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TEIL I
Prolog
„Die Angeklagten haben das letzte Wort.“
Die Worte des Vorsitzenden Richters klangen bedrohlich in dem dunkel vertäfelten Saal des Landgerichts. Er schaute über eine randlose Brille in Richtung der Anklagebank, wo Eva Röller neben ihrem Freund auf einem grün gepolsterten Metallstuhl saß. Vor ihnen auf dem Tisch lag die Anklageschrift. Sie bestand nur aus wenigen eng bedruckten Seiten, die lose zwischen zwei Aktendeckeln geheftet waren. Die kleinen, schwarzen Buchstaben und Zahlen des Aktenzeichens der Zweiten Strafkammer verschwammen vor ihren Augen.
Eva schaute unsicher zum Richter, der ungeduldig auf eine Reaktion zu warten schien und mit den Fingern auf dem Tisch trommelte. Der Zuschauerraum im Verhandlungssaal war bis auf den letzten Platz belegt. In der ersten Reihe saßen zahlreiche Journalisten, die das spektakuläre Verfahren vom ersten Tag an verfolgt und mit großen Schlagzeilen berichtet hatten. Plötzlich spürte Eva, dass in ihrer Jeans ihr auf lautlos geschaltetes Skyphone vibrierte.
Vermutlich eine Push-Meldung der Skybook-App, dachte sie. Kurz vor dem letzten Verhandlungstag hatte sie auf ihrer Pinnwand die Statuszeile „Auf zum jüngsten Gericht“ gepostet und dafür innerhalb weniger Minuten ein Dutzend Likes geerntet. Sie mochte sich ein Leben ohne ihr Skyphone gar nicht vorstellen. Das kleine Gerät war seit einigen Jahren ihr ständiger Begleiter geworden. Sie liebte es, ihre Gedanken und Einfälle mit ihren über tausend Freunden zu teilen. Vielleicht wäre es die größte Strafe für sie, bald mehrere Jahre offline sein zu müssen. Zwar hatte sie schon öfters gehört, dass man sich im Knast ohne Probleme Handys und Drogen besorgen konnte, wenn man sich mit dem Wachpersonal gut verstand. Aber ihr virtuelles Leben als Evi96 könnte in wenigen Minuten beendet sein. Sie merkte, dass sie dieser Gedanke mehr schockierte als die Tatsache, dass auch ihre berufliche Laufbahn jäh enden würde, noch bevor sie richtig begonnen hatte: Hatte sich die ehrgeizige investigative Nachwuchsjournalistin mit ihrem ersten großen Auftrag ins Gefängnis recherchiert?
Dumm gelaufen! Wie blöd kann man nur sein, sein Leben für einen journalistischen Scoop zu ruinieren?
Eva sah, wie sich der Mund des Richters bewegte, doch seine Worte nahm sie nicht wahr. Wie wenn man bei einem langweiligen Fußballspiel den Ton abschaltet.
„Wenn Frau Röller es vorzieht zu schweigen, dann frage ich den Mitangeklagten Herrn Berger, ob er von seinem Recht Gebrauch machen möchte, ein letztes Wort zu äußern.“ Der Blick des Richters wanderte einen halben Meter nach rechts. „Herr Berger?“
Eva zitterte. Es fühlte sich an, als schwanke der Boden unter ihren Füßen. Sie hörte, wie Adam mit fester Stimme sprach:
„Hohes Gericht, ich denke, dass ich auch für meine Freundin sprechen kann, wenn ich sage: Wir bekennen uns schuldig.“
Auf der Pressebank schaute die junge Korrespondentin von worldnews.de kurz zu ihnen herüber. Als sich ihre Blicke trafen, sah sie sofort wieder auf ihren Block und machte weiter Notizen. Die Reporterin schien sich nicht wohl in ihrer Rolle zu fühlen. Vermutlich war ihr klar, dass sie nicht auf diesem Platz säße, wenn die beiden Angeklagten heute nicht vor Gericht ständen.
Adam blickte Eva an. Sie atmete tief durch, räusperte sich und sagte dann, so laut, wie es ihr im Moment möglich war: „Wir werden jedes Urteil des Gerichts akzeptieren.“
Dann sackte sie in ihrem Stuhl zusammen und dachte: Hätten wir doch bloß nie diesen verdammten Koffer geöffnet.
Nur eine halbe Stunde später sprach das Gericht sein Urteil. Im Namen des Volkes.