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Erstes Kapitel – Die Vorgeschichte

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Ich weiß gar nicht mehr, wie spät es war, als die Sonne mich weckte. Wahrscheinlich war es schon ziemlich spät, denn die Sonne musste gewaltig hoch am Himmel stehen, um mich stören zu können. Um mich überhaupt ins Auge stechen zu können. Denn Philipps Wohnung lag im dritten Stock. Aber gut. Nun war es so. Ich wurde wach. Der Schädel, nein, mein Schädel – und das war das Problem - dröhnte noch gewaltig. Ich schwitzte furchtbar unter meiner Besucherdecke, die Philipp mir am Vorabend aufs Sofa legte und ich fühlte mich wie damals, als ich nach durchzechter Nacht unter brennender Sonne in einem Zelt schweißgebadet und mit hämmerndem Kopfschmerz unter akuter Luftnot wach wurde. (Wer das nicht erlebt hat, weiß auch nicht, was ich meine.) Ich fühlte mich furchtbar angeschwollen.

Es war das heißeste Wochenende des Jahres. Mehr als vierzig Grad. In Philipps Wohnung waren es bestimmt fünfzig. Ich war wach und wünschte mir, dass es nicht so gewesen wäre. Aber es war so. Ich war wach. Ich hatte Durst. Einen unglaublichen Durst. Ich angelte mir die Wasserflasche, die ich mir ans Sofa gestellt hatte und trank sie in einem Zug aus. Das Wasser war pisswarm. Widerlich. Aber immerhin, es war nass. Ich stand auf, besser, ich versuchte aufzustehen. Nein, ich quälte mich hoch. Alles tat mir weh. Philipps Sofa war für einen alten Mann wie mich die Hölle. Und heute war ich besonders alt. Vor allem mein Kopf fühlte sich alt an. Uralt.


Ich schlich zur Toilette. Ich musste dringend aufs Klo. Ich setzte mich auf die Keramik und stützte meinen armen Kopf in meine Hände. Ich kramte mühsam in meinen Erinnerungen. Es war nur noch erschreckend wenig vorhanden.

Am Vorabend hatten wir noch den Abschluss des sogenannten Bad Homburger Sommers genossen. Das war so ein kulturelles Highlight in Bad Homburg. Vier Wochen Musik in der ganzen Stadt. Draußen in den Parks und auf den Plätzen, in irgendwelchen Kneipen, Hallen und Museen. An jeder Ecke Musik. Vier Wochen Dauerparty. Am letzten Abend fand traditionell ein großes Richard-Strauss-Konzert im Kurpark statt. Ein tolles Orchester, eine Riesenbühne. Und es wurde gemeinsam gegessen. Die Konzertbesucher brachten Tische, Stühle, Kerzen und Unmengen Speisen und Getränke mit. Eine gigantische Tafel und freiem Himmel bei toller Musik. Ungefähr zehntausend Menschen, die eine grandiose Party feierten.

Philipp war mein ältester Bruder und wir besuchten uns oft. Er hatte vor zwei Jahren einen Herzinfarkt erlitten, hatte sich von seiner Frau getrennt und lebte nun in einer wunderschönen Wohnung im Herzen der Altstadt. Er hatte eine neue Freundin und es ging ihm wieder gut. Ich selbst hatte auch schon so Einiges einstecken müssen. Meine Frau litt seit fünf Jahren an Krebs – hatte das aber ganz gut überstanden – und ich selbst wurde kurz vor Philipps Herzinfarkt von einem Schlaganfall überrascht, den ich aber glücklicherweise auch weitgehend gut überstanden hatte.

Wir verstanden uns gut. Sehr gut sogar. Dann gab es noch Pit und Henning, unsere anderen beiden Brüder. Mich nannten sie „Harry“. Schon früher. Diese merkwürdigen Namen hatten sich unsere Eltern ausgesucht. Wir waren wie die Orgelpfeifen. Wir besuchten uns ständig untereinander, schafften es aber - außer vielleicht an Weihnachten – leider nur sehr selten, dass wir alle zusammenkamen. Wir wohnten ja auch über die gesamte Republik verteilt. Philipp eben in Bad Homburg, Pit in Gütersloh, Henning und ich in zwei kleinen Dörfern in der Nähe von Hannover. Das letzte Mal, dass wir wirklich alle zusammen waren, war bei der Beerdigung meines Vaters.

Philipp und ich brieten am Nachmittag echte Wiener Schnitzel, machten Nudelsalat und hatten einige Flaschen Weißwein kaltgestellt. Philipps Freundin machte auch irgendetwas zu essen und ein paar andere Leute, die Philipp gut kannte, wollten Tisch und Stühle mitbringen. Das Wetter war der Hit. Wolkenloser Himmel und knatterheiß. Wir freuten uns riesig auf den Abend im Kurpark. Es herrschte eine ganz besondere Stimmung. Das Orchester war ganz großartig. Ein toller Abend.

Aber vielmehr wusste ich auch nicht mehr davon. Ich wusste nicht mehr, wie wir nach Hause gekommen waren, ich wusste nicht mehr, ob wir hier noch weitergefeiert hatten, ich wusste nicht mehr, wie spät es wohl war, als ich endlich auf das Sofa fiel und einschlief. Ich wusste eigentlich gar nichts mehr. Ich wusste im Moment nur, dass mein Schädel hämmerte und ich mich miserabel fühlte.

Als ich von der Toilette kam, schlich Philipp auch schon in der Wohnung rum und hatte Kaffee aufgesetzt. Wenigstens das. Vielleicht konnte mich ein starker Kaffee ja zurück ins Leben holen. Konnte er. Mit jedem Schluck wurde ich klarer. Philipp ging es auch nicht besser als mir. Er sah furchtbar aus. Dunkle Augenränder, aschfahl im Gesicht. Zum Glück wusste ich nicht, wie ich aussah. Ich wollte das auch gar nicht wissen. Ich suchte mein Smartphone, fand es unter dem Sofa und schrieb meiner Frau, dass ich – erstaunlicherweise - noch am Leben war. Sie freute sich. So deutete ich zumindest den Smiley, den sie mir schickte. Ich wusste ja, dass sie von unseren regelmäßigen Eskapaden nicht ganz so begeistert war, wie wir. Vor allem nach meinem Schlaganfall fürchtete sie, dass mein Lebenswandel wohl kaum förderlich für meine Gesundheit war.

Philipp und ich saßen in seiner Küche und versuchten, den letzten Abend aus den Fragmenten unserer Erinnerungen zusammen zu puzzeln. Wir kamen zumindest zu dem Schluss, dass es schön war. Ein wenig bedauerten wir allerdings, dass Pit und Henning nicht dabei waren. Wir mussten endlich mal wieder etwas zusammen machen. Nur wir vier. Und auf die Beerdigung meiner Mutter wollten wir nicht warten. Vielleicht sollten wir das auch einfach institutionalisieren. Einfach ein festes Wochenende im Jahr, an dem wir irgendetwas gemeinsam auf die Beine stellen würden. Irgendetwas Verrücktes am besten. Im Radio lief gerade ein Bericht über Wacken. Dieses abgefahrene Heavy-Metal-Festival, das immer im Matsch und Bier versank und an diesem Sonntag zu Ende ging. Eine Veranstaltung für die Härtesten. „Warum fahren wir nicht nach Wacken?“, fragte ich Philipp. Er sah mich kritisch an. „Wacken?“, fragte er ungläubig zurück. „Bist du irre? Da gehen wir tot! Ich hab‘ Herz und da werde ich doch nicht vier Tage im Zelt wohnen!“ Er machte also auf Mitleid und ich konterte.

„Wir können uns doch auch ein richtig fettes Wohnmobil mieten.“, sagte ich. „Und dann brauchen wir nur noch genug Bier und Gummistiefel.“, hängte ich noch dran. Er sah mich an, sah in sich hinein und sagte: „Warum nicht? Frag‘ mal die anderen, was die dazu meinen.“

Nach Caracas geht's hintenrum!

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