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Gesellschaftliches Zwischenspiel

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Gesellschaftliches Zwischenspiel

„1899, nach siebenjährigem Aufenthalt in der kleinen Fabrikstadt Bitterfeld“, sagt Rathenau, „fingen die Unternehmungen an zu prosperieren. Ich beschloss, mich von der Industrie zurückzuziehen, um literarisch zu arbeiten. Die A. E. G. schlug mir vor, in ihr Direktorium einzutreten und die Abteilung für den Bau von Zentralstationen zu übernehmen. Ich übernahm die Arbeit drei Jahre, baute viele Zentralen, u. a. in Manchester, Amsterdam, Buenos Aires und Baku. Die Leitung der elektrochemischen Werke behielt ich bei und wurde zugleich Delegierter eines großen ausländischen Elektrizitätstrusts ... 1902 verließ ich die A. E. G., um in der Finanz zu arbeiten. Ich trat in das Direktorium einer unserer Großbanken, der „Berliner Handelsgesellschaft“, ein und reorganisierte einen großen Teil ihrer Industrieunternehmungen. Ich bekam einen Einblick in die deutsche und ausländische Industrie und gehörte damals nahezu hundert Unternehmungen an.“

Mit seiner Rückkehr nach Berlin beginnt der gesellschaftliche Aufstieg Walther Rathenaus; und gleichlaufend ein weiteres Fortschreiten auf dem „Wege des Geistes“, jetzt als Weg der gesellschaftlichen Diplomatie und der Einfühlung in den „neudeutschen“ Geist in seinem Brennpunkt Berlin und seinen typischen Vertretern, den Berliner Bankiers, der Berliner Hofgesellschaft und dem Kaiser. Wer Walther Rathenau in diesen Jahren gekannt hat, wird sich eines schlanken, sehr großen jungen Mannes erinnern, der durch seine anormale Kopfform, die mehr negerhaft als europäisch aussah, auffiel: tiefliegende, kühle, rehbraune, langsame Augen, gemessene Bewegungen, eine tiefe Stimme, eine pastorale Sprechweise bildeten die etwas unerwartete, künstlich wirkende Fassung für eine blitzende Gedankenfülle. Man stieß auf ihn in der Hofgesellschaft, wo jeder jeden kannte, zunächst als Fremden; aber wenn man ihn einmal bemerkt hatte, vergaß man nicht sein Aussehen und auch nicht den eigenartigen Eindruck, der von ihm ausging: den einer massiven Kraft und zugleich irgendeiner Schwäche, vielleicht, man wusste nicht, einer überzarten Haut. Er war interessant und etwas geheimnisvoll. Man konnte bei seinem Anblick an Stendhals Julien Sorel mit seinem dunklen Rock und bohrenden Augen denken, oder auch, aber als Gegenbeispiel, an einen andern jungen Juden, der siebzig Jahre früher in einer andern „Gesellschaft“ mit einem ähnlich blitzenden Geist, aber in einer goldgestickten türkischen Weste und mit Ohrringen, seinen Aufstieg begann: Benjamin Disraeli. Bei Rathenau glitzerte nur der Geist, der Geist und die Überfülle von Bildern und Vergleichen, wenn er plauderte. Gebärden und Haltung, ebenso die gepflegte, aber immer unauffällige Kleidung deuteten auf die wohldurchdachte Absicht, der militärisch einfachen Linie der preußischen Hofgesellschaft eine eigene, noch schlichtere entgegenzustellen. Seines Judentums war er sich in jedem Augenblick bewusst. Doch verleugnete er es nicht, sondern trug es eher wie ein gewähltes Anderssein, eine Auszeichnung, die die Aufmerksamkeit auf ihn hinlenkte und ihm sonst verschlossene Türen öffnete. Die großen Damen und adligen Offiziere der Hofgesellschaft beobachtete er wie die Bewohner eines fremden Gestirns. Herbert von Hindenburgs Roman „Crinett“, der gerade erschienen war und diese Welt ohne Wohlwollen, aber von innen schilderte, liest er wie eine Reisebeschreibung. „Wichtiges Material zur Beurteilung der preußischen adligen Begriffe,“ notiert er in seinem Tagebuch.

Das Entzücken, das ihm die ersten Schritte in diese fremde, in seine Kindheit wie ein verschlossenes Märchenland noch ganz von fern hereinstrahlende Hofgesellschaft machten, und gleichzeitig sein so gern betontes Urberlinertum spiegelt mit einem Humor, der ihm bald abhandenkam, der folgende frühe Brief an eine Freundin:

„Heut bin ich nicht eilig. Ich habe die Nacht vor mir, meine Kaffeemaschine kocht, und ich komme eben von meiner alten Freundin, der Gräfin Kalckreuth, Babette Meyer.

Den ganzen Abend hat mir die Abeken von 1840 erzählt. Ihre Mutter ist die ‚schöne Müllerin‘, die Sie mir gesungen haben, eine geborene Staegemann, in deren Hause die Müllerlieder entstanden. Die Abeken (eine Schwester der Marie Olfers, die auch da war), ist vor Hässlichkeit schön. Sie trug ein hellgraues Samtjäckchen mit drei großen Perlenreihen, und alle ihre Zähne, die auch graue Perlen sind, hat sie in Gold gefasst. Aber sie erzählte, wie Tieck las, wie die Sonntag sang, und wie die Elsler tanzte. Die Elsler trug lange Kleider und tanzte das Ballett ‚Sylphide‘; darin starb sie mit den edelsten Bewegungen. Die Abeken versteht nicht, wie sie – die Elsler – es mit dem alten Gecken Friedrich von Gentz aushalten konnte, der ein Freund der Rahel war. Mit Varnhagen (sie spricht's mit F und n-n) war man bis 1848 befreundet; dann wurde er zu radikal.

Ich weiß, das ist Ihnen alles gleichgültig; aber mir ist's etwas ganz besonderes, dem Elektrikerjungen, noch einmal mit Händen den Zauberring der Romantik zu berühren.

Wer sonst noch da war? Das Ehepaar Voss, zwei Geschwister von Wildenbruch, zusammen acht Frauen und vier Männer. Zum Schluss hatte Exz. Wildenbruch eine Gnade für mich. ‚Sind Sie schon längere Zeit in Berlin?‘ – Seit knapp vier Generationen. – ‚Und was ist Ihr Beruf, wenn ich fragen darf? Auswärtiges Amt?‘ – Nein, ich bin Bankier. – ‚Auch ganz schön.‘

Der vierte Mann dagegen, ein Graf Baudissin, ist besser unterrichtet. Er hält mich für einen Kunstreferenten der ‚Zukunft‘.

Auch Bettina hat die Abeken noch gekannt. Am Rolandbrunnen stand eine riesenhohe Pappel, daneben, im Kempergarten, aß man Bierkaltschale, die damals ganz anders schmeckte, und Kirschkuchen. Tieck hatte die schönsten blauen Augen und las die Frauenrollen mit einer Art Fistelstimme. Seine Freundin, die Gräfin X, trug einen grünen Augenschirm. Die Sonntag, als Gräfin Rossi, wurde Gesandtenfrau. Sie sang aber in Gesellschaft die Iphigenie und hatte junge Mädchen als Chor mit sich. 1848 verlor sie all ihr Geld, ging nochmal zur Bühne, verdiente eine halbe Million und starb in Mexiko.

‚Die Historiker‘, sagte die Abeken, ‚sind nicht zu brauchen. Sie haben keine Kenntnis von den Personen und wollen alles Vielfältige strahlenförmig einordnen‘.“

Wie er im Übrigen das neue Reich von seinem neuen Standort Berlin aus sah, hat er in knappen Zügen in seinen Schriften „Der Kaiser“ und „An Deutschlands Jugend“ festgehalten:

„Man war reich geworden, mächtig geworden und wollte es der Welt zeigen ... Ein überhitztes, tatsachenhungriges Großstadtleben, auf Technik und sogenannte Errungenschaften gestellt, begierig nach Festen, Erstaunlichkeiten, Aufzügen und ähnlichen Nichtigkeiten, für die der Berliner die Spottnamen Klimbim und Klamauk erfunden hat, veranlasste eine Repräsentation, die Rom und Byzanz, Versailles und Potsdam auf einer Platte vereinigte ...“

„Den Monarchen umgab das Hofgesinde, das in entsagungsvoller Sorgsamkeit ihn vergötterte, den Staat als Allerhöchste Familienangelegenheit ansah und alles Widrige ihm fernhielt. ‚Er muss Sonne haben‘, hieß es.“

„Den Hof umschloss die Schicht des ländlichen, militärischen und bürokratischen Adels. Ihr gehörte Preußen, sie hatte es mitgeschaffen, sie war in Wechselbeziehung der Interessen mit der Krone verbunden ...“

„Um diese Schicht lagerte sich das plutokratische Bürgertum, Einlass fordernd um jeden Preis und bereit, alles zu verteidigen, für alles einzustehen ...“

„Draußen aber lag das Volk. Das Landvolk zäh, ohne Vergleichsbild, der Führung des ländlichen Adels, der Kirche, des Instruktionsfeldwebels, des Landrats hingegeben, das Stadtvolk beweglich, respektlos, doch imponierbar, im Taumel des Verdienens und Vergnügens sich verbrauchend. Abseits grollend die Arbeiterschaft, abweisend und abgewiesen, grundsätzlich die Gegenwart verneinend, der Zukunft lebend.“

Als Typus der hoffnungsvollen Jugend, die Aussicht auf „Karriere“ hatte, „der Patentscheißer, aufgeschwemmte Burschen, schnöde und zynisch im Auftreten, mit geklebtem Scheitel, gestriemten Gesichtern, Reiterstegen an den gestrafften Beinkleidern, schnarrender Stimme, die den Kommandoton des Offiziers nachahmte. Den Hochschulbetrieb verachteten sie, die kümmerlichen Prüfungsreifen erlangten sie durch sogenannte Pressen, ein feindseliges und herausforderndes Wesen trugen sie zur Schau, außer wenn es sich um Konnexionen handelte, ihre Zeit verbrachten sie mit Pauken, Saufen und Erzählen von Schweinereien. Solche Gestalten wurden geduldet, ja anerkannt; sie waren bestimmt, zu denen zu gehören, die das Volk regieren, richten, lehren, heilen und erbauen.“

Diese, wie Domela bezeugt, noch heute nicht völlig ausgestorbene Art, beherrschte damals in der Tat alle Zugänge zur Macht im Staat. Man konnte ihr und ihren Vertretern in Beamtentum und Militär nur von oben beikommen; von unten ließ sie sich nur strategisch umgehen, nicht durchbrechen. Rathenau, dem solche bloß auf Anmaßung und Missbrauch der Macht beruhende Überlegenheit besonders zuwider sein musste, umging sie, indem er sich die Türen zu demjenigen Teil der Hofgesellschaft, welcher Geist und Eigenart schätzte, zu öffnen verstand. Dieser Kreis, durch den etwas frische Luft und Kultur in die obersten Regionen des Militär- und Beamtenstaates eindrang, vereinigte Elemente aus den Umgebungen der Kaiserinnen Augusta und Friedrich mit solchen aus der Hocharistokratie, die mehr europäisch als bürokratisch eingestellt waren. Er hatte sich von Salon zu Salon fortgeerbt, von den Zeiten, da die Frau des preußischen Hausministers von Schleinitz, die spätere Gräfin Wolkenstein, gegen Bismarck frondierte und Richard Wagner protegierte, über die Teezirkel der Kaiserin Augusta, die sich den französischen Dichter Jules Laforgue als Vorleser hielt, über die Atelierbesuche und musikalischen Unterhaltungen der Kaiserin Friedrich, bis in eine Anzahl von Salons, die um 1900 in der Berliner Hofgesellschaft den Ton angaben: den Salon der schönen Palastdame Gräfin Harrach, den der Frau von Hindenburg, Tochter des Fürsten Münster, den der Frau Cornelie Richter, Tochter Meyerbeers, den der Fürstin Guido Henckel-Donnersmarck, geborenen Murawioff, den der Fürstin Marie Radziwill, geborenen Gräfin Castellane, vor allem den der Fürstin Bülow, der Frau des Reichskanzlers, der schönen italienischen Prinzessin Camporeale. Diese Salons übten durch ihre europäischen Beziehungen, ihr Ansehen, ihre Unabhängigkeit selbst gegenüber dem Kaiser, ihre Lebensart und gesellschaftliche Klugheit einen Einfluss aus, der bei der Besetzung hoher und höchster Posten, namentlich in der Diplomatie, dem Einfluss der Beamtenkreise die Wage hielt; besonders gerade unter den Kanzlerschaften von Bülow und Bethmann, die beide zu diesem Kreise gehörten. Rathenau war in dieser Welt, die sich damals noch streng abschloss gegen den neuen Reichtum, bald nach 1900 als einziger seiner Gesellschaftsschicht ein gern gesehener Gast. Eine der großen Damen, deren Salon ich genannt habe, schreibt mir auf meine Frage nach ihren Beziehungen zu Walther Rathenau: „Es sind über zwanzig Jahre, seit ich Walther Rathenau kennen lernte bei einem kleinen Diner bei Frau Richter. Als mir Gustav Richter sagte, Rathenau sollte mich führen, war ich nicht zufrieden, weil ich immer dort gewohnt war, einen nahen Freund als Führer zu haben. Gustav amüsierte sich sehr, weil auch Rathenau nicht zufrieden war; Cornelia lächelte verständnisvoll, sie hatte uns zusammenbringen wollen! Wir verstanden uns gleich. Mit Rathenau hatte ich immer das Gefühl des Ausruhens von Kritik, die ich sonst leicht empfinde. Er kam, wenn er konnte, oft zu mir, er hatte gleich den Tag nach unserer Bekanntschaft gesagt, wie er sich darüber freute.“ – Das Geheimnis von Rathenaus gesellschaftlichen Erfolgen steht hier zwischen den Zeilen. Er verstand es, wenn er wollte, in der Gesellschaft ebenso wie später in diplomatischen Verhandlungen, mit einer blitzschnellen Intuition sich seinen Hörern anzupassen, sie nie seine Kritik fühlen zu lassen, und sie doch durch das Schillern seines erstaunlich vielseitigen Geistes so zu fesseln, dass sie ihn mit dem Wunsch verließen, bald wieder mit ihm zusammenzukommen.

Darauf beruhte wohl auch seine Beziehung zum Kaiser.


Wilhelm II – 1902

Abgesehen davon, dass beide viele verwandte Züge hatten – denn auch der Kaiser war ein „Furchtmensch“, mit dem Grundtrieb, seine Schwäche durch „Führung“ zu maskieren – eröffnet Rathenaus Schrift „Der Kaiser“ einen Einblick in die Art, wie er sich in den Monarchen einfühlte und kritische Bedenken in Mitgefühl weich bettete. Von 1901 an hat Rathenau den Kaiser „durchschnittlich ein bis zweimal im Jahr“ gesehen, „manchmal freilich einige Stunden lang“. „Das erste Mal sollte ich vor ihm einen wissenschaftlichen Vortrag wiederholen, den ich zuvor in einem größeren Kreise gehalten hatte, und der mir daher geläufig war. Der Kaiser saß dicht vor mir, ich konnte ihn genau betrachten.

Wie anders als ich ihn erwartet hatte. Ich kannte die schneidigen Jugendbilder mit breiten Backen, gesträubtem Schnurrbart, drohenden Augen; die gefährlichen Telegramme, die kraftstrotzenden Reden und Denksprüche.

Da saß ein jugendlicher Mann in bunter Uniform, mit seltsamen Würdenzeichen, die weißen Hände voll farbiger Ringe, Armbänder an den Handgelenken; zarte Haut, weiches Haar, kleine weiße Zähne. Ein rechter Prinz; auf den Eindruck bedacht, dauernd mit sich selbst kämpfend, seine Natur bezwingend, um ihr Haltung, Kraft, Beherrschung abzugewinnen. Kaum ein unbewusster Moment; unbewusst nur – und hier beginnt das menschlich rührende – der Kampf mit sich selbst; eine ahnungslos gegen sich selbst gerichtete Natur.

Viele haben es mir seither gestanden: Hilfsbedürftige Weichheit, Menschensehnsucht, vergewaltigte Kindlichkeit, die hinter physischer Kraftleistung, Hochspannung, schallender Aktivität fühlbar wurde, hat sie ergriffen und empfinden lassen: Diesen Menschen muss man schützen und mit starkem Arm behüten, vor dem, was er fühlt und nicht weiß, was ihn zum Abgrund zieht.

Ein Freund fragte nach dem Eindruck der Erscheinung und des Gesprächs. Ich sagte: ein Bezauberer und ein Gezeichneter. Eine zerrissene Natur, die den Riss nicht spürt; er geht dem Verhängnis entgegen.“ („Der Kaiser“ S. 26f.)

Rathenau hätte wahrscheinlich damals eine Staatsstellung haben können. Denn als Ergebnis der gesellschaftlichen Diplomatie, die ihm die Türen zur Hofgesellschaft geöffnet und ihn dem Umkreis des Monarchen genähert hatte, galt er als „kommender Mann“, als möglicher Botschafter, vielleicht sogar Minister. Ein sichtbares Hindernis war nur sein Judentum. Warum er dieses Hindernis nicht beseitigte, indem er sich taufen ließ, ist trotz seiner eigenen Erklärungen nicht ganz klar. Religiöse Hemmungen kommen nicht in Frage. Er war von Gesinnung Christ und bekannte sich als solchen, so in der „Streitschrift vom Glauben“: „Vielleicht haben Sie in meinen Schriften gelesen. Dann wissen Sie, dass ich auf dem Boden der Evangelien stehe.“ Der Grund, den er selber vorgab, war, dass es verächtlich wäre, durch einen Gesinnungswechsel einen persönlichen Vorteil zu erkaufen und dem Unrecht, das den Juden angetan würde, Vorschub zu leisten. So in einem Brief an Frau von Hindenburg, geborene Gräfin Münster, die wünschte, dass er Außenminister werde: „Meine wirtschaftliche Tätigkeit befriedigt mich, meine literarische ist mir Lebensbedürfnis, und dazu eine dritte, die politische, zu gesellen, würde nicht nur meine Kräfte, sondern auch meine Neigungen übersteigen. Hätte ich aber die Neigung, auf politisches Gebiet mich zu begeben, so wissen Sie, verehrte gnädige Frau, dass alle äußern Umstände dies verhindern würden. Wenn auch ich und meine Vorfahren nach besten Kräften unserm Lande gedient haben, so bin ich, wie Ihnen bekannt sein dürfte, als Jude Bürger zweiter Klasse. Ich könnte nicht politischer Beamter werden, nicht einmal in Friedenszeiten Leutnant. Durch einen Glaubenswechsel hätte ich mich den Benachteiligungen entziehen können, doch hätte ich hierdurch nach meiner Überzeugung dem von den herrschenden Klassen begangenen Rechtsbruch Vorschub geleistet.“ – Das ist einleuchtend, aber nicht ausreichend. Sicher sprachen gewichtigere Gründe mit: möglicherweise ein Rest von Unsicherheit, die ihn befürchten ließ, in einer großen Staatsstellung bei den Widerständen, denen er begegnen musste, nicht viel durchsetzen zu können; dann auch das Urteil, das er sich über die Persönlichkeit des Kaisers und das preußisch-deutsche Regierungssystem gebildet hatte, weil sie den Versuch, den Staat von oben auf erreichbare und lohnende Ziele hinzulenken, als wenig aussichtsreich erscheinen ließen; am stärksten aber, bewusst oder unbewusst, die Scheu vor einem endgültigen Bruch nicht nur mit der Religion seiner Kindheit, sondern auch mit den neueren, auf eine dogmenlose Mystik ausgehenden Strömungen des Judentums, denen die auf Innerlichkeit gerichtete Seite seines Wesens ganz besonders zuneigte.

So schwankte er am Rande der Macht, halb hoffend, halb verzagend, weil der Anlauf, den er genommen hatte, nie zum Absprung führte. – Um so stärker wurde das Bedürfnis, geistig zu führen. Bald nach seiner Rückkehr aus Bitterfeld hatte er sich Stützpunkte geschaffen im Brennpunkt des geistigen Berlin. Max Liebermann war sein Vetter. Diejenigen literarischen und künstlerischen Kreise, die in einer heftigen, schon über ein Jahrzehnt währenden Fehde mit dem Kaiser gegen den Allerhöchsten Boykott zur Geltung gekommen waren, waren sein täglicher Umgang: Harden, dessen „Zukunft“ auf der Höhe ihres Erfolges stand, Max Reinhardt, der gerade anfing, und schon offiziell verpönt war, Wedekind, der von Misserfolg zu Misserfolg emporstieg, Hoffmannsthal, Dehmel, Gerhart Hauptmann – wenn sie einmal in Berlin auftauchten – die Kreise des „Pan“ und der „Insel“, der beiden Zeitschriften, die die dem Kaiser verhasste „Moderne“ in Deutschland eingeleitet hatten, Alfred Walther Heymel, der später so schmählich von Otto Julius Bierbaum als „Prinz Kuckuck“ verratene und karikierte, dessen Vetter, der Odyssee-Übersetzer Rudolf Alexander Schröder, und der Mitherausgeber des „Pan“ und Kruppdirektor Eduard Bodenhausen, dazu der Kunstkritiker Meier-Graefe, der Architekt Henry Van de Velde, der Maler Edvard Munch, der Schauspieler Moissi und die Schauspielerinnen Eysoldt und Tilla Durieux. Alle diese gehörten zu denen, die oft und gern in Rathenaus kleinen, noch bescheidenen Fünfzimmerwohnung in der Victoriastraße oder im Automobilklub mit ihm zusammensaßen, um seinen Ausführungen zuzuhören, die, auch wenn es sich um Elektrizitätszentralen oder Bankbilanzen handelte, immer wie Märchen aus Tausendundeiner Nacht klangen oder in ein Brillantfeuerwerk ausliefen. Am besten verstand er sich offenbar mit Maximilian Harden, dessen Geist dem seinigen verwandt war. Aber immer blieb er etwas fremd, wie ein Prinz aus Morgenland, der jede allzu intime Annäherung fürchtet. Widerspruch verstimmte ihn; ein Angriff konnte ihn aus der Fassung bringen. Deshalb sprach er am liebsten selbst. Wie er als Kind zwischen sich und seiner Mutter durch Lächeln und Verschlossenheit eine gläserne Mauer zog, so schmiedete er mit den Jahren bewusst Wort für Wort die glänzenden Zauberformeln, die sein Inneres verhüllen und ihm Macht über die Dinge und die Menschen geben sollten; schmerzlich war es ihm, wenn man daran rührte, ärgerlich, wenn der Zugriff so unzart war, dass Gefahr bestand, der reichgewebte Schleier könnte reißen. Denn er konnte oder wollte seine Ansichten nicht mit Gründen verteidigen. Vielleicht war er zu lange einsam gewesen; vielleicht fürchtete er sich vor der in seinem Innern schlummernden jüdischen Rabulistik; vielleicht glaubte er wirklich nicht an die Wirksamkeit von Beweisen. In der „Physiologie der Geschäfte“ hatte er gesagt: „Es ist nicht möglich, einen Menschen zu überzeugen, geschweige zu überreden. Führt neue Tatsachen und Gesichtspunkte an, aber insistiert niemals. Die beste Stärke liegt darin, neue Vorschläge zu ersinnen, sobald starke Einwände erhoben werden.“ Wichtiger war, dass hinter der blendenden Geisteshülle, die er der Welt zukehrte, ein Umschwung vor sich ging, in seinem Innern die zweite Achse, um die es sich bewegte, die Sehnsucht nach Verinnerlichung, stärker wurde, die Kräfte seines Innenlebens an sich zog, eine Abkehr vom Geist, einen Zustand des Zweifels an der Macht des bloßen Geistes, einen Aufstand gegen seine Vorherrschaft vorbereitete.

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Walther Rathenau - Leben und Werk - Band 126 in der gelben Reihe bei Jürgen Ruiszkowski

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