Читать книгу Das geheimnisvolle Verschwinden von Toni Malloni - Harmen van Straaten - Страница 5
Großvater Mallonis Zylinderhut
ОглавлениеEs war am Anfang der Sommerferien. Ich war auf dem Dachboden meiner Großmutter, und ich tat etwas Verbotenes. Verbotene Dinge machen schließlich am meisten Spaß. Ich schnüffelte nämlich in der geheimen Kiste meines Großvaters herum. In der geheimen verbotenen Kiste! Bestimmt denkt ihr jetzt: Hä? Warum verboten? Und mit Recht, denn was kann an einer Kiste schon geheim und verboten sein?
Das will ich euch erzählen.
Mein Großvater war einmal ein berühmter Zauberkünstler. Er war bekannt als Marcello Malloni, Meister der Magischen Wunder. So jedenfalls stand es auf den vergilbten Werbeplakaten, die ich in der Kiste fand. Mein Großvater konnte alles verschwinden lassen. Das wusste ich aus den Einklebealben, die ich ebenfalls darin gefunden hatte. Angefangen hatte es irgendwann mit einem Kaninchen, als Nächstes kam eine Katze, danach ein Hund, und die Tiere wurden immer größer. Mein Großvater träumte davon, einmal sogar einen Elefanten verschwinden zu lassen und wieder hervorzuzaubern. Das ist ganz etwas anderes, als jemandem ein Ei aus der Nase oder dem Ohr hervorzuzaubern! Einen Elefanten versteckt man nicht einfach so in jemandes Ohr.
Eines Tages gelang es ihm, einen echten Elefanten wegzuzaubern. Mein Großvater warf ein Tuch über den Elefantenkäfig, nach einem Spruch und einem Lichtblitz zog er das Tuch weg, und dann …
TATATA-TAA, der Elefant war verschwunden, und in dem Käfig saß meine Großmutter in einem schönen, glänzenden Ballettkostüm. Solche Sachen konnte mein Großvater. Bis er eines Tages selbst verschwand. Jahre um Jahre ist das her. Niemand wusste, wo er abgeblieben war. Er war einfach … weg.
«Toni!» Die Stimme meiner Mutter schallte durchs Haus. «Ich bringe schon mal einige Umzugskartons fort. Du kommst allein zurecht, ja?»
Ich nickte, obwohl sie das natürlich nicht sehen konnte. Unten knallte die Haustür ins Schloss und ich atmete erleichtert auf. Das gab mir etwas mehr Zeit, in der Kiste meines Großvaters zu stöbern. Ich wollte herausfinden, was an dem Tag geschehen war, als er für immer verschwand. Meine Mutter war damals noch ein Baby gewesen und konnte mir kaum etwas erzählen. Aber vielleicht würden die Einklebealben mir meine Fragen ja beantworten.
Meine Großmutter hatte nach Opas Verschwinden nie mehr über ihn gesprochen. Selbst seinen Namen hatte sie nie mehr genannt. Sofort, nachdem er wie vom Erdboden verschluckt worden war, packte sie seine gesamten Sachen in eine Kiste und stellte sie auf den Dachboden. Niemand durfte die Kiste auch nur anschauen, geschweige denn öffnen.
Manchmal fragte ich Oma schon nach meinem Großvater. Dann schaute sie mich mit so glasigen Augen an, als würde sie mich weder sehen noch hören. Meistens lenkte sie das Gespräch rasch auf etwas anderes. «Iss deinen Teller leer, Junge», sagte sie dann. Oder: «Dieses Jahr bekommen wir einen warmen Sommer.» Aber eine Antwort erhielt ich von ihr nie.
Und jetzt würde ich sie überhaupt nie mehr nach ihm fragen können, denn vor wenigen Wochen war meine Großmutter gestorben. Sie war sehr alt geworden. Trotzdem fand ich es so verrückt und war auch ziemlich traurig deswegen. Sie war immer da gewesen, und jetzt auf einmal nicht mehr. Von heute auf morgen war sie verschwunden. Eigentlich genau wie mein Großvater.
Vorsichtig durchwühlte ich die Kiste. Die Sachen meines Großvaters lagen ordentlich eingepackt darin und nicht etwa achtlos hineingeworfen, als wollte jemand sämtliche Erinnerungen an ihn auslöschen. Seine Kleidung war sorgsam gefaltet, obenauf lag fein säuberlich sein Zylinderhut. Die Fotos in den Alben waren gewissenhaft eingeklebt. Meine Oma hatte ihn also nicht völlig vergessen.
Aus einem der Alben fiel ein alter Zeitungsartikel heraus. Ich sah ein Schwarzweißfoto von meinem Großvater. Er trug einen schönen, schwarzen Anzug. Neben dem Foto stand in großen, fetten Buchstaben:
Der Verschwindekünstler Marcello Malloni erstaunt uns nach wie vor. Gestern wollte er uns wieder einen neuen Verschwindetrick zeigen. Was würde es diesmal sein? In gespannter Erwartung standen wir mit gezückten Kameras und Notizbüchern bereit, um Sie als unsere treuen Leser des «Stadtboten», Ihrer täglichen Zeitung, in Bild, Gestik und Erzählung an dem Ereignis teilnehmen zu lassen. Liebe Leserinnen und Leser, was sich vor unseren Augen abspielte, können wir fast nicht nacherzählen. Denn die Wahrheit ist immer noch verrückter als die Fantasie.
Marcello Malloni kam auf die Bühne gerannt.
Seine Frau stand neben ihm, verkleidet als Meerjungfrau mit Fischschwanz. Im Arm trug sie ein lila Tuch und dazu ein Goldfischglas mitsamt Goldfisch. Ob er den verschwinden lassen würde? Nein, er hatte andere Pläne.
«Meine Damen und Herren, liebe Kinder», rief Maestro Malloni. «Heute werde ich Sie mit dem größten Zaubertrick aller Zeiten in Erstaunen versetzen! So etwas wie das haben Sie noch nie gesehen! Ich werde einen Goldfisch verschwinden und an seiner Stelle einen Wal erscheinen lassen! Ein Zaubertrick, den Sie nie vergessen werden! Sind Sie bereit?» Seine Frau stellte das Goldfischglas in einen großen Käfig und drapierte ein Tuch darüber.
Malloni setzte sich einen Zylinder auf, und wir hielten den Atem an. Was würde geschehen? Und dann … dann … rein gar nichts.
Rein gar nichts?, werden Sie sich fragen. Wie meinen Sie das?
Liebe Leserinnen und Leser, Sie werden sagen, das stimmt nicht. Aber ich versichere Ihnen, es ist so wahr, wie es nur sein kann, denn Ihr Berichterstatter hat alles von Anfang bis Ende mit eigenen Augen gesehen.
Von Marcello Malloni blieb nichts übrig, ausgenommen sein Zylinderhut. Und als das Tuch weggezogen wurde, war auch der Käfig leer. Na ja, fast. Nur das Goldfischglas war noch da.
Eine Panik entstand. Señora Malloni sah aus wie versteinert. Assistenten warfen das Tuch erneut über den Käfig und zogen es anschließend wieder herunter.
Bestimmt hofften sie, Marcello Malloni würde doch noch erscheinen. Aber der Käfig blieb bis auf das Goldfischglas leer. Auch in dem Zylinder steckte nichts, ganz gleich wie fest ein Kollege von der Beleuchtung ihn auch schüttelte.
Lediglich ein paar Spielkarten trudelten aus dem Zylinder zu Boden. Diese Spielkarten, liebe Leserinnen und Leser, hat Ihr Berichterstatter noch selbst in Händen gehalten und eigens für Sie untersucht. Geheimnisvolle Figuren waren darauf abgebildet. Nur das und sonst nichts war von Marcello Malloni übrig geblieben. Man schaute auch noch hinter die Klappe unter dem Käfig. Denn wie sich zeigt, haben die Verschwundenen des Herrn Malloni eher mehr mit Verstecken zu tun und weniger mit Zauberei. Was wiederum sehr schade ist.
Was bleibt, ist die Frage: Wo ist Marcello Malloni abgeblieben? Er kann sich doch nicht in Rauch aufgelöst haben! Niemand verschwindet einfach so ins Nichts! Dieser Goldfisch jedenfalls wird ihn wohl kaum verschluckt haben. Unser Mitgefühl gilt seiner Frau, die allein mit einem Kind zurückbleibt.
Ich las den Zeitungsartikel mindestens zwei-, nein: drei-, nein: viermal! Mein Blick ging zu dem Zylinderhut meines Großvaters und zu den Werbeplakaten. Einfach verrückt, sich vorzustellen, dass mein Großvater ein so außergewöhnlicher und berühmter Mensch gewesen war und ich, sein Enkel, so stinknormal bin. An manchen Tagen kam sogar ich mir richtig unsichtbar vor. In der Schule behandelten mich dann alle wie Luft.
Ich wühlte weiter in der Kiste. Neben den Fotoalben lag ein Stapel alter Comic-Hefte. Ich blätterte sie durch. Sie handelten von den Abenteuern eines Wanderzirkus, die sich allesamt in einem alten Vergnügungspark namens Malloniland abspielten. Ich runzelte die Stirn. Malloniland? Wirklich ein merkwürdiger Zufall, dass der Name des Vergnügungsparks unseren Nachnamen enthielt. Etwas zu merkwürdig. Neugierig beugte ich mich wieder über die Kiste. Da lag auch ein Satz recht wunderlich aussehender Spielkarten. Ich nahm sie, mischte sie und betrachtete sie eingehend. Die Vorderseiten zeigten Zirkusfiguren: einen kleinwüchsigen Mann, ein durchgesägtes Mädchen, einen weinenden Riesen mit Regenschirm, der verrückterweise gleichzeitig auch zu lachen schien, eine Frau in Cowboykleidung mit einem Pilotenhelm auf dem Kopf und … einen Wal. Waren das etwa die Spielkarten aus dem Zeitungsbericht, die Karten, die in dem Zylinderhut zurückgeblieben waren?
Ganz unten in der Kiste lag ein Tütchen mit Papierschnipseln. Ich ließ sie mir durch die Finger rieseln. Wovon die wohl waren? Und warum nur hatte meine Großmutter sie aufgehoben?
RUMMS!, machte die Haustür wieder.
«Liebling!», rief meine Mutter mir zu. «Der Aufkäufer von Großmutters Sachen ist da. Kommst du nach unten?»
So schnell ich konnte, raffte ich alle Sachen meines Großvaters zusammen. Ich kannte jetzt meine Aufgabe: Ich musste herausbekommen, was wirklich geschehen war bei dem geheimnisvollen Verschwinden meines Großvaters, den ich nie gekannt hatte. «Das werde ich tun», sagte ich laut. «Ich werde ihn suchen. Ich werde entdecken, was mit Opa passiert ist!»
Mit meinem Arm voll Sachen rannte ich die Dachbodentreppe hinab. Fast hätte ich Großvaters Zylinderhut fallen lassen, darum setzte ich ihn mir auf den Kopf. Und dann … verschwand ich.
Ich verschwand in dem Zylinder von Marcello Malloni, dem Meister der Magischen Wunder.