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Navarre holt aus

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Das Hauptquartier der regulären Streitkräfte der Demokratischen Republik Vietnam lag in einer gebirgigen Region des befreiten Nordens. Es war sicher, denn der Gegner konnte mit seinen Kräften keine wirkungsvolle Aufklärung betreiben. Wer hier arbeitete, war in Felsgrotten untergebracht, die zudem noch Schutz bei einem eventuellen Luftangriff bieten konnten. Außerdem war das Gebiet im weiten Umkreis durch ein Netz von Posten gesichert, die es an Aufmerksamkeit nicht fehlen ließen.

Anh Chu war einer dieser in der neuen Volksarmee ausgebildeten Soldaten. Er kam aus einer lokalen Selbstverteidigungseinheit in Hanoi; inzwischen galt er als erfahrener Postenführer. Vor seiner Zeit als Soldat hatte er in einer Klempnerei gearbeitet. Er verstand etwas von Wasserrohren und defekten Gullys, konnte Metall löten und Gewinde schneiden. Überhaupt hatte er immer alles an Kenntnissen und Fertigkeiten begierig eingesogen. Wann immer es in der Einheit, zu der er gehörte, einen Vortrag gab, eine Abendveranstaltung, war er mit Sicherheit dabei zu finden. Erst kürzlich hatte ein von der Armeeführung Beauftragter eine Serie von Vorträgen über die Entstehung der Republik gehalten und Anh Chu deshalb mehrmals den Dienst getauscht, um nicht einen Satz zu verpassen. In seinem Notizbuch, das er einem toten Gegner abgenommen hatte, bevor er ihn begrub, standen viele Aufzeichnungen – Anh Chu konnte schreiben und lesen. Er war in eine der heimlich betriebenen Schulen gegangen, zu jener Zeit, als die Japaner Vietnam besetzt hielten. Bei Gründung der Republik, im September 1945, war er dreizehn Jahre alt gewesen. Mit sechzehn stand er seinen Mann bei den Selbstverteidigungskräften. Wenn er die jungen Soldaten sah, die heute zu den neuen Divisionen gehörten, kam er sich beinahe schon wie ein Veteran vor. Er hatte so viele Kämpfe mitgemacht, daß er sich an manche Einzelheiten nicht mehr genau erinnerte.

»Postenführer!« wurde er angerufen. Er duckte sich noch tiefer in den Schatten des riesigen Banyanbaumes, dessen Luftwurzeln so dicht erdwärts wuchsen, daß sie ein vorzügliches Versteck boten. Nach einer Weile konnte er sehen, es handelte sich um einen der Kuriere, die zwischen dem Hauptquartier und Hanoi eine ständige Verbindung aufrechterhielten. Ein Posten brachte ihn heran.

Hanoi war nach wie vor ein Zentrum der Parteiarbeit und ein Schwerpunkt der Aufklärung. Es war die Hauptstadt der Demokratischen Republik Vietnam, selbst wenn jetzt dort der Feind residierte. Der Kurier schien müde zu sein; er lehnte sich an einen Stamm und wartete. Sein Gesicht war vom Mondlicht blaß erhellt. Der Mann war nicht mehr jung.

Der Posten trat ab. Anh Chu prüfte den Kurier: »Parole?«

Der antwortete: »Viet-Bac«.

Daraufhin trat Anh Chu aus dem Dunkel und begrüßte ihn. Er hatte ihn zum diensthabenden Offizier des Hauptquartiers zu bringen, so lautete sein Befehl. Also erkundigte er sich nur kurz, ob alles in Ordnung sei, und als der Kurier ihm versicherte, er werde nicht verfolgt, führte er ihn auf verschlungenen Pfaden durch das unübersichtliche Gelände bis an die Grotte, in der er den Diensthabenden wußte.

Der Offizier ließ sich Bericht erstatten, dabei sorgte er dafür, daß der Kurier warmes Trinkwasser erhielt, und legte ihm Zigaretten hin. Alle Nachrichten wurden mündlich überbracht. Dadurch konnte es dem Gegner nicht gelingen, ein Dokument in die Hände zu bekommen, das von Nutzen für ihn war.

Es war Frühsommer. Die Temperaturen kletterten tags schon über dreißig Grad, nachts hingegen fielen sie hier im Gebirge stark, so daß besonders die Leute aus dem Tiefland, aus dem Delta des Roten Flusses, der Gegend um Hanoi, froren. Anh Chu brachte dem Kurier eine Decke, die er über die Schultern hängen konnte. Auch er selbst hatte sich immer noch nicht ganz an die kalten Nächte im Gebirge gewöhnt. Er zog alle Kleidungsstücke an, die ihm gehörten, wenn er nachts auf Posten ging.

Anh Chu wußte, daß der Kurier in Hanoi einen Laden betrieb. Schon bevor die Japaner Indochina okkupiert hatten, war dieser unscheinbare Mann im Widerstand gegen die Franzosen tätig gewesen. Sein Laden gab ihm eine vortreffliche Tarnung. Ob er es noch erlebt, wie wir die Franzosen endgültig verjagen? fragte sich Anh Chu, während er wieder unter die Luftwurzeln des Banyan kroch. Er erinnerte sich, wie er als Dreizehnjähriger auf dem Platz in Hanoi gestanden hatte, damals, am 2. September des Jahres 1945, als Ho Chi Minh das Ende der Kolonialzeit und die Gründung der unabhängigen Demokratischen Republik verkündete. Ganz Hanoi war auf den Beinen gewesen. Anh Chu trug ein Pappschild mit der Aufschrift »Doc Lap« (Unabhängigkeit), andere hatten den Namen Ho Chi Minhs auf Plakate gepinselt.

»Unsere Republik geht ihrem achten Geburtstag entgegen«, hatte der Vortragsredner neulich gesagt. »Acht Jahre Kampf. Und dieser Kampf hat eine lange Tradition. Vietnam ist das erste Kolonialgebiet der Welt, in dem das Volk sich selbst befreit und seinen eigenen Staat gegründet hat. Das ist ein weltgeschichtliches Ereignis! Wir werden vielen anderen Kolonialländern damit ein ermunterndes Beispiel geben!«

Geschichte. Anh Chu, wenn er heute noch einmal zu wählen hätte, wäre Geschichtslehrer geworden. In der Geschichte eines Volkes konnte man seinen wahren Charakter entdecken, seine Stärken und Schwächen, man konnte sogar Schlüsse auf die Zukunft ziehen, wenn man tief genug in die Vergangenheit eindrang.

Deshalb enthielt Anh Chus Notizbuch auch kaum Aufzeichnungen über ihn selbst und seine Alltagserlebnisse. Er vermerkte darin, was er aus der Entwicklung Vietnams gleichsam nach und nach ausgrub. Erkenntnisse, die von Seite zu Seite immer mehr Zusammenhänge erhellten, Kausalitäten aufdeckten, in die sich Anh Chu versenkte, wenn er Zeit dazu hatte.

Als er Soldat geworden war, hatte er nur gewußt, es galt, die Heimat vor den mit ihrer Rückkehr drohenden Franzosen zu schützen. Heute wußte er vieles, das ihn seinen eigenen Einsatz als Mitwirken bei einer historischen Anstrengung erscheinen ließ, die weit über Vietnam, über Indochina hinaus Bedeutung erlangen würde.

1940, als der achtjährige Anh Chu barfuß durch entlegene Gassen dorthin trottete, wo heimlich Unterricht abgehalten wurde – oft müde von der Arbeit in der Markthalle, in der er sich eine Handvoll Reis verdiente –, war das Heimatland der Kolonialisten von Hitlers Truppen überrannt worden. Bis auf einen kleinen Flecken im Süden, wo der General Pétain eine faschistenfreundliche Regierung bildete. Die Verwaltung der indochinesischen Kolonie tendierte zu dieser Clique, und der von Pétains Gnaden eingesetzte Generalgouverneur gestattete den mit Hitler verbündeten Japanern stillschweigend und Schritt für Schritt die Inbesitznahme Vietnams als Aufmarschgebiet für ihren ein Jahr später südwärts erfolgenden Angriff.

Doch noch vorher kam es in Frankreichs verratener Kolonie zu den ersten bewaffneten Aktionen von Vietnamesen gegen Japans Besatzer, in Bac Son, My Tho und anderswo. Es waren die ersten Flammenzeichen. Aus den Überlebenden der ungleichen Kämpfe wurden Kader einer illegalen Armee, die entschlossen war, Vietnam für das vietnamesische Volk zu erobern.

Politische Parteien und Gruppen folgten dem Ruf der Kommunistischen Partei Indochinas, sich in einer Einheitsfront zusammenzuschließen. An der Spitze der Vietminh standen neben dem welterfahrenen Kommunisten Ho Chi Minh, der von den Franzosen sieben Jahre eingekerkert gewesene Pham Van Dong sowie der Geschichtslehrer und Philosoph Vo Nguyen Giap, der wesentlich die militärischen Voraussetzungen für den weiteren Unabhängigkeitskampf schuf.

1942 begann er mit der Formierung der ersten bewaffneten Widerstandsgruppen, die sich feindfreie Räume erkämpften, in denen sie militärische Basen aufbauten. Im Winter 1944 existierte bereits die erste Einheit einer vietnamesischen Volksarmee, ein ernst zu nehmender Gegner für die japanischen Okkupanten.

Diese versuchten die Vietminh auszuschalten, indem sie Bao Dai, den letzten Sprößling der ehemaligen Kaiserdynastie, ausgruben und als Staatsoberhaupt eines Gebildes einsetzten, das sie »Unabhängiges Vietnam« nannten. Die Farce verfehlte ihre Wirkung: Der bewaffnete Widerstand nahm zu.

Der 16. August des Jahres 1945 markierte eine geschichtliche Wende – es war eine Provisorische Regierung der Republik Vietnam gegründet worden, ihr Präsident Ho Chi Minh rief das Volk zum allumfassenden Kampf für die Unabhängigkeit auf und verlangte von den japanischen Okkupanten die Kapitulation. Drei Tage später wurde Hanoi befreit. Bao Dai unterstellte sich erschrocken der Provisorischen Volksregierung. Eine Woche danach wehte auch über Huê und Saigon die Vietminh-Flagge: rotes Tuch mit gelbem Stern.

»Vietnam hat das Recht, frei und unabhängig zu sein und ist tatsächlich frei und unabhängig geworden!« Diesen Satz aus der Rede Ho Chi Minhs in Hanoi hatte sich Anh Chu in seinem Büchlein nachträglich notiert, obwohl er ihn ohnehin nie vergessen würde, ebenso wie alles, was die neue Republik im Leben der Leute schon in ihren Anfängen veränderte: das System der feudalen Mandarine wurde abgeschafft; es gab keine willkürlich auferlegten Steuern mehr; jeder erhielt das Recht auf Arbeit, durfte Bildung erwerben und sich an der Lösung öffentlicher Fragen beteiligen.

Wiedergekehrt waren die Franzosen im September 1945, nachdem in Paris ein neuer »Hochkommissar« ernannt worden war, für eine Kolonie, die es juristisch gar nicht mehr gab. Frankreich verfolgte die inzwischen gebräuchlich gewordene Politik der Nichtanerkennung. Truppentransporter spuckten von nun an zehntausende Soldaten an den Küsten Vietnams aus.

Die Republik war gezwungen, die Befreiung zu wiederholen. Ho Chi Minh selbst rief dazu auf, der schmächtige Mann, dem die Entbehrungen des langen illegalen Kampfes noch zu schaffen machten, gab der Nation ein Beispiel, indem er sich selbst keine Schonung gönnte.

»Erhebt euch zum Kampf!«, forderte er seine Landsleute auf. »Jeder Bürger Vietnams, ob Mann oder Frau, alt oder jung, muß sich ungeachtet seiner religiösen, parteipolitischen und nationalen Zugehörigkeit um der Rettung der Heimat willen zum Kampf gegen die französischen Kolonialisten erheben. Wer ein Gewehr hat, bewaffne sich mit diesem Gewehr. Wer ein Schwert hat, bewaffne sich mit dem Schwert. Wenn ihr auch keine Schwerter habt, bewaffnet euch mit Spaten, Hacken und Stöcken …«

Bald erwies sich der Norden Vietnams, vor allem seine Gebirgsregionen, als das Herzland des Widerstandes. Aber auch in Zentral- und Südvietnam gab es befreite Zonen. Die Kampftaktik der Volksarmee bestand darin, daß kleine, nach Partisanenart operierende Einheiten den Gegner überall dort verunsicherten, wo Erfolg möglich war. Die regulären, oft noch in der Ausbildung begriffenen Einheiten der Volksarmee hingegen wichen den Vorstößen des Gegners aus und schlugen ihrerseits dort zu, wo französische Truppen die Verbindung verloren oder sich in ungünstigen Stellungen befanden.

Das änderte sich auch nicht, als die Franzosen zu einer neuen taktischen Variante griffen: Wo sie nur konnten, errichteten sie Bunker und befestigte Punkte, die wie ein Netz über dem Land wirken sollten. Man versprach sich davon die Paralysierung des Widerstandes. Das Gegenteil trat ein, weil sich die Vietminh unter der flexiblen Führung von Ho Chi Minh, Truong Chinh, Pham Van Dong und Vo Nguyen Giap schnell auf mobile Taktik verlegten und ihrerseits nun die befestigten Punkte isolierten, sie zu unsicheren Inseln für den Gegner machten.

1951/52, als die Vietminh bereits über straff organisierte Divisionen verfügten, die von gesicherten Stützpunkten im Norden aus größere Operationen führen konnten, kam es zum Kampf um die Stadt Hoa Binh am Schwarzen Fluß. (Dort kreuzte sich die Straße von Hanoi westwärts in Richtung Laos mit der wichtigen Verkehrsader, die südwärts führte.) Die Serie von Gefechten, bei denen die Franzosen schwere Artillerie, Panzer und Fluzgzeuge einsetzten, endete mit einer peinlichen Niederlage des Kolonialheeres. Fortan hieß Hoa Binh bei den französischen Soldaten der »Fleischwolf«.

Nun verfügte Frankreich im gesamten Norden nur noch über ein so gut wie eingeschlossenes Stützpunktsystem in Nordlaos sowie über das Delta des Roten Flusses, mit Hanoi und Haiphong. Außerdem gab es im Nordwesten den Dschungelstützpunkt Lai Chau, und an der Grenze zur laotischen Provinz Sam Neua lag ein ebensolches Urwaldfort, Na San. Erst in der zentralvietnamesischen Küstenregion gab es wieder fest in französischer Hand befindliche Gebiete. Zwischen diesen befestigten Punkten, auf die sich Frankreichs Kriegsführung stützte, lagen Hunderte von Kilometern unsicherer Straßen und befreiten, von der Volksarmee beherrschten Territoriums.

Die Bedingungen, unter denen die Armee des vietnamesischen Staates kämpfte, hatten sich entscheidend verändert: Die offensive Verteidigung war möglich geworden, und die Voraussetzungen für einen umfassenden Gegenangriff begannen sich abzuzeichnen.

Einen Tag nachdem der Kurier aus Hanoi im Hauptquartier angekommen war, versammelten sich die Stabsoffiziere sowie eine Anzahl Truppenkommandeure an dem langen Holztisch in der Felsgrotte. An den rissigen Wänden waren Karten befestigt. General Giap begrüßte alte Kampfgefährten, die über weite Entfernungen angereist waren. Es war eine lockere, beinahe heitere Atmosphäre, die noch zusätzlichen Schwung erhielt, als Ho Chi Minh und Truong Chinh eintrafen. Bei einer Hochzeit könnte es lärmender zugehen, fand Anh Chu, der einen Blick in die Grotte warf, als er die Posten kontrollierte. Doch dann wurde es plötzlich still. Truong Chinh eröffnete die Besprechung: »Genossen, wir sind zusammengekommen, um über die Weiterführung des Kampfes im Herbst/Winter 1953/54 zu beraten …«

Er informierte die Anwesenden über Veränderungen in der weltpolitischen Lage, hauptsächlich darüber, daß es der sowjetischen Diplomatie gelungen war, die westlichen Mächte endlich zu einer Konferenz zu bewegen, auf der nicht nur über Korea, sondern vor allem über die Beendigung des Indochina-Krieges Beschlüsse gefaßt werden sollten. Truong Chinh faßte sich kurz. Er sagte: »Trotzdem liegen Monate des Kampfes vor uns. Der Gegner will bis zu dieser Konferenz eine Entscheidung, er will uns auf den Knien sehen, wenn die Konferenz beginnt. Diesen Plan haben wir zu durchkreuzen. Genosse General Giap wird seine Vorschläge zur Strategie und Taktik in der nächsten Etappe unterbreiten …«

Giap war sofort auf den Füßen. Er machte ein paar Schritte, als wolle er seinem Körper endlich Bewegung verschaffen, dann überflog sein Blick die Anwesenden, und er begann, in nüchterne Zahlen gekleidet, die gegenwärtigen Kräfteverhältnisse auf dem Kriegsschauplatz darzustellen. Er versprühte förmlich Energie. Was er vortrug war wohlgeordnet, und er wirkte dabei bedächtig, als überlege er immer noch. Vo Nguyen Giap war ein Mann, der durch seine Haltung andere zum Nachdenken anregte.

Er begann mit dem Delta des Roten Flusses. »Genossen, wir dürfen den Gegner in diesem Raum nicht zur Ruhe kommen lassen. Ich schlage vor, die Tätigkeit beweglicher Kräfte zu verstärken, so daß er es nicht wagen kann, von dort nennenswerte Truppen in andere Gebiete abzuziehen …«

Nachdem sich einige Kommandeure über Möglichkeiten geäußert hatten, den Partisanenkrieg im Delta zu intensivieren, fuhr Giap fort: »Sehen wir uns die Karten an. Wenn wir es schaffen, trotz der verstärkten Kämpfe im Delta von dort eigene reguläre Truppen abzuziehen, auch aus anderen Gebieten, können wir sie auf Lai Chau ansetzen, die letzte Bastion des Gegners im Nordwesten, im Fleisch unseres befreiten Nordens sozusagen …«

Raunen ging durch die Versammelten. Ein Ziel war genannt worden! Der Vorschlag war kühn. Aber Giap sprach schon weiter: »Greifen wir diesen isolierten Stützpunkt an, schaffen wir es, ihn zu nehmen, dann können wir unseren laotischen Kampfgefährten, die dann die Flanke frei haben, vorschlagen, gemeinsam mit vietnamesischen Freiwilligen aus ihren Basen südwärts vorzustoßen, Richtung Zentrallaos. Damit würde sich das Gesamtgewicht des befreiten nördlichen Indochinas enorm erhöhen …«

Er ging zu einer der Landkarten an der Felswand und bezeichnete die Richtung möglicher Vorstöße. Dann drehte er sich um. Seine Augen blitzten, als er rief: »Und nun – die Karten, die der Gegner spielen könnte: Er kann unseren Schritt hinnehmen, dann haben wir viel gewonnen. Läßt er sich aber verleiten, in Richtung auf unsere nördlichen und nordwestlichen Gebiete vorzudringen, um uns zu kontern oder um unsere Verbindung mit Laos zu brechen, dann … könnten wir noch viel mehr gewinnen!«

Wieder wandte er sich zur Landkarte. Sein Zeigestock bezeichnete Konzentrationen der Befreiungstruppen. Dabei erläuterte er: »Hier, hier und hier … können wir genügend reguläre Truppen schnell verfügbar machen, und die würden einen Gegner angreifen, dessen logistische Linien so weit ausgedehnt sind, daß seine Materialüberlegenheit nur noch sehr bedingt zum Tragen kommt. Genossen, darin könnte eine wichtige Vorentscheidung für unseren Kampf liegen!«

Eine Pause trat ein. Jeder hatte zuerst einmal darüber nachzudenken, was Giap da vorschlug. Dann wurden Fragen gestellt, nach Bewaffnung und Transportmöglichkeiten, nach Routen für die schnelle Verlegung von Einheiten, und immer wieder wurden die an den Wänden aufgehängten Karten konsultiert.

Ho Chi Minh, das dunkelbraune Bauernhemd weit aufgeknöpft, lauschte den Gesprächen. Er war stolz darauf, daß es diese Offiziere gab, Giap, Van Tien Dung, all die anderen, die von der Volksrevolution hervorgebracht worden waren und die im Kampf lernten, wie das Kriegshandwerk, von dem die Franzosen meinten, nur sie beherrschten es, gehandhabt wurde.

Hier, in den Bergen des Nordens, wuchsen die Männer heran, die nicht nur die gegenwärtigen Aufgaben lösen sollten – sie würden in einer Zukunft, die noch weit entfernt war, das Land endgültig zur gesicherten Unabhängigkeit und Freiheit führen.

»Fliegeralarm!«, rief Anh Chu in die Felsgrotte, in der die Beratung stattfand. Gleichzeitig schlug einer seiner Posten an eine im Freien aufgehängte Kartusche, was einen glockenähnlichen Ton weithin hallen ließ. Überall erstarben die Bewegungen. Schützen krochen unter ihr Tarnzeug, langsam wurden die Läufe der Fla-MGs hochgekurbelt – es gab den Befehl, nur dann zu schießen, wenn der gegnerische Flieger das Hauptquartier direkt angriff.

General Giap legte den Bleistift, mit dem er sich Notizen machte, nicht aus der Hand. Er zeichnete Pfeile in die Karte, die nach Lai Chau wiesen. Fünf reguläre Divisionen sind verfügbar, überlegte er, ein beachtliches Potential: die 304., 308., 312., 316. und die 320. Dazu kam die »Schwere«, das war die 351., mit zwei Artillerieregimentern, einem Pionierregiment, Panzern und anderem Gerät. Es galt, sie klug einzusetzen, diese Truppen, die aus Partisanengruppen hervorgegangen waren. Und man mußte ihren Nachschub sichern. Die Volksarmee verfügte nur über wenige Lastwagen. Doch auch sie würden höchstens nachts fahren können, weil der Gegner Aufklärer in der Luft hatte und die voll beladenen Fahrzeuge ein willkommenes Ziel für Schlachtflieger sein würden. Alles, was eine kämpfende Einheit brauchte, mußte deshalb von freiwilligen Trägern, den Dan Cong, herangeschafft werden. Viele waren Frauen; manche trugen neben der Last noch einen Säugling. In letzter Zeit hatte man mehr Fahrräder einsetzen können. Damit konnte man bis zu sechs Zentner Last befördern, so geschickt hatte man die Konstruktion verstärkt. Aber noch waren Fahrräder knapp, wenngleich in den befreiten Gebieten fieberhaft am Bau dieser einfachen Transportmittel gearbeitet wurde.

Der Vierzigjährige mit der hohen Stirn, der die Streitkräfte der Republik befehligte, drehte den Stift zwischen den Fingern. Er hatte erst am Nachmittag eine Kolonne weiblicher Träger vorbeiziehen sehen, und er war dabei, wie oft, an das Schicksal seiner Frau erinnert worden. Sie hatte wie er die Landsleute zur Erringung der Unabhängigkeit ermutigt. Ein französisches Gericht, das in Hanoi residierte, verurteilte sie zu lebenslänglicher Haft. Sie war im Gefängnis gestorben, während ihr Mann in den Bergen kämpfte. Seitdem suchte der Oberbefehlshaber zuweilen in den Gesichtern weiblicher Soldaten ihre Züge; er blickte Kindern nach, als wären es die eigenen.

Vo Nguyen Giap hatte als junger Mann mit der ihm eigenen Beharrlichkeit an der Hanoier Universität Philosophie und Jura studiert, später hatte er an einer Schule jungen Menschen vietnamesische Geschichte gelehrt. Es war seine Überzeugung, daß tiefes Verständnis für die eigene Geschichte Patrioten erzog. Und die brauchte Vietnam, wenn es leben wollte. Wie weit lag diese Tätigkeit schon zurück!

Als der General dahinterkam, daß der Postenführer des Hauptquartiers ein Tagebuch schrieb, ließ er es sich zeigen. Eigentlich wollte er dem Soldaten Anh Chu eine Belehrung erteilen: Man trug als Kämpfer kein Tagebuch bei sich. Wenn der Feind es erbeutete, könnte er Schlüsse daraus ziehen, unter denen andere Kameraden zu leiden hätten. Doch als Giap las, daß es sich bei den Notizen um historische Reminiszenzen handelte, Zeugnisse eines Studiums der Geschichte Vietnams, das die Franzosen so gern als geschichtslos hinstellten, lobte er Anh Chu und ermunterte ihn weiterzumachen.

Giap widmete sich wieder der Karte. Sollte der Teufel das Flugzeug da oben holen. Es beunruhigte ihn nicht. Selbst wenn er den Passagier gekannt hätte, wäre er nur schwerlich nervös geworden.

General Navarre saß neben dem Piloten der von den Amerikanern gelieferten »Dakota« und starrte mit seinem Fernglas nach unten. Durch das verschmutzte Kanzelfenster verschleiert, erkannte er unermeßliche blaugrüne Waldgebiete. Dazwischen lagen verkarstete Höhenzüge, faltige Erdaufwürfe mit ausgetrocknetem rostrotem Elefantengras. Hin und wieder öffneten sich Täler, in denen Siedlungen zu erkennen waren; an den Hängen schimmerten schlammige Reisterrassen. Und Flußläufe gab es. Sie blinkten im Sonnenlicht auf wie Silberfäden. Kleine Streifen gelber Erde markierten Fahrwege, so schmal wie ein Büffelkarren. Land ohne Maßstäbe, dachte Navarre, der Kavallerist, dem die mechanisierte Kriegführung vorschwebte, die alles hinwegfegende Offensive mit der stählernen Faust der Panzer und Haubitzen.

Wo soll man hier Panzer einsetzen? Es ist nicht das Gelände dafür. Artillerie? Eine Hundearbeit, Geschütze zu transportieren! Er begann sich vorzustellen, wie einem Infanteristen zumute sein mußte, der in diesem Gewirr von uralten Bäumen, Lianen, Gebüsch und fauligem Unterholz ein Deckungsloch grub. Und was tat er, um nicht nur persönlichen Schutz zu haben, sondern auch noch ein Schußfeld? Selbst Motorsägen würden Schwierigkeiten haben …

»Da unten sitzen sie«, machte der Pilot ihn aufmerksam, »irgendwo. Sogar unsere besten Aufklärer bringen nur selten brauchbare Aufnahmen mit nach Hause.«

»Meister der Tarnung. Ich habe davon gehört!«

»Nicht nur das. Sie haben ein System entwickelt, selbst größere Truppenteile so zu verstecken, daß man nicht einmal ein paar Reifenspuren sieht.«

»Was haben sie denn mit Reifen?«, erkundigte sich Navarre ironisch. »Büffelkarren?«

»Fahrräder«, antwortete der Pilot. Er flog, weil der General es so wollte, in etwa sechshundert Meter Höhe, und ihm war nicht sehr wohl dabei. »Neben den Fahrrädern haben sie so ziemlich alles, was die Amerikaner in Korea liegenlassen mußten. Die Chinesen haben es zusammengelesen und den Vietminh gespendet: 105-mm-Haubitzen, 81-mm-Granatwerfer, rückstoßfreie Geschütze, Bazookas, und Unmengen von Munition für jeden Zweck.«

»Flugzeuge?«

»Keine. Aber 37-mm-Flak. Unangenehm.« Der General wurde auf ein schmales bräunliches Band aufmerksam, das westwärts verlief. Der Pilot erklärte ihm, es sei die Straße nach Lai Chau. Befahrbar zwar, aber von Vietminh-Kommandos beherrscht, die jedem Konvoi verlustreiche Hinterhalte zu legen pflegten. Lai Chau war der letzte größere französische Stützpunkt im Nordwesten. Als der Ort zu sehen war, die Erdaufwürfe der Befestigungen, das Zickzackgewirr der Verbindungsgräben, die MG-Nester, ließ Navarre die Maschine ein paar Runden fliegen und sah immer wieder unschlüssig auf die Karte, die er auf den Knien ausgebreitet hatte. Schließlich bemerkte er zu dem Piloten, der den Krieg aus jahrelanger Erfahrung kannte: »Wer mit stärkeren Kräften nach Laos will, muß Lai Chau überwinden, soviel steht fest!«

»Er kann auch achtzig Kilometer weiter südlich operieren. Bei Dien Bien Phu. Gehörte mal uns. Außenposten. Habe gehört jetzt soll dort ein Vietminh-Regiment liegen.«

»Dien Bien Phu?« Der General suchte auf seiner Karte, bis er den Ort gefunden hatte.

Der Pilot klärte ihn auf: »Heißt wörtlich übersetzt ›Große Kreisstadt an der Landesgrenze‹. Weniger eine Stadt. Eben so eine Häufung von Siedlungen in einem ziemlich geräumigen Tal. Die Straße, die Sie jetzt sehen, mon Général, da unten, dieser lächerliche Wanderweg, den man stellenweise nicht sieht weil er zugewachsen ist, das ist die sogenannte Pavie-Piste. Beginnt bei Lai Chau und führt über Dien Bien Phu nach Laos. Wurde von einem gewissen Monsieur Pavie abgesteckt, der hier oben residierte, als die Thai das Gebiet besetzten. Lange her. Der Pfad endet irgendwo in der Nähe von Muong Khoua. Laos. Da haben wir einen Stützpunkt, wie den in Lai Chau. Muong Khou fiel am 18. Mai den Pathet Lao in die Hände, aber inzwischen gehört es wieder uns …«

»Einen Tag, bevor ich in Saigon eintraf«, sinnierte Navarre.

Der Pilot zeigte ihm Muong Khoua auf der Karte, dann tippt er auf Lai Chau, und zuletzt auf einen etwa 150 Kilometer weiter östlich gelegenen Punkt, bei dem der Name Na San stand. »Da wären die drei wichtigsten Bollwerke, um den Vietminh den Weg nach Laos zu verlegen. Wenn wir das Gebiet zwischen ihnen kontrollieren könnten, kämen nur noch Einzelreisende mit leichtem Gepäck nach Laos durch. Allerdings ist Muon Khoua so gut wie völlig abgeschnürt.«

»Wir können nur noch mit Lai Chau und Na San ernsthaft rechnen, wie?«

»So ist es. Fliegen wir Na San an, mon Général?«

»Ich möchte es sehen, ja.« Navarre dachte daran, daß er erst vor einigen Tagen wieder aus Paris die Order erhalten hatte, Laos unbedingt zu sichern, egal, wie er es anfing. Muong Khoua werden wir nicht mehr lange halten können. Es zu versorgen, überfordert unsere Nachschubdienste. Lai Chau müssen wir halten. Das ist ein Eckpfeiler des Tores nach Laos sozusagen. Wenn wir dazu, und außer diesem Na San, im Westen noch einen Stützpunkt hätten, wären wir in der Lage, aus einem strategischen Dreieck Fernpatrouillen zwischen den einzelnen Punkten auszuschicken. Dien Bien Phu. Warum haben wir das verloren? Ein großer Platz. Wie konnte man den aufgeben? Genug Raum für Truppen, schwere Waffen, einen Flugplatz, der die Versorgung garantiert, wenn die Landwege verschlossen sind. Hätten wir heute Dien Bien Phu, dann wäre das strategische Dreieck wieder vollständig, und es ergäbe sich hier für die Vietminh eine tödliche Falle! Er blickte aus der Kanzel. Die Maschine stieg.

»Warum gehen wir höher?« fuhr er den Piloten an. »Ich entsinne mich nicht, das befohlen zu haben!«

Gehorsam ging der Pilot wieder auf die vorherige Höhe zurück. Aber er sagte nicht sehr freundlich: »Da unten, mon Général, kommt Moc Chau. Dort haben die Vietminh Flak stehen.«

Navarre war entschlossen, die paar MG-Salven, die vielleicht irgendein barfüßiger Freischärler abfeuerte, nicht ernst zu nehmen. Vermutlich gab es sie gar nicht, es gab nur die Vorsicht des Piloten. Auch einer von denen, die nicht den Ehrgeiz hatten, zu kämpfen, sondern sich lediglich unbeschädigt über die Zeit bringen wollten. Noch während er über diese Mischung von Kleinmut und Spekulationsgeist innerlich grollte, schlugen von unten kommende Geschosse plötzlich Blechfetzen aus der linken Tragfläche.

Der Pilot trimmte die Maschine, die ins Torkeln geriet, aus und warf einen Blick auf Navarre. Der schwieg. Demonstrierte Desinteresse an jemandem, der vermutlich mit einem jahrzehntealten Maschinengewehr die »Dakota« beschoß. Erst als unter einer genauer sitzenden Garbe die Scheiben der Glaskanzel splitterten, nickte der General dem Piloten zu. »Höher!«

Als sie über Na San ankamen, dem in den Wald gehauenen Stützpunkt, der an die Forts in Indianerfilmen erinnerte, begnügte sich Navarre mit einer Runde. Dann akzeptierte er den Vorschlag des Piloten, zwischenzulanden und die Maschine auf Beschädigungen untersuchen zu lassen.

Oberst Berteil, der Kommandant von Na San, ein Mann, der es verstand, seine Strebsamkeit hinter einer aufgetragenen Zurückhaltung zu verstecken, führte den General, während Mechaniker die »Dakota« abklopften, durch die Stellungen. Tiefe Gräben, Sandsackbarrikaden für MGs, holzgedeckte Unterstände, halb in die Erde getriebene Depots, in denen Munition und Material gelagert waren, ein paar flache Holzbauten, in denen die dienstfreie Besatzung hauste.

Berteil, der hier den Fallschirmjägerobersten Gilles abgelöst hatte, nachdem dieser Na San gegen verschiedene Angriffe zu verteidigen gezwungen gewesen war, führte ein straffes Kommando. Das konnte Navarre auf Anhieb erkennen. Er merkte sich diesen Mann für künftige Aufgaben vor.

Na San war arg mitgenommen, wenn man genauer hinsah. Zwar waren die Geschütze und Maschinengewehre, die Granatwerfer und MGs intakt, aber das Gelände erinnerte an einen Sturzacker. Immer wieder während der Besichtigung riet Berteil dem General, sich tief zu ducken, die bewaldeten Hänge rings um den Stützpunkt steckten voller Vietminh, die jede Bewegung beobachteten.

Im vergangenen Dezember hatte es hier die letzten schweren Kämpfe gegeben. Aber der Stützpunkt hatte sich halten können. Navarre empfand das als eine beachtliche Leistung. Berteil dämpfte seine Begeisterung, indem er ihn vorsichtig darauf hinwies: »Mon Général, ich übernahm das Kommando von Gilles. Er gestand mir, er sei sich wie ein Fuchs in seinem Loch vorgekommen, um das die Jäger lauern. Inzwischen habe ich dieses Gefühl ebenfalls.«

»Aber Sie haben ausgehalten!«

»Mit Verlaub«, sagte Berteil, »wenn die Vietminh tatsächlich alles eingesetzt hätten, um uns auszuräuchern, dann hätten sie es geschafft. Sie haben statt dessen auf lang dauernde Zermürbung gesetzt, das ist zu erkennen. Wir sind isoliert. Haben keinen Einfluß auf den weiteren Fortgang des Krieges. Keine Patrouille kann sich über unsere Drahthindernisse hinauswagen. Meine Männer sind Nervenbündel geworden. Vergangene Nacht habe ich wieder drei ins Lazarett schaffen lassen müssen. Tobsucht, tropische.«

»Wie das?« Navarre stieß unwirsch mit seinem Gehstock, der bei höheren Offizieren in Vietnam zu einer Art modischem Statuszeichen geworden war, in einen Erdaufwurf.

»Die Vietminh schleichen in der Dunkelheit bis auf ein paar Dutzend Meter an unsere Posten heran und rufen: ›Komm heraus, Franzose, kämpfe! Wir wollen dich endlich töten!‹«

Zu klein, dachte Navarre, als er den Stützpunkt überblickte. Schon aus der Luft war ihm die Ausdehnung zu gering vorgekommen. Der Eindruck festigte sich nun. So viele Männer, die so wenig Territorium beherrschten und dabei gegnerischem Feuer ausgesetzt waren – das sollte nicht die Art sein, in der wir kämpfen! Wir müssen aus der Bewegung heraus zuschlagen können, dann sind wir gut und überlegen. Doch hier ist keine Bewegung möglich, hier sind gewissermaßen die Ellbogen an den Körper gepreßt. Das Territorium unserer festen Punkte muß größer sein. Viele Quadratkilometer brauchen wir, in denen wir operieren können, ausholen zum Schlag. Na San ist dafür nicht geeignet. Es läßt sich auch nicht erweitern. Wir müßten ganze Urwälder niederlegen, Schußfeld schaffen. Unmöglich, hier.

Navarre sagte es Berteil nicht, aber er entschloß sich während dieser Besichtigung, Na San aufzugeben. Eine nutzlose Art, Truppen zu binden. Er erinnerte sich an die weiträumige Mulde von Dien Bien Phu, die er kurz zuvor aus der Luft hatte sehen können. Dort sollte man operieren können! Dien Bien Phu müssen wir haben. Der Gedanke setzte sich in Navarres Kopf fest. Dien Bien Phu und Lai Chau, dazwischen Fernpatrouillen, die den Vietminh den Weg nach Laos verlegten, an der entscheidenden Stelle. Das erschien ihm als Lösung, um den generellen Befehl aus Paris zu erfüllen und Laos, mit dessen König Frankreich einen »Beistandspakt« hatte, vor dem Einfluß der Vietminh zu sichern. Kein strategisches Dreieck, sondern zwei Eckpfeiler, zwischen denen kein Durchkommen sein durfte.

Tief in Gedanken versunken, flog Navarre nach Hanoi zurück. Cogny kündigte er an, man werde Na San in absehbarer Zeit blitzartig räumen. Der neuernannte Divisionsgeneral wiegte den Kopf, als Navarre ihm seine Meinung über Dien Bien Phu schilderte. Er versuchte zu scherzen: »Wenn dieses verdammte Na San Räder hätte, könnten wir es einfach nach Dien Bien Phu rollen …«

Navarre faßte es weniger als Scherz auf; er sah darin die Zustimmung Cognys zu seinem Plan. Und er beauftragte ihn, zwei Aufgaben ins Auge zu fassen: Na San zu räumen und dann noch einen überraschenden Schlag gegen das tiefe Hinterland der Vietminh hoch im Norden zu führen, um Durcheinander in ihren Materialnachschub zu bringen, sie zu beschäftigen, während das Fernziel anvisiert wurde: der Ausbau Dien Bien Phus zum beherrschenden Stützpunkt, an dem sich die Vietminh die Köpfe einrennen sollten.

Wenn sie so reagierten, würden sie dort Kräfte zu einer größeren Feldschlacht versammeln. Das war die Chance, alle Überlegenheitsfaktoren der französischen Armee auszuspielen und den Vietminh die vernichtende Niederlage beizubringen, die sie zum Einlenken zwang. Er, Navarre, würde demnächst nach Paris reisen, um dort sein Konzept vorzutragen und die nötigen Verstärkungen anzufordern. Inzwischen hatte Cogny zu handeln. Der Schlag gegen die Vietminh-Logistik hatte dabei Vorrang; die Nachricht davon würde in Paris unterstützend wirken.

Paris bot um die Frühsommerzeit des Jahres 1953 ein ziemliches Chaos, wenn man es aus der Perspektive der Politik betrachtete. Das Land war wirtschaftlich am Ende seiner Kräfte und dabei mit einem Krieg belastet. Ministerpräsident Mayer war gestürzt, der als Ersatz bestallte Joseph Laniel wurde selbst von sehr gutwilligen Leuten nur als Lückenbüßer betrachtet. Politische Entscheidungen zu fällen wurde immer komplizierter. Frankreich erlebte die tiefste Krise seit dem Neubeginn 1945.

Als General Navarre dem neuen Ministerpräsidenten von Saigon aus mitteilte, er bereite sich auf eine Reise nach Paris vor, um ihm seinen Plan für das weitere Vorgehen in Indochina darzulegen und zugleich notwendige Verstärkungen anzufordern, kam aus Laniels Sekretariat die Zurechtweisung, man halte es nicht für angebracht, daß der Oberkommandierende seinen neuen Posten schon vier Wochen nach Dienstantritt wieder verlasse. Als Navarre, der sich gerade für die Konferenz mit seinem Indochina-Generalstab in Saigon rüstete, auf der er seinen engsten Mitarbeitern die Planung für die nächsten Schritte im Feldzug unterbreiten wollte, das Fernschreiben aus Paris übergeben wurde, hielt er es hoch und fragte seinen Adjutanten: »Laniel? Wer ist Herr Laniel? Jemals von jemandem dieses Namens gehört?«

Der Adjutant wagte keine Antwort. Da legte Navarre das Papier, das er nur an einer Ecke mit zwei Fingern gefaßt hatte, als sei es schmutzig, betont lässig weg und erklärte: »Meine Reise nach Paris wird vorbereitet. Wo kämen wir hin, wenn irgendein Zivilist, der nun gerade einmal gewählt wurde, einem französischen General vorschreibt, was für seinen Kriegsschauplatz wichtig ist und was nicht. Wir werden diesmal aufpassen, daß nicht wieder solche Volksfrontsitten bei uns einreißen!«

Wenig später erläuterte er dem Indochina-Generalstab seine Entschlüsse. Sie wurden – obwohl nie schriftlich fixiert – fortan als »Navarre-Plan« bezeichnet. Henri Navarre, nicht sehr groß von Wuchs, aber voller Energie, ein Mann, der Widerspruch nicht schätzte, legte auch wenig Wert auf eine Diskussion seiner Entscheidungen – er teilte sie seinen Generalstäblern als Weisungen mit.

»Ich bin zu der Auffassung gelangt, daß wir im Norden und Nordwesten eine möglichst bewegliche Barriere zwischen das Kerngebiet der Vietminh und deren laotische Verbündete legen müssen. Dadurch halten wir ihre Kräfte gespalten. Lai Chau muß zu diesem Zweck verstärkt werden. Das aufgegebene Becken von Dien Bien Phu müssen wir wieder besetzen und befestigen. Zwischen den beiden befestigten Punkten muß durch ständige Patrouillen gleichsam ein Riegel entstehen. Weitere Vorstöße sollten das Gelände bis weit nach Laos hinein für die Vietminh unsicher machen …«

Er pausierte nur kurz, um die beiden Orte auf der Kriegskarte zu bezeichnen. Dann wandte er sich einer anderen Gegend des Landes zu, der engsten Stelle in Zentralvietnam, zwischen dem 17. und 18. Breitengrad.

»Hier, meine Herren, liegt ein neuralgischer Punkt. Wir müssen ihn beseitigen. Die Straße Nr. 1, die hier in Nord-Süd-Richtung verläuft, ist die einzige ernst zu nehmende Verkehrsader in diesem Flaschenhals. Gegenwärtig haben wir sie nicht im Besitz. Wir müssen sie den Vietminh entreißen, erstens, um sie wieder für französische Transporte zu nutzen, und zweitens, um sie für die Verschiebung von Vietminh-Verbänden zu sperren, etwa nordwärts, wenn wir dort mit der Dezimierung der Kerngebiete der Vietminh beginnen …«

Als nächstes widmete er sich der Lage im zentralen Hochland. Er erachtete es für möglich, größere Teile dieses Gebietes durch Einheiten einheimischer Söldner sichern zu lassen. Das Rückgrat sollten mobile französische Kampfgruppen liefern. Auf diese Weise könnten auch aus dem Hochland immer mehr französische Truppen abgezogen und für Kommandoaktionen und Offensiven gegen das nördliche Kerngebiet der Vietminh eingesetzt werden. Überhaupt, so betonte Navarre, sollten alle jene Gebiete des Landes, in denen die Vietminh nicht operativ wären, fortschreitend durch vietnamesische Söldner in französischen Diensten gesichert werden, damit sich die französischen Truppen einschließlich der Fremdenlegion fortan lediglich auf offensives Zuschlagen konzentrieren könnten, strategisch also in die Offensive kämen. Dies sei der Hauptpunkt seiner Überlegungen: den Krieg durch französische Angriffstätigkeit zu entscheiden, statt wie bisher, in der Verteidigung des gerade noch haltbaren Territoriums zu verharren.

»Zurück zum Nordwesten«, sagte Navarre dann. Die Stimme des stets um schneidige Haltung bemühten Kavallerieoffiziers wurde scharf. »Es gibt Anzeichen dafür, daß die Kommunisten uns dort am heftigsten bekämpfen werden. Schließlich ist dieses Gebiet ihr wichtigstes Hinterland. Also – wir legen es bewußt darauf an, daß sie sich mit stärkeren Kräften, möglichst mit dem Kern ihrer Armee, bei Lai Chau oder bei Dien Bien Phu oder überhaupt in dieser Gegend zum Kampf stellen. Tun sie das, können wir unsere materielle Überlegenheit voll ausspielen und sie buchstäblich zum Verhandlungstisch prügeln. Dort haben sie dann zu unterschreiben, was wir ihnen vorlegen. Wir. Übrigens, sollten sie sich entschließen, uns eine Entscheidungsschlacht im Delta des Roten Flusses zu liefern, können wir auch dort durch schnelles Verlegen mobiler Kräfte mit Übermacht reagieren …«

Ein bebrillter Herr in der bescheidenen Uniform eines US-Colonels, der sich im Hintergrund hielt, war mit Navarres Darlegungen sehr einverstanden. Man hatte am Abend zuvor im Hauptquartier der US-MAAG (Militärische Hilfs- und Beratungsgruppe) schon über Einzelheiten gesprochen. Es gab Bedingungen, unter denen Amerika sein Engagement weiter steigern werde, und Navarre war bereit, sie zu erfüllen. So würden jetzt Träger der 7. US-Flotte auf den Golf von Tongking zulaufen, um bereitzustehen, wenn Lufttransportraum benötigt wurde.

Gleichzeitig hatte Navarre zugesagt, sich absolut taub zu stellen, wenn man in Paris etwa die Frage an ihn herantragen sollte, weshalb die Produktionskapazität der französischen Fabriken in Vietnam weiter sank, weshalb immer mehr Unternehmer ihre Betriebe verlegten, oder – was schlimmer war – sie an Strohmänner amerikanischer Konzerne verkauften, die sie zunächst stillegten, bis die Verhältnisse im Lande wieder Profit zuließen.

Die Bank von Indochina, eines der finanzkräftigsten Unternehmen Frankreichs in Asien, baute ab, verlegte ihren Kapitalbestand nach Madagaskar. Automatisch traten bisher unscheinbare andere Banken an ihre Stelle. Es war längst in eingeweihten Kreisen bekannt, daß hinter ihnen US-amerikanisches Kapital stand. Die Zukunft zeichnete sich ab: Frankreich sollte den Krieg mit dem Blut seiner Soldaten und dem Stahlblech, dem Napalm seiner US-Verbündeten zu einem Ende bringen. Daraufhin würde dann das ausgeruhte, geschäftlich bereits gut etablierte US-Amerika die Regie übernehmen.

Navarre kannte diese Zusammenhänge. Aber er redete sich ein, Militär zu sein, nicht Politiker, und er konnte seine Aufgabe nur mit Hilfe der USA erfüllen. Mochten sich die Politiker um die Konsequenzen kümmern, die gingen ihn nichts an. Als er die Stabsberatung beendete, wünschte ihm der Herr Chefberater der US-MAAG an der Tür, wo er auf ihn wartete, einen guten Flug nach Paris.

Cogny, mürrisch, weil er aus seinen Delta-Stellungen Truppen für die Aktion gegen den Vietminh-Nachschub würde abzweigen müssen, aber auch für die spätere Besetzung von Dien Bien Phu, versprach Navarre nochmals, daß er in spätestens zehn Tagen weit oben im Norden zuschlagen werde. Dann legte er die Hand ans Képi, was er so gern tat, nur daß bei dieser Verabschiedung nach der Stabsbesprechung niemand fotografierte, weil das alles höchst geheim war.

Es waren auch keine Fotografen da, als General Navarre in Orly eintraf. Der General stieg auf dem Pariser Flughafen in einen Wagen des Generalstabs, wurde zu seiner Wohnung gefahren und am nächsten Morgen von Laniel empfangen. Der hörte sich den Bericht über die Indochina-Kriegsplanung mit relativ geringem Interesse an. Er verstand nichts von Kriegsführung, aber hatte wohl auch keine Lust, sich mit dem General anzulegen. Deshalb beschränkte er sich auf Kenntnisnahme der Absicht Navarres. Als der General ihm die Forderungen vorlegte, die er für die Weiterführung des Krieges hatte, verwies ihn Laniel an die Chefs der Streitkräfte.

Von da an begann Navarre seinen Bittgang, bei dem es ihm um eine entscheidende Aufstockung seines Potentials in Vietnam ging. Er beantragte an Verstärkungen:

12 Infanteriebataillone,

1 Fallschirmjägerabteilung,

3 000 Offiziere und Unteroffiziere, zur Verstärkung der mittleren und unteren Kommandoebenen,

100 gepanzerte Transportfahrzeuge,

50 flußgängige Kanonenboote und

1 Flugzeugträger mit Schlachtflugzeugen. Während Navarre in Paris von einem Stab zum anderen fuhr und seine Wünsche vortrug, die meist schweigend, mit einem bedauernden Lächeln entgegengenommen und dann als »zu hoch« bezeichnet wurden, ließ Cogny in Hanoi zwei Bataillone Fallschirmjäger in »Dakota«-Maschinen verfrachten und unter dem Kommando der Obersten Bigeard und Ducourneau in Richtung Lang Son fliegen, einer kleinen Stadt unweit der Grenze zur Volksrepublik China. Alle Agentenberichte besagten, daß über Lang Son Nachschub an Militärgütern zu den Vietminh floß. Zuletzt hatte eine kleine »Mouchard« – die von den Morane-Werken nachgebaute Fieseler »Storch« – Luftaufnahmen von einer zerklüfteten, dicht bewaldeten Berggegend mitgebracht, in der sich nach Meinung der Auswerter der Umschlagplatz für den Nachschub befand. Gemäß dem Befehl Navarres, der aus Publicity-Gründen eine spektakuläre Kommandoaktion gegen das Kernland der Vietminh brauchte, während er sich in Paris aufhielt, hatte Cogny das Unternehmen anlaufen lassen. Es würde, selbst wenn es sonst nichts bewirkte, wenigstens Navarre als Argumentationshilfe dienen.

Die Maschinen setzten die Männer auf sehr engem Raum ab, um konzentrierte Vorstöße zu erleichtern. Als die Soldaten ihre Fallschirme eingerollt hatten und sich umsahen, entdeckten sie im dunstigen Morgenlicht des 18. Juli 1953, eines Tages, der heiß zu werden versprach, zunächst keinen einzigen Vietnamesen. Kein Schuß fiel. Erst als die Züge auf das von den Aufklärern bezeichnete Gebiet vorrückten, in dem es Felshöhlen und Schluchten gab, wurden vereinzelt Bauern auf den Reisfeldern gesichtet und ohne Anruf erschossen. Cogny hatte für die Aktion »Carte Blanche« angesagt, das hieß, es wurde keine Rücksicht auf Zivilpersonen genommen.

In den Höhlen fanden sich eine Anzahl reparaturbedürftiger US-amerikanischer Maschinengewehre, etwas Munition, ein paar Kisten mit Panzergranaten und einiges an Handfeuerwaffen. Die Höhlen wurden gesprengt. Weiteres Suchen ergab nichts. Auch zeigte sich selbst spät am Nachmittag noch kein Gegner.

Trotz strenger Geheimhaltung war die Vorbereitung dem Oberkommando der Volksarmee nicht unbekannt geblieben, und es war der Befehl ergangen, den französischen Stoß ins Leere laufen zu lassen. Man praktizierte den altbewährten Grundsatz, sich nicht auf jedes Gefecht einzulassen, das der Gegner anbot, sondern eigene Schläge dort zu konzentrieren, wo sie den größten Erfolg versprachen.

Cogny, durch die Umstände, die sich nach dem Absprung ergaben, mißtrauisch geworden, sah die Aufgabe als erfüllt an und befahl den Rückzug. Er ließ ein weiteres Bataillon Fallschirmjäger an der von Lang Son südwärts führenden Straße bei Loc Binh absetzen, das den Rückmarsch decken sollte. Es wäre nicht notwendig gewesen, denn die Kolonne wurde nicht angegriffen. In drückender Hitze brachte sie den langen Weg nach Hanoi hinter sich, ohne noch einen Schuß abgeben zu müssen. Cogny sprach in seinem Bericht an die Presse von einem »unheimlichen und unberechenbaren Gegner«. Aber er ließ verlauten, sein Kommando habe unübersehbare Mengen Kriegsmaterial zerstört, unter anderem mehr als 8 000 Maschinengewehre.

»Wissen Sie, was es bedeutet, achttausend Maschinengewehre eines solchen Gegners zu vernichten, meine Herren?« fragte General Navarre rhetorisch in Paris die Abgeordneten, vor denen er Vortrag zu halten hatte. Er bekam ein paar anerkennende Blicke als Antwort, keinen Beifall.

Navarre, der wegen seiner Anforderungen am 24. Juli vor den Nationalen Verteidigungsausschuß geladen war, machte aus der Aktion Lang Son eine großartige Erfolgsgeschichte. Die erhoffte Wirkung blieb allerdings aus: Niemand wandte zwar etwas gegen seinen Plan ein, aber der Verteidigungsminister bewilligte ihm – nachdem der Ausschuß beraten hatte – nur neun Bataillone Infanterie als Verstärkung. Keine Artillerie, kein Flugzeugträger. Ministerpräsident Laniel machte Navarre auf die katastrophale Wirtschafts- und Finanzlage Frankreichs aufmerksam und teilte ihm kurz angebunden mit, er neige zu der in Paris vorherrschenden Meinung, daß es Zeit sei, diesen Krieg zu beenden. Unabhängig davon, so ließ Laniel Navarre wissen, sei er selbstverständlich nicht nur für die Sicherheit der französischen Truppen in Indochina verantwortlich, sondern auch dafür, daß Laos vom weiteren Vordringen der Vietminh bewahrt würde.

Am Tage des Abflugs von Paris wurde Navarre von einem Generalskollegen, der lange Jahre in Indochina verbracht hatte, gewarnt: »Deine Idee mit Dien Bien Phu gefällt mir nicht, Henri. Abgesehen davon, daß du andere Landesteile entblößen mußt. Bei deinem Personalbestand könntest du dort in eine grausige Klemme geraten. Erinnere dich an unsere alte Erfahrung: Ein Stützpunkt, mag er noch so schön sein, ist nichts wert, wenn Logistik ausschließlich von der Transportkapazität einer unzureichenden Luftflotte abhängt und von Wetterbedingungen, die katastrophal sind …«

»Und Laos?«, lautete Navarres Gegenfrage.

Sein Freund wiegte den Kopf. »Es stimmt, sie haben dir da eine Aufgabe gestellt, wie man sie nur stellen kann, wenn man Indochina entweder nie gesehen hat oder es nicht mehr sehen will!«

In Saigon angekommen, ließ Navarre den Schlag gegen die enge Stelle des Küstengebietes zwischen Huê und Quang Tri anlaufen, wo die von vielen so genannte »Freudlose Straße«, die Hauptader in Nord-Süd-Richtung, gesichert werden sollte. Das Unternehmen mit dem Decknamen »Camargue« warf unverhältnismäßig starke Kräfte an einen nur wenige Kilometer langen Küstenstreifen: etwa 30 Bataillone, 2 Panzerregimenter, 2 Artillerieregimenter, 2 Amphibieneinheiten, gepanzerte Landungsboote, über 30 Transportflugzeuge und 20 Jagdbomber.

Ihnen gegenüber lag in den schwer zugänglichen Sumpfgebieten hinter dem Strand bis hin zur Truong-Son-Bergkette eine einzige Vietminh-Einheit: das kampferprobte Regiment 95.

Der tagelange Kampf, in dem Haubitzen die Erde umwühlten, Panzer jede Hütte niederwalzten, Einwohner kurzerhand erschossen wurden, hatte ein ebenso mageres Ergebnis wie das Kommando Lang Son. Es gelang nicht, das 95. Regiment der Volksarmee entscheidend anzuschlagen. Der Stoß ging ins Leere.

Navarre hieb wütend mit seiner Reitgerte gegen die Stiefel. Er führte diese Gerte auf Flügen oft bei sich; das war unter Offizieren der Kavallerie üblich, wenngleich die Kavallerie sich inzwischen zur mechanisierten Truppe gewandelt hatte. Nichts lief so, wie er es gern gehabt hätte. Er hatte in Saigon Meldungen bekommen, die von einer Verstärkung der Vietminh-Truppen um den Dschungelstützpunkt Na San sprachen. Routiniers unter den Auswertern meinten allerdings, es handle sich dabei lediglich um eine Auswechslung der Truppenteile, die man zur Auffrischung zurückziehen wollte. Wie dem auch sein mochte, Navarre war entschlossen, Na San zu räumen. Es wäre unklug, dort weiter Soldaten zu binden. Sie sollten besser anderswo eingesetzt werden, wo der Gegner zu schlagen war. Man würde ihm seine entscheidende Niederlage bei Dien Bien Phu beibringen. Dieser Gedanke beherrschte immer stärker Navarres Vorstellungen.

Er dekorierte Cogny, die beiden Oberste und einen Oberstleutnant für ihre Leistung bei Lang Son mit dem Croix de Guerre Indochina, dankte den zur Parade angetretenen Soldaten und zog sich dann sogleich mit Cogny zurück.

»Na San«, begann er. Sie saßen im Club der Piloten in Gia Lam. Über ihnen rotierten träge die Flügel des großen Deckenventilators. Sie verschafften keine Kühlung mehr; der Hochsommer verwandelte das Delta des Roten Flusses in einen mörderischen Brutofen. Unablässig rann den beiden Generalen der Schweiß über die Gesichter. Sie tranken lauwarmen Tee, aber er löschte den Durst auch nicht, bestenfalls regulierte er ein wenig den Wasserhaushalt im Körper, vorausgesetzt, man schluckte die vom Sanitäter verabreichten Salzpillen dazu.

Cogny widerstrebte es, einen Stützpunkt wie Na San kampflos aufzugeben. Für ihn zählten Schlachten und Siege. Aber er mußte sich letztlich den Erwägungen Navarres anschließen: Na San band Truppen, war aber strategisch im Grunde wertlos. Da es zu schwach war, Kommandos auszuschicken, bewegte sich der Verkehr der Vietminh nach Laos, in die Provinz Sam Neua einfach am Stützpunkt vorbei. Außerdem bestand bei einem unverhofften gegnerischen Angriff die unangenehme Verpflichtung, auch noch weitere Truppen dorthin zur Verstärkung zu entsenden, um eine Katastrophe zu verhindern.

»Leiten Sie alles ein«, befahl Navarre jetzt. Er hatte sich über seine Rücksprachen in Paris bisher nur vage geäußert, bis auf die hingeworfene Bemerkung, die Politiker dort seien allesamt Verräter. »In der ersten August-Dekade muß alles abgeschlossen werden. Wir müssen Zeit behalten, uns auf die Aktion Dien Bien Phu vorzubereiten. Paris läßt uns keine Wahl. Eben hat der laotische König dort einen Besuch abgestattet. Er erholt sich nämlich an der Côte d’Azur. Volle Integration von Laos in die Französische Union. Also …«

Cogny ließ in Windeseile den Räumungsplan für Na San ausarbeiten. Er hatte nur noch fünf Tage Zeit. Aber der Oberbefehlshaber von Tongking war ein trickreicher Mann. Zunächst beschloß er, die Funkaufklärung der Vietminh um den Dschungelstützpunkt zu täuschen. Er ließ den Kommandeur von Na San wegen eines angeblich bevorstehenden gegnerischen Angriffs Verstärkungen anfordern.

Als der Funker der Vietminh-Einheit, die Na San unter Kontrolle hielt, den aufgefangenen Spruch ins Hauptquartier durchgab, löste er bei General Giap ein Lächeln aus. Er erkannte ihn als Täuschungsmanöver. Die französische Luftaufklärung konnte nicht übersehen haben, daß die um Na San gruppierten Vietminh-Truppen für einen Großangriff auf den Stützpunkt zu schwach waren. Überdies hatte es dort keine Truppenverschiebungen gegeben, die den Gegner hätten irritieren können, sah man von der Ablösung einiger Züge ab, die anderswo gebraucht wurden.

»Sie räumen Na San«, erklärte Giap überzeugt. »Wollen sich entweder im Delta oder bei Lai Chau verstärken und brauchen dafür die in Na San nutzlos festliegenden Truppen. Mit dem demonstrativen Funkspruch wollen sie uns davon abhalten, einen Angriff zu wagen, während sie räumen …«

»Und?« Ho Chi Minh hielt sich im Beratungsraum auf. »Wir könnten angreifen, jetzt, da wir wissen, daß es sich um eine Täuschung handelt. Sie dort schlagen, wo sie uns den Rücken kehren wollen.«

Giap besah sich lange die Karte. Der Vorschlag des Präsidenten war nicht so einfach von der Hand zu weisen, er beruhte auf einer bewährten Taktik der Partisanenkriegführung. Und doch riet Giap schließlich davon ab. Der August war in dieser Gegend der Monat mit der höchsten Niederschlagsmenge des Jahres. Der Wald um den Stützpunkt triefte vor Nässe. Nachts und morgens lag Dunst stundenlang wie eine zähe Decke über der Erde. Jedes Vorankommen würde zur unsäglichen Mühe für die Infanteristen der Volksarmee werden. Der Gegner hingegen verfügte über eine blechbelegte Landepiste, über die er das Ausfliegen der Besatzung in wenigen Stunden abwickeln konnte. Außerdem – kam es jetzt wirklich darauf an, dem Feind Stärke an jeder beliebigen Stelle zu demonstrieren? Wir müssen ihn über unsere wahre Schlagkraft gerade jetzt möglichst im Unklaren lassen, entschied sich Giap. Wie unsere Aufklärung meldet, hat der Gegner Lai Chau ins Auge gefaßt; er will einen Riegel gegen unsere Operationen in Richtung Laos setzen. Soll er doch in dieses Abenteuer hineinlaufen, mit der Meinung, wir wären nicht einmal in der Lage, bei Na San hinter ihm her zu schießen!

Ho Chi Minh erkannte den Hintersinn von Giaps Vorgehen sofort. Lächelnd stimmte er zu. Mochten die Kerle aus Na San verschwinden. Danach wird es ohnehin uns gehören, und sie werden südlich des Schwarzen Flusses um einen Stützpunkt ärmer sein, der nur zwanzig Kilometer von der Grenze zu Laos liegt, hinter der unsere Verbündeten operieren.

»Aber«, meinte der Präsident, »es wird gut sein, wenn wir um Lai Chau stärker werden, für den Fall, daß sie sich dort weiter ausbreiten wollen …«

Giap schlug überraschend vor: »Warum nicht in absehbarer Zeit Lai Chau erobern? Wir könnten Kräfte dafür zusammenziehen. Dann würden sie mit ihrem Riegel auf die Nase fallen, und sie hätten hier oben so gut wie ausgespielt!«

Ho Chi Minh trat an die Karte. Giap zeigte ihm die Basen der eigenen Divisionen. Nach einer Weile äußerte sich Ho Ch Minh: »Ich finde den Vorschlag ausgezeichnet. Nur eine Frage – was tun wir, wenn die Propaganda für diesen Riegel auch nur Irreführung ist und sie im Delta losschlagen, sobald wir uns hier konzentrieren?«

Wenn Giap Vorschläge äußerte, waren sie bis ins letzte durchdacht. Er hatte in vielen Jahren des Befreiungskrieges gelernt daß Flexibilität, schnelles Umstellen auf neue Situationen und blitzartiges Verändern der Taktik wesentlich für den Sieg waren. Jetzt vertraute er Ho Chi Minh, der die Fähigkeiten seines Obermandierenden hoch einschätzte, einen Gedanken an, mit dem er sich herumschlug: »Natürlich ist es möglich, daß sie das tun. Nur – wir werden unsere Positionen im Delta nicht schwächen, wenn wir hier oben mit ihnen zu kämpfen haben. Im Delta haben wir eine Partisanenarmee mit leichtem Gepäck, sehr mobil – heute hier, morgen dort. Sie ist stark genug, sich im Delta zu halten. Hier oben aber, wenn der Gegner seine Elitetruppen herwirft, werden wir unsere regulären Divisionen brauchen, Genosse Präsident. Meine Idee ist, den Gegner bei Lai Chau zu kitzeln. Auf das, was er dann tut, stellen wir uns ein. Schnell.«

Sie unterhielten sich noch lange. Inzwischen war in der Einheit, die um Na San gruppiert war, schon der Befehl eingetroffen, sich absolut ruhig zu verhalten, wenn der Gegner abzog.

Die ersten »Dakotas« erschienen über dem Dschungelstützpunkt, als die mit Lochblechen ausgelegte Piste gerade unter den Dunstwaden des Morgennebels sichtbar wurde. Soldaten in getigerten Kampfanzügen sprangen heraus, stellten viel Lärm an, als ob sich ganze Bataillone einfänden. Eine Stunde später – die zuerst gelandeten Fallschirmjäger hatten inzwischen die Stellungen besetzt – begann der Abtransport: Menschen, Geschütze, zerlegbares Material.

Auf den Hügelketten ringsum fiel kein Schuß. Waren die Vietminh abgezogen? Hatten sie sich vor dem Regen verkrochen? Oder war gar eine Epidemie ausgebrochen, die sie lähmte?

Die CAT-Piloten, Angehörige der seit den dreißiger Jahren China operierenden US-amerikanischen »Freiwilligen Fliegergruppe«, die sich einst hochtrabend »Flying Tigers« genannt hatte, dann wieder schlicht und offen als 14. Luftflotte der USA deklariert wurde und gegenwärtig in Taiwan unter dem Namen »Civilian Air Transport« registriert war, hatten als erprobte Söldner vieler Kriege in Asien einen Instinkt für gefährliche Situationen. Man hatte sie mit ihren schnelleren, moderneren B-26-Maschinen für das Ausfliegen eingesetzt. Sie waren überhaupt eine der versteckten Trumpfkarten des französischen Oberkommandos – niemand registrierte sie, und die USA kamen für ihre Kosten auf. Nun, da sie in der gespenstischen Stille zwischen den von Vietminh-Truppen beherrschten Hügeln landeten, verließ sie ihr Instinkt. Sie fühlten sich von überallher beobachtet. Kurzerhand forderten sie bei ihrem Dispatcher in Gia Lam eine Staffel »Hellcat«-Schlachtflugzeuge an, die, sich ablösend, Tiefangriffe gegen die schweigsamen Höhen um Na San flogen. Aber sie erhielten nicht einmal Abwehrfeuer.

Am Abend des 11. August 1953 stürzte ein Tropengewitter auf Na San nieder. Das Krachen der Splitterbomben ging im Donner des Unwetters unter. Auf der Piste standen noch drei »Dakotas«. Unter ihren Tragflächen drängten sich die letzten Soldaten der Sprengkommandos, die die Unterkünfte, Reste von Munitionslagern und ausrangiertes Material aller Art vermint hatten.

Die »Dakotas« konnten erst eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit starten, als der sintflutartige Regen endlich nachließ. In sechshundert Meter Höhe zündeten die Sprengleute über Funk die Ladungen, von denen ein großer Teil durch die Nässe inzwischen unbrauchbar geworden war und nicht hochging. Danach gab es den französischen Stützpunkt Na San nicht mehr.

Dien Bien Phu

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