn die Kräfte verließen, oder ihn jemand … oder etwas aufhielt. Als ihm der Schweiß in die Augen rann und seinen Blick verschleierte wische er ihn mit dem Ärmel weg und wünschte sich gleich darauf es nicht getan zu haben. Überall reckten sich Gliedmaßen in unterschiedlichen Stadien der Verwesung hervor. Es schien als hätten alle Toten zugleich beschlossen, dass es Zeit war sich aus den Gräbern zu erheben; als wäre der Erste nur die Vorhut gewesen. Jonathans Herz begann noch schneller zu schlagen. Er hatte Angst. Einfache, kreatürliche Angst wie ein Kind, das sich in einem dunklen Wald verirrte. Gehetzt suchte er nach einem Ausweg, aber es gab keinen. Überall waren Gräber; Vor ihm, neben ihm und hinter ihm. Und überall wühlten sich verdammte Leichen aus dem Boden. Jonathan rannte bis seine Lungen zu bersten drohten und das Blut in seinen Schläfen pochte. Und dann noch etwas weiter. Aber egal wie sehr er sich anstrengte; er konnte den lebenden Toten nicht entkommen. Der Friedhof schien einfach keine Ende zu nehmen. Schließlich musste er stehen bleiben. Mit offenem Mund und hervorquellenden Augen starrte er keuchend auf die Kette von halb verwesten Leibern, die ihm den Weg versperrten. Verdammte Zombies. Gedanken an Silber und Weihwasser schossen durch seinen Kopf, wirbelten durcheinander und lösten sich wieder auf. Was übrig blieb war Leere. Er hatte seine Grenzen längst überschritten. Er wusste nicht wo er war, hatte keine Ahnung was mit Linda geschehen war und hatte keine Erinnerung daran, was in den Minuten Stunden? zwischen dem Moment wo er das Steuer des Wagens fester umklammert hatte weil es zu Regnen begonnen hatte und seinem Erwachen an diesem seltsamen Ort vorgefallen war. Das alleine reichte bereits aus, um ihn an der Grenze zwischen nervöser Unruhe und panischer Angst entlang balancieren zu lassen. Zumindest hätte er das erwartet. Aber hier schien nichts so zu sein, wie er es gewohnt war. Er war auf einem Berg herum geklettert, hatte einen schwebenden Mann getroffen und war eine Schlucht hinabgestürzt. Ganz nebenbei war da auch noch die Entführung seiner Frau und eine Spur, der er folgte wie Hänsel den Brotkrumen. Er hätte längst unter der Last der Eindrücke zusammenbrechen müssen. Er war kein Held; ja, er war noch nicht einmal besonders mutig; wie zum Teufel hatte er also so lange durchhalten können? Und wieso denkst du gerade jetzt darüber nach? Da vorne warten ein paar Untote auf dich um dich... ja was eigentlich? Jonathan verspürte den irrationalen Drang zu kichern. Das Kaleidoskop aus Gedankensplittern in seinem Kopf drehte sich schneller und schneller. Die grotesk aussehenden Bewegungen mit denen die Untoten näher kamen reizten ihn einerseits zum Lachen und ließen ihn gleichzeitig vor Angst erstarren. Er war wieder ein Kind das vor Angst zitternd und im selben Moment freudig erregt einem Puppenspiel zusah in dem Zauberer, Helden und schreckliche Monster um die Vorherrschaft kämpften. Als die zum Teil bereits stark verwesten Leichen ihn erreichten und ihre Hände nach ihm ausstreckten war er völlig erstarrt. Nur noch seine Augen bewegten sich hektisch hin und her wie kleine Tiere, die ein Eigenleben hatten. Sein Mund stand halb offen und die Spitze seiner tonnenschweren Zunge ragte ein Stück weit daraus hervor. Plötzlich wurde es stockdunkel und alle Geräusche verstummten. Der Vorhang war gefallen; die Vorstellung zu Ende.