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3. Kapitel: Hilde – auf Umwegen

Altjahrsabend 1933/1934: Günther Schalkowski, sein Freund Werner Ude und noch weitere junge Männer zogen ausgelassen durch die Straßen Tiegenhofs. Es war windstill und trocken, Frost lag in der Luft.

„Zum Wohl!“ – „Prost!“ – „Auf die Weiber!“

Werner Ude steckte die kleine bauchige Machandelflasche zurück in seine ausgebeulte Jackentasche. Der klare Wacholderschnaps war eine beliebte Spezialität in Westpreußen. Stobbes Machandel aus Tiegenhof! Danziger Goldwasser dagegen schmeckte viel zu süß und passte nicht zu harten Jungens.

„Schau mal, wer da kommt!“

Eine Gruppe junger Mädchen kam ihnen Arm in Arm entgegen, vertieft in fröhliche Unterhaltung, sehr vergnügt, wie es schien. Nun schauten sie zu den Jungen. Schalkowski kannte sie alle bis auf ein Mädchen, das am Ende der Kette ging. Andere Tiegenhöfer Jungen kamen aus einer dunklen Seitenstraße gelaufen, nutzten den Überraschungseffekt und trennten unter Gegröle das auch ihnen unbekannte Mädchen von den Kameradinnen. Es wurde von den Jungen umringt, richtiggehend eingekesselt; die Begleiterinnen griffen verbal vergeblich ein, einige kicherten. Schalkowski und Ude blickten sich kurz an, nickten sich zu und ergriffen die Initiative. Mit ein bisschen Körpereinsatz und deutlichen Worten gelang es den Freunden, die Fremde aus der Umklammerung der anderen zu befreien. Jungen und Mädchen zogen weiter, drei bleiben zurück. Die beiden Freunde nahmen das Mädchen in ihre Mitte und übten sich in Kommunikation. Sie erfuhren, dass es Hilde heißt, in Danzig lebt und dort zur Schule geht. In Tiegenhof verlebe sie bei Verwandten ein paar Ferientage.

„Könnt ihr mich bitte zu Erichs’ bringen, ich soll spätestens um Mitternacht da sein.“

Zusammen schlenderten sie über kaltes Kopfsteinpflaster in die Lindenstraße und erreichten bald die hell erleuchtete Bäckerei und Gastwirtschaft Erichs. Hier also wohnte Hilde! Inzwischen hatte auch Wally Erichs, die eben noch zu der Mädchengruppe gehörte, das elterliche Haus erreicht, und auch die mitternächtliche Stunde war nicht mehr fern. Als das neue Jahr eingeläutet wurde, standen alle vor dem Anwesen und wünschten „Prost Neujahr!“ Die Freunde verabschiedeten sich artig.

Schalkowskis Gedanken kreisten ohne Unterlass um die 15-jährige Hilde. Gleich am Neujahrstag machte er sich voller Hoffnung und mit pochendem Herzen auf in die Lindenstraße. Bäckerei und Gaststube waren geschlossen, und auch das Danziger Mädel konnte er nirgends entdecken. Ein kalter Wind pustete, der Junge war zu leicht bekleidet und fror. – In den nächsten Tagen entströmte der Bäckerei ein betörender Duft, Günther traf Hilde, und man redete. Das Wetter war ihm egal. Morgen musste sie wegen des Ferienendes abreisen, der Bus startete um 12.30 Uhr. Er brachte es fertig, sie auf der Rückfahrt ein kurzes Stück zu begleiten. Hilde saß im Bus, und an der nächsten Haltestelle stieg Günther zu, nahm an ihrer Seite Platz, wenigstens bis zum nächsten Ort. Hilde erschrak. Ein wenig unbeholfen bat er sie, ihr schreiben und sie in Danzig wiedersehen zu dürfen. Günther fühlte, dass er Hilde wohl ziemlich durcheinandergebracht hatte, doch zerstörte sie seine Hoffnung auf ein Wiedersehen nicht. Schalkowski war verliebt.

Die brünette Hilde schaute prüfend in den Spiegel. Günther kommt heute nach Danzig und möchte sie treffen. Seinen vorausgehenden Brief hatte sie positiv beantwortet. Die Zeiger der Standuhr neben dem Spiegel rückten heute besonders träge weiter. 12.30 Uhr, nun fährt Günther in Tiegenhof los. Die passende Bushaltestelle in Danzig war ihm bekannt. Hilde sollte ihn abholen. Wie wird das bloß?

Schalkowski konzentrierte sich, schaute durch die von Regentropfen und Staub getrübte Scheibe des Überlandbusses. Der nächste Halt war seiner. Er rückte sich die rote Mütze des Abiturienten auf dem Kopf zurecht, ein wenig schief muss sie sitzen, und stand auf. Der Bus kam zum Stehen, der Schaffner öffnete die Tür, nur ein Fahrgast stieg an diesem Sonntag hier aus. Er war allein.

Der leichte Nieselregen ließ die Steine der Stadt und die eisernen Geländer glänzen. Er schaute die Straße entlang; aus dieser Richtung müsste sie doch kommen.

Hilde nahm nicht den direkten Weg. Die Langgasse, durch die die Buslinie führt, verläuft schnurgerade und ist weit. Auf gar keinen Fall wollte sie sich schon von weitem unendlich lange in seinem Gesichtskreis bewegen und sich beobachten lassen. Nun kam sie aus der entgegengesetzten Richtung aus einer Nebengasse, und es gelang ihr, Günther zu überraschen. Für eine Überraschung war Hilde immer gut.

Die etwas steife Begrüßung erfolgte per Handschlag. Man spazierte durch Straßen und Gassen, begutachtete die Auslagen in den Schaufenstern der Geschäfte, und als aus dem feinen Niesel ein fetter Regen wurde, lud Günther Hilde zu einem Kinobesuch ein. Sie sahen den neuen Film „Der Schimmelreiter“, der nach Theodor Storms Novelle mit Mathias Wieman und Marianne Hoppe gedreht worden war.

Weitere Treffen folgten, Begrüßungen wurden weniger förmlich, Abschiede fingen zu schmerzen an.

Anfang April 1934 begann Schalkowski sein Lehrerstudium in Danzig-Langfuhr, nahm dort auch Wohnung, und die Begegnungen mit Hilde verdichteten sich mehr und mehr. Hildes Familie nahm Günther herzlich auf; gern war er dort zu Gast. Hildes Mutter Anna hatte als junges Mädchen im Danziger Ratskeller kochen gelernt und verwöhnte ihren zukünftigen Schwiegersohn nun mit leckeren Kuchen und wohlschmeckenden Gerichten.

„Lass dir’s schmecken, Günther, nimm doch noch!“

Er genoss es, gut und reichlich zu speisen, und insgeheim gestand er sich ein, dass er hier besser versorgt ist als zu Hause in Tiegenhof.

Hilde liebte ihren Schalkowski, und Schalkowski liebte seine Hilde. Sie verlobten sich und heirateten nach drei Jahren Verlobungszeit kurz vor Weihnachten 1939 in Danzig. Schalkowski hatte dafür drei Tage Urlaub von der Truppe bekommen. Flitterwochen fielen aus. – Gert-Jürgen wurde 1943 geboren.

Seit Kindertagen verfolgte Schalkowski der Wunsch, Lehrer zu werden. Das Ziel hatte er vor Augen, doch besonderen Ehrgeiz legte er nicht an den Tag, es klappte ja auch so. Locker bestand er die Aufnahmeprüfung an der neu gegründeten Hochschule für Lehrerbildung in Danzig-Langfuhr und nahm zum Sommersemester 1934 sein Studium auf.

Rektor der neuen Danziger Hochschule war Professor Franz Kade, ein Vertreter der modernen Reformpädagogik. Er galt als hervorragender Praktiker, war er doch vor Jahren selbst Volksschullehrer gewesen. Im Taunus in Westdeutschland unterhielt er eine Versuchsschule, wo die von ihm entwickelten Lehr- und Lernmittel erprobt wurden.

Als Schalkowski sein Studium begann, hatte er nur wenig Vorstellung von dem, was ihn in Danzig-Langfuhr erwartete, vor umfangreicher wissenschaftlicher Arbeit fürchtete er sich ein wenig. Quälen wollte er sich nicht unbedingt. Später erkannte er, dass er genau hier am rechten Ort ist und machte es sich bequem.

Die angesagte Pädagogik kam Schalkowski auf ganzem Weg entgegen und umarmte ihn. Diese freundliche Annäherung wies er nicht zurück. Bald stand er hinter der Arbeitsschule, die reine Lernschule mit allerlei Formalstufen entsprach nicht dem Geist der modernen Hochschule. Er beschäftigte sich mit Kerschensteiner und Gaudig, auch die Idee Petersens mit den Landschulheimen gefiel ihm. Die Lehr- und Lernziele des Unterrichts sollten vor allem in fächerübergreifenden Einheiten erreicht werden, und zwar so, dass die Kinder möglichst selbst mit geschicktem Einsatz geeigneter Lehrmittel dem Unterrichtsziel näherkommen. Die Aufgabe des Lehrers bestand nun darin, den Schülerinnen und Schülern dabei helfend zu assistieren. Eine Unterrichtseinheit wie etwa „Am Wegesrand“ sollte in den verschiedensten Fächern als Lehr- und Lernstoff ausgebreitet werden: Schwerpunkt Biologie, aber auch Erdkunde, Deutsch, Kunst und vielleicht Religion. – Schalkowski studierte bei Professor Hellmuth Kittel evangelische Religion, was ihm mehr als alles andere dazu verhalf, die ihm später anvertrauten Kinder zu achten und ihre Seele zu verstehen. – En passant lernte er, dass schulisches Leben und Lernen innerhalb des Schuljahres auf dreifache Weise praktiziert werden sollte, nämlich mit Arbeit, Spiel und Feier.

Der nationalsozialistischen Obrigkeit waren diese reformpädagogischen Leitlinien höchst verdächtig, zu viel demokratisches Gedankengut, zu wenig autokratisches und deutsch-nationales. Sie setzte zunächst bei der Einheit „Feier“ an, hier konnte die nationalsozialistische Weltanschauung vorzüglich einsickern und zum Tragen kommen. Es dauerte nicht lange, und das Dritte Reich bereitete der Idee der modernen Arbeitsschule ein Ende. Im Krieg dann hatte man andere Sorgen. Schalkowski aber nahm sich im Stillen vor, in seinem Berufsleben Unterricht so zu gestalten, wie er ihn für richtig hielt.

Nach glücklich bestandenem erstem Examen trat Schalkowski seinen Dienst an der vierklassigen evangelischen Volksschule in Schöneberg an der Weichsel an, die von Hauptlehrer Arthur Borell geleitet wurde. Schalkowski kannte Borell, der seinerzeit in Tiegenhof in der Grundschule sein erster Lehrer gewesen war und den er sehr gemocht hatte. Schalkowski dankte Gott. – Bereits nach einem halben Jahr beauftragte der Danziger Kultussenator den jungen 20-jährigen Lehrer mit der Leitung der einklassigen Volksschule in Bärwalde, Kreis Großes Werder, einem von Schöneberg acht Kilometer entfernten Bauerndorf in demselben Schulaufsichtsbezirk. 66 Kinder aus acht Jahrgängen sollten in einem Klassenraum unterrichtet werden. Schalkowski stöhnte und dachte über Theorie und Praxis nach und über tiefe Gräben, die er nun überspringen musste. Tägliche minutiöse Einteilung und Durchführung des Stunden- und Unterrichtsplanes für die einzelnen Abteilungen waren deshalb vonnöten. – Hilde kam oft nach Bärwalde und half, wo immer es erforderlich war, im großen Schulhaus, mitunter auch in der Schularbeit und richtete ihren Verlobten immer mal wieder auf. Als hilfreich erwiesen sich auch die Junglehrer-Arbeitsgemeinschaften, die sporadisch wechselweise an den verschiedenen Schulen des Bezirkes stattfanden. Schalkowski musste dann viele Kilometer mit dem Fahrrad bei Wind und Wetter zurücklegen. Zum Glück waren wenigstens die Wege eben.

Ende September 1937 war Schluss mit Schule. Der Lehrer von Bärwalde erhielt die Einberufung zum Dienst in der deutschen Wehrmacht und musste Soldat werden. Schalkowski stöhnte erneut, hatte er sich doch gerade erst in sein räumliches, berufliches und persönliches Umfeld eingewöhnt und einigermaßen behaglich eingerichtet.

Schalkowski erinnerte sich an die Zeit des Studienendes in Danzig. Kurz vor der Abschlussprüfung mussten sich alle männlichen Examenskandidaten in der Aula versammeln, um einen Vortrag des mächtigen Vorsitzenden der Prüfungskommission über den ehrenvollen Dienst in der deutschen Wehrmacht anzuhören. Jeder junge Lehrer müsse, wenn er in den staatlichen Schuldienst übernommen werden wolle, zunächst einmal selbst für ein Jahr die „Schule der Nation“ absolvieren.

„Als Danziger Staatsbürger müssen wir doch gar nicht Dienst in der deutschen Wehrmacht leisten!“

Der Redner schaute sich den Störenfried genau an und betonte, dass sich alle Anwesenden deshalb freiwillig zu melden hätten, entsprechende schriftliche Erklärungen lägen dort auf dem langen Tisch bereit, er bitte jetzt um die Unterschriften. Die jungen Männer erhoben sich, vor dem Tisch bildete sich eine Schlange, das Gemurmel schwoll an, und alle leisteten nach und nach die Unterschriften. Die meisten dachten patriotisch, keiner wollte die Übernahme in den Staatsdienst aufs Spiel setzen. Schalkowski dachte besonders an die bevorstehende Verlobung mit Hilde und an die Gründung einer Familie, für die er so gerne sorgen möchte.

Ende September 1937 wurde Günther Schalkowski Soldat. Er blieb es mit Unterbrechungen bis Ende Januar 1946. Die Zusage der Begrenzung auf eine nur einjährige militärische Ausbildung erwies sich als plumper Trick, die zweijährige Wehrpflicht wurde eingehalten. In dieser Zeit begann der Krieg.

Schalkowskis Wehrdienst fing an mit einer Nacht- und Nebelaktion. Die sogenannten Freiwilligen aus Danzig mussten sich am späten Abend in der Messehalle einfinden, wurden dann listenmäßig erfasst und eingeteilt. Inzwischen war es stockdunkel geworden, und jemand brüllte:

„Antreten zum Abmarsch!“

Die Gruppe marschierte zum Hafen, Hilde war an Günthers Seite. Ein Schiff lag startklar am Kai bereit; eine Blaskapelle intonierte das Lied „Muss i denn zum Städtele hinaus“. In Hildes Augen nahm er zum ersten Mal jenen teils aufmunternden, Mut machenden, teils traurigen, melancholischen Ausdruck wahr, den er später während des Krieges am Ende jeden Heimaturlaubs wiedererkennen wird.

Mit mehreren hundert Freiwilligen an Bord, alle sozusagen eingesperrt unter Deck, dampfte das Schiff los in die Dunkelheit, wohin, das wussten sie nicht. Am nächsten Morgen war das Ziel erreicht: Königsberg. Eine Wehrmachtskapelle empfing die müden Ankömmlinge auf der Pier mit dem Lied „Alle Vögel sind schon da“. Nun erfolgte die Verteilung auf die einzelnen Standorte. Für Schalkowski hieß es:

„Tilsit, Radfahrabteilung 1.“

Käse! Käse! Käse! Strenger Tilsiter war nicht gerade seine Lieblingssorte. Weiter nach Osten hätte es nicht gehen und noch schlimmer als Radfahrabteilung hätte es nicht ausfallen können. Schalkowski fügte sich in sein Geschick. Zum Glück hatte er sich ausreichend mit Zigaretten bevorratet. JUNO war seine Lieblingsmarke. „Aus gutem Grund ist JUNO rund.“ Die Orientzigaretten mit ovalem Querschnitt behagten ihm nicht.

Die Radfahrabteilung 1 bedeutete Aufklärungsabteilung der 1. Kavallerie-Division, die in Insterburg lag. Dieser Division gehörten zwei Reiterregimente, eine Pionier- und eine Artillerieabteilung an. Später im Krieg, nach den Einsätzen in Polen, der Sowjetunion, den Niederlanden, Belgien und Frankreich wurde diese Division zur 24. Panzerdivision umgestellt. Fahrräder mutierten zu Panzerspähwagen, Pferde zu Panzern.

Schalkowski schwitzte, der Wehrdienst war hart. Tilsit dagegen gefiel ihm immer besser, eine hübsche Stadt an der Memel, die dem jungen Lehrer weitere Erkenntnisse für das Literatur- und Geschichtsverständnis eröffnete. Er interessierte sich für Hermann Sudermann und Max von Schenkendorf; Luisenbrücke und Luisenkirche riefen die Zeit Napoleons und den Beginn der Befreiungskriege ins Gedächtnis zurück. Der Naturliebhaber verdrängte düstere Vorzeichen und erfreute sich während einiger Manöverübungen der schönen Landschaftsformen Ostpreußens wie der Rominter Heide oder der Seenlandschaft Masurens. So ertrug Schalkowski physische und psychische Unbill.

Zwischenspiel #3

„Gunthár hat seinen Beruf recht gewählt. Er bildet Kinder. Das ist beabsichtigt. – Was hast du mit ihm im Krieg vor, Skuld?“

„Er soll kein ausgezeichneter Kämpfer werden, das passt nicht zu seinem Wesen, kein Held fürs Vaterland, keine Abzeichen und Orden. Er wird überleben; ich bin keine Walküre, und Walhall ist schon Geschichte.“

„Wir haben noch viel mit ihm vor.“

„Recht gesprochen! Er darf mit seinem Drahtesel Europa kennen lernen!“

„Und ich habe noch eine Überraschung für ihn parat.“

„Und ich sehe den kleinen Gert-Jürgen.“

Die Schicksalsquelle sprudelt, Verdandi beugt sich über Urds Brunnen, formt beide Hände zur Schöpfkelle und trinkt.

Schalkowskis Bewegungen zwischen Zoppot und Asgard

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