Читать книгу Leipzig - Hartmut Zwahr - Страница 7

Оглавление

1

Wie der reinkam in heller Uniform, der Ami, ich dachte, der schießt, sagte der Hausmeister

Die Haltestelle der Straßenbahn im Rücken lief Johannes den Gitterzaun entlang, der die Villa und den Park umschloss. Flieder duftete. An der Tischtennishalle begegnete er dem Hausmeister. Die wollten dich wohl nicht?

Sie redeten über den Lehrlingskurs. Du hast gefragt, wie das war, wie der reinkam in heller Uniform, der Ami, ich dachte, der schießt, sagte der Hausmeister.

Na, geh erst mal zu ihr hoch.

Auf die Tür geklebt: Trautmann. Kommen Sie rein. Auf dem Schreibtisch ein Tresor, auf dem die Brotbüchse. Sie sind die Nachbewilligung? Im Fragebogen klebte sein Passbild. Sie lachte. Sind wir die Pionierorganisation? Sie bekommen Grundstipendium. Lohnbescheinigung genügt. Lützner 75. Kenne ich, die Eltern hatten einen Laden in Lindenau.

Fünfundzwanzig fürs Zimmer? Ist in Ordnung.

Johannes fragte nach der Lebensmittelkarte, sie, ob er Radio hätte. Zuerst kommt die Moral. Karte C. Vorzugsversorgung. Mittagessen ohne Fleisch, leider, wegen der Nachmeldung.

Sie zahlte das Stipendium aus.

Seine Wachstuchbrieftasche klebte zusammen. Bei meinem Jungen auch. Spielen Sie Pingpong? Überwiesen wird zum Sechzehnten. Am besten, Sie nehmen die Sparkasse. Beim ersten Schmetterball zuckte sie zusammen. Sie stempelte den Fahrantrag. Wie ich das Ballgeklapper liebe! Zuerst in die Meldestelle. Von der Polizei zur Kartenstelle gehn, nicht umgekehrt.

Die Straßenbahn fuhr an. An der Schule Gertraude Schubert, Strickjacke, Kleid.

Die Innocentia liegt mir! Am Tischtennis eine lange Blonde. »Ich werde seine Frau oder gehe ins Wasser!« Sie lachten über eine Pointe, die er nicht verstand. Die Abiturklasse spielte Theater.

Warum kommst du erst jetzt? Sie standen in der Diele. Der schwere Leuchter ohne Licht. Mit dem Renovieren hatten sie angefangen, als die Russen die Villa freigaben. Im Klubraum steckten in einem Gummibaumkübel die Papierfähnchen vom Achten Mai. Jemand rief: Die erste fällt aus.

Wieder Möhren! Gewöhnst dich dran. Reiche Leute, müssen das gewesen sein, denen die Villa gehört hat, sagte Gertraude.

Von der Galerie hingen die rote Fahne und die blaue des Jugendverbandes.

Ein Dicker reckte den Kopf, hatte eine Kommandeurstasche umhängen, mit Schlaufen für Schreibzeug. Hieß Pockrandt. Ich brenne für die Literatur! Mir musst du das nicht sagen! Der antwortete, Rudi Gernitz, hatte die schwarzen Haare zur Bürste geschnitten.

Berliner, Pockrandt auch, sagte Gertraude. Sie mochte sie nicht, zog die Ringelsöckchen hoch. Böckler ist der mit dem Bein einknickt. Die Drei verschwanden im Treppenaufgang.

Jemand hielt ihm die Augen zu. Wer bin ich? Ein Hauch Parfüm. Irina. Du bist gesehn worden. Vieldeutig mit Augenaufschlag sagte sie das: Wo, wird nicht verraten.

Willkommen im Vorkurs. Bei den Werktätigen. Die Wimpern getuscht, sah sie ihn an. Die meisten, die da sind, kennst du, der Rest sind andere. Brigitta macht die FDJ, Regina ist oben. Die hatte ihn beim Abschiedsabend abgeklatscht, damals, in der Eingangshalle. Musst auf die Musik hören, hatte sie gesagt, Tanzen geht von alleine. Irina, in einer Bluse mit großen Blumen. Weil ihr Gestricktes nicht steht, du Dummer, hatte sie gesagt.

Haben sie dir Schwierigkeiten gemacht? Mir kannst du’s sagen.

Abgelehnt.

Hast du eine Vermutung?

Mein Vater ist Angestellter.

Die Unsichtbaren durchforschen die Fragebögen, sagte sie, das wird’s kaum sein.

Er stolperte ins Klassenzimmer, in den Dachraum. Den Balken hatten die Bauleute stehen lassen. Die schrägen Wände kannte er, das Kabuff dahinter auch.

Gernitz ist der mit den schwarzen Haaren, wenn er nicht an seiner Zigarette zieht, redet er.

Irina stellte Johannes vor. Willkommen bei der Arbeiterklasse, du Nachbewilligter, sagte Gernitz. Genosse bist du nicht. Eine Willensmaschine, das war ihm anzusehen. Wusste er was? Die Pelikan hat Vertretung, rief jemand. Klaus Grimm zeigte auf einen Stuhl. Für dich. Sie kannten sich aus dem Lehrlingskurs. Mich haben sie zum Sportverantwortlichen gemacht. Einen Posten hat fast jeder.

Außer mir, sagte Irina.

Brigitta Richter stieg über die Schwelle. Die Pelikan vertritt Heise. Kann einem leidtun mit seinen Prothesen. Den hatten die Engländer abgeschossen. Die Klasse nahm Platz. Der neben ihm nuschelte was, streckte die Hand hin. Er entdeckte in der ersten Reihe Regina, dachte an Ruth. Von ihr hatte er sich nicht verabschiedet. Wie auch? Die Mutter war am Telefon gewesen, er hatte aufgelegt. Auf der Fahrt war er das dumme Gefühl wegen Ruth nicht losgeworden. Im Zug hatte er stehen müssen in so einem Verbindungsstück zwischen den Waggons.

Einer im dunklen Jackett lachte ihn an.

Sie sind neu, hatte ihn Frau Pelikan begrüßt. Als es Pause klingelte, hüpfte sein Nachbar hoch und hielt sich mit einer Hand aufstützend an der Tischplatte fest. Ich bin der Wolfgang Böckler, ein Arm hing herunter.

Die zweite Stunde war Geschichte. Der im Jackett kam dran, kaum war der Dozent, Herr Arnold, hereingekommen. Wo sind wir stehn geblieben? Das möchte ich von Herrn Eichler wissen. Es gehörte zu ihrem Spiel, was Johannes nicht wissen konnte. Dass sie Barbara hieß, auch nicht. Dieser Dozent und Friedhelm Eichler standen wegen ihrer Liebesgeschichte in einem gewissen Verhältnis.

Barbara gehörte in die bibliothekarische Vollausbildung, sang im Schulchor, war Abiturklasse, Friedhelm dagegen war Vorkurs, Werktätigenklasse. Arnold, semmelblonder Mann mit lichtem Haar, der zwei Kinder hatte und verheiratet war, hatte sie Friedhelm ausgespannt. War auf einem Schnellboot gefahren, Maat, aus amerikanischer Gefangenschaft als Student nach Leipzig gekommen, inzwischen Lehrkraft. Mit dem Pagenkopf die hatte Friedhelm noch im Kopf, im Blut, sonstwo, und kam er früh manchmal an, grau im Gesicht, die Hosen zerknautscht, Zigarette im Mundwinkel und sah dann, wie Arnold die römische Kaiserzeit durcheilte und wieder mal fragte, wo sind wir stehen geblieben, schluckte er.

Ich war ihr zu unsicher, Hannes, sagte Friedhelm, da kannten sie sich schon besser. Bis ich verdiene, vergehn drei Jahre; die sucht was Festes, er kann es außerdem unheimlich lange anhalten, und Johannes, der nicht begriff, was gemeint war, half er aus: Bis er kommt, ich meine, explodiert.

Friedhelm nannte sie Barbara, zärtlich Bärbel: Die genießt das. Den Anfang erzähl ich, weil du nicht quatschst: Die Wirtin, bei der sie wohnte, hatte immer mal Männerbesuch. Im Schaukelstuhl, in dem jetzt Arnold sitzt, hab ich gesessen, und wie die Bärbel aus der Küche kommt und mich sieht, ohne alles, zieht sie sich, wie in Zeitlupe, aus. Der Stuhl knarrte beim Schaukeln, bis nichts mehr zu hören war. Jetzt kniet der Arnold zwischen ihren Beinen.

In der Pause rauchte sich Friedhelm eine an, als er das erzählte. Mit dem Qualmen fang besser nicht erst an. Ich komm zurecht, solange das Stipendium reicht – fürs Essengeld, die Straßenbahn, Hefte, Briefmarken, Miete, Zigaretten. Übermorgen bin ich blank. Mit Klimpern komm ich über die Runden. Die Bärbel hatte er damit eingefangen. Wenn er im Klubraum spielte, lehnten die andern am Flügel oder hatten zum Sitzen was mitgebracht. Spiel was. Für Böckler wars Klimpern. Wat denn? Na, das, und Böckler klopfte mit seiner gesunden Hand den Takt. »Du, du, du, lass mein kleines Herz in Ruh.« Warum nicht gleich so, Pomuchelskopp?

2

Die älter sind, reden nicht mehr drüber, dass sie Pimpfe waren. Ich war einer, du nicht, du warst zu jung dafür

Friedhelm liebte summer time über alles, und manchmal spielte er es nur für sich. Den Tobs-Pucki raste er herunter, Die Zwölfte Straße. Die lange Blonde, die in der Schule Theater spielte, hat gesungen. Manchmal kam das Mädchen aus der Sprechstunde. Mit der bin ich das erst Mal raus, das war hinten im Park, wir wollten beide. Du warst noch nicht reingeschneit in die Klasse. Manche guckten natürlich. Dass ich nicht der Mann fürs Leben bin, wissen die, bloß die große Liebe, die hat Arnold mir ausgespannt.

Die Barbara, wenns drauf ankommt, denke ich, lässt er Frau und Kinder sausen. Der kanns ungeheuer rauszögern, der Arnold, mit Kognak, auf Matrosenart, sie lässt sich schaukeln, wippt wie ein Engel auf der Himmelsschaukel. Ich bin eifersüchtig, gebs zu.

Er fingerte eine Zigarette aus der Packung. Über ihnen rauschte der Wind durchs Leutzscher Holz, als er das erzählte. Ich wette, Arnold ist auch eifersüchtig, der weiß, wen ich in den Händen hatte. Wenn Arnold in der Partei wäre, der SED, hätte die Familie vielleicht eine Chance, wenns diese Distanzierung aus Parteigewissen überhaupt gibt. Wenns im Blut rauscht, hilft am Ende auch die Partei nicht mehr. Er kniff die Augen zusammen: Ja, da muß man sich doch einfach hinlegen. Wenn er das zu später Stunde sang, lag er fast auf den Tasten, und manchmal sagte er, wenn sie nicht wussten, wie weiter: Das wird uns jetzt der Herr Eichler sagen. Damit brachte er jeden zum Lachen.

Das Abzeichen, von dem so viel Macht ausgeht, hab ich mir bei Rudi, wenn der die Zigarette hinhält zum Anrauchen, genauer beguckt. Die älter sind, reden nicht mehr drüber, dass sie Pimpfe waren. Ich war einer, du nicht, du warst zu jung dafür. Döring Walter, der von Halle zur Büchereischule gekommen ist, Chemiearbeiter, war Pimpf. War vom Alter her sicher auch HJ. Bloß Rudi will nicht drin gewesen sein, was ich ihm nicht glaube. Ich merks, wenn er sagt, der ist eine große Nummer. In der HJ waren die allermeisten. Anschließend gings zum Arbeitsdienst, danach zur Truppe. Wenn Rudi sagt, Brigitta wird das schon schaukeln, redet er so, die Sprache, die ich meine, oder wenn Müller, der Sport gibt, den Haufen rumgescheucht hat. So was hörst du bei Rudi ständig. In der Domholzschänke, als wir auf Wanderung waren, sagte er zu mir: Bist ohne Marschverpflegung, sieht dir ähnlich, musst den Affen eben ordentlich packen, nicht bloß den Kamm einstecken. Du weißt, was der Affe ist? Der Tornister.

Böckler hat das Pimpfalter auch, der könnte bloß nicht in Marsch gesetzt werden, das Hinkebein, kein Bett bauen, keine Kochstelle anlegen, nicht Wolf sein. Bei der Wolfsjagd waren drei die Wölfe, drei die Jäger. Oder Spähtrupp gehn. Ist ihm erspart geblieben, dem Böckler. Mit Halstüchern und Schulterriemen die Erwischten an Bäume fesseln. Allenfalls Zapfen sammeln hätte er gekonnt mit seiner Hand. Zum Faschinieren, Schanzen, Schippen taugt er nicht. Kann kein Schanzer sein, kein Schipper. Mich haben sie mal geknebelt, scheußlich, Luftspäher war ich, das hätte der Wolfgang mit seinem lahmen Arm machen können, ’ne »Rundschau« halten, was »Zeitungsschau« war, »Lagerwart« sein, einen »Bunten Abend« ausrichten. Sagt dir was? Natürlich sagt uns das was. Alles da, plötzlich, wieder da, ohne Jungenschaftsbluse, Hose, den Mantel. Jungvolkjungen sind hart, schweigsam, treu. Du wärst richtig gewesen, Hannes, verschwiegen wie du bist. Bin ich in Fahrt. Heilig Vaterland!

Dass sich Böckler an die Partei hängt, wer will ihm das verdenken? Ich machte das vielleicht auch in seiner Lage. Die Partei fängt ihn auf. Friedhelm drückte die Zigarettenkippe aus. Eine hab ich noch. Mit der Partei kommt er überall durch, das weiß der Wolfgang. Ich stelle in Rechnung, dass er’s weiß. Hoffentlich weiß es die Partei auch, dass sie so viel Schwachheit anführt. Ist acht Jahre her, dass sich der Mordsqualm verzogen hat, sich die Führernachwuchslager auflösten, die Morgenfeier nach dem Stubendurchgang aufhörte, dass Schluss war mit Schichtunterricht.

Jungen, die übrig blieben. Kennst du? Ich hätte der allerletzte sein können, dens erwischt. Er zeigte über den Gitterzaun, der den Park einfasste. Nichts zu sehn außer dicken Eichen, dahinter der Auwald, in dem diese Ungetüme stehn. Brigitta hat vorgeschlagen, dass wir ihn einladen, den jungen Schriftsteller. Mutti kennt ihn, sagt sie, und seitdem heißen wir so, Loest.

Warst nicht dabei, als die Klasse das festgelegt hat, die FDJ. Hand gehoben, fertig. Ist russisch. Das Kollektiv muss einen Namen haben. Ich geh erst mal schiffen.

Das Buch hab ich verschlungen, sagte Johannes, wenn in der Ausleihe Flaute war. Beim Bücherranholen war zum Lesen Zeit. Friedhelm fingerte die letzte Zigarette aus der Packung, rauchte, sagte dann ohne Überleitung: Wenn ich du wäre, ich würde Regina nehmen, solange sie noch zu haben ist. Die gefällt dir doch? Hast du’s schon mal gemacht mit einer? Am besten, er drückte die Kippe aus, wenn du meine Meinung hören willst, ist eine, die ihn dir reinsteckt.

An der Schule lief ihm Irina in die Arme. Warst sicher mit Friedhelm unterwegs. Lass dich bloß nicht verführen.

Sie saßen im Klubraum, bis der sich leerte. Er bewunderte den Auwald, und sie kam auf die Auwald-Wanderung zu sprechen. Warst nicht mit, leider. Ich weiß, du musst nachholen. Ich erzähls, damit du weißt, wie der Hase läuft. Inzwischen hat sich alles einsortiert. Hast was verpasst. Ein Sonnentag war das, ich dachte, Waltraud fliegt auf den Harry Matter, als wir durch die Schonung japsten. Plötzlich hörtest du sie nicht mehr. Brigitta und Rudi waren auch nicht aufzufinden. Klaus eifersüchtig auf Gitti. Die hat sich Pockrandt, denkt er, inzwischen untertan gemacht. Sie redete schnell, spitz, ohne Pause. Ich bemerkte nicht, dass Brigitta mit Rudi im Kraute lag, so hoch stand das Gras, wenige Schritte vom Rastplatz. Walter erwähnte sie nicht. Walter fuhr übers Wochenende zu seiner Frau. Böckler lag am Wiesenrand, pennte. Ich war allein mit Pockrandt, wartete auf sportliche Höchstleistungen. Radschlagen hat allerdings nicht stattgefunden, dafür Mittagsschlaf. Die Sonne spendete uns sieben Hanseln Wärme, es knackte im Gehölz. Ein Wildschwein, rief Waltraud. Ein Hund, korrigierte Harry. Die Waltraud ist in Ordnung. Sie sucht einen Mann, bloß nicht den, zwischen denen hats nicht gefunkt.

Das war spät abends, als Johannes nicht einschlafen konnte. Ihm fiel ein, wie Irina redete.

Die Genossen führte Rudi an, ein begnadeter Agitator, mit einer zum Daumen hin kippenden Schrift.

Manchmal sah Irina ihn aus ihren Mandelaugen an, wie gestern, als sie sagte: Wie komme ich dazu, mit Leuten, die ich nicht leiden kann, ins Kino zu gehen oder ins Theater, nur weil sich die Klasse, das Kollektiv, verpflichtet hat? Bin dann gegangen, um meine Ruhe zu haben. Dieser Dresdner Schnappe war Rudi Gernitz nicht gewachsen, auch Pockrandt nicht, bei dem die Lippen, wenn er Papier beschrieb, mitschrieben. Anfangs bestimmte er über die Wandzeitung. Du, Hannes, legte er fest, schreibst über den »Waffenstillstand in Korea. Die Welt atmet auf. Einigung über alle Punkte des Waffenstillstandes in Korea.« Schreibgier zeichnete Pockrandt aus.

Wenn Johannes an diesen Menschen dachte, war es, als hätte der heiße Juni, der auf sie zukam, schon angefangen, ein Juni, in dem sie sich an den Augen erkennen werden, am Widerwort, dem Schweigen.

Alles Mögliche war ihm durch den Kopf gegangen. Im Traum hatte er mit Irina den Park umrundet. Am Schießstand der GST waren sie stehn geblieben. Noch nie in meinem Leben habe ich geschossen, du, als Mann, bestimmt. Ich auch nicht, was sie wunderte. Bloß einen Dolch haben sie mir geschenkt, den ein Junge anbrachte, aber das sagte er nicht. Das musste Irina nicht wissen, wie das war, als die Jungs aus dem Sägewerk, die Rüger kommandierte, den Bahndamm stürmten.

Pockrandt, sagte Irina, das ist ein Gedankensprung von mir, hab ich auf der Wanderung erkannt, keine Kraft, der spritzt mit dem Füller. Nichts Doppeldeutiges war in ihren Mandelaugen, als sie das sagte. Gernitz lästerte, Pockrandt solle nicht so faul sein, bist schon schlapp, ehe der Wald anfängt, aus dir wird nie ein Sportler. Pockrandt, schweißüberrieselt, wehrte sich. Klaus ist ein Schreibekünstler, was Brigitta imponiert. Sie denkt vielleicht, als Gruppensekretär hat sie die Partei hinter sich und wird in Ruhe gelassen.

Die Sprungfedermatratze knarrte. Kein Laut war von der Lützner Straße zu hören. Wird kalt werden, wenn der Winter kommt. Das Zimmer lag überm Durchgang zum Innenhof.

Reden können die, sagt Irina. Rudi redet dich besoffen. Wie er von Italien erzählte, von den Kämpfen dort, schlief ich ein. Regina hat zugehört. »Und da kracht aus dem Dunkel eine Eisenstange in die Wand, die Kanone. Nie wieder!« So redete der. Wie ich mir erleichtert die Augen reibe, ich unter meiner Decke, zündet sich Rudi eine Zigarette an.

Die qualmten was zusammen in der schönen Natur, Friedhelm mit, der am Mönch Hugo, das waren solche Geschichten, strickte. Dem Friedhelm fällt dazu immer Neues ein. Zum Beispiel. »Junge, werde Bergmann, die Kohle ist das Brot der Industrie, sagt Petrus zu Hugo, der will aber nicht zur »Wismut«, sondern Bibliothekar werden. Weise dich aus, sagt Petrus, und wie Hugo vom Vorbereitungslehrgang das Zwischenzeugnis vorzeigt, das wir noch gar nicht haben, sagt Petrus, nein, das genügt nicht.« Hat der eine Phantasie, der Friedhelm. Fressen dich auf, die Biester, ruft er dazwischen und springt auf, vertreibt die Mücken mit Rauchen.

Im Waldgasthaus hat er sich ans Klavier gesetzt. Lady Be Good. Oh, himmlisch! Anfangs wollte die Wirtin nicht, danach stellte sie ihm sogar ein Bier hin. Hast wirklich was verpasst, du unbeschriebnes Blatt, ich habe mir ein Bild gemacht über jeden, der mit war, von dir konnte ich mir leider keins machen.

3

Böckler fragte: Bist kein Genosse, hätt ja sein können. Willst eintreten? Wenigstens der muss Arbeiterkind sein, dachte Friedhelm.Wenn es die Ausnahme nicht gibt, ist die Regel falsch

Johannes und Böckler hatten ihren Platz im Seitengiebel vom Dachraum, ein bisschen versteckt. Wenn Gernitz zu spät kam, fast regelmäßig, was ihn nicht störte, sah er sie von der Seite. Hochkonzentriert zählte er Gründe für sein Zuspätkommen auf, benannte Hindernisse, Unvorhersehbares, strich übers schwarze Haar und nahm dann Platz. Über Eck Walter, neben ihm Harry Matter und so weiter.

In der Schule stellten die Mädchen die Mehrheit. Langweilige Stunden gabs auch. Wenn die Wolken trieben, der Wind die Äste zum Dachfenster herüberbog und die an der Villa kratzten, die keine mehr war, hingen sie ihren Gedanken nach. Solche Unterrichtsstunden hatten das Gesicht wie Herr Boden oder Frau Pelikan. Manche Stunden bestanden nur aus Stoff, mit Deutsch, Chemie, Physik, Mathematik, Biologie, Gesellschaftskunde, Methoden des Lernens, einmal die Woche sechs Stunden.

Die Bücherei hatte geschrieben. Wenn du Lust hast, könntest du auf dem Dorf Büchereileiter werden, schrieben sie. »Wollen in Deiner Klasse alle im Büchereifach bleiben? Daß wir im Wettbewerb stehen, kannst Du nicht wissen. Bei uns ist morgen FDJ-Überprüfung, der feierliche Dokumentenumtausch, da sind alle Jugendlichen eingespannt, kannst Dir denken, wie es bei uns zugeht. Die ersten Leser strömen in die Ausleihe. Du fehlst eben an allen Ecken und Kanten.«

In die Bücherei zurück wollte er nicht. Was ich verpasst habe, schreibe ich nach, berichtete er Ruth.

Über die Philipp-Müller-Gedenkfeier schrieb er: »Alle hauen tüchtig auf die Pauke. In meiner Klasse guckten sie, als hätten sie Fischgräten verschluckt.« Johannes strich den Namen. Ruth fragte zurück: Was für eine Gedenkfeier? In Trauerbalken der Erschossene. Habt Ihr zu Hause keine Zeitung? fragte er Ruth.

Vater mahnte: »Daß Du zum Monatsende die Lebensmittelkarten nicht verfallen läßt, hole, was Du zu bekommen hast. Fett!!« Max Schneiders Zettel lag bei. »Schmierpapier kaufe Dir ja keins, das hebe ich auf, denn das wär ja Wasser in die Pleiße getragen. Ich hoffe, daß wir uns hier mal paar vergnügte Stunden machen können. Dein Arbeitskamerad Max Schneider.«

Mutter mahnend: »Laß es nicht am Essen fehlen, ist falsche Sparsamkeit, es gibt auch Buttermilch auf die Karte. Laß keine Marke verfallen. Kann Deine Wirtin nicht mal was Grünes zubereiten? Denk dran, den Tee kochen, Salbeitee ist überall zu haben. Nimm viel Zucker. Sollst viel an die Luft gehen.« Vater fragte: »Bekommst Du die bessere Lebensmittelkarte oder nur die Grundkarte? Hier las ich, die Fischkarte a.) und Fischkarte b.) verfällt am 5. Juni. Achte drauf, daß Du nichts einbüßt. Die Milchkarte muß in einem Milchgeschäft angemeldet werden. Vielleicht die Milch dort gleich trinken.«

»Meine Wirtsleute sind in Ordnung«, schrieb er zurück, »mit der Verpflegung komme ich aus. Wenn Ihr wollt, schickt Gemüse und die Trainingshose. Stipendium gibt es am Sechzehnten. Ob ich Pfingsten kommen kann, weiß ich noch nicht. Verschiedenes wäre zu besprechen, mir fehlt die Zeit. Natürlich gehe ich an die Luft.«

Die Eltern warteten auf Post, nicht nur auf die schmutzige Wäsche. Vater warnte vor Überanstrengung, kannte jemand, der Straßengräben ausräumte und lateinische Wörter schrie. Diese Zeit war untergegangen, eine neue hatte begonnen, Zukunft, die noch nicht angefangen hatte, als er am Elsterflutbecken wartete und Möwen über flaches träges Wasser segelten. Regina suchte den Mann zum Heiraten und Kinderkriegen, wie sich herausstellte, und fand ihn. Die ist ein tiefes Wasser, Hannes, meinte Friedhelm, ich wäre ihr zu unsolide. Beim Ausflug zur Domholzschänke hatte sie den hell­blauen Pullover an. Die sucht was Festes, die solltest du dir nehmen. Küsse, später am Flutbecken, waren alles. Sie sagte nicht, ich liebe dich, höchstens, ich denke, dass du nicht plauderst.

Friedhelm hatte schmale Lippen, der Mund war bissel breit geraten, hatte das Haar angefettet, damit die Locken anliegen, die Hosen waren durchgesessen, das Jackett ramponiert. Du flunkerst, Friedhelm, sagte Regina mal, als sie am Flügel stand, dir glaub ich nur die Hälfte. Die reicht mir, sagte er und zog mit dem Daumen einen Strich über die Tasten. Dein Pullover gefällt mir, sagte er, um sie zu ärgern.

Johannes hatte Versäumtes aufgeholt, und Böckler fragte: Bist kein Genosse, hätt ja sein können. Willst eintreten?

Bei Wolfgang Böckler hatte die Zangengeburt einen Sprachfehler zurückgelassen, er kam damit zurecht, nuschelte zwar, aber im Unterricht war es manchmal einfacher, beim Nuscheln eine halb­richtige noch brauchbare Antwort zu geben. Im Stillen nannte Friedhelm den Böckler Pomuchelskopp, weil der bei Fritz Reuter vorkam. Böckler werde ich nicht vergessen, dachte Johannes, ausgeschlossen.

Vater suchte manchmal verzweifelt nach Namen, weil er dachte, er könnte wegen Altersschwachheit Namen vergessen haben, wie den Namen des Kameraden, mit dem er in Gefangenschaft auf einundderselben Pritsche gelegen hatte und der so fürchterlich schnarchte. Beim Hauptmann Ostermann passiert mir das Namensvergessen nicht, niemals, unmöglich, was der Ostermann mich gepeinigt hat, erzähl ich dir mal später, für den Fall, dass du die Geschichte brauchst, wenn du drüber schreiben willst. Der Ostermann war in Schriftsachen vollkommen hilflos, zum Glück, die hätten mich vielleicht sonst an die Front geschickt.

Im Kabuff hatte Rudi Gernitz von einem Schriftsteller erzählt, den er glühend bewunderte, und jetzt ging es ihm genauso, er vergaß den Namen, und fragen wollte Johannes nicht, die Unterrichtsstunde schleppte sich hin, bis ihm der Name einfiel, Curzio Malaparte, vielleicht war der auch Panzerfahrer gewesen. Langweilige Stunden vergingen so.

Beim Skaten nuschelte Wolfgang nicht. »Denn man tau!« Mit links hob er ab. Die rechte Hand fürs Kartenhalten legte er als Hilfe auf den Tisch. Dass seine Knöchel das aushielten, wenn er auftrumpfte? Friedhelm am Bierdeckel strich an. Am Flügel mussten sie ohne ihn auskommen, die Zigarette im Mundwinkel, Ascher in Reichweite, in dem fand sich die verlorene Zeit auch. Die Schultern eingesunken, Kragen offen, selbstvergessen saß er so im Klub­raum, spielte, fand immer eine, die mitging.

Zerknautscht kam er früh an. Natürlich bemerkten die Mädchen das. Er wehrte sich. Dein Seidentuch, Irina! Wo denn? Da war was am Hals, den sie kunstvoll umschlungen hatte. Am liebsten hätte sie die Zunge gezeigt. Die Woche über gehört Walter ihr. War deiner, Walter? Was? Der Fleck? Verschämt hat er gelacht, als Friedhelm das sagte. Die machen es ganz heimlich, behauptete er.

Die Sorte Männer mag ich nicht, sagte Regina über ihn. Manches übersah sie. Ausgetretene Halbschuhe hatten alle, Friedhelm schiefe Absätze. Dem Unterricht folgte er mühelos. Vater Offizier, gefallen, Mutter jetzt Arbeiterin, seit dem Krieg geschieden.

Die Oberschule hatte Friedhelm abgebrochen. Über Gründe redete er nicht. In einer Stadtbücherei hinter Torgau auf der anderen Seite der Elbe, in dieser Kieferngegend dort, hatten ihn die Kollegen zum Vorbereitungslehrgang delegiert. Bei mir kams vermutlich auf die Mutter an, sagte er. Bist vielleicht auch so ein Arbeiterkind, Hannes? – Mein Vater ist Angestellter. Aus dem Steuerbeamten war in der Genossenschaft des Bäcker-, Müller- und Konditorenhandwerks inzwischen ein Buchhalter geworden.

Waren die meisten in der Werktätigenklasse unecht? Katzengold? Wie Siegfried, Siggi? Der Unternehmersohn schleppte die Büchertasche als Arbeiterkind zur Oberschule. Böckler ist Arbeiterkind. Wenigstens der muss Arbeiterkind sein, dachte Friedhelm.

Mittagspause. Wolfgang hüpfte die Treppenstufen zur Terrasse herunter. Im Sonnenschein die Unternehmervilla, die das nicht mehr war. Wat seggt denn min Meckelnbörger? meinte Friedhelm. Der dritte Mann fehlte. Klimperst? Wenn du borgst? Pimperst, reimte Friedhelm. Wolfgang strahlte. Denn man tau.

Den Rasen schnitt der Hausmeister, der erzählt hatte, wie das war mit den Käppis und den Mützen, als die Russen ankamen. Die Offiziere hatten runde Mützen auf und dem Hausmeister Papyrossi angeboten.

Wenn Wolfgang auf der Siegerstraße marschierte, war das zu hören. Immer. Denn helpt dat nich und zog ihnen die Hosen runter, spielte sie blank. Beim Mitschreiben verließ er sich auf Johannes.

Das Sortieren im Kopf war das Schwierige, im Unterricht die Hauptpunkte erfassen, Mitdenken, Leerlauf unbeachtet lassen, über Phrasen drüberspringen, entwässern, kondensieren, Übertreibungen ausscheiden, den Superlativ streichen, nicht im Redebrei versinken, die Phrasen aber auch nicht ganz vergessen. Man musste sie parat haben, wenn sie gebraucht wurden. Friedhelm sprach vom Aufschwemmen, Aufblasen.

Frau Dr. Darge vermied das. Sie fing den Unterricht mit einer These an, womit sie die Richtung angab, oder stellte eine Frage. Deutsche Literatur und Weltliteratur gabs, viel Goethezeit, etwas davor, die Zeit danach und die jüngste Zeit. Johannes hatte Arnold Zweigs Junge Frau von 1914 regelrecht verschlungen, Erziehung vor Verdun, Döblins Alexanderplatz. Was solche Schriftsteller zustande brachten, bewunderte er. Literatur kann das, Sprache, wenn sie eindringt. Es muss weh tun, sagte Friedhelm.

Was die Struktur war, was Frau Dr. Darge als das Skelett bezeichnete, erklärte sie. Ging die Stunde zu Ende, fasste sie zusammen. Sie warf dem Nachbewilligten hin und wieder einen winzigen Blick zu, als freue sie sich, aber vielleicht bildete er sich das nur ein.

Als die ersten Schultage angefangen hatten, schwirrte ihm noch der Kopf. Das legte sich. Fremdwörter schrieb er auf, schlug nach, büffelte Physik und Chemie, mehr als Grundlagenwissen wars nicht, was geboten wurde.

Bald reihte sich ein Schultag an den nächsten.

4

Früh am Lindenauer Markt an der Haltestelle klebten Maueranschläge. Der Atem der Geschichte wehte ihn an

Unbegreiflicherweise verpasste er diesen Junitag. Brot? Er konnte das Gesicht der Bäckersfrau in der Bäckerei Ecke Lützner Straße nicht deuten, der Laden leer. Bei Wolframs ein Zettel. Sind im Garten. Er hatte im Schwejk gelesen. Du lachst dich krank, Hannes, den gib mir schnell zurück, am besten morgen, sagte Eichler.

Auf der Georg-Schwarz-Straße Lastwagen, er hatte gewartet, bis sie vorbei waren. Und du willst nichts bemerkt haben!? Das war am Tag danach. Nichts gesehn haben, geht nicht.

Vielleicht Fahnen, aber wer guckt auf Fahnen?

Am Lindenauer Markt früh an der Haltestelle klebten Maueranschläge. Der Atem der Geschichte wehte ihn an, deutsch, russisch. Du willst vom Ausnahmezustand nichts gemerkt haben?! Du lügst! Ist Fahnenflucht, was du dir geleistet hast, war Pockrandt auf ihn zugestürzt. Dir da geleistet hast, nuschelte Böckler.

Wir liegen in Alarmbereitschaft, selbst die Mädchen, sagte Rudi Gernitz eher vorwurfsvoll, und du zeigst dich nicht.

Auf dem Fensterbrett Gewehre. Wir haben ein Recht drauf, dass wir wissen, wo du warst.

Bei mir.

Die Hand vorm Mund, Gertraude.

Bei Wolframs.

Du lügst?

Ich hab gelesen. Den Schwejk.

Erzähl uns das nicht!

Fahrt hin. Liegt dort. Walter bot sich an.

Es kam nicht dazu. Die Schärfe war raus.

Jetzt fragte Johannes. Was soll ich nicht mitgekriegt haben?

Na das, den Angriff auf unsere Grundlagen.

Wenn die politisch werden, friere ich, sagte Irina, als das überstanden war. Trotzdem, ich hatte den Eindruck, sie waren froh, als du reinkamst.

Irgendwas, Hannes, musst du doch mitgekriegt haben.

Lastwagen, Leute, vielleicht Fahnen.

Tarnung, sagte Rudi.

Ich weiß nicht, ob Fahnen waren.

Aber etwas musst du doch mitgekriegt haben?

Als Soldat war Rudi Gernitz bei den Panzern gewesen. Redete, die Zigarette zwischen den Fingern, die nicht ausging. In so einem Panzer hatte er gesessen und für einen Moment die Hände auf die Ohren gepresst. Freunde, sie oder du, im Krieg hast du keine Wahl! Das stand bei Curzio Malaparte. Ich hab plattgewalzte Menschen gesehn, das nämlich meint Die Haut, der Roman.

Beim nächsten Mal, Hannes, bist du, zack, zack, bei der Truppe.

Das es nicht geben wird! das nächste Mal! sagte Pockrandt, Parteiabzeichen am Blauhemd, an der Brusttasche. Er sah uns aus zusammenstehenden Augen an, uns alle, die wir zwischen diesen schiefen Wänden im Dachgeschoss standen. Hast allen Grund, klassenbewusst aufzutreten! Die Drohung blieb ihm im Ohr, die konnte er nicht vergessen.

Klaus Pockrandt hatte Dantons Tod gelesen, ihm das Reclam-Heft in die Hand gedrückt, die Stelle angestrichen, blau, dick, und vorgelesen, vor der Gruppe. Robespierre: »Die soziale Revolution ist noch nicht fertig; wer eine Revolution zur Hälfte vollendet, gräbt sich selbst sein Grab. Die gute Gesellschaft ist noch nicht tot, die gesunde Volkskraft muß sich an die Stelle dieser nach allen Richtungen abgekitzelten Klasse setzen. Das Laster muß bestraft werden, die Tugend muß durch den Schrecken herrschen.«

Die Tugend muss durch den Schrecken herrschen. Wenns stimmt, hat die Tugend die Panzer geschickt, sagte Friedhelm.

Wem kann ich trauen? Niemand. Die Frage war beantwortet. Wir verwandeln uns, sie hatten sich auf die Gefahr eingestellt.

Dass du nichts mitgekriegt hast, sagte Pockrandt, das konnte er nicht vergessen. Es war so. War es so oder anders? Pockrandt kam nicht drüber weg. Immer waren beide Seiten betroffen.

Der Regen hatte die Plakate vom Ausnahmezustand Tage später nicht abgeweicht, sie wurden abgekratzt, die am Lindenauer Markt, anderswo, überall. Gertraudes Eltern berichteten aus Görlitz, dass Arbeiter die Bonzen zur Besichtigung in einen Hundezwinger gesperrt hätten. Uta Schäfer hatte Parteiabzeichen auf der Straße liegen sehn, weggeschmissene. In Großenhain auch, sagte Klaus Grimm. In Jena haben sie Straßenbahnen zusammengeschoben und einem Panzer den Weg verlegt, erzählte Ursula Uhlmann. Gertraudes Bruder war am Theaterplatz dabei, wo vom Italienischen Dörfchen bis über die Brücke zum Neustädter Markt die Straßenbahnen standen, überall Menschen, Polizei dazwischen, Russensoldaten auf Motorrädern und welche auf Lastwagen mit Maschinengewehr.

Stimmt, sagte Irina, die Lastwagen fuhren Kurven, um die Menschen an der Zusammenballung zu hindern. Jedes Mal, wenn ein Motor anlief, berichtete ihre Schwester, rannten Leute hin, umstellten das Fahrzeug, verhinderten das Weiterfahren. Wieder welche fluteten über die Gleise. Jemand nahm den Bügel von der Oberleitung. Den hätten sie abschießen können. Gefährlich wurde es, als Russensoldaten mit vorgehaltnem Gewehr, Messer dran, in Kette ankamen. Die haben den Postplatz geräumt, bestätigt meine Mutter. Mein Bruder ist schnell in die Straßenbahn und nach Weinböhla, wer weiß, was ihm passiert wäre.

Wolfram fährt auf dem Hauptbahnhof Rollkarren, er hats am Markt brennen sehen, der Pavillon der »Nationalen Front« brannte lichterloh, die Propagandabude, sagt Wolfram. Die Leute gucken, manche lachten. Welche sind mit dem Fahrrad ganz nahe dran vorbei an den Russen. Vom Bahnhof aus zogen die Leute in die Innenstadt, mit einer schwarz-rot-goldnen Fahne, vielleicht an einer Wäschestange. Wolframs sind gleich im Garten geblieben.

Gertraude, vorsichtig: Hast du wirklich gelesen?

Ja, wirklich.

Irina blieb skeptisch, ob bei den Leuten in den Augenwinkeln Schadenfreude zu sehen war, als Johannes das sagte, der Pavillon wäre abgebrannt. In Augenwinkeln siehst du nicht viel.

Mir hats genügt, Irina. Im Haus der FDJ auf der Ritterstraße hatte er Gardinen aus den Fenstern hängen sehn, die hingen wie weiße Fahnen. Panzer hatten die Rohre stadtauswärts gedreht, waren an der Elsterbrücke aufgefahren, und tagelang rollten die Straßenbahnen dran vorbei.

Klaus Pockrandt wohnte bei einem von der Kasernierten Volkspolizei, bei Familie Krannich, Liebknechtstraße. Dem hatten sie ins Gesicht gespuckt. Gesindel, sagte Pockrandt. Statt den zu erschießen, hat der Kamerad ihm eine geklatscht. Unsre Genossen sind als Russenknechte beschimpft worden. »Hier wohnt Krannich – er schießt auf Deutsche.« Den Zettel bringe ich mit.

Nichts hat er mitgebracht.

Wolfgang Böckler befielen Zweifel, ob die Russen gezielt geschossen haben.

Herr Wolfram, schon im Nachthemd, erzählte von dem Zugbegleiter, den kenne er von Halle, der würde nicht sagen, dass sie welche erschossen haben, wenns nicht so wäre. In der Dimitroffstraße am Amtsgericht ist geschossen worden, am Untersuchungsgefängnis, darüber wollte er mit Wolfgang Böckler nicht reden. »Ihr werdet vom Ausnahmezustand gelesen haben, der über Leipzig verhängt ist. Ihr müsst Euch keine Sorgen um mich machen. Den Brief schreibe ich in Verwaltungskunde«, schrieb er nach Hause.

Schreibst heim?

Vorn spielt die Musik, Herr Böckler!

»Ab 21.00 und vor 5.00 darf niemand auf der Straße sein. Es waren gestern fast alle Leipziger auf den Beinen, und die Arbeit ruhte. Viele öffentliche Gebäude sind demoliert, die Scheiben eingeschlagen, das Gefängnis aufgebrochen, Gefangene raus, die Akten verbrannt.« Herr Boden fing an, die Kataloge zu behandeln, die Bestandsgliederung, Bestandsübersichten. »An allen wichtigen Punkten in der Stadt stehen die Panzer unserer sowjetischen Freunde und unserer Volkspolizei. Sie haben gestern auch einige der Radaubrüder und Westberliner Agenten erschossen.« Wird Vater verstehen, warum ich so schreibe? »Heute fuhren in der Stadt einige schwarze Wagen, durch deren weißes Milchglasfenster schwarze Särge leuchteten. In der Stadt sind leider auch einige große Friedenspavillons niedergebrannt, das größte Aufklärungslokal der Nationalen Front ebenfalls, die Transparente abgerissen. Gestern gab es regelrechte Schlachten zwischen Polizei und Randalisten. Man warf mit Steinen, das Pflaster ist aufgewühlt, mit Holzknüppeln und Milchflaschen.«

Die Post ist nicht sicher, behauptet Friedhelm.

»Ich kann abschließend nur sagen, daß die Regierung diese Mißstände bald beseitigen möge, um diesen Radaubrüdern und amerikanischen Agenten das Handwerk zu legen. Heute ist alles wieder ruhig, und fast alle arbeiten wieder.« Herr Boden behandelte den Schlagwortkatalog. »Nur an den Läden stehen Hunderte von Menschen. Es gibt daher kein Brot. Die Menschen hamstern ungeheuer.« Er klebte den Brief zu. Pausenklingeln.

Sei in allem sehr vorsichtig, schrieb Vater zurück.

Ich brauche Wäsche, deshalb schreibe ich.

Sie warteten auf den Russischlehrer.

Pockrandt zweckte was an die Wandzeitung. »Russisch fällt aus, Herr Döhler dolmetscht.« Walter war damit zufrieden, er brachte russisch kein Wort richtig heraus.

Willi Zschiedert erschien. Also Zuckmayer.

Pockrandts Finger ging hoch.

Ich denke, wir bleiben bei Zuckmayer.

Wieder Pockrandt.

Sie, ja, bitte, Sie.

Ich heiße Pockrandt.

Zschiedert beugte sich übers Pult, strich die dunkle Mähne aus der Stirn. Wie schallend er lachen konnte. Bei solcher Begeisterung ließ er die Hand auch mal auf dem Kopf liegen, um das Haar zu bändigen. Der Hauptmann von Köpenick.

Pockrandt aufstehend: Wie stehen Sie zum »Tag X«, Herr Zschie­­dert, »Nicht Worte – Taten entscheiden«, und zeigte zur Wandzeitung. Heftiges Nicken bei Gernitz.

Was der 17. Juni war, Herr Pockrandt, wenn Sie das meinen, sagte Zschiedert endlich, dazu hat mein verehrter akademischer Lehrer, Hans Mayer, sich vor Assistenten und Gästen so geäußert, dass wir jetzt miteinander sprechen müssen. Dem schließe er sich an.

Zwischen den schiefen Wänden bemerkten sie mit einem Mal, wie heiß es war.

Das sagt uns ein Emigrant. Zschiedert suchte sein Taschentuch. Ich wiederhole ihn. Am 17. Juni ging es in Wahrheit um Faschismus oder Antifaschismus. Ich möchte ihn so verstehen, wir alle müssen Lehren ziehen. Erst wenn ein echtes Vertrauensverhältnis besteht, ist der Faschismus endgültig geschlagen.

Unsereinen betrifft die Literatur, meinte Zschiedert, da liegt vieles im Argen. Irina schob der Freundin einen Zettel zu. Wer redete da? Zschiedert oder sein akademischer Lehrer vom Germanistischen Institut.

Die Älteren unter uns haben gewisse Bilder in Erinnerung, gewisse Klänge im Ohr, klirrende Fensterscheiben, die Verbrennung von Büchern und Papieren, was an die Tage nach dem Reichstagsbrand erinnere, die Zschiedert nicht gesehen haben konnte. »Wir in Deutschland kennen die Weise, den Text und die Herren Verfasser.«

Böckler schnipste, fragte, wer? Was?

Weiß es jemand, fragte Zschiedert. Wer noch außer Herrn Eichler? Fräulein Großmann. Heine. Genauer?

Wintermärchen.

Sollte ein angehender Bibliothekar wissen. Vieles liegt im Argen. Zschiedert erinnerte an die große politische Rede, die Thomas Mann zu seinem 75. Geburtstag gehalten hat, in der er über die Sowjetunion sagte, wenn nichts anderes ihm Achtung geböte, so wäre es diese Gegenstellung zum Faschismus italienischer oder deutscher Färbung.

Gertraude Schubert unterbrach. Meine Wirtin sagt, die Arbeiter waren es, die Leute selber hab ich nicht gesehn, wir durften ja nicht raus.

Wer durfte nicht raus?

Du warst vielleicht draußen, ich nicht, Rudi, ich hatte nicht mal ’ne Decke beim In-der-Schule-schlafen.

Musst du doch zugeben, dass wir ziemlich eingesperrt waren, sagte Waltraud Arlt.

Dafür wart ihr in Sicherheit.

Die Diskussion lief auseinander. Nicht alle durcheinander.

Arbeiter, richtige Arbeiter? fragte Pockrandt. Mehr konnte er nicht sagen, Zschiedert kam ihm zuvor: Darüber sollte man sich nicht täuschen.

Mitläufer gab es auch, Unentschlossene, sagte Evelyne Fehrmann.

Arbeiter sind gegen unsere Staatsmacht aufmarschiert. Die Partei schätzt ein, dass sozialdemokratische Losungen aus faschistischen Händen in einer faschistisch gelenkten Bewegung vorangetragen worden sind, erklärte Pockrandt.

Friedhelm mit hängenden Schultern hörte zu. Irina hatte Walter im Blick. Du sagst dazu nichts, redeten ihre Mandelaugen. Sie nahm ein Spiegelchen zur Hand, als müsse sie feststellen, ob sie noch da war.

Wir müssen Lehren ziehen, das Volk, Zschiedert stockte, als würde eine Waage für Sagbares vor ihm stehen. Die Regierung aber auch. Er kritisierte das Banausentum in der Literatur.

Ich geh mal aufmachen. Irina ging zum Fenster, vorbei an Walter, der sich mit einem Löschblatt Luft zufächelte.

Schreckensherrschaft der Sonne, wie Jorge Amado sie beschreibt, sagte Harry Matter, der Amado bewunderte. Immer diskutieren dieselben, vieles muss geändert und verbessert werden.

Das nehme ich auf, sagte Pockrandt. Fehler haben das Vertrauen der Werktätigen erschüttert. Daran ist unsere Organisation mit Schuld. Noch mehr Schuld trägt die FDJ daran, dass sich viele Jugendliche am 17. Juni von den Provokateuren zu unüberlegten Aktionen und Demonstrationen haben verleiten lassen. An der Schule haben wir das verhindert.

Willst du damit sagen, wir wären fähig gewesen, uns hinreißen zu lassen? Das verbitte ich mir.

Mit Aufstehen hatte Gernitz angefangen. Irina blieb sitzen, als sie das sagte.

Pockrandt ist gefährlich, meinte sie hinterher, der schreibt mit, wenn er sagt, ich formuliere das gleich mal, und einen festnagelt.

Pockrandt dankte den Sowjetsoldaten, den Volkspolizisten, den Kameraden der KVP, der Kasernierten Volkspolizei, die den »Tag X« verhinderten, der die Deutsche Demokratische Republik zum Tummelplatz von asozialen Elementen und Faschisten gemacht hätte.

Willi Zschiedert, den Kopf gesenkt, ließ den Erguss über sich ergehen.

Gernitz meldete sich.

Sie, bitte.

Warst du eher, Walter?

Gernitz redete parteigemäß, bis er aufhörte. Walter Döring sagte, er hätte sich gar nicht gemeldet. Im Kabuff hatte er zu Friedhelm mal gesagt, wenn einer in der Klasse ein Prolet ist, bin ichs. In der Werktätigenklasse zu sein, fand er, wäre eher keine Empfehlung.

Harry Matter meinte, am 17. Juni habe sich in einer entscheidenden Stunde eine Stimmung geäußert, wenn auch nicht als Unterstützung der Provokateure, aber als bedenkliche Lethargie, weil Kritik und Selbstkritik, dieses unverzichtbare Prinzip, nicht mal in Ansätzen sichtbar geworden wären, in unserer Klasse auch nicht. Harry nahm die Brille ab, wenn er aufgeregt war: Die Regierung habe jetzt den Anfang gemacht, was nur ein Anfang sein könne.

Es klingelte Pause. Pockrandt hielt sich nicht dran. Die Niederschlagung am Siebzehnten hat den Dritten Weltkrieg verhindert, sagte er jetzt. Unsere Jugendorganisation, die voller Vertrauen die Politik der Partei und der Regierung unterstütze, müsse grundlegend ihre Arbeitsweise ändern, auch unsere Gruppenleitung.

Pause! Gilt auch für dich, Klaus!

Grundlage dafür soll die Aussprache – Gertraude stand auf, blieb stehn – über den Bericht der Leitung zum Umtausch der Verbandsdokumente sein, auf der wir unter Anwendung von Kritik und Selbstkritik zu allen Erfolgen und Fehlern offen Stellung nehmen werden.

Zschiedert hatte die Tasche schon in der Hand, als er sagte: Es war ein Fehler, dass wir mit der Regierung nicht längst offen und rückhaltlos gesprochen haben. Was er über die Bonzen, das kunstfeindliche Banausentum, die bürokratischen Kunst- und Literaturdiktatoren gesagt hat, meinte Friedhelm nach dem Mittagessen, traut sich nicht jeder.

Wie sich herausstellte, hatte Pockrandt das Mitgliedsbuch der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft eingebüßt, verloren und zeigte den Verlust bei Böckler an, der DSF-Vertrauensmann war. Weggeschmissen wird ers haben, behauptete Gerlinde Otto, die sonst nie redete, als sie für sich waren.

Brigitta als FDJ-Sekretär beantragte Ersatz.

5

Ich traue niemand, dich ausgenommen, aber auch nicht unbedingt. Gershwin traue ich, meiner Erfahrung

»Wir waren in großer Sorge, weil keine Post kam, nun sind wir beruhigt. Hier ist alles ruhig, auch in Pirna, wo ich am Sonntag mit Lene, die mich fein bewirtet hat, einen schönen Schiffsausflug machte«, schrieb Mutter, »und vergiss Vaters Geburtstag nicht.«

»Nicht Worte – Taten entscheiden«, blieb an der Wandzeitung hängen. Die Niederschlagung hat den III. Weltkrieg verhindert, glaubst du das? Pockrandt genießt, wenn jemand seine Artikel liest, meinte Johannes, und Böckler stellte sich an die Wandzeitung. Na, ihr, lachte Irina, steht alles in der Zeitung, mein Wirt sagt, man muss die Zeitung richtig lesen. Wolfgang liest bestimmt, stichelte sie.

Wat meinst?

Ob du Zeitung liest? Hannes zeigte mit dem Finger drauf. Ob du Pockrandt gelesen hast? »Wir müssen in Zukunft unsere Beziehungen zueinander kameradschaftlicher gestalten. Leitsatz in unserer Arbeit soll hierbei der Satz sein: Nicht Worte – Taten entscheiden! K. Pockrandt.« Schwungvoll hat er durchgezogen, das P, sagte Irina.

Margot Röbke stellte sich vor Pockrandts Aufruf hin. Zu lang, was du da aufgesetzt hast. Brigitta ging nachprüfen.

Denkst du, dass wir übernommen werden? Davon gehe ich aus, Margot. Bei dir wäre ich mir nicht so sicher, sagte sie, als Klaus sich einmischte. Der lachte. Brigitta war Gruppensekretär, er ihr Stellvertreter.

Deine Überzeugung möchte ich haben, Klaus, dass wir übernommen werden, weil wir Arbeiterkinder sind. Bei der Disziplinlosigkeit vielleicht die Hälfte. Meinst du mich, Harry? Ohne Brille wirkte Harry Matter richtig hilflos. Dich auch, Klaus. Mich ärgert, dass ihr, Rudi, du, regelmäßig zu spät kommt.

Die Stunde fing an. Rolf Recknagel behandelte Jack London. Wir reden in der Pause, sagte Friedhelm.

Die meisten halten Abstand, meinte Regina in der Pause. Ich sehe, wie Pockrandt um Brigitta rumschwirrt. Denkst du, der glaubt dran, was er redet?

Bin ich der liebe Gott, Regina? Ich traue niemand – und Johannes ansehend –, dich ausgenommen, aber auch nicht unbedingt. Gershwin traue ich, meiner Erfahrung.

Wenn du genauer hinguckst, was Irina sagt, stimmt. Es hat sich was verändert seit Juni, die ganze Schule, überall. Ich sehs an Wolframs. Was ist mein Mann erschrocken, sagte Frau Wolfram, der war auf dem Bahnhof. Da hat das Erschrecken angefangen.

Die Verbandsdokumente waren umgetauscht. Das war Beschluss. Die halbe Klasse bestand aus Leitungsmitgliedern, hatte Posten, Funktionen, bloß Irina nicht.

Das Antilopenhafte an ihr sind die Augen, behauptet Friedhelm.

Klaus Grimm hatte den Sport unter sich. Walter Döring redete über Fußball, Rudi auch. Gernitz war mit seinem Rauchen schwer zu ertragen, genauso wenig, wenn er politisch wurde. Seine Stärke war Erzählen. Stehe ich doch gestern am Potsdamer Platz, mir gegenüber ein Heimkehrer. Sie redeten. Krieg, nie wieder! Die Bahn rollte durch Trümmer. Überall ist was Buntes angeklebt. Im Leben geht’s immer weiter, wenn du am Leben bleibst. Auferstanden aus Ruinen. Das Lied war gemeint. Sie bedienten sich von seiner Packung.

Döring dachte vielleicht an den Heimkehrer, denn er fing zu erzählen an. Als es aus war, war ich im Seekreis, im Mansfeldischen, da gings nach dem Zusammenbruch bloß ums Essen, ums Überleben, Wäsche. Die Flüchtlinge konnten sich nicht mal die Hände abtrocknen. Den Umsiedlerzug seh ich vor mir, die hatten nichts. Da sind die Genossen zu den Russen hin und mit die (er meinte die Genossen) zu den Nazis, den ehemaligen. Gebt für die Schuld, die Ihr habt, wenigstens Wäsche her, was klappte. Die Dolmetscherin kriegte von den Russen zur Belohnung ein Schneiderkleid, ein richtiges Kostüm war das.

Russen? Das Wort missfiel Pockrandt. Für mich sinds Russen, darauf bestand Döring, sagen doch alle. Hast du was andres gehört, als sie eingerückt sind mit ihre Panzer? Die Dolmetscherin zog sich gleich aus. Die hab ich in Schlüpfern gesehn, die erste Frau, die ich in Schlüppern gesehn hab, damals zur Anprobe, außer Mutter. Das Kostüm musste auf die Kommandantur hingebracht werden. Walter erwähnte ein russisches Ehrenmal.

Sowjetisches, kartete Pockrandt nach, was Walter ignorierte.

Die Schneiderin war meine Oma. Dirwegen hab ich den Faden verloren! Beim Essenausgeben hatte er den Faden wieder. Dass Oma sagte, »Bonzen gingen, Bonzen kamen – Amen«, kann Mutter bezeugen.

Übers Wochenende fuhr Walter zu seiner Frau. Den haben sie aus der Chemie von der Arbeit in die Partei geholt, von der Partei in die Bücherei. Walter ist delegiert, ich auch, sagte Friedhelm, deshalb sind wir Werktätigenklasse.

Die sich mit der Besatzung einließen, gabs die bei euch auch?

Im Kabuff stand die Luft. Walter überhörte die Frage. Die machten es für Speck und Brot, sagte Walter zu Friedhelm, als sie an der Haltestellte standen. Manchmal klebten Zettel am Lichtmast. Mit Maschine getippt. Hure, dazu der Name. Meist haben Hitlerjungs geklebt, sagte Friedhelm, als wäre er dabei gewesen.

Walter hatte die Demontagen erlebt, die Bodenreform, Neubauern, die Vertriebnen. Die Bauern sahen das ganz negativ, kein Spannvieh, keine Kühe, keine Gebäude. Verhaftungen durch die Russen. Die Russen haben hier manches Kind gemacht für Brot oder was andres. Wer will das auseinanderhalten? Die Demontagen werden totgeschwiegen, sagte Walter, die ganzen Russengeschichten.

Ich hab in Bautzen am Bahnhof die ausgeglühten Panzer gesehn, in denen wir rumgekrochen sind, und auf den Bahnsteigen die Holzkisten, reihenweise, meist Maschinen.

Im Kopf lief vieles ab. Als wäre alles auf einmal passiert. Sie redeten über Russenfilme. Tschapajew, Lenin, die Stalinfilme. Warm wars im Kino. In Gefangenschaft hat Vater Klaviere abgeladen, auf freier Strecke, runter damit, die Wagen wurden gebraucht, und ein Kamerad hatte sich über die Tasten gebeugt, das Klavier wimmerte.

Saß man in der Straßenbahn, verschwand zuerst die Bibliothekarschulvilla vor lauter Grün und dicken Kastanien.

Am Lindenauer Markt stieg er aus, erinnerte sich an die Plakate und vielleicht an Klaviere, die durch Birkenwälder rollten. Friedhelm stichelte: Kannst die Demontagen in Gewi ja anbringen. Walter Döring winkte ab. Die stören den Aufbau bis heute, bloß niemand redet drüber.

Hast du eine? Solche Fragen stellte Friedhelm mitten im Gespräch, wenn er nicht weiter reden wollte, da sprang dann eben das Gespräch hin und her.

Schreib, wie du dich nach ihr sehnst. Dass du von ihr träumst, dass sie neben dir liegt, wenn du aufwachst, blank wie eine Münze, du willst sie küssen und beißt ins Betttuch. So redete Friedhelm. Eines Tages wird deine Ruth angefahren kommen, und Wolframs werden den Besuch unterbinden. Wenn das pasiert, komm zu mir, ich zieh für paar Tage aus. Nimm sie, oder sie fliegt einem anderen zu, wenn du sie nicht bissel heiß machst. Frauen sind so, die brauchen Liebe.

Am Himmel hinter der gestutzten Linde vom Hinterhof der Lützner 75 stand der Mond. Da waren viele Hinterhöfe entlang der Lützner Straße. Die Vögel waren verstummt. Er hörte Wolfram sagen, Mutter, isch gehe los.

Einen Toten hatten sie durch die Stadt getragen, bedeckt mit abgerissenen Blumen. Den hatte der Wolfram gesehn, die Panzer auch, die in den weichen Asphalt drückten. Uta Schäfer behauptete, Luftgewehre wurden gleich an die Hauswand geklatscht.

Warum kann ich nicht schlafen? Wegen Harry? Das war gestern. Wegen Regina? Weil ich so blöde war. Er trank den Tee gleich aus der Kanne. Was sich neckt, das liebt sich, hatte Irina gerufen. Ein Stück Gurke war geflogen. Harry hatte die Gurke abgekriegt, die Regina treffen sollte. Was sich neckt. Harry kapierte das nicht. Er spielte sich auf und stellte sich an die Wandzeitung. »Befinden wir uns unter Rind-, Schweine- oder Hühnervieh? Die Frage ist berechtigt, wenn es vorkommt, daß sich einige Freunde, vor allem Regina und Johannes, so benehmen, als ob sie sich dazu rechnen. Oder ist eine neue Sportart des Gurkenwerfens eingeführt worden? Als Sportfunktionärin ist es doppelt beschämend, sich so albern zu benehmen. Wir hausen doch nicht in einem Stall.«

In der Pause schnitt sie Harry den Weg ab. Passt dir wohl nicht, dass du mit uns in einer Klasse bist? Regina wütend, was Johannes nicht verstand. Irina hatte die richtige Einstellung, sie winkte ab.

Er machte das Fenster weit auf. Bloß von der Straße kam Licht, ab und zu war ein Auto zu hören, sonst vollkommene Ruhe.

Du kannst doch nicht im Ernst behaupten, dass wir mit Nahrungsmitteln um uns schmeißen; Harry, sagte ich ihm, das bissel Gurke, ungenießbar war sie außerdem, und da hat der dumme Harry, sagte Regina, sich aufgeblasen, als er behauptete: »Die Reinemachfrauen haben es nicht nötig, Gurken aus Papierkörben und Ecken zu klauben. Mein Sprachschatz hat noch schönere Wörter, ich sage, mit Ferkeln muß man in ihrer eigenen Sprache reden«, sagte Harry.

Zu der Zeit standen an der Elsterbrücke die schweren Panzer.

Hannes hat Spaß gemacht, mischte sich Irina ein. Warum, das möchte sie nicht beleuchten, und du hast was abgekriegt, was sie zurückgeworfen hat, mehr wars doch nicht.

Regina lenkte nicht ein. Mich kannst du kritisieren, Harry, aber nicht mit solchen Übertreibungen, sonst gehe ich durch die Schule und zeige allen, wie der Jugendfreund Matter unsere Klasse in ein schlechtes Licht rückt. Der gab zurück: Wir bringen es nicht einmal fertig, in einer Gruppe von achtundzwanzig Personen Ordnung zu halten. Wie sollen Partei und Regierung im Land Ordnung schaffen, wenn bei uns keine herrscht.

Warum hat Matter diesen Streit angefangen und ist politisch geworden?

Auch Gernitz hatte sich eingemischt. Ihr seid nicht im Recht. Es ist eine schlechte Auffassung von Ästhetik, mit Nahrungsmitteln herumzuwerfen, und wenns nur ein Stück Gurke ist. Disziplinverstöße darf die Klasse nicht hinnehmen. Harry zeigt, dass die Arbeiter uns zeigen, wie man das macht, setzte Pockrandt fort.

Unästhetisch benehmen, was soll denn das sein? Das kam von Friedhelm. Wisst ihr überhaupt, was Ästhetik ist?

Sie lachten, bloß Matter nicht. Regina wehrte sich noch. Was Harry aufgesetzt hat, ist Quatsch, wenn du meinst, die Küche wird keine Nahrungsmittel mehr geliefert bekommen, ist doch Quatsch, wenn du das behauptest.

Wer sich nicht erziehen lässt, mit dem muss man anders reden, zuerst ist das die Wandzeitung, dazu stehe ich. Erklärt, dass ihr die Fehler einseht, dass sie nicht wieder vorkommen.

Sie verzog den Mund. Gefällt dir nicht, Regina.

Friedhelm hat recht, es sind Übertreibungen.

Irina sprach für alle. Wenn Klaus die Drohung mit den Arbeitern nicht zurücknimmt.

Was für eine Drohung?

Na die. Vielleicht haben wir uns missverstanden, Klaus.

Heise auf seinen Prothesen war hereingestiegen in den Dachraum, der diesen Querbalken hatte, über den jeder stolperte, der sich nicht auskannte. Hier geht’s heiß her, sehe ich.

Als müssten die Reinemachfrauen Gurken aus Papierkörben ziehen, wiederholte sich Regina, als ob sie Matter überzeugen könnte. Ich würde die Werktätigen missachten, behauptest du, die Frauen hole ich hoch, Harry, ein Stückl Gurke (sie redete schlesisch), mehr wars nicht, und ungenießbar war sie außerdem.

Die Stunde war zu Ende. Hört auf, Kinder! Friedhelm hob die Hände. Die Pause ist viel zu kurz.

Ich behaupte ja nicht, dass mein Verhalten richtig war, trotzdem übertreibst du, wenn du uns an der Wandzeitung angreifst. Mit Nahrungsmitteln herumwerfen, weil wir angeblich nicht wissen, wie kostbar sie sind, lasse ich nicht auf mir sitzen.

6

Der Siebzehnte hatte sie unvorbereitet getroffen. Sie vertrauten einander noch weniger. Höchstens, die sich küssen, feixte Friedhelm. Gernitz gibt die Linie vor

Sonnabend Mittag. Irina packte ihre Tasche. Matter will was zu bestimmen haben. Walter verabschiedete sich. Der Streit um die Gurke interessierte ihn nicht.

Friedhelm rauchte draußen. Alles wird besser, die Zeitungen sind voll. Grotewohl soll gesagt haben, die Regierung hat den Karren in den Dreck gefahren.

Irina mit spitzem Mund: Was sagt uns das? Ohne Wandzeitung findet nichts mehr statt.

Ich weiß, was du sagen willst.

Sie zog die Augenbrauen nach. Hängst du dran, musst du dich verteidigen, und das Kollektiv wächst.

Sie gingen zur Straßenbahn. Ist dir was aufgefallen? Die sagen nichts mehr. Die blassblonde Margot ist so eine. Sie hat kühle Hände, sagt der aus der Abiturklasse, der sie geküsst hat, ich könnte sie nicht küssen, die Margot, meinte Hannes.

Dieser ganze Quatsch fällt einem ein, wenn man nicht einschlafen kann, und Matter, der mir völlig egal sein kann, geht mir auch durch den Kopf, statt das wegzuschieben.

Wichtig ist, dass der Vorkurs übernommen wird, hatte Friedhelm gesagt. Denkt ihr, dass sich noch was ändert?

Der Siebzehnte hatte sie unvorbereitet getroffen. Sie vertrauten einander noch weniger. Höchstens, die sich küssen, feixte Friedhelm. Gernitz gibt die Linie vor. Wer steckt hinter Pockrandt? Die in der SED sind, wissen, wenn was brenzlich wird. Beim Hitlerattentat war das so, ich Pimpf. Wie ich dich kenne, wirst du ihnen nicht auf den Leim gehen. Attentat wirds keins mehr geben. Wie auch?

Seit Juni hatten sie den Fachschülerausweis bei sich zu haben. Besucher waren an- und abzumelden. Wer zu spät kam, hatte den bewachten Eingang zur Rathenaustraße zu benutzen. Mit der Zeitungsschau begann der Unterricht. Die Leitung arbeitete eine neue Schulordnung aus.

Die Fähigkeit zur Selbstkritik muss man erwerben, erklärte Rudi. Die Woche hatte begonnen. Damit Frieden ist, hängt ihr eine Selbstkritik ans Brett, riet Friedhelm, und Matter hat seinen Willen. Schon eingeleitet. Wer schreibt? Ich. Dann formulierst du. So war Regina. »Der Begriff Gurken, den Kollege Matter gebraucht, bezieht sich zur näheren Erklärung für die Leser unserer Wandzeitung nur auf einen Teil einer ungenießbaren Gurke, wir bitten Freund Matter in Zukunft keine solchen Übertreibungen zu gebrauchen.« Matter spinnt, setzte sie nach.

Du Ferkelchen! Mir geht der Matter so auf die Nerven, sagte Irina.

»Durch die Anschuldigungen wird ein schlechtes Licht auf unsere Klasse und vor allem auf uns geworfen, Als ob wir jede Pause mit Gurken schießen.« Muss rein. »Abschließend möchten wir nochmals betonen, daß wir unsre Fehler einsehen, diese nicht wieder begehen werden, und bitten die durch unser undiszipliniertes Verhalten Betroffenen um Entschuldigung.«

Eigentlich erkenne ich keinen Fehler, sagte Regina und unterschrieb.

Denkst du, ich?

Liest sowieso nur der dämliche Harry. Sie hatte erdfarbene Augen, wirklich, und Sommersprossen.

Harry hatte der Klasse Disziplinlosigkeit vorgeworfen. Diskussion wolle er keine neue entfachen, was sie nicht als Schwäche verstehen sollten. Gewiss gäbe es noch mehr Freunde, die nicht ganz unbefleckt wären, nicht immer richtig handeln. Er bemerkte nicht, dass er sich wiederholte. Unsre Klasse sei vital, bringe Elan auf, was kein Jugendfreund bestreiten werde. Das trage die Frucht des Gemeinschaftsgeistes, was beweise, dass Ausgelassenheit und Fröhlichkeit durchaus positiv gewertet werden können.

Irina sagte, wenn ich Harry wäre, würde ich, was sie über uns sagen, als Kritik lesen. Am Nachmittag war’s, als sie drüber redeten, Friedhelm am Flügel, Zigarette im Mundwinkel, raste die Zwölfte Straße runter, ließ sich austrudeln. Was Harry will, Hannes, ist mir nicht ganz klar.

Böckler kam an, Skatkarten in der Hand. Friedhelm band ihn fest mit Ka-linka, ka-linka, ka-li-ni-ka moja. Das hatten sie im Ohr, die Soldaten, die Russen. Wolfgang strahlte, weil sie das in Meckelnburg auch liebten. Sie warteten auf ihn in der Veranda. An der Wand die oberste Pionierleiterin. Pockrandt behauptete, sein Vater würde sie gut kennen.

An diesem Nachmittag kam die Rede auf einen Artikel im »Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel«, den niemand gelesen hatte und der, wie sich herausstellte, im Lesesaal der Deutschen Bücherei unauffindbar war, das Schul­exemplar auch. Ich komme nicht ran, bedauerte Evelyne Fehrmann, die immer das Neueste hatte. Die nehmens mit in den Urlaub, vermutete sie.

Man muss den Artikel erst mal haben. Staat und Partei hätten sich von den Massen entfernt, stand drin, mit dem 17. Juli sind die Fehler nicht automatisch abgestorben. Auch, dass Missstände von kritiklosen Jasagern verschwiegen werden, behauptete Irina.

Der aus der Abiturklasse mit Hannes Fußball spielt, hat den Artikel bekommen, von dem, der Jungen, die übrig blieben geschrieben hat. Arbeiter haben sich gegen Missstände gewehrt, gegen die Normen. Das Negative wird in den Zeitungen verschwiegen, Positives aufgebauscht. Wer nicht einverstanden ist, wird an die Wand gedrückt. Nicht jeder ist ein Agent. Wir müssen zuhören, lauschen, was die Massen sagen, das Wort kommt vor.

Die Namengebung für Loest war untergegangen. Brigitta war vielleicht froh, dass das Börsenblatt fehlte.

Der Artikel wäre von Anfang Juli, sagte Pockrandt später.

Am 13. Juli begann die Eignungsprüfung. Alle bestanden. Am 28. Juli war Zeugnisausgabe. Friedhelm ließ die Hand auf Böcklers gesunde Schulter fallen. »Denn man tau.« Dass der Schulleiter jedes Zeugnis zweimal unterschrieben hatte, fiel ihm als erstem auf, mit Rotstift als Schulleiter und ohne Rotstift als Vorsitzender der Prüfungskommission. Der Generalissimus trägt Weiß.

Es war heiß, als sich Friedhelm mit dem rosa Doppelblatt Kühlung zuwedelte. »... doch die Schule ist nur eine Vorstufe, die wirkliche Schule der Kader erfolgt in der lebendigen Arbeit außerhalb der Schule bei der Überwindung von Schwierigkeiten.«

Sie waren Fachschüler, und einen Tag später fingen die Ferien an.

Kannst dich besaufen, Walter.

Mach ich. Ich stelle mich vor Steudel hin, erstatte Meldung.

Walter hielt Steudel für einen Spieß. Soll Klempner gewesen sein. Rudi qualmte. Stimmt, sagte er.

Weiß das auch die Partei, fragte Friedhelm. Wie kommst du drauf, dass er Spieß war?

Weil ich Soldat war.

Und woher willst du das wissen, Walter?

Ich wars vielleicht auch. Wie der sich auf dem Absatz rumdrehte, wie Steudel, als er die Zeugnisse austeilte. Bei der Gelegenheit hab ich den Steudel erkannt, akkurat. Ich war letztes Aufgebot.

War das noch im Krieg, Walter? – Wie’s zum Schluss war, den Vergleich musst du mir überlassen, Rudi, du warst in Italien, wir in einem Waldstück im Mansfeldischen. Der Spieß ließ uns stehen. Kümmert euch, war sein letztes Wort.

Ich wollts von Rudi hören, sagte Friedhelm zu Hannes, der zugehört hatte. Bist ein Jahr älter und hast plötzlich ein anderes Schicksal.

Klaus Pockrandt, das rosa Zwischenzeugnis in der Hand, kam ins Kabuff. »Es gibt keine Landstraße für die Wissenschaft, und nur diejenigen haben Aussicht, ihre hellen Gipfel zu erreichen, die der Ermüdung beim Erklettern ihrer steilen Pfade nicht scheuen. Marx.« Steht drunter. Böckler lief an, weil er nicht erkannte, dass Pockrandt Marx zitierte.

Ihr redet von Wissenschaft, vielleicht treffen wir uns als Ferienhelfer wieder. Dich meine ich nicht, Rudi, sagte Irina mit ihrer typisch Dresdner Schnappe, bist bei der Partei bestimmt gut aufgehoben, und um dich, Friedhelm, bei den kleinen Mädels, mache ich mir auch keine Sorgen. Da lachten sie. Untersteh dich, du Lustmolch, rief sie und entschwebte.

Glücklicher, fährst an die See. Johannes war in Prerow in eine Kinderbibliothek eingewiesen. See ist schön. Er erinnerte sich, dass Ruths Vater auf einem Schnellboot gefahren war. Die Jansens waren Norddeutsche, die es in die Oberlausitz verschlagen hatte, er als Arzt. Meine Großeltern waren da, wo sie immer schon waren, viele sind als Soldaten bloß irgend wohin gestiefelt. Theodor Patzig war bis an den Rhein gekommen, auf Wanderschaft. Vaters Großvater war beim Militär in Dresden, zuletzt Stellvertreter. Die Einzelheiten bring ich nicht zusammen. Die Aufständischen beim Maiaufstand hatten ihm die Mütze heruntergeschossen.

Die Ostsee ist was andres, für mich ist Riga die Ostsee, hatte Vater gesagt, wo wir gebadet haben, ohne alles. Werdet ihr vielleicht nie sehn, Riga, der Krieg hat uns das verdorben. Denke ich an Riga zurück, sehe ich diese Dünenlandschaft, die Küste, höre die Stille, die es in diesem fürchterlichen Krieg auch gab, als Leningrad eingeschlossen war. Wenn Vater erzählte, hatte der Himmel plötzlich Farbe, die es in seinen Briefen nicht gab, wo kein Platz zu sein schien für die See, die Himmelsfarben, die Wolkenberge. Riga, unvergesslich, alles weg, dahin, verloren in dem unseligen Krieg.

Ich bin neugierig, wie die See aussieht, dachte Johannes, als er Irina zur Straßenbahn rennen sah.

In Prerow erlebte er dann, als er über die Düne gewatet war und die See vor ihm lag, was das war, nicht blau, sondern graugrün, reglos bis an den Horizont und in Silber verschwimmend – die See. Er brachte kein Wort heraus.

Der lange Sommer hatte angefangen. Ruth saß in der Apotheke fest, er im Ferienlager. Dieser Ansturm in der Lagerbücherei, täglich Bücher. Volkswerft Stralsund war in jedes Buch eingestempelt. Verirrte Bücher gabs, mit denen die Volkswerft nichts anzufangen wusste, Georg Lukács, gelbe Pappbände, dessen Zerstörung der Vernunft ein dicker Band war für schwierigstes Lesen.

Gedichtbändchen sammelten sich im Regal der Ferienlager-Bücherei, in denen blätterte er. Ein Gedicht nahm ihn gefangen, von Preczang: Zum Lande der Gerechten. Er schrieb es ab. Nie gehört, sagte Friedhelm.

Versunken ist das alte Leid, / Die Nöte, die uns knechten. /

Wir fahren in die neue Zeit / Zum Lande der Gerechten. /

Uns trägt die Flut, / Uns stählt der Wind, /

Uns treibt die Glut / Der Herzen, die voll Wunder sind. /

Land ahoi!

Im Gedicht vom Menschen von Kurt Bartel (Kuba) blätterte er.

Am Eingang zum Ferienlager war die Fahne aufgesteckt. Eine breite Einfahrt, Holzsäulen. Irgendwie fremd. Ist russisch, sagte Vater, als er davon hörte. Dahinter große graue Zelte, Wimpelleinen.

Wie ein Kartenspiel wurden die Jungen Pioniere zusammen- und auseinandergelegt, vom Aufstehen bis zur Nachtruhe, wenn einsortiert wurde. Tagsüber waren die Zelte, außer bei Mittagsruhe oder Regen leer, die Decken zusammengelegt. Draußen Sand. Viel Halstuchblau, das vom Lagergrau abstach. Wehrmachtzelte, übriggebliebene, meinte Friedhelm, vielleicht, denn von wo sollen die sonst hergekommen sein, vielleicht hat Rudi drin gelegen oder welche von den Jungen, die übrig blieben, wie Walter Döring, bei dems im »Arbeitsdienst« angefangen hatte. Das muntert die Zelte auf, wenn ich höre, wer in die weißen Hemden reingesteckt wird, als gäbs keine andern. Das erinnert mich an so viel. Das Halstuch denke ich mir weg, sagte Friedhelm, und Vater, als dieser lange Sommer vorbei war, sagte: In solchen Zelten haben wir gelegen, oh Gott, mein Gott, was haben sie nicht alles mit uns gemacht.

7

Auf einem der langen Bahnsteige rollte der Zug ein in die riesenhafte Hauptbahnhofshalle. Im Kopf meldeten sich die Schule, die Wandzeitung, das Kollektiv, der »Neue Kurs«

Von diesen Septembertagen mit einem hohen sich im Blauen verlierenden Himmel war das einer und Stille. Wie weggewischt die Wolken, bis auf Fetzen. An den Apfelbäumen entlang der Semmelstraße zum Bahnhof regte sich kein Blatt. Ein Apfel plumpste auf die Straße. Vater in abgeschnittener Hose besah sich dieses winzige Knäuel Verdauung, das der Wurm herausdrückte. Der Bahnhof kam in Sicht. Auf dem Leiterwagen der Koffer mit Wäsche.

Stichwort Posaunenchor, Hannes. Sie haben Horn und Noten abgeholt. Zum Blasen bist du aber jederzeit willkommen. Den Lehrer Halang haben sie zurückgeholt in die Schule, vielleicht eine Folge vom Juni. Alfred wäre das auch geglückt. Den roten Ziegelbau kennst du. »Unterwinde sich nicht jedermann, Lehrer zu sein«, stand in Goldschrift überm Eingang.

Vater zog die Taschenuhr. Nach der Bahnhofsuhr kannst du die Zeit einstellen. Dir werde ich als nächstes eine Armbanduhr schenken. Sie betraten die kleine Bahnhofshalle. Zum grauen Sportanzug passt das grüne Hemd, sagte Mutter, die billigen Schuhe trägst du bei gutem Wetter ab.

Die Bahnassistentin, Mutters Freundin, sagte Verspätung an. Wird der Abschied eben zehn Minuten länger, ich zieh mich gleich wieder zurück, sagte sie zu Vater.

Der Konfirmandenanzug geht nicht mehr wegen zu kurzen Ärmeln. Den neuen Anzug nimm für Sonntag, fürs Theater.

Hannes! du hörst mir nicht zu, sagte Mutter.

Weil ich an was andres gedacht hab, auf dem Bahnhof hier, an die Frau, von Breslau die, die gesagt hat, dass ich durch drei Prüfungen gehen werde. Vergiss mein Gerede, hat sie gesagt. Der Vorkurs war vielleicht eine.

Der Zug schnaufte heran. Die Lok stieß dicke Wolken Dampf aus. Frau Johne hatte die rote Mütze aufgesetzt. Herrschaften, Beeilung!

Du fehlst uns sehr.

Mutter winkte. Er sah den Zug in den Gleisbogen hineinfahren. Das zweite Gleis hatten die Demontagen verschluckt. Dem Gleisbett konnte kein Regen was anhaben, der Regen den Zügen auch nicht, die durch seinen Kopf gefahren kamen, Verwundetenzüge, Urlauberzüge, zerschossene Panzer in der einen Richtung, einsatzbereite in der anderen. Kanonen, mit Planen überspannt, rasselten vorbei oder blieben stehen.

Den Koffer zwischen den Füßen, in dieser Ziehharmonika zwischen zwei D-Zug-Wagen, wie er die Plattform nannte, stand man sich die Beine in den Bauch. Die Erinnerung fuhr mit.

Auf einem der langen Bahnsteige rollte der Zug ein in die riesenhafte Hauptbahnhofshalle. Im Kopf meldeten sich die Schule, die Wandzeitung, das Kollektiv, der »Neue Kurs«. Harry Matter hatte gesagt: »Wir werden einen neuen Kurs in unserer Gruppenarbeit einführen müssen«.

Den schweren Koffer hätten Sie vielleicht nicht gebraucht, empfing ihn Frau Wolfram, als ob sie auf sein Klingeln gewartet hätte.

Meine Wäsche, die brauche ich.

Vom Hundertsten ins Tausendste kommend, stand er abends am Fenster und fragte sich, was es bedeutete, wieder angekommen zu sein, als Fachschüler, Mitglied der Gruppenleitung, die jeden Donnerstag zuammenkam. Friedhelm nannte sie den Zwölferrat. Montags erschienen die Gruppenleiter zum FDJ-Schulaktiv, Dienstag die Kulturgruppen, Mittwoch die Gesellschaft für Sport und Technik, Freitag war Gruppennachmittag.

Solange das Fenster offen stand, waren von der Straße manchmal Schritte zu hören, und selbst wenn niemand kam, die Stadt war anwesend.

An was denkst du, hatte Mutter gefragt. Ach, nichts weiter. Er hatte an Ruth gedacht, er dachte an das, was war und in Wiederholungen ablief.

Gruppennachmittag.

Pockrandt zweckte eine Selbstverpflichtung ans Wandzeitungsbrett, hatte wieder seine Spur mit dem Füllhalter gezogen. »Funktionär sein – heißt Vorbild sein!«, rot unterstrichen. »Die Funktionäre der Klassengruppe und die Seminarleiter verpflichten sich, mustergültig diszipliniert zu sein und für eine feste Disziplin zu wirken. Sie bitten alle Freunde, energisch die Erfüllung dieser Verpflichtung zu kontrollieren. Leipzig, am 10. IX. 53.«

Alle zwölf Funktionäre der Klasse 7 a hatten unterschrieben, Brigitta Richter, Sekretär, als erste, Matter als letzter. Verpflichtungen, wie Pockrandt sie aufsetzte, schien er nicht zu trauen. Evelyne Fehrmann leitete das Agitkollektiv, Renate Großmann war Kulturverantwortliche, sie bereitete die OdF-Gedenkstunde vor. »Ihr seid nicht umsonst gefallen!« Margot Roebke war verantwortlich fürs Studium, Waltraud Arlt für die Einsätze als Pionierleiter, Regina war Sport- und Fahrtenleiterin.

Pockrandt begrüßte, verlas die Entschließung. Sie verabschiedeten den Monatsplan.

Harry ärgerte, dass das so stattfand, wie es stattfand. Er muss sich damit abfinden, dass wir nicht ergriffen sind, wenn wir ins Paradies ziehen, ich werde ihn für die Gruppenleitung vorschlagen, sagte Friedhelm in der Pause. Harry ist wie das Ganze. Wenn du die Partei wegdenkst, die antreibt, bleiben wir stehn. Ich rieche das, wenn er sagt, in unserer Klasse herrscht ein anarchistischer Zustand, wo jedem alles recht ist, jeder tun und lassen kann, was er will. Nicht warten, ob der eine was tut, sondern selbst vorangehen, sich Rechenschaft ablegen, das war Matter. Es gibt Freunde, die es ernst meinen und sich über Mahnungen und die Bitte um Diszi­plin lustig machen. Wir sollten anerkennen, wenn jemand mit der besseren Einsicht da ist.

Harry spürte, dass man ihn nicht ernst nahm, er litt darunter, wollte überzeugen. Ihr denkt, ihr habt es geschafft, dass ihr in die bibliothekarische Vollausbildung aufgenommen seid, aber statt euch zu steigern, lasst ihr in Disziplin und Anständigkeit, Ehrlichkeit und Einsatzbereitschaft nach. Es sind persönliche, eigene Wesenszüge. Wir wollen nicht von anderen verlangen, wozu wir selbst nicht die Einsicht haben.

Gernitz nickte, Pockrandt schrieb mit.

Dass die Stühle in der Gruppenversammlung anders standen, dafür hatte Regina gesorgt.

Irina zog die Lippen nach. Regina flüsterte Irina, mit der sie zusammensaß, was zu. Dass Harry predigt, vielleicht sagte sie das.

Ihr bloß kein Kind machen, sagte Friedhelm manchmal.

Ich denke, er lebt oft in Furcht, dass was schief gehen könnte mit den Frauen, wenn er sagte: Die meisten fürchten sich vor der Liebe, das hat Gründe. In diese Liebe, die vor der Ehe, müsste man die Mädchen einführen ins Verhüten, damit sie frei werden. Die Angst zerstört den Genuss. Heiratest mich sowieso nicht, hatte die Hilfe aus der Arztpraxis gesagt, wenn stimmt, was Friedhelm so redete. In den Bäumen schrie das Käuzchen, wer weiß zum wievielten Mal, und früh habe ich den Schlüssel genommen und bin gegangen.

Wenn eines Tages die Angst wegfällt, wird der Genuss grenzenlos sein, solche Gedanken kommen mir manchmal.

Denkst du, so was kommt?

Was weiß ich, was kommt, Hannes. Du spritzt, es hat keine Folgen. Himmlisch. Er fingerte nach einer Zigarette. Im Park war das beim Rauchen, als er sagte: An der Essenausgabe seh ich die Bärbel bald jeden Tag, und er erinnerte sich, dass sie mal sagte: Spritzen, unbekümmert, ja unschuldig, sagte sie das, abgelöst von Zukunft, vom Heiraten, sich Aneinanderbinden, ja Aneinanderheften. Du verstehst mich zu öffnen, ich weiß noch, wie sie das sagte, da kriegte ich Schiss, dass was passiert sein könnte. Wie sie den BH überstreift, sagt sie: Ich hab dich spritzen sehn. Kein Gedanke an Heirat, was sie aus unserer Nähe hätte ableiten können. Bloß schwanger werden wollte sie nicht. – Hannes, ich hab sie verloren, und weiß immer noch nicht wirklich, warum.

Harrys Predigt war, dass der Neue Kurs bei uns und im ganzen Land begonnen hat, die Diskussion dazu war die Versammlung, auf die sich Harry vorbereitet hatte, als er anfing: Man kommt zu spät, wann man will, man redet, missachtet Mehrheitsbeschlüsse, wie es grad passt, tut alles, nur nicht zum Wohl unserer Gruppe, selbst der Dozent wird als störend empfunden. Sie wollen uns helfen, Rüstzeug für das Kommende geben. Es grenzt an Schamlosigkeit, wie wir uns während des Unterrichts benehmen.

Harry wurde nicht damit fertig, dass es so war. Pockrandt und Gernitz waren gemeint, die waren Genossen.

Können wir nicht sagen, wir haben Disziplin, gerade weil wir Arbeiterkinder sind! Gerade deswegen lernen wir besser. Von über fünfzehn Dozenten kommen höchstens drei noch gern in unsere Klasse. Böckler nickte. An Disziplin mangelte es ihm nicht.

Wir haben es soweit gebracht, dass unsere Klasse, die sich aus Kindern von Werktätigen zusammensetzt, den andern Klassen nicht als Vorbild dient, wir sind das abschreckende Beispiel.

Die ärgert, dass wir so rausgestellt werden, als hätten wir den Fortschritt gepachtet, sagte Renate Großmann in der Diskussion. Unsre Aufgabe ist, den Fortschritt durchzusetzen, fuhr Pockrandt sie an. Die setzen ihn vielleicht besser durch als wir, sagte Hans Joachim, der viel schwieg. Hast du darüber mal nachgedacht?

Ich behaupte, in keiner andern Klasse herrscht solche Disziplinlosigkeit. Harry begann von vorn. Wo bleibt da die Anständigkeit gegenüber den Dozenten? Man sieht auf uns herab, mit Recht.

Friedhelm lächelte. Dieses Lächeln verunsicherte Harry, weil er hinzufügte: Nicht immer. Bei Zschiedert ist Disziplin. Erinnre dich, wie Siegfried sich entdeckt. Wie Zschiedert das darstellte. »Mein Vater bist du nicht! In der Ferne bin ich. Mime: Halte? Wohin? He! Da stürmt er hin.«

Mag sein, dass er in Bayreuth im Orchestergraben gesessen hat. Mich ärgert, wie wir uns schädigen, das Ansehen der Arbeiter, deren Geld wir verbrauchen. Dafür arbeiten sie nicht. Die Klasse Sieben steht am Pranger. Das sollen Arbeiterkinder sein! Sind eben unfähig, Disziplin zu halten. Dass sich die Arbeiter einig und gerade sie fähig sind, mehr und Besseres zu leisten als die sogenannte gebildete Schicht, hat die Vergangenheit mehrfach bewiesen.

Meinst du die Arbeiter, die am 17. Juni auf die Straße gegangen sind, fragte Gertraude.

Harry schwieg, Pockrandt auch.

Letzter Punkt in der Versammlung war, bleibt Wolfgang Böckler DSF-Verbindungsmann?

Pockrandt erhob Einspruch. Gleich nach Verlust seines Mitgliedsbuches habe er den Jugendfreund Böckler gebeten, für Neuausstellung zu sorgen. Nichts wäre passiert, deshalb sei er dagegen. Brigitta entschied, die übergeordnete Leitung zu befragen.

Damit ging die Gruppenversammlung zu Ende.

Stellt erst mal fest, ob ihr Arbeiterkinder seid, sagte Regina in der Straßenbahn. Ihr Vater heizte die Gewächshäuser vom Botanischen Garten.

Am nächsten Früh hing Pockrandt eine Stellungnahme ans blaue Brett. »Bereits kurz nach dem Verlust meines Mitgliedsbuches der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft am 27. VI. 53 habe ich den Jugendfreund Böckler gebeten für die Neuausstellung eines Ausweises zu sorgen. Wie kann der Freund Böcker in die Aufbaukommission berufen werden, wenn er nicht einmal seine Funktion in der Gruppe vorbildlich und gut erfüllt? Auch hier ist eine Stellungnahme des Freundes Böckler nötig. Klaus.«

Böckler ging an die Wandzeitung und rief über die Stuhlreihen weg: »Nach dem Siebzehnten, als ich abkassieren wollte, fehlte dir der Ausweis. Dat geit nich.«

Mancher, aber das traute er sich nicht zu sagen, hat sein Parteiabzeichen weggeschmissen, warum nicht auch ein Mitgliedsbuch?

8

Soll der Name geändert werden? Hängt das mit dem 17. Juni zusammen? wollte Hans Joachim wissen

Rudi Gernitz, Zeitung in der Hand, kam herein. Nach dem Unterricht alle mal dableiben, außerordentliche Mitgliederversammlung!

Beim Mittagessen weinte Brigitta Richter. Als die Versammlung losging, sie saßen zwischen den schiefen Wänden, setzte sich Rudi Gernitz auf den Platz des FDJ-Sekretärs, ihren Platz.

Freunde, sagte er, wir haben unser Kollektiv nach einem Schriftsteller benannt, der den Feinden der Arbeiterklasse und der Deutschen Demokratischen Republik das Wort geredet hat. Es war dein Vorschlag. Er ist ausgeschlossen worden aus dem Verband, ich muss so handeln, Brigitta.

Hat den Artikel jemand gelesen, fragte Evelyne. Rudi hob die Hand. – Dass du gelesen hast, davon gehe ich aus. Wer außer mir noch? Sie wartete, bis Rudi abgehustet hatte. Niemand weiter.

»In seinen Artikeln bezog Loest offen Position der Feinde des Volkes und unseres demokratischen Staates«, las Rudi vor. »Das schmutzige Geschäft der faschistischen Provokateure, in das sie auch einen geringen Teil unserer Arbeiter vorübergehend hineinzogen, verwandelte sich unter seinen Fingern in eine anständige Sache.«

Mit dem Namen, Brigitta, das war dein Vorschlag, erklärte Pockrandt.

Du hast doch meinen Vorschlag unterstützt, Klaus. Sie hatte sich gepudert. Mit den Tränen wischte sie alles breit.

Du kannst dich so nicht rausziehn, protestierte Inka.

Warum er nicht in Leipzig ist, weiß ich nicht, im Organ der Bezirksleitung steht Ausschluss. Er hält sich in Ungarn auf, ich weiß das von Mutti.

Dem Gefühl nach war ich für Majakowski, erklärte Wolfgang Böckler. Ich hab ihn fallen lassen, weil sich Brigitta so einsetzte.

Sag bloß! rief Gertraude.

Aus der Sowjetliteratur jemand wäre als Gruppenname besser. Habe ich das gesagt?

So deutlich nicht, Klaus, entgegnete Hans Joachim.

Der Schriftsteller, von dem wir den Namen tragen, fragte Christel Porzelle, was hat der denn Schlimmes geschrieben? Kannst du mir das erklären?

»Rote Fahne und Elfenbeinturm«, diesen Artikel.

Elfenbeinturm und Rote Fahne.

Meinte ich, Evi, sagte Rudi und las weiter. »Loest überschreibt eines seiner volksfeindlichen Machwerke mit: ›Elfenbeinturm und Rote Fahne‹. Aber dieser Loest sitzt nicht einmal in einem Elfenbeinturm, sondern auf einem sinkenden Schiff, und was er schwingt, das ist nicht die Rote Fahne, sondern die Fahne der faschistischen Provokateure. An der Bezirksorganisation Leipzig des Deutschen Schriftstellerverbandes ist es, daraus die entsprechenden Schlußfolgerungen zu ziehen.«

Brigitta hat den Namen vorgeschlagen, ich habe zugestimmt, was falsch war, räumte Pockrandt ein.

Ich auch, sagte Rudi. Inzwischen haben wir Klarheit. Es sind faschistische Provokateure gewesen, sagen die Genossen der Bezirksleitung.

Sie schluchzte.

Rudi wiederholte mit den »volksfeindlichen Machwerken« das, diese Stelle.

War schon, rief Böckler.

Regina presste die Lippen zusammen.

Rudi hustete lange. Irina machte inzwischen das Fenster auf.

»In vollem Maße trifft auf ihn die Feststellung der 15. Tagung des Zentralkomitees der SED zu: ›Der ganz besondere Haß dieser reaktionären Kreise richtet sich gegen die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands als die führende Kraft beim Aufbau der Grundlagen der volksdemokratischen Ordnung‹. Die Partei sagt, Loest greift die gesamte Politik von Partei und Regierung an, ihre Generallinie, durch die zum ersten Mal in der deutschen Geschichte ein friedliebender deutscher Staat geschaffen wurde, der die Macht der Ausbeuter gebrochen hat.«

Waltraud Arlt drehte sich um. Sag was, Gitti.

Brigitta liefen die Tränen. Sie hatte Geschriebnes vor sich.

Bist gleich dran, Irina.

Mir geht das zu schnell mit der Stellungnahme, Rudi?

Mir auch.

Soll der Name geändert werden?

Ich bin für Ausschluss.

Ist schon, Wolfgang.

Gitta lief raus.

Klaus sprang auf. Ich muss mich um Gitta kümmern.

Seit wann Ausschluss?

Rudi suchte in der Zeitung. Seit gestern, Joachim.

Hängt das alles mit dem 17. Juni zusammen? Hans Joachim wollte das genauer wissen. Auch, Christel. Vieles in den Zeitungen war missverständlich, was ich verstehe.

Ich nicht, Evi. Was hätten die Zeitungen denn verhindern können, frage ich dich, sagte Gertraude.

Natürlich nicht. Hast du aber vorgelesen, Rudi. Sind kritiklose Ja-Sager die fortschrittlichsten Menschen?

Gertraude blieb hartnäckig. Nagelt mich nicht fest, es fängt an, wo es heißt, mit den Provokateuren vom 17. Juni dürfen wir es uns nicht zu leicht machen. Wie hätten die Arbeiter verführt werden können, wenn nicht solche großen Fehler gemacht worden wären, bei der Partei, der Regierung, den führenden Organen. Vielleicht kannst du mir helfen, Rudi?

Plötzlich wirkte Rudi nicht mehr so sicher, redete vom »Tag X«, der lange geplant war, und dass Deutschland zu einem zweiten Korea hätte werden können.

Steht das drin?

Er ist der Partei in den Rücken gefallen mit seiner Kritik.

Bring mal ein Beispiel.

Das Negative wurde verschwiegen, Positives aufgebauscht.

Gertraude: Machen das nicht alle so?

Die Redaktion sagt, er ist zu weit gegangen; kilometerweit hätten sich die Redakteure von der Realität entfernt und den Feinden der Arbeiterklasse damit den Rücken gestärkt. Dem muss entschieden widersprochen werden. Ich kenne welche, die geben alles, sagte Rudi und kam auf den Gruppennamen zu sprechen. Möchtest du was zum Namen sagen, Hannes? Soll der Name geändert werden?

Ich war nicht dabei, Rudi, als ihr das beschlossen habt.

Dann muss ich was sagen. Ich bin für Majakowski, da schließe ich mich Wolfgang an, und du, Brigitta?

Sie mit verweinten Augen: Wer sitzt denn im Elfenbeinturm? Ich denke, dass die Bezirkszeitungen mit im Turm gesessen haben.

Hinterher sagte Friedhelm zu Johannes: Harry war vorbereitet.

Ich schlage vor, wir stimmen über die Stellungnahme ab. Du bist gewählt, Brigitta. – Du auch! Brigitta stand auf und schob Pockrandt die Stellungnahme hin.

Vorlesen, verlangte Gertraude.

»Die Klasse 7a trägt ab 15. September den Namen ›Wladimir Majakowski‹. Begründung: Die in den letzten Wochen in einer Reihe von Artikeln über den neuen Kurs der Regierung und die Provokation des 17. Juni zum Ausdruck gekommene Meinung Erich Loests, die der Meinung eines Agenten amerikanischer Spionagezentralen gleichkommt, hat die Klassengruppe 7a bewogen, ihren Namen in ›W. Majakowski‹ umzuändern.«

Ist das beschlossene Sache?

Kann ich fertiglesen, Hans Joachim?

»In ihrer ferneren Arbeit werden alle Freunde, aus den Fehlern der Vergangenheit lernend, schärfstens gegen jedes Auftreten von Kapitulantentum und Opportunismus, den Worten Majakowskis folgend, Stellung nehmen. Die Gruppe ›W. Majakowski‹.«

Von dir?

Rudi nickte. Ich bin dafür einzufügen, ehe wir abstimmen: »Die Freunde der Klassengruppe ›W. Majakowski‹ distanzieren sich von den Äußerungen und der Person Erich Loests.« Zustimmung?

Was fragst du noch, Rudi, fragte Inka.

Irina meldete sich: Mir geht das zu schnell mit der Umbenennung, ich wenigstens bin nicht dafür, wegen dem Artikel einer Redaktion, die den Artikel erst abgedruckt hat, den Namen abzulegen.

Der Verband muss entscheiden, wandte Hans Joachim ein.

Der hat entschieden, Jochen. Ich bin für Majakowski, sagte Rudi, damit das klar ist, und du, Harry?

Ich würde ergänzen, an der Stelle nach Loest: »Mit dem wir bisher noch keine Verbindung hatten.«

Wir hatten Verbindung, widersprach Walter.

Diese Verbindung nicht, Walter. Brigitta konnte nicht sagen, ob ihre Mutti mit Erich Loest oder mit seiner Frau telefoniert hatte. Hat vielleicht bloß gesagt, dass er Verbindung aufnimmt.

Ich verstehe unter Verbindung was andres, sagte Harry.

Dann formuliere ich das mal: »Die Freunde der Klassengruppe ›W. Majakowski‹ distanzieren sich von den Äußerungen und der Person Erich Loests, mit der wir bisher noch keine Verbindung hatten.« Niemand widersprach Pockrandt.

»In ihrer ferneren Arbeit werden alle Freunde, aus den Fehlern der Vergangenheit lernend, schärfstens gegen jedes Auftreten von Kapitulantentum und Opportunismus, den Worten Majakowskis folgend, Stellung nehmen. Die Gruppe ›W. Majakowski‹.«

Rudi, irgendwie erleichtert, erklärte: Freunde der Klassengruppe »Wladimir Majakowski«, ich denke nicht, dass wir abstimmen müssen und sollten das in der Schule bekanntmachen.

Übernimmt Brigitta?

Am besten, ich mach dazu einen Aushang, sagte Evelyne Fehrmann.

Majakowski? Sagt dir was, Hannes? Da waren sie schon auf der Treppe.

Linker Marsch.

Ja, der, sagte Rudi.

Dem seh ich an der Nasenspitze an, dass Hannes das weiß, lachte Friedhelm. Johannes zitierte: »Wie Gold schürfen ist Dichten, gräbst einen Berg ab, findest ein Gramm«.

Dich hätten sie gebraucht, aber da hießen wir schon »Loest«.

Verse wie Treppen.

Du lachst. Die sind so bei Majakowski.

Irina war im Klubraum geblieben. Mach Platz! Sie saß plötzlich am Flügel und sagte: Brigitta verstehe ich nicht. Wie kann man so dumm sein und sich mit dem Pockrandt einlassen? Sie stand auf.

Am besten, du lässt niemand in dich reingucken, da hast du schon verloren, sagte Friedhelm und setzte sich an den schwarzen Flügel.

Vater in Bautzen würde gesagt haben, sei vorsichtig, Junge. Es kam auf eins raus.

Inka schlenkerte die Arme. Gehen wir. Die Ferienhelfer sind wohl abgehakt? rief sie Brigitta zu und zog die Strickjacke an.

Auf dem Weg zur Straßenbahn, um auf andre Gedanken zu kommen, erzählte sie von ihren Jungs im Ferienlager.

Ich hatte Mädchen, sagte Irina, die sind Friedhelm erspart geblieben.

Ich hab Bücher ausgeliehn.

Die Jungsgruppe hättest du von mir haben können, Friedhelm.

Die hätten sich das Rauchen abgeguckt bei mir.

In solche Heimlichkeiten bin ich nicht eingedrungen. Sechzehn Stunden Bahnfahrt. Wie die im Sturm die Plätze belegten. Mir hat das ein leichtes Gruseln erzeugt. Ob Rotation Dresden im Vorteil wäre. Ob man von den Doppelstockbetten runterfallen kann.

Die Straßenbahn war weg. Warten wir eben. Bin mit ihnen durch dick und dünn bei den Schnitzeljagden. Die hatten sich vorgenommen, das weibliche Regiment zu brechen. Bald begrüßten sie mich mit Sympathiegeschrei.

Ich sehe, ihr wollt euch nicht setzen, meinte Irina und lehnte sich an Friedhelm, da stimmen wir mal überein. Gerade sind wir Majakowski geworden, und du fängst mit dem Pionierlager an, Inka. Habe ich vollständig gestrichen. Ihr werdet blendende Muttis werden. Sobald ich im Beruf bin und verdiene, will ich Kinder, sagt Regina.

Nie hätte ich gedacht, dass Jungs sich von mir so um den Finger wickeln lassen. Ich hatte einen Helfer in der Gruppe, der hieß Der wahre Mensch. Denkt an den tapferen Flieger, hab ich gesagt, wenn sie mal schlapp machten, was Wunder wirkte, draus vorgelesen hab ich auch.

Friedhelm packte das schlanke Mädchen an der Gürtelschnalle, als wolle er es ausheben. Kenn ich alles, Inka, Schnitzeljagd, ich hätte Fahrtenmesser ausgeteilt. Schnitzeljagden hab ich gehasst, diese Kameradschaft auch.

Irina sagte: Versteh ich, Friedhelm, Künstler empfinden eben anders, wenn ich an Hanno Buddenbrook denke und an Zschiedert. Die Gestalt des Künstlers im Erzählwerk Thomas Manns. Den Künstler friert, wenn er die Masse sieht. Ich meins nicht mal ironisch, ich verstehs sogar.

Die Kameraden von der Spatzenelf, soll ich die vergessen? Sie haben sich nicht Majakowski genannt.

Glaubst du, dass da keine Kameradschaft war, keine echte, Irina, das ist der Irrtum, dass sie unecht gewesen sein könnte. Die hätten nicht so verbissen gekämpft, nur war diese Kameradschaft nicht für mich gemacht.

So hab ichs nicht gemeint.

Ich dachte, du nimmst Anstoß, dass sie sich gleich einen Namen umgehangen haben. Dem Namen entkommen wir nicht.

Ich glaube, die Bahn kommt.

Wenn ich dran denke, wie unsre Straße das letzte halbe Jahrhundert geheißen hat. Meine Mutter betet die Namen her, jetzt heißen wir Thälmann. Mich werden die Kinder vergessen.

Regina erzählte von Mädchen, die Gedichte aufsagten, und jede fand, sie hätte das schönste ausgesucht, als sie auf der Bühne standen. Spreewald. »Heimat, wie bist du so schön.« Die Heimat besäuseln. Bei Lampenfieber auf erleuchteter Bühne gings schief. Vierter Platz.

Sie stiegen ein. Über die aufdringlichen Männer im Blauhemd haben wir viel geredet, solche wie dich, die einen schnell mal umfassen. Friedhelm protestierte.

Hugo, gibt’s den noch? Wie der im Auwald zu Petrus kommt. Du warst einzig, Friedhelm, das sagt dir eine deiner heftigsten Kritikerinnen. Also gut, nochmal, weil Johannes nicht dabei war: Hugo klopft an die Himmelspforte, bekommt Einlass. Die Voraussetzung für die nächste Ausbildungsstufe wäre erfüllt, meint er, bloß die rote Unterschrift stört auf dem Zeugnis? Schwarz wäre ihm lieber. Dass auf der Erde einer mit Rotstift unterschreibe, hätte er noch nie gehört. Oh, doch, sagt Hugo, seit Juni hat sich die Zeit verändert.

Soll ich lachen?

Die Version kannte ich noch nicht.

Die Schule, natürlich unsre, ist nur Vorstufe. Die wirkliche Schule der Kader bringt die lebendige Arbeit, die Überwindung von Schwierigkeiten. Steht drin. Auf Baby-Rosa. Ihr wisst von wem der Spruch ist?

Gewusst oder geraten? Natürlich geraten, sagte Irina.

Die Straßenbahn war aus dem Auwald heraus. Die Leute guckten, warum so gelacht wurde. Wenn das Brimborium versunken sein wird, von dem wir erzählen, werden die sagen, die das als Kinder erlebt haben: Wunderbar! Wars ja auch. Ich geb dich doch richtig wieder, Inka? Sechzehn Stunden Bahnfahrt, Balgen, Kichern, die Gedichte, du im Tor. Erst haben sie mitgepfiffen, dann gesungen. So ist das. Ich muss raus. Friedhelm stieg aus.

Warum singen wir? Hat Harry zugehört? Wir sind Schulgespräch. Die wissen sowieso, wie sie mich einzuschätzen haben. Johannes meinte Pockrandt und Rudi.

Am Lindenauer Markt stieg er aus. Wir ziehn die Fühler ein, hatte Friedhelm gesagt, und weil wir uns anpassen, erscheinen wir als Kollektiv. Bloß dem Harry genügt der Schein nicht.

Mir genügt er, sagte Friedhelm, als er am Tag drauf eintrudelte, die Hand in der Hosentasche, und das Jackett über die Lehne hing.

9

Steht unter einem unglücklichen Stern, deine Liebesgeschichte

Die Klasse stellte sich auf. Harry: Wir wollen singen. »Des Morgens wenn die Hähne krähn.« Waltraud Arlt, die Augen niedergeschlagen, stand da und dachte vielleicht: Von dem hab ich mich küssen lassen.

Hähne krähen wenigstens, sagte Harry, nachdem alle standen. Wenn man vor Beginn des Unterrichts die Freunde beobachtet, sträuben sich selbst dem Hahn sämtliche Federn.

Ich denke, es soll ein Lied gesungen werden.

Sind wir Pioniere, rief Gertraude von hinten.

Ihr seid FDJ-ler! Harry gab den Einsatz.

Mitgesungen hat Gertraude nicht.

Ich frage dich, was ist in den gefahren? Da war dann wieder Pause. Matters Stellungnahme hing am blauen Brett. »Wird ein Lied angestimmt, gefällt das einigen Freunden nicht, ja, sie müssen erst persönlich aufgefordert werden, sich zu erheben. Stehen sie endlich und das Lied beginnt, nun, so sind diejenigen nicht etwa schweigsam – beim Singen geht das schlecht – sie singen aber auch nicht; es gibt so viel zu erzählen, daß Singen Zeitvergeudung wäre.«

Gestern Umbenennung, heute Sangeskritik, erklärt mir das, sagte Irina leise, er denkt vielleicht, dass er mehr hervortreten muss, weil er nicht in der Partei ist, und arbeitet so was aus. Zufall kanns nicht sein. Sie las weiter:

»Und Freunde, habt Ihr schon einmal vorn gestanden und die Gesichter beim Singen gesehen? Das solltet Ihr mal tun. Die Augen sind noch verschleiert, ebenso die Kehle der wenigen, die noch mitsingen. Ölig und zäh kommen Worte und Melodien hervor geflossen. Ich bekomme jeden Morgen Angst, daß Ihr daran ersticken werdet. Freunde, es kommt darauf an zu singen, nicht schön, sondern kräftig, frei und fröhlich. Da gibt es keine Entschuldigung für Stumme. Jeder soll singen – jeder kann singen. Mit Freude und Lust geht alles. Wir sind keine Greise und müssen uns der fehlenden Zähne schämen. Es soll kein kunstvoller Kanon werden, aber die Freude am neuen Tag, die Freude am Leben, die Freude unserer Jugend soll morgendlich aus den Liedern erklingen. Dem bisherigen Gesang nach zu urteilen, müßten wir alle schon an Stöcken gehen, und vorbeigehende Straßenpassanten vermuten ein Altersheim, aber keine Schule, wo 90 Prozent unter 25 Jahre alt sind. Warum sollen wir nicht so singen können, wie es andere Klassen tun?

Ich bitte Euch alle: beteiligt Euch am Morgenlied. Zeigt, daß wir keine versauerten Tröpfe sind. Wenn wir es schaffen, unseres Gesanges wegen von der Schulleitung Singeverbot zu bekommen, dann können wir sagen: wir haben gesungen. So aber bekommt man Mitleid mit Eurer Quälerei und den verhunzelten Liedern. Wir wollen das Lied nicht des Liedes wegen singen, sondern damit zum Ausdruck bringen, daß wir junge, fröhliche Menschen sind. Manchmal steigen mir Zweifel hoch. Also zeigt, was Ihr könnt. Lasst mich nicht immer allein singen. Singt und redet nicht und legt mehr Gefühl in die Melodie. Über Kunst beim Lied zu reden, erübrigt sich, denn die will niemand von Euch fordern. Leipzig, 16.9.53. Harry Matter«

Singend in die neue Zeit zu gehen? Matter seine Idee war das nicht, meinte Friedhelm, das hat die Schule entschieden.

Ruth war in Leipzig zur Prüfung, sagte Johannes.

Bring sie mit, ich geh für dich zu Wolframs, darfst ihr bloß kein Kind machen.

Sie ist schon wieder weg.

Warum weißt du nichts?

Wie denn? Dass sie Aufnahmeprüfung hat, kam mit Postkarte. »Komme uns doch, wenn es Dir möglich ist, am Sonntag gegen 11 Uhr abholen. Alles andere mündlich. Herzliche Grüße. Deine Ruth und Maria.«

Abends, wie ich zu Wolframs komme, war die Prüfung vorbei.

Ich wäre hingefahren.

Zum Zimmernachweis?

Dann war das unlösbar, Hannes, du hättest nicht mal anrufen können.

Bei wem denn? Bei Kollegin Trautmann? Hol da mal jemand ran.

Der Unterricht fing an. Er schob Friedhelm den Brief hin. »In Leipzig kam die nächste Enttäuschung. Kein Mensch stand an der Sperre und holte uns ab. Wir waren bald am Verzweifeln. Maria konnte doch nicht richtig laufen.«

Als erstes sind sie zum Zimmernachweis. Zimmer sehr nett, nicht weit bis zur Schule. Die Prüfung ging Montag früh los, um Neun. 16 Uhr war Schluss. »Hoffnungslos. Erstens: 300 haben sich gemeldet und 200 werden bloß angenommen. Zweitens sind alle schon älter als wir. Der Schulleiter sagte mir persönlich, daß ich noch sehr jung sei. Drittens bin ich kein FDJ-Mitglied. Also kannst Du Dir denken, wie uns war«, berichtete Ruth.

Pause.

Friedhelm meinte, das hätte höchstens mit Telegramm an Wolframs geklappt.

Die beiden waren sogar auf der Kleinmesse. Die Wirtin hat sie dazu aufgemuntert.

Ich denke, sie hatte was mit dem Fuß, die Freundin?

»Das Schönste war, daß uns zu Hause niemand glaubte, wie hoffnungslos unsere Lage war. Dann bleibe ich eben in Ebersbach. Viele Grüße sendet Dir Deine Ruth. Briefumschlag der Kreispoliklinik-Apotheke. War damit eigentlich zufrieden.«

So groß kann die Liebe nicht sein, Hannes.

»Wenn sie uns nicht nehmen, sind wir wenigstens mal in Leipzig gewesen.«

Dann ihr Brief, der Mittwoch ankam. »Das Schicksal wollte es anders: Bestanden!«

Der verhängnisvolle Brief, schreibt sie. Freut sich gar nicht, ich verstehe das nicht, Friedhelm. Sie saßen im Klubraum. Drei Jahre nichts verdienen, würde ihr nicht gefallen, schreibt sie.

Ist für sie eben alles neu, ungewohnt. Ginge mir auch so. Oder die Liebe ist nicht so groß, kann auch sein, dass das so ist, damit musst du auch rechnen.

»Doch nun läßt sich nichts mehr ändern, und wir kommen am 15. Oktober nach Leipzig. Abholen kannst Du uns ja nicht, denn wir kommen um 11 Uhr in Leipzig an. Du hast doch um die Zeit noch Schule. Wir müssten uns dann eben was ausmachen. Mit unserem Treffen in Leipzig war es wirklich Pech.«

Schuld gibt sie dir nicht.

Wie gefällt dir denn meine zweite Heimat, hat sie noch gefragt und dass sie Betriebsfest hatte und furchtbar müde ist.

So eine Umstellung verändert alles.

Warum freut sie sich nicht?

Was weiß ich, Hannes. Weil sich für sie alles ändert. Steht unter einem unglücklichen Stern deine Liebesgeschichte.

10

Brigitta hatte den Autor von »Jungen, die übrig blieben« als Gruppennamen vorgeschlagen. War das falsch? Ich war schon immer für Majakowski, beteuerte Wolfgang Böckler

Böckler hüpfte in den Klubraum. Friedhelm beugte sich über die Tasten, spielte was Festliches. Ob es der Wolfgang schon weiß? Berlin hatte dem Ausschluss von Erich Loest aus der Bezirksorganisation Leipzig des Deutschen Schriftstellerverbandes nicht zugestimmt, und fast triumphierend ließ Friedhelm diese Überraschung hinübergleiten in Ka-linka, ka-linka, ka-li-ni-ka moja, das Böckler so liebte, zu dem er den Takt schlug, mit Fingern seiner gesunden Körperhälfte.

Friedhelm nahm die Finger von den Tasten, knetete sie. Dass sie den Ausschluss nicht bestätigt haben, wirst du mitgekriegt haben. Ja, da staunen wir, sagte Friedhelm. Was Böckler nuschelte, war nicht zu verstehen. Den wir umbenannt haben, kennst du den? Nö. Ich wollte immer Majakowski. Weißt du, wie der aussieht? setzte Friedhelm nach. Ist jetzt auch egal, er bleibt. Hast ihn also noch nicht gesehn? Böckler presste den Mund zusammen.

Macht nichts, ich auch nicht. Friedhelm richtete sich auf, lächelte, sang: Und ein Schiff mit acht Segeln und fünfzig Kanonen darauf wird entschwinden mit mir. Friedhelm machte den Rücken rund, als Wolfgang verschwand. Mit einem Rumpfbeugen, bei dem die Stirn fast die Tasten berührte, spielte er einen Rausschmeißer.

Ich soll euch holen, auswerten, sagte Johannes, da war Böckler bereits unterwegs. Die diskutieren schon. Sie saßen wieder zwischen den schiefen Wänden.

Joachim lachte. Der junge Schriftsteller, wie er ihn nannte, bleibt drin. Hast du damit gerechnet? Mit allem, bloß damit nicht. Und du, Friedhelm? Nie im Leben.

Politik. Ich habe nichts gegen Majakowski, um den geht’s gar nicht. Unsre beiden werden das lösen. Hast du Loest mal gesehn, Jochen? Du auch nicht? Wir alle nicht, außer Brigitta, hoffe ich. Die wird wissen, wie er aussieht, Hannes. Sie hat ihn vorgeschlagen. Ich sage dir, hier gabs zwei Richtungen, die eine hat gesiegt, die andre ordnet sich unter, das wird, wie’s aussieht, Leipzig sein, und du wirst nichts hören, was da vor sich gegangen ist.

Das weiß von uns keiner, auch Brigitta nicht, sagte Hans Joachim.

Rudi Gernitz und Pockrandt erschienen. Ihr seid die Letzten, die diese Vorstellung besuchen, sagte Irina, sonst seid ihr meist vorne dran. Typisch Irina, wie sie das sagte.

Du bist dran, Brigitta.

Soll ich, Evi? Liebe Freunde, redete sie die Gruppe an.

Ich dachte, sie ist von der Bildfläche schon verschwunden, meinte Johannes.

Es werden an der Wandzeitung Vorschläge gebracht, den Namen »W. Majakowski« beizubehalten.

Wer sagt das? Es gibt die Meinung, egal, wer es gesagt hat, unser Wolfgang wird’s nicht gewesen sein.

Ich war schon immer für Majakowski, beteuerte Böckler.

Hör mich erst mal an, Wolfgang, wir dürfen jetzt nicht wieder übereilt handeln, ist meine Meinung, und müssen die Diskussion im Rahmen der Schule abwarten.

Warum im Rahmen der Schule? Wir bilden uns selber unser Urteil, sagte Waltraud Arlt, ich hoffe, alle sehen das so. Brigitta hat mit Erich Loest gesprochen, er wird nach dem achten Oktober zu uns kommen, und wir werden uns mit ihm auseinandersetzen.

Warum nach dem achten? Wegen dem Siebenten. Weil da Festveranstaltungen sein werden.

Ruths Brief war ihm durch den Kopf gegangen, die Termine, sie saß in der Prüfung, und die Gruppe stritt um die Umbenennung.

Ich hoffe, dass ihr bis zum achten Oktober bei dieser Diskussion an der Wandzeitung eure Meinung zum Ausdruck bringt. Ich erwarte die Stellungnahme vieler Freunde.

Der achte Oktober ’53 verstrich. Loest erschien nicht. Ruth teilte am zwölften mit, sie kommt am Donnerstag und wie wir uns treffen. »Schnell ein paar Zeilen in der Mittagspause«, schreibt sie. »Ich hab in den letzten Tagen wirklich keine Zeit gehabt. Also mit der Schule hat es nun geklappt. Ich hatte nämlich noch einmal wegen dem Stipendium angefragt. Es hieß doch, wer über 300.- DM bekommt (also meine Mutter), kann nicht mit einem Stipendium rechnen. Daraufhin bekam ich die Mitteilung, daß ich bei guten fachlichen und gesellschaftlichen Leistungen mit 150.- DM rechnen kann. Da käme ich ja aus. Jedenfalls komme ich Donnerstag um 11 Uhr in Leipzig an (mit Maria und Helga Nusser). Auf die Fahrt mit den Beiden freue ich mich schon ganz besonders. Mit Maria könnte ich mich stundenlang zanken. Na ja, der Klügere gibt nach. Hoffentlich klappt es nun mit unserem Wiedersehen. Wenn es Dir recht ist, kannst Du uns ja 14.30 an der Pharmazie­schule abholen. Entschuldige bitte die schlechte Schrift und die Geschäftspapiere, aber es musste schnell gehen. Viele Grüße bis Donnerstag Deine Ruth.«

Länger konnte die Gruppenleitung nicht warten. Brigitta entschied früh, die Versammlung am Donnerstag durchzuführen, sie hatte den Schriftsteller noch einmal für Donnerstag eingeladen, nach dem Unterricht, und da stießen die beiden Termine zusammen, der von Ruth, der von der Versammlung. Er hatte angerufen, vergebens. Ich hätte ein Telegramm schicken müssen.

Pockrandt machte Anstalten, sich neben Brigitta hinzusetzen. Sie sah zur Wandzeitung. Auf blauem Fahnenstoff der Gruppenname.

Können wir endlich anfangen, Gertraude?

Ich sag ja gar nichts.

Es gibt überhaupt keinen Fall Loest, meinte Pockrandt, es gibt einen Artikel mit Fehlern, weiter nichts.

Brigitta zögerte, und Matter fing an: Wankelmut und Unentschlossenheit sind das, wenn sich von unserer FDJ-Gruppe von achtundzwanzig FDJlern noch kein Freund bereitgefunden hat, seine Meinung über das zur Diskussion gestellte Problem abzugeben. Niemand hat den Mut gehabt, was dazu zu schreiben.

Pockrandt dazwischenredend: Alle tun so, als hätten sie diese Entscheidung vorausgeahnt, ich nicht, Harry.

Uns ist ein Fehler unterlaufen, keiner ist jetzt an diesem Fehler schuld und zu seiner Meinung zu bewegen, werdet ihr sagen und fragen, was es nutzt, eine Meinung zu haben?

Nichts, sagten die Augen der Jugendfreundin Otto, die Harry ansah, verschlossen, wie sie war, Findelkind, was anfangs nur Irina wusste, in einer Sammelstelle in Thüringen hatten sie das Kind aufgelesen.

Harry wartete auf Antwort, sagte dann: Ist euch egal, denkt, ihr könnt daran nichts ändern,

Freunde, sagte Gernitz, uns ist ein Fehler unterlaufen.

Ich bin für Majakowski, Rudi, ich sage offen meine Meinung. Nöch? Beim Skat! rief Hans Joachim dazwischen.

Wolfgangs Gesicht ging zu wie eine Wickenblüte, wenns dunkel wird. Ich war von Anfang an für Majakowski, Jochen.

Warst aber sehr leise.

Das Sein bestimmt das Bewusstsein, erhärtet wird es erst durch Erfahrung. Wie seit Juni, was Harry nicht sagte, als er fortsetzte. Ihr seid doch sonst nicht auf den Mund gefallen, im Unterricht schon gar nicht, bloß die schönsten Meinungen verstecken sich allzu schnell wieder. Fehler können gemacht werden. Vorwürfe erheben und selbst dreimal klug oder schweigend daneben zu stehen, liegt nicht im Sinne einer neuen, heranwachsenden Jugend. Brigitta hatte den Autor von Jungen, die übrig blieben für den Gruppennamen vorgeschlagen. War das falsch? Hat sie sich was vorzuwerfen? Die eigene Meinung braucht nicht in ein anderes Ohr geflüstert zu werden, um nachher behaupten zu können, ich hab es vorher gewusst. Scheinbar haben die Freunde den 17. Juni vergessen und nichts draus gelernt. So viel von mir zur Diskussion, ich sehe, ich habe zu lange gesprochen.

Sagst du uns noch: Möchtest du bei Majakowski bleiben oder zurück?

Ich will die Diskussion nicht gleich in eine bestimmte Richtung lenken, Evelyne.

Majakowski, sagte jetzt Rudi Gernitz.

Wollte Harry Matter sagen, dieser Siebzehnte hätte verhindert werden können, hätten alle offen geredet?

Ruths Brief hatte Johannes tagelang in der Tasche gehabt. Im Mai hätte ich hinfahren müssen. Er sparte das Fahrgeld und war nicht nach Ebersbach gefahren.

Entfernung, alles Quatsch. Sie hatte Sehnsucht, sagte Friedhelm.

Sie können niemand ranholen, hatte man im Sekretariat gesagt, ganz ausgeschlossen, die vielen Schüler, die ankommen. Ich muss sie Freitag erreichen, aber Freitag war Heimfahrtwochenende. Ich muss zuhören, was Gernitz sagt.

Die Genossen in Leipzig sind der Partei gefolgt, das war die Erklärung. Er zwang sich zuzuhören. Die ganze Schule lacht. Der Wind drehte sich plötzlich.

Wir waren doch scharf auf einen Namen, um zu zeigen, wir sind voraus, sagte Friedhelm, wir haben den Namen dann fallen lassen, und was sehen wir? Es wäre nicht nötig gewesen. Die in den Elfenbeintürmen hätten anfangen müssen, die Dienststellen, Ministerien, die Partei, die Behörden, Institutionen und Ämter, das hatte Loest gesagt.

»Schreibt die Wahrheit!«, sagt Günter Cwojdrak, es passierte nicht, es waren Einzelne. Wie der junge Schriftsteller.

Meine Meinung zu dem Fall Loest, meldete sich Uta Schäfer, ist die: – Was heißt hier Fall Loest?

Entschuldige, Brigitta, aber dass unsere Klasse bzw. Gruppenleitung in dieser Sache viel zu voreilig gehandelt hat, stimmt. Ich glaube, wir machen uns in der ganzen Schule lächerlich, wenn wir uns wieder in »Erich Loest« umbenennen. Deshalb bin ich dafür, den Namen »Majakowski« weiterhin beizubehalten, schließlich hat er in der Literatur mehr Bedeutung als Loest.

Friedhelm kippelnd: Was hat das mit der Bedeutung zu tun, Uta? Ob unsre Entscheidung richtig war oder falsch, steht an.

Denke ich auch, aber fall nicht vom Stuhl, sagte Irina.

Jochen hatte sich von Anfang an für Loest eingesetzt. Meine Meinung ist: Unsere Klasse trägt weiter den Namen »Erich Loest«. Das sind wir dem Schriftsteller, der mit seinem Artikel nicht das bezweckte, was aus ihm herausgelesen wurde, unbedingt schuldig. Die sogenannte Umbenennung war völlig ungerecht, übereilt und ziemlich lächerlich. Er sah zu Rudi hin und von dem zu Klaus Pockrandt: Was alles nicht so schlimm wäre, wenn die gesamte Klasse eine genügend begründete und nicht kränkende Umbenennung einstimmig durchgeführt hätte.

Rudis Hand ging hoch.

Ich bin noch nicht fertig. Du hast unsre Meinung dahin zusammengefasst, Majakowski solls sein, abgestimmt haben wir darüber nicht. Oder? Ich hätte widersprechen müssen, habs sein lassen, weil … Jochen redete erstmal nicht weiter, und Rudi zog den Arm ein.

Ich erinnere mich gut, als der Artikel erschien, und einige Freunde dachten, noch schnell ihre Meinung ändern zu müssen, Ihr wisst, welchen Artikel ich meine. Das zeigt sehr wenig eigene Meinung. Eine restlose Klärung werden wir bestimmt erst bei einer Aussprache mit Erich Loest erreichen.

Jetzt du, Waltraud. Sehr aufgeregt war sie.

Erst Waltraud, dann du, Rudi.

Ich bin für Erich Loest. Unschuldig haben wir ihn vor einigen Wochen aus unseren Reihen gestoßen. Warum und wieso, darüber ist genug geredet worden, bloß nicht an der Wandzeitung. Jeder von uns weiß, dass wir, als wir uns in Majakowski umbenannten, übereilt gehandelt haben. Durch die Wiederbenennung können wir diesem jungen Schriftsteller die ihm gebührende Achtung wieder erweisen.

Den Fehler haben wir gemacht. Evelyne stand auf. Ich muss gehen. Wird der Fehler korrigiert, wenn wir uns schnell wieder zurückbenennen? Ich glaube, nein! Wir sollten ruhig bei Majakowski bleiben, was gar keine Nichtachtung für Erich Loest bedeutet. Wir dürfen uns nicht lächerlich machen vor der ganzen Schule.

Warum bin ich nicht losgefahren? Zu Ruth in die Schule? Evelyne geht einfach.

Rudi war aufgestanden. Für uns ist der Fall Loest zum Reinfall geworden. Durch weitere Fehler kann er uns zumindest vor der Schülerschaft lächerlich machen. Der tatsächliche Fehler lag durch voreiliges Handeln bei uns.

Entschuldige, Rudi, wolltest du die Namensänderung nicht vor den Ferien schon durchsetzen?

Stimmt. Seh ich als Fehler an, dass ich nicht dabei geblieben bin, weil ich von Anfang an für Majakowski war, wandte er sich der blonden Waltraud zu. Die Namensänderung ist an und für sich kein Fehler. Uns hätte der in aller Welt bekannte Majakowski früher einfallen müssen. Es ist beschämend, dass erst durch einen allgemeinen Irrtum unsre Gruppe den Namen des großen sowjetischen Dichters trägt, deshalb schlage ich vor, heute nicht zu entscheiden.

Brigitta überrascht, beugte sich vor. Als nächster Friedhelm.

Ich will ein paar Punkte aufgreifen. Zum ersten. Dass schnelles, übereiltes Handeln falsch sein kann, haben wir bei der Umbenennung erkennen müssen. Zweitens. Sollen wir etwa wieder eine Umbenennung von Majakowski zu Loest vornehmen? Ein solches Umherirren ist lächerlich. Drittens. Den Namen Majakowski können wir beibehalten, denn von beiden Schriftstellern ist Majakowski doch wohl der größere.

Darum geht’s nicht, Friedhelm.

Nehms zurück, Jochen. Was bleibt übrig? Man sollte mit einer Namensgebung kein Würfelspiel treiben.

Die Rückbenennung passt nicht zu der Hochachtung, die ich für Majakowski habe. Die Jungen hab ich verschlungen, da war ich Lehrling. Annelies Müller, ewig in Strickjacke, protestierte. Ich war dran, Hannes. Die ganze Schule lacht schon. Wenn wir uns wieder umtaufen, und Loest macht noch einen Fehler, dann dürfen wir unseren Namen wieder ändern. Es wäre besser gewesen, die öffentliche Diskussion über Loest abzuwarten.

Als letzte sagte Christel Porzelle ihre Meinung. Ich bin für Majakowski. Es sei nicht ausgeschlossen, dass Loest nochmals Fehler begehe, wir wären dann gezwungen, unsere Klasse wieder anders zu betiteln.

Pockrandt rief dazwischen: Opportunismus! Diese Linie, wie bei Annelies, ist für den bei einigen Freunden vorhandenen Opportunismus ganz typisch.

Sag das in der Diskussion, Klaus!

Brigitta entschied: Pause.

Friedhelm beim Rauchen unter vier Augen: Loest hatte den Leipziger Verband gegen sich.

Ich denke, die hier den Verband lenken, hatten entschieden, bloß hatte die andre Richtung mehr Macht, war Joachim überzeugt.

Auf die Richtung kommts an, denke ich auch.

Er hatte Ruth anrufen wollen. Sinnlos. Privat gar nicht, gehen Sie zur Öffentlichen, hatte Frau Trautmann gesagt, Münzen kann ich Ihnen geben, da brauchten wir ja ein Telefon bloß für Privates. Sie hat mich stehen lassen.

Hätte ich dir vorher sagen können.

Die Pause war zu Ende. Joachim, Waltraud und Regina unterstützten Loest, andre konnten sich nicht entscheiden. Pockrandt reckte den dicken Kopf. Der Name eines lebenden Schriftstellers berge immer die Gefahr in sich, dass dieser Schriftsteller politische Fehler machen könne und man »um des lieben Friedens willen« …

Du hängst mir was an, Klaus, was ich nicht gesagt habe!

Im Falle Majakowski abzuwarten, was drückt das aus? Was ist das für eine Lebensauffassung, frage ich die Jugendfreundin Müller, die aus Anpassung und dem Nachsprechen der offiziellen Meinung besteht? Ich wenigstens lehne ihre Stellungnahme entschieden ab. Wir sollten Annelies helfen, diesen Fehler zu erkennen.

Nie habe ich behauptet, um des lieben Friedens willen …

Du hast gesagt, weil man politische Fehler machen könnte. Was ist das anderes als Opportunismus? Er wartete auf Antwort, sie zögerte. – Gut, ich sags anders. Erkläre mir mal, Klaus, warum das Opportunismus sein soll, Anpassung, bloß Nachsprechen, wenn der Artikel im Börsenblatt, um den es sich drehte, sie fand den Titel nicht, suchte Evelyne, die gegangen war: Helft mir mal.

Elfenbeinturm und rote Fahne, sagte Jochen..

Ja, den. Rudi und Klaus behaupten was dagegen, gegen Loest, und schon springt ihr. Für einen Augenblick war es ganz still. Sie hörten die Straßenbahn.

Mit dir setz ich mich nicht auseinander, Annelies.

Dass du Loest ranholen wolltest, war gut. Rudi war dafür, wir sollten noch einen Versuch machen, obwohl ich eine Mehrheit für Majakowski sehe.

Meldung bei Harry.

Gleich, aber ich muss erst was loswerden. Egal, wie wir künftig heißen, ich lege meine Funktion nieder und schlage für die nächste Wahl Harry vor.

Jetzt du.

Dass ich mich zu diesem Antrag nicht äußere, werdet ihr verstehen, was sie nicht verstanden, aber niemand reagierte auf Harry. Ich rede zum Wettbewerb um die beste Klasse, den wir seit 1. Oktober führen. Sonderlich gut stehn wir nicht da, und es wäre ein Triumph für uns, einmal in jeder Hinsicht als Erste in der Schule zu gelten. Selbstüberwindung üben und Disziplin, gerade bei denen, die sich als ältere Freunde immer so reif und verständig hinstellen. Wie Verpflichtungen eingegangen und nicht gehalten werden, ist uns allen in Erinnerung, und ich möchte sämtliche Funktionäre, die eine solche unterschrieben haben, darauf aufmerksam gemacht haben.

Wieder holte Harry weit aus, bevor er sagte: Wir dürfen uns nie über andere beklagen, wenn wir selbst einen losen Haufen bilden. Drum, liebe Freunde, gebt auf euch und den Nachbarn acht, haltet Ordnung und lernt für eine bessere Zeit. Verhelft unserem Kollektiv zu einer besseren und größeren Leistung.

Die Rückbenennung blieb auf der Tagesordnung. Wichtig war, dass sich Harry Matter zum Schluss zur Wahl stellte.

Klar wird gesteuert. Da saßen sie schon in der Straßenbahn, als Johannes das sagte, bloß Brigitta spielt nicht mehr mit.

Vom Hinterhof waren Schritte zu hören. Das war dann schon spät abends. Wolfram kam angetappt.

Böckler hatte die Sache mit dem Mitgliedsbuch schleifen lassen, und jetzt geht das in der Gruppenversammlung weiter.

Mutters Fragen, ihre Briefe. »Kommst Du mit den Hemden aus? Du hast ja meist nur Sommerhemden mitgenommen. Lass es nicht am Essen fehlen. Nimm viel Zucker. An die Luft gehen. Hast Du das Bett bezogen? Der Hultsch Robert ist gestorben. Wir sind die nächsten, die gehen.« Der hagere Mann mit dem schwarzen Hut war das, der den Kranz niedergelegt hatte für Gerber Lehmann. Inzwischen war die Gerberei volkseigen. Lene steckt mit Stundengeben in tiefster Arbeit, schrieb Mutter, viel Probenarbeit, Konzerte. Vater nannte sie eine alte Nazisse wegen damals, als die Lene keine Zeit für Besuch hatte, weil in Pirna der Führer sprach.

Jürgen war im Zirkus, schreibt Mutter. Sonst dreht sich alles um mich, dachte er. »Wir wissen so wenig von Dir.«

Warum habe ich Mutter von Ruth nichts gesagt?

11

Will mich nicht reinwaschen. Die Schuld bleibt, bloß gehen die am Rhein spazieren, als ob nichts gewesen wäre

Heimfahrtwochenende.

Ruth war seit gestern Fachschülerin. Die Pharmazieschule ständig besetzt. Haben Sie Verständnis, ich kann nichts übermitteln. Bei so vielen Schülern. Mehr kann ich nicht tun für Sie, hatte ihm Frau Trautmann wieder erklärt.

»Entgegen dem kühlenden Morgen, entgegen am Flusse dem Wind, Was sollen noch jetzt deine Sorgen, Wenn froh die Sirene erklingt«, werden sie vielleicht singen, bevor der Unterricht anfängt.

Entengrütze bedeckte den Teich, in dem sich kein Himmel spiegelte, als er zu Hause ankam.

Trink, iss, Junge. Bist so ernst.

Mir ist die Schmidt Anna auf der Treppe begegnet.

Musst leise sprechen.

Vater brachte Flaschenbier. Mutter hatte Einkäufe am Fahrrad hängen. Was du transportierst, beängstigt mich, sagte er zu Johannes. Die Kasper Martha will im Haus wohnen, als Besitzerin, was ich verstehen kann, sie wird sich reindrängen, vielleicht wird das Wohnungsamt jetzt reagieren. Du bist in Leipzig, zählst nicht, Jürgen ist Schulkind. Sie setzten sich in die Küche. Sie werden uns mehr Wohnung geben müssen.

Die Erlen vorm Fenster hatten die Blätter verloren. Unvermittelt sagte Mutter: Meine Jugendfreundin hat sich gemeldet, sie lebt, Marie Antonia, geb. Gräfin zu Stolberg-Wernigerode, Kupferhaus, Dierdorf, Bezirk Koblenz. Über ein Lebenszeichen würde sie sich sehr freuen, schreibt Klärchen aus Strahwalde, die das vermittelt hat. Lange her alles. Mizi hat aus erster Ehe zwei Söhne und die Tochter und aus zweiter Ehe zwei Kinder. Ich bin gesund, schreibt Klärchen, was will man sonst auch schreiben?

Was soll die Gräfin mit uns anfangen, Edith, ich als rausgeschmissner Beamter?

Ist sie ja nicht mehr, Gräfin. Vielleicht kann sie dir bessre Arbeit beschaffen. In der Güterverwaltung? Im Park?

Als Hofgärtner? Inspektor? Dort passe ich nicht hin. Die Kollegen gehn inzwischen am Rhein spazieren in ihrem Beruf. Du willst nicht fort, also muss ich bleiben.

Erinnerst du dich an die Herrnhuter Windmühle, Hannes?

Ich sollte schaukeln.

Das letzte Mal war das, dass wir uns gesehen haben, als sie uns herumgeführt hat, sie in Trauer.

Ich wollte nicht schaukeln.

Georg hörte nicht zu. Der Rhein erinnerte ihn an das Finanzamt, an damals. Diese Uniform hab ich gehasst, du weißt, welche ich meine, jung verheiratet, wie wir waren, und ich fürchtete, die entlassen mich. Die Furcht hatten vielleicht alle, sagte einem ja keiner, was, und keiner wusste, wie’s ausgeht. Will mich nicht reinwaschen. Die Schuld bleibt, bloß sind die am Rhein, als ob nichts gewesen wäre. Mir sagte Gommon, katholisch, dass ich der Letzte bin, der außer ihm noch da ist.

Horst soll technischer Offizier werden, Rosemarie Binnenhandel studieren, du siehst, Mutti hält dich auf dem Laufenden.

Bei mir im Arbeiterzug sagen sie, die Kasernierte Volkspolizei wird die künftige Armee. Der Spitzbart wäre ohne die Russen erledigt gewesen. Verschwinden hätte man müssen, damals, aber wohin? Mir gefielen die Rheinländer. Mein Bruder, der tot ist, könnte dir das bestätigen.

Da wohnten wir schon Bahnhofstraße, sagte Edith. Kosels mit ihrem Jungen wohnten am Markt, andre mussten nicht fort.

Wie soll ein Mensch sich das vorstellen? Soldat? Von einer Stunde auf die andre, Hannes? Liegst in der Badewanne, die bringen dir die Einberufung. Wie ich zum ersten Mal die Uniform gegrüßt hab. An so was erinnert sich der Mensch, andres wird vergessen. Oder in Frankreich bei Kriegsanfang, als wir in einem Schloss auf rosaseidnen Betten lagen, ich als Melder mit Fahrrad. Oder wie ich den Stoff kaufte, aus dem der Hensel Walter deinen Konfirmandenanzug geschneidert hat, da gings bei mir nicht um Tod und Leben, ich hab mich später geschämt, dass ich was mitgebracht habe.

Was ganz Feines, sagte meine Muttel, die den Stoff bezahlt hat.

Bezahlt, Edith!? Wer hat was bezahlt? Keiner wird mehr rot und wissen es alle. Diese Sucht, was mitzubringen. Manche Frauen waren reineweg übergeschnappt.

Lass liegen, wo’s liegt, lebst leichter, sagt Adele. Sagen inzwischen alle.

Sie haben, sagst du, auf dem Schulgelände einen Schießstand gebaut? Die Hand soll abfallen, die ein Gewehr anfasst. Da war ich noch in Gefangenschaft, als die Tägliche Rundschau das schrieb.

Hoffentlich kommt kein Krieg mehr.

Wer weiß das? Ich weiß nur, was der Krieg mit mir angestellt hat, diese ständige Angst, die schicken einen an die Front.

Jürgen war im Kino. Du bist so ernst, Junge, hast du was auf dem Herzen?

Auf dem alten Schießplatz in Bautzen spielt Zirkus Aeros, sagte Vater, als sie zum Bahnhof gingen. Ein Menschenaffe aus dem Wagen hat mich durchdringend angeguckt, als wäre die Einladung für mich. Sie bauen einen Schießplatz für die Schule. Ich hatte den Eindruck, du hörst gar nicht zu, weil du dazu nichts gesagt hast. Oder habe ich nicht zugehört?

Mir geht zu viel im Kopf rum, die Umbenennung, das Kollektiv, das wir werden sollen.

Er hatte die Nacht fast nicht geschlafen, an Ruth gedacht, ihr geschrieben, dass er heimfahren müsse wegen der Wäsche, wegen Hunderterlei.

Erwin arbeitet bei der »Bauunion« als Maurer, entweder ist bei ihnen das Geld auch knapp, oder sie sorgen für Siegfrieds Stipendium vor. Vater fuhr die Wäsche, die Mutter gewaschen und gebügelt hatte, auf dem Leiterwagen. Den Valtenberg schrammten tief hängende Wolken.

Der Bahnhof war zu sehen, als sie an dem Waldstück stehen blieben, das Abeles Busch hieß. Geh mal ins Theater und schreib mir davon. Menschen, deren Beruf es ist zu lernen, wie du, beneide ich. Edith, die mitgegangen war, erinnerte sich an die Strahwalder Mühle. Die war ein Fenster in unsrer Welt. So ein Fenster hat jeder Mensch. Unser Vater brachte Neuigkeiten mit. Wir Frauen warteten drauf.

Deine Kameraden aus der Dorfschule finden sich langsam zusammen, heiraten, ist eben der Lauf der Welt. Wir haben zu spät geheiratet. Horst in Berlin solls schön getroffen haben, Wohnheim, Vierbettzimmer. Klubmöbel, Schreibtisch. Hat was Festes.

Der Zug kam pünktlich. Zu Advent schick ich was Gutes, mein Junge.

Zum Heimfahrtwochenende hielten die Dresdner Bibliothekarschüler Platz. Er war in Dresden-Neustadt umgestiegen, saß neben Irina, als Ruth erschien. Sie war die voll besetzten Abteile durchgegangen, und auf dem Gang draußen hatte sie ihm die Meinung gesagt. Mit seinem schweren Koffer voll Wäsche verlor er sie auf dem Hauptbahnhof im Gewimmel der Fahrgäste in der Osthalle aus den Augen.

Danach waren sie sich noch einmal begegnet zwischen vielen Straßenbahnen, neben ihr in Friedhelms Alter ein junger Mann.

12

Die nicht mitgehn, sind das Problem, die das Paradies nicht erkennen, weil vielleicht keins existiert, zu denen gehöre ich, oder die keins suchen

»Nicht Worte – Taten entscheiden!« Das griff Harry auf, als sie über den Wettbewerb redeten. Es war entschieden, Erich Loest, auf den sie zweimal gewartet hatten, erschien nicht.

Warst tu Huus? Wolfgang war auch zu Hause gewesen, schmuck, mit blauweißem Hemd, dazu blauer Binder. Johannes steckte in einem Oberhemd, das Vater auf Bezugsschein besorgt hatte; das kratzte beim Anziehn, weil Holz in die Wolle gemischt war.

Wie ich euch beneide! Min Mudding wäscht nicht, sagte Friedhelm, höchstens mich, wenn die Wirtin verreist ist, wir das Badezimmer haben und in See stechen.

Der Rückbenennungsstreit war nachmittags. Evelyne Fehrmann fasste zusammen: Drei grundsätzliche Meinungen herrschen: Die es genau wissen, sind die eine, die Vorsichtigen, wenn sie fremde Meinungen wiederholen, die andre, die Übriggebliebnen die dritte. Sie lachte. Waltraud, Regina, Friedhelm, Irina, Johannes, Christel, Gertraude sind das. Evelyne rechnete sich auch dazu.

Klaus Pockrandt fing an. »Erich Loest hat es abgelehnt, zu seinem Artikel eine klare Stellungnahme abzugeben. Mögen die Meinungen über Loest in unserer Klasse weit auseinandergehen, einem Menschen, der nicht die Verantwortung für sein Tun zu tragen gedenkt, kann man nur ablehnend gegenüberstehen.«

Ich bin da andrer Meinung. Bloß weil Loest keine Stellungnahme uns gegenüber abgibt, sagte Joachim und zeigte auf das blaue Brett. Wir erwarten das aber von ihm, erwiderte Pockrandt ziemlich scharf, und außerdem hast du nicht bis zu Ende gelesen. Ich formulierte: »In unserer Diskussion ging es um sehr wichtige politisch-persönliche Fragen wie: Opportunismus? Vertrauen zur Partei der Arbeiterklasse?«

Ich kann selber lesen.

Die Diskussion mit Loest, setzte Pockrandt fort, sollte letzte Klarheit bringen. Sie wird nicht stattfinden. Wir werden diese Klarheit selbst herstellen. Loest hat sich so weit von der Masse gelöst, dass ihm nichts daran liegt, in einer F.D.J.-Gruppe, die seinen Namen trug, selbstkritisch-kritisch parteiische Klarheit zu schaffen. Mut zur eigenen Meinung? Das fehlt. Stattdessen Schönrednerei.

Arnold, gestrecktes Bein, stieg über den Schwellenbalken. Unsere Klassengruppe wird weiter den Namen: »Wladimir Majakowski« tragen, sagte Pockrandt noch, da war Friedhelm schon dabei, sich auf Arnold zu konzentrieren, der die römische Kaiserzeit ein zweites Mal durchquerte, aber Eichler nicht zur Kenntnis nahm.

Bei Frau Pelikan in Literatur schliefen sie ein.

Den Beschluss zur Namensänderung in Majakowski fassten die Gruppenfunktionäre am 22. Oktober. Brigitta, Stecknadeln zwischen den Lippen haltend, heftete den Beschluss an, als Friedhelm auftauchte. Verschluck dich nicht, Gitti, ich konnte nicht ahnen, dass du so zeitig aufkreuzt und mir in die Quere kommst, ich wollte schlafen.

Harry wird’s.

Noch was Neues?

Ich erwarte ein Kind.

Dass ich nicht lache. Von Klaus?

Du unterschätzt mich.

Lass mich lesen. »Ergebnisse der Funktionärsbesprechung vom 22. X. 53. I. Feststellung: In der bisherigen Arbeit der Leitung trat folgender Fehler auf: Die Beschlüsse der Funktionärsbesprechung wurden mit den Mitgliedern der Gruppe allzu breit diskutiert und hinderten so nur eine gute konzentrierte Arbeit.«

Soll das der Fehler sein?

Ich hab die Diskussion eben laufen lassen.

»Die Funktionäre besitzen das Vertrauen der Mitglieder und können auf Grund des in der Verfassung festgelegten demokratischen Zentralismus Beschlüsse ohne breite Diskussion mit den Mitgliedern fassen.«

Geht das?

Die Beschlüsse sind so.

Damit verändert sich alles.

Und Harry?

Ich hab Harry vorgeschlagen.

»II. Beschluß Nr. 1: Die Ablehnung Erich Loests zur Diskussion über seine Artikel in unserer Schule zu erscheinen, ist einem Ausweichen vor entscheidenden ideologischen Fragen und der Desinteressiertheit der FDJ-Gruppe, die bisher seinen Namen trug, gleichzusetzen. Wir beschließen, daß die Klasse 7a weiter den Namen des großen sowjetischen Dichters ›W. Majakowski‹ behalten wird.«

Ist inzwischen den meisten egal, wie wir heißen. Wenn du mich fragst, mir auch.

»III. Beschluß Nr. 2: Die Leitung der Gruppe ›W. Majakowski‹ beschließt, den Jugendfreund Harry Matter für die Neuwahl als Gruppensekretär vorzuschlagen.« Harry wird’s schwer haben. Ich habe Klaus verhindert.

Gertaude erschien, Regina, die kleine Porzelle.

Einige begrüßten sich mit Handheben.

Majakowski, sagte Gertraude und zeigte den Vogel.

Pockrandt war gegen die Neuwahl. Die außerordentliche Gruppenvollversammlung durch Evelyne Fehrmann konnte er nicht verhindern, er wurde krank. Harry wurde gewählt. Stand vor ihnen. Ich sehe euch gar nicht, sagte er, und fing an, die Brille zu putzen, vielleicht weil er so gerührt war. Ich setz die Brille lieber auf, damit ich seh, wer da ist. Er bedankte sich für die kämpferische Auseinandersetzung. Die Geburt eines wirklichen Kollektivs, einer festen Gemeinschaft, ich weiß, ist eure Hoffnung.

Regina hatte sich neben Johannes gesetzt. Er sagte ihr was ins Ohr.

Wenn ihr fertig seid, kann ich ja anfangen.

Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf. Die Gurke. Ob die vergessen ist?

Vergessen. Ist vergessen.

Es sei nun unser aller Aufgabe, diese neue Gemeinschaft zu schaffen. Dass wir uns für »Wladimir Majakowski« entschieden haben, bringt uns anderen Klassen voraus. Unsere kämpferischen Talente haben wir bewiesen. Wir waren, einen Moment stockte er, hart zueinander, müssen das weiterhin sein, er stockte wieder, als würden ihn Zweifel plagen, selbst wenn es vielleicht anders ginge. Es wird darauf ankommen, eine FDJ-Gruppe zu bilden, die sich aus voller Erkenntnis und Überzeugung für die Sache unseres Staates einsetzt. Ein »nicht wollen«, um auszuweichen, nicht aufzufallen, kann es unter uns nicht geben.

Hinterher im Klubraum am Flügel Friedhelm, der Fingerübungen machte und plötzlich die Finger streckte, sie zusammenzog wie Krallen. Der Matter hat Züge eines Fanatikers. Bis an den Punkt hat er in sich reinsehen lassen, mir genügt dieser Punkt. An wen erinnert mich Matter? Ich finde kein Gesicht. Er redet vom Kollektiv wie von einer werdenden Mutter, die ihr Kind unter Schmerzen zur Welt bringt. Helft, Freunde, dass es nicht missrät.

Mehr sagte Friedhelm nicht und fing an, was Wildes zu spielen. Das Kollektiv überlebt, als Einzelne gehen wir unter, niemand bringt es von dem einmal beschrittenen Weg ab, hat er gesagt.

Als er so redete, saß Harry noch zwischen den schiefen Wänden. Friedhelm schraubte am Füllhalter. – »Ihr habt mich zu eurem Sekretär gewählt, ich danke euch. Die Zukunft wird erweisen, ob ihr in der Wahl richtig gehandelt habt. Wir werden einen neuen Kurs in unserer Gruppenarbeit einführen. Ich bitte um volle Unterstützung, ich verlange von jedem Funktionär den vollen Einsatz seiner Leistung und eine vorbildliche Haltung. Freundschaft!«

Der Neue Kurs. Wieder bestimmten sie Böckler zum Verbindungsmann für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Walter Döring sprach über den Wettbewerb.

Als Schluss war, zog Harry den Mantel über und ging. Er war Schuldelegierter und nicht rausgerückt mit der Sprache, bis beim Fußballspielen durchsickerte, Annelies Schenk, FDJ-Sekretär der Weinert-Schule, kann nicht mehr. Die Tränen sind ihr gelaufen. »Wenn ich abends heimkomme, die viele Arbeit sehe und was ich nachzuholen habe, die Pflichtlektüre vom letzten Semester, fange ich an zu weinen. Die endlosen Versammlungen, hat sie erklärt, da nutzt kein Bewusstsein, kein gesellschaftlicher Wille, da kommt der Zeitpunkt, an dem man nicht mehr weiter kann.«

Die Annelies ist mürbe. Der das sagte, spielte mit Johannes Fußball. Am 9. Oktober war das. Sie soll was durchsetzen, was sie nicht kann, eingesetzt hat die Schulleitung sie.

Liebst du sie noch, du Zuspätgekommner, fragte Friedhelm dazwischen. Warum fragst du? Weil ich jemand sehe, der zu dir passt.

Bis ein Nachfolger gefunden ist, sagt die Schulleitung, will sie es nochmal versuchen.

Ich sehe, ihr wisst schon alles, sagte Harry zwischen zwei Unterrichtstunden, die vergangen waren. Wir haben Annelies aber geraten, dass sie niederlegt. Ihre schulischen Leistungen sind sehr schlecht; außerdem ist sie zu weich. Steudel, der als Schulleiter rot unterschrieb, vermutete, sie wäre schwanger. In diesem Nervenzustand, so drückte er sich aus, kann die Annelies zu die Massen nicht dringen, nicht die kämpferische Diskussion entfachen. Man muss ihren Rücken stärken, muss dich helfen. Jede Klasse delegiert vier Freunde, die sich zusammensetzen und beraten werden. Es stimmt doch, man muss helfen. Da wurde gelacht, sagte Harry.

Die suchen jemand, ders macht, wenn Annelies abgelöst wird, wusste der Fußballspieler.

Als Pockrandt dann auf der Delegiertenkonferenz die sofortige Ablösung beantragte, ist dem Steudel was aufgegangen. Pockrandt will an die Spitze, der keinen Ball über die Torlinie bringt, der möchte die Grundeinheit führen. Bloß die Genossen sind sich nicht einig, Hannes. Vermutlich wird mir zum Vorwurf gemacht werden, soll Pockrandt gesagt haben, dass ich die Ablösung in die Diskussion gebracht habe, obwohl sich die Mehrheit dagegen entschieden hat. Formal natürlich völlig richtig, denn wir müssen Annelies Schenk helfen. Deshalb schlage er, Pockrandt, vor, sie zu entbinden. Man muss dir in deiner ausweglosen Lage schnell helfen, Annelies. Die Delegierten nominieren den Nachfolger. Da machte er gleich wieder Selbstkritik. Meinen Fehler, Freunde, begreife ich voll und ganz, ich wollte helfen.

Dem Pockrandt geht das wie Honigseim über die Lippen.

Der aus der Abiturklasse fragte mich, ob ich Pockrandt als gefährlich einschätze. Als kreuzgefährlich hab ich gesagt. Da waren sie schon unterwegs zur Straßenbahn, als Brigitta bedauerte: Um Harry tuts mir leid. Bist viel größer, wenn man dich ganz sieht, nicht bloß am Klavier, sagte sie zu Friedhelm, als der auf dem Sitz die Beine lang machte und antwortete, am Flügel, liebe Brigitta.

Warum willst du heim, Hannes?

Wolframs warten.

Niemand wartet. Die wundern sich höchstens, dass sie nicht einschreiten müssen, weil du keine anbringst. Er blieb bei Friedhelm. Im Radio hörten sie die ganze Nacht diese swingende Musik, und früh im Dachraum stand die Luft.

Wie der Pockrandt rumläuft, seit wir ihn entmachtet haben, sagte Hans Joachim, der entschieden für Loest eingetreten war, was Johannes imponierte. Er war in Radeberg Büchereilehrling gewesen, der Vater bei der Kirche, deshalb hatte Jochen auch keine Oberschule.

Pockrandt fand sein Gleichgewicht schnell wieder, zuerst kritisierte er Böckler wegen mangelhafter Gruppenarbeit und gab daran Harry Matter die Schuld. Der Jugendfreund Böckler verliert die Mitgliedsbücher der DSF und wird trotzdem eingesetzt!

Beim Skaten liegen lassen, giftete Gertraude. Gernitz widersprach nicht. Böckler wurde abgelöst. Die Funktion übernahm Irina. Dabei bleibt es aber, sagte sie. Für dieses Kollektiv typisch, maulte Pockrandt. Irina schnitt ihm das Wort ab. Sei endlich pünktlich, erledige deine Aufgaben. Du behauptest, wir sind ein Kollektiv, das Gegenteil sind wir, erklärte Matter.

Das Wochenende lag dazwischen, als Pockrandt an der Wandzeitung antwortete: »Über die Bildung von kollektivfeindlichen Gruppierungen in unserer Klasse«. Hannes war zweimal genannt, Regina auch, ich komme nicht vor, dachte Friedhelm. Weiß der liebe Gott, warum ich nicht vorkomme? Bin ich der richtige Falsche? Muss so sein. Er war seine Tasche holen gegangen und Pockrandt, das Gesicht verkniffen, auf der Treppe begegnet.

Ich muss zu Hannes fahren, der geht aufs Ganze. Pockrandt ist gefährlich. Wollen die Hannes rausschmeißen? Irina hat er genannt, Regina. Die klagen einige an, und einen sprechen sie schuldig. Ich fahre hin.

Pockrandt ist nicht normal, sagt Irina, aber beweise dem das mal, dass wir normal sind, das schafft nicht mal Gernitz.

Eichler lief die Lützner Straße hoch, die kaum beleuchtet war. Vor dem langen Klingelbrett suchte er den Namen, klingelte.

Frau Wolfram öffnete. Tut mir leid, dass ich Sie rausbimmle.

Ihm ist nicht wohl, die Nase läuft schrecklich.

Friedhelm musste nicht viel sagen. Das Kollektiv ist der Haken, sonst gäbs keine Kollektivfeinde. Gehörst zu den Kollektivfeinden, Irina, Regina, Inka auch, die hasst er. Hat dich an der Wandzeitung breitgeschmiert, Namen sind rot unterstrichen. Ich komme nicht vor, eigenartigerweise, Harry auch nicht. Weiß der liebe Gott, warum ich nicht, Harry, das verstehe ich, er will das Beste und hat mit angesehen, wie wir abirren. Harry ist der Hauptschuldige, den werden sie anklagen, wenn die Kollektivfeinde erledigt sind.

Keine Angst, die können dich höchstens von der Schule schmeißen.

Rudi ist der schöne Schein lieber, von dem geht’s nicht aus.

Was steckt dahinter? Du bist harmlos, Hannes, nimm mirs nicht übel, Regina ist harmlos, ich, ohne Bedeutung, alle harmlos, und trotzdem geht Pockrandt auf euch los. Redet von kollektivfeindlichen Gruppierungen. Hat er gesagt. In Berlin gabs die. An höchster Stelle. Er möchte welche aufdecken, sonst stimmt die Welt nicht, die sie sich geschaffen haben. Wenn an der Basis keine Kollektivfeinde sind, stimmt das Ganze nicht.

Regina sagt, Pockrandt will Macht. Bestimmt will er das, ich denke, die müssen was aufdecken, die brauchen das. Friedhelm stellte Überlegungen an, wozu das Kollektiv gebraucht wird. Damit die träge Masse in Bewegung gesetzt werden kann.

Ruth hat gesagt, dass sie nicht mal in der FDJ ist.

Was hat das damit zu tun?

Entschuldige.

Sie hatte Sehnsucht, Hannes, die hast du ihr ausgetrieben. Musst dich jetzt um dich selber kümmern, sonst dreht Pockrandt uns einen Strick. Wir treffen uns morgen. Lass die Nase laufen! Wenn in der Schule was losgeht, schmeißen die dich vielleicht raus.

Pockrandt spinnt, sagt Irina. Der ist das Arbeiterkind, das er vielleicht selber gar nicht ist.

Die haben sich auf die Arbeiterkinder versteift, die den neuen Menschen hervorbringen. Du bist keins, ich nicht, Böckler könnte eins sein, aber wenn du zu kratzen anfängst, ist er vielleicht auch keins mehr. Übrig bleibt Katzengold. Deshalb müssen die Individualisten weg, solche Individualisten wie ich.

Ich brenne mir eine an. Er ließ den Rauch steigen, nahm für die Asche die Untertasse.

So ist das Leben, weil es so ist, dieses Leben. Guck dir Pockrandt an, da hast du ein Erdenparadies. Friedhelm lachte. Du hast mal gesagt, es wird eins kommen. Rudi hat seins gefunden, Arnold, hoffe ich, auch. Die nicht mitgehn, sind das Problem, die das Paradies nicht erkennen, weil vielleicht keins existiert, zu denen gehöre ich, oder keins suchen.

Ich muss los. Wir treffen uns morgen. Kannst du Irina abfangen, damit sie vorgewarnt ist?

Frau Wolfram kam herein. Dass nicht geraucht wird, war Bedingung. Sie öffnete das Fenster. Ausreißen müssen Sie nicht, ich vertrags bloß nicht.

Im Haus flog eine Tür zu.

Ich hau ab.

Ich passe Irina ab. Am Lindenauer Markt steige ich zu, wenn sie von der Angerbrücke kommen.

Hannes konnte nicht schlafen.

13

Klaus hat in seinem Artikel verschiedene Freunde unserer Klasse zu einer »kollektivfeindlichen« Gruppe zusammengefasst. Unsre Klasse ist gespalten, das wird nichts mehr

Diese Aufregung früh. Wir wehren uns. Dass sie uns rausschmeißen, schätzte Irina, so weit wird es nicht kommen.

Pockrandt im Blauhemd, Parteiabzeichen.

Wie angestochen rannte die kleine Porzelle herum. Ich bin dafür, dass wir gleich nach dem Unterricht dableiben, soll Klaus doch offen sagen, was ihm nicht gefällt.

Regina hätte sich die Qualifizierung zum Bibliothekar durch Lippenbekenntnisse verschafft. Du musst doch spinnen, Klaus!

Über die Versammlung entscheidet die Gruppenleitung.

Sofort passiert gar nichts, entschied Evelyne Fehrmann. Wenn der Termin bei Harry feststeht, mach ich einen Aushang.

Pockrandt genoss die Aufegung, obwohl mit ihm außer Rudi kaum jemand redete.

Dass sie uns rausschmeißen, die Werktätigenklasse, kann ich mir nicht vorstellen. und dass sie Hannes anschießen, versteh ich nicht, sagte Klaus Grimm, bevor der Unterricht anfing.

»Die Diskussion zur Kollektivbildung findet am Montag, dem 16. XI. 53, 14 Uhr statt.« Mit Rotstift den Aushang ließ Evelyne Fehrmann lange hängen. Wie eine Warnung.

Dann die Versammlung. Ihr wisst, dass Klaus Anschuldigungen erhoben hat. Welche das sind, habt ihr gelesen. Sie saßen vor Harry Matter. Die Anspannung war ihnen anzusehen.

Rudi hatte was vorbereitet und nahm vorn Platz. Weil das Kollektiv vorher nur ein Kon­glomerat war, fällt es jetzt einigen Schülern nicht schwer, diesen losen Zusammenhang auseinanderzureißen, ich nehme das nicht hin. Ein anderer Teil von Schülern versucht durch Lippenbekenntnisse darüber wegzutäuschen. Ihr Tun ist umso verwerflicher, da sie zu feige sind, an der Wandzeitung gegen Beschlüsse der Gruppenleitung oder das Benehmen und Tun anderer, mit denen sie nicht einverstanden sind, offen Stellung zu nehmen.

Sie hörten Harry atmen.

Ich frage, was sie zu diesem falschen Handeln trieb.

Ich werde Stellung nehmen, aber schriftlich, redete Irina dazwischen.

Genauso verwerflich ist die völlige Teilnahmslosigkeit eines andern Teils der Schüler unserer Klasse. Es kann so nicht weitergehn. Denn das Bemühen einzelner Freunde muss durch den dauernden Druck erlahmen. Es wird dadurch in der Folge immer weniger getan werden, bis unsre Klasse in Lethargie absinkt und die bisherigen Erfolge zunichte gemacht sind.

Irina, du hast das Wort.

Sie spitzte die Lippen. Ich äußere mich an der Wandzeitung, wo sich das Kollektiv bildet. Geschminkt war sie, was die Blässe überdeckte, die Augenbrauen nachgezogen. In ihren Augen entdeckte Johannes ein Funkeln. Gleich wird sie kratzen.

Die waren am Verlieren, die Panzer haben entschieden, sagt Vater.

Kollektivfeindlich, die spinnen. Mit Schwejk das hatte Pockrandt nicht vergessen.

An der Wandzeitung antwortest du, sagst du, und wann?

Um eine Winzigkeit verzog sie die Mundwinkel. Morgen. Damit der Klassenkampf nicht aufhört.

Für einen Moment schloss Walter Döring die Augen.

Du, Regina? Auch an der Wandzeitung, wo das Kollektiv entsteht.

Es sind noch mehr genannt. Harry, Brille in der Hand: Du? Ich hab deine Hand nicht gesehn.

Meinst du mich? Kollektivfeindlich? Was heißt feindlich? Kriegstreiber sind Feinde. Sind wir Kriegstreiber?

Feindlich habe ich nicht gesagt.

Dann eben dem Kollektiv feindlich. Ist dasselbe. Hast du geschrieben. Wenn das Kollektiv das höchste ist, was es gibt, ist jemand, der dem Kollektiv feindlich ist, das letzte. Sind wir das?

Kollektivfeindliche Gruppierungen, ich bleibe dabei, schnaufte Pockrandt.

Johannes begriff, dass er kein Zuschauer mehr war, er war es noch, als Pockrandt zischte: Du lügst!

Zuschauer war ich, als sie Stalin beweinten und ich in den Gesichtern nichts gefunden habe außer aufgeschwemmten Tränensäcken vor einer bemalten Pappe, Blässe und Tränen.

Die Diskussion ging zu Ende.

Ich bringe meins mit. Ihr wartet im Kaffee.

Die Fahnen in der Diele hingen reglos. Im Klubraum Friedhelm, mit einer Hand ein und dieselbe Melodie spielend, als übe er.

Wenn der phantasiert, der Molch, ich könnte stundenlang zuhören, aber zum Schreiben brauch ich Ruhe, sagte Irina.

Harry war gegangen.

Pockrandt fängt an, uns auf dem Kopfe rumzutanzen.

Irina ging in den Dachraum.

Friedhelm schlug einen Akkord an, dem ein Ton nachhinkte.

Eine Leuchte brannte. Ach du bists, Hannes. Ich brauch kein Licht. Die Verzierung musste ich mal üben, meine Lehrerin spielte sie, aus Schuberts letzter Klaviersonate in B-Dur. Die endet mit einem F-Dur-Akkord, unter dem ein Triller zu spielen ist, leise, in tiefer Lage pianissimo auf ges, die größtmögliche Dissonanz, die du dir denken kannst. Schneidend. Schmerz klingt so.

Wenn du weißt, es ist zu Ende, mit diesem Knacks, der ins Leben eingebaut ist. Hörst du’s? Er ließ die Hände sinken.

Wir gehn los, rief Regina.

Irina liebte das kleine Kaffee. Sie nahmen an einem Marmortischchen Platz. Mutters Wünsche fielen ihm ein. Das Kopfkissen sollte er am besten gleich abziehen, Bettwäsche auch. Schicke alles, ich wasche, wir kommen hin bis Weihnachten.

Unsre Klasse ist gespalten, das wird nichts mehr. In Pockrandt sehe ich einen Menschen, der Macht will. Regina rührte in der Tasse. Müsstest mal den von drüben trinken, nicht den Perlonkaffee. Wären wir doch weitergerollt, statt in Leipzig auszusteigen, sagt unsre Mutti.

Bestellst du noch einen? Die Bedienung guckt schon.

Irina! – Hans Joachim nahm ihr den Mantel ab. Sie zog was Geschriebnes aus der Tasche. Ich donnre denen einen Schuss vor den Bug, setzte sich. Meinungsverschiedenheiten müssen geklärt werden. Ich springe gleich rein. Begrüße die Stellungnahmen sehr, bla, bla, bla, das Positive zuerst.

Soll ich Rudi nennen? Warum nicht, Hannes? Alles eine Soße. Ich begrüße also die Unverschämtheiten. »Haben wir nicht schon so oft gehört, dass Kritik vor allem sachlich sein muß?« Bla, bla. »Klaus hat in seinem Artikel verschiedene Freunde unserer Klasse zu einer ›kollektivfeindlichen‹ Gruppe zusammengefaßt.«

Gruppierung. Kollektivfeindlich in Anführungszeichen.

Selbstredend, Jochen. »Ich bin durchaus nicht der Ansicht«, gehts bei mir weiter, »daß in unserer Haltung eine Kollektivfeindlichkeit zum Ausdruck gekommen ist, nur weil wir nicht immer der gleichen Meinung waren.« Soll Klaus, der ja im Namen der SED und der FDJ-Gruppenleitung spricht, Beispiele nennen, wo wir kollektivfeindlich aufgetreten sind. Die will ich von ihm hören.

Die Partei schickt Pockrandt vor.

Heute hast du die richtige Frage gestellt, Hannes, nicht immer nannte sie ihn so, wenn du für meinen Geschmack dich auch gerne raushältst. Ich verstehe, dass du dein Leistungsstipendium nicht aufs Spiel setzen willst.

Soll ich den Satz zur Partei anbringen, fragte sie?

Eher nicht, meinte Jochen.

Pockrandt will Macht, sagst du. Lässt sich kaum trennen, Regina. Ist auch egal, was er will. Ihr müsst euch wehren, sagte meine Mutter, warf Irina ein. Meine Schwestern und ich standen alleine da, die Männer tot, in Gefangenschaft, verschollen. Ich kann nicht warten, ob mir ein Mann hilft, hat sie gesagt.

Regina schlug vor: Im Namen der Genossen der SED. Bezieht sich auf die bei uns.

Akzeptiert. Das mit der SED bleibt drin, von dort weht der Wind. Kalt der Kaffee, die Brühe. Ich ergänze.

»Ich und noch andere« – bla bla Freunde – »wären desinteressiert an unserer Qualifizierung zum Bibliothekar, legen Lippenbekenntnisse ab. Wie soll ich das verstehen?« Die Frage stell ich ihm.

Uns liegt das Kollektiv am Herzen wie unsere Qualifikation. Den Satz könntest du aufnehmen.

Gut. In einem Punkt, Hannes, hat er dich ausgespart, du bist kollektivfeindlich, aber berufsverbunden, ich bin kollektivfeindlich und berufsfremd, Regina auch.

Wollen die uns von der Schule schmeißen? Sie legten fest, dass Regina ihre Erwiderung früh mitbringt.

Klaus will beweisen, dass Harry Grüppchen zulässt und nicht fähig ist, zu führen. Mein Gefühl sagt mir, es geht um Harry, weniger um uns. Klaus will Macht, das wird stimmen, dazu schreibt am besten Regina.

Ich gehe so vor. »Klaus verfügt über ein großes Redetalent und dazu eine gute Portion Überheblichkeit. Beides benutzt er, um alle, die nicht immer seine Meinung teilen, einfach an die Wand zu reden.«

Bin noch nicht fertig, gleich. Umbringen könnte ich den. »Klaus sucht die Fehler nur bei anderen. Ich bin der Ansicht, daß er sie nun auch einmal bei sich suchen sollte.« An dem Punkt nagle ich ihn fest. Der Pockrandt hat solche Schwächen, bloß die Gruppenleitung hat bisher nicht reagiert.

Unsere Klasse ist gespalten, die zwei Lager gibt’s, das wird sich auch nicht mehr ändern.

Die keine Meinung vertreten, stehen dazwischen, die schwanken wie Pappeln im Wind. Dass wir uns feindlich gegenüberstehen? Soll ich so schreiben? Ich kann bei ihnen nichts andres erkennen, beim besten Willen nicht, das haben die richtig erkannt. Soll ich? Ich werde mich bloß noch bissel mehr verstellen.

Pappeln, Irina, stimmt nicht, sie sind bloß übervorsichtig.

Wie du.

Diese Dresdner Pappergusche, würde Mutter sagen.

Hat Gründe, Irina.

Verstehe. Wir sind einer Meinung, aber so kann ichs nicht schreiben. Die Pappeln gibt’s. Ich schreibe. »Die jetzigen Spannungen«, bla, bla, bla, »können aber nur dann aufgehoben werden, wenn wir uns ganz klar und deutlich aussprechen und nicht, wie Klaus versucht, wie die Katze um den heißen Brei gehen. Ich bitte deshalb nochmals Klaus und alle Freunde, die hinter ihm stehen, sich erst einmal zu fragen, ob sie nicht, vielleicht unbewußt, mit dazu beigetragen haben, daß in unserem Kollektiv der ›Klassenkampf‹ entbrannt ist.«

Euren Segen habe ich, sehe ich. Sparsam, wie du bist, Hannes, trinkst du kalt.

Inka bringt ihrs auch mit, sagte Regina.

Sie zahlten und verließen das Kaffee.

14

Harrys Lippen waren ein Strich. Bei der HJ gabs solche Typen auch. An der Stelle, wo das Lindenblatt klebt, sind sie verwundbar

Die stillen Tage waren vorbei, an denen Blätter durch die Luft segelten. Der hohe Himmel war nicht mehr mit grauer Wolkenmasse gefüllt, die Nacht kalt. In der Schule hatte Friedhelm auf Hannes gewartet, am Flügel gesessen, war dann zum Fenster gegangen.

Wird dunkel sein, wenn der Hausmeister zuschließen kommt. Was nicht sein kann, weil er im Krankenhaus liegt. Was ihm fehlt, sagen sie nicht. Frau Trautmann wird zuschließen. Als die Amerikaner kamen, war der Hausmeister mit einem Ami fast zusammengerannt, danach waren im Juni die Russen eingerückt.

Die Russen hab ich in Finsterwalde erlebt, als Pimpf.

Friedhelm war zur Tischtennishalle gegangen, wo drüber bis vor kurzem Frau Trautmann ihr Büro hatte. Den Chauffeur hatte sie schon nicht mehr erlebt, den Kutscher erst recht nicht, seit die Herrschaft abgeschafft war, wurde unter dem Büro Tischtennis gespielt. Nun war sie vom Ballgeklapper erlöst und den Schmetterbällen. Die Schulleitung hatte Frau Trautmann umgesetzt.

Was man im Kopfe rumschleppt, geht aus dem dummen Schädel nicht raus, dachte er, und jetzt, beim Pissen, fällt mir ein, was ich Gernitz sagen wollte.

Du kommst so leise, Hannes. Hast mich erschreckt. Ich musste dauernd schiffen gehn, als hätte ich Bier gesoffen.

Friedhelm holte den Mantel. Um die Joppe beneide ich dich, die du anhast.

War Gustav seine.

Friedhelm konnte mit dem Namen nichts anfangen, fragte aber auch nicht, setzte die Baskenmütze auf. Friedhelm trug seinen dünnen Mantel, er hatte nur den. So ein Erbstück, wie deins, fehlt mir.

Der Sommer war längst vorbei. Der Wind hatte die Wolken weggeschoben. In unendlicher Zahl funkelten Sterne. Mir ist Rudi eingefallen. Nicht dumm, was er sagte, der Panzersoldat, der Italien gesehen hat. Nimm unsre Klasse. Was klein abläuft, sagt sich Rudi, passiert groß genauso, vielleicht heute nicht, aber morgen. Lethargie legt sich aufs Ganze. Würdest du sonst den Wettbewerb brauchen?

Pockrandt ist dumm, politisch. Friedhelm schlug den Kragen hoch. Sie fürchten diese Apathie. Er hauchte sich in die Hände. Verdammt kalt. Ich gucke zu den Sternen. Diese unermessliche Kälte dort oben.

Früh in der Schule Harry. Auf der Treppe im Vorbeigehen gaben sie sich die Hand.

Die Wandzeitung umlagert. Neben Pockrandts Artikel Erwiderungen. Regina im blauen Pullover. Im Gesicht Trotz. Irina an ihrem Platz. Gertraude rief: Lasst mich durch! Klemmte einen Zettel an Pockrandts Stellungnahme. »Ich stimme den Artikeln von Koll. Halmich und Neumann zu. Zu den Punkten, die mich selbst betreffen, werde ich im Gruppennachmittag Stellung nehmen. G. Schubert.«

Pockrandt schubste die kleine Porzelle weg.

Entschuldigung, Klaus!

Vor der Wandzeitung hatte er Regina die Zunge gezeigt, die Zungenspitze, und war im Kabuff verschwunden.

»Ich möchte Stellung nehmen zu den Anschuldigungen von Kollege Gernitz u. Pockrandt.«

Oh, Regina, muss das sein?

»Schon lange spaltet sich unsere Klasse in drei Gruppen. Die erste setzt sich aus Kollegen Gernitz, Pockrandt, Brigitta Richter und Böckler zusammen, die zweite aus Fehrmann, Roebke, aus Hans Joachim, Irina, Regina, Johannes und Grimm.«

Hannes und Grimm kannten sich aus dem Lehrlingskurs. Grimm lief damals in einer umgearbeiteten schwarzer Kordhose, die Beine nackt. Solche Hosen hatten die Jungs aus dem Sägewerk, die nicht wiederkamen. Klaus Grimm wurde zum Skat gebraucht, weil Walter übers Wochenende bei seiner Familie war. Die Fußballhelden damals waren Ferenc Puskás und Nándor Hidegkuti, die hatten im November 1953 im Londoner Wembleystadion gegen England Sechs zu Drei gewonnen und im Rückspiel im Mai 1954 die Engländer Sieben zu Eins heimgeschickt.

»Dann gibt es in unserer Klasse noch einige Freunde, die keine eigene Meinung haben und alles das gut heißen, was andere sagen und tun. Ich möchte gern von Klaus und Rudi wissen, inwiefern andere und ich kollektivfeindlich sind. Kollektivfeindlich ist, wenn man sich der Mehrheit der Klasse entzieht und abseits steht.«

Schiebst mich weg, Walter, gunkst mir hinten rein, du Schrank! protestierte Uta.

»Meiner Meinung nach ist Kollege Pockrandt kollektivfeindlich, weil er dauernd versucht, Spannung und Zwietracht zwischen uns zu bringen. Alle diejenigen, die nicht seine Vorschläge und Anordnungen befolgen, nennt er reaktionär.« Walter las und schwieg. »Ich sehe in Klaus Pockrandt einen Menschen, der nur versucht, über andere Macht zu haben. Alle sollen nach seiner Pfeife tanzen, und wehe dem, der versuchen sollte, eine andere Meinung als er an den Tag zu legen. Seine ganze Stärke besteht im Reden, andere Kollegen, die nicht über solch ein ›Geschenk der Natur‹ besitzen, regelrecht totzuquatschen.«

Als Harry das las, sah er aus, als würde er ins kalte Wasser springen müssen.

»Was wir von Klaus und seinen Anschuldigungen zu halten haben, erkennen wir im Folgenden am Besten. Als ich Klaus fragte, inwieweit ich mich dem Kollektiv entziehe, antwortete er mir: ›Dich habe ich ja gar nicht damit gemeint, sondern andere.‹ Diese Antwort ist charakteristisch für Klaus. Außerdem schreibt Kollege Pockrandt noch, daß ich mich durch Lippenbekenntnisse, die Ausdruck meiner Desinteressiertheit sind, zum Bibliothekar qualifizieren will. Ich möchte darum bitten, daß Klaus mir die Richtigkeit dieses Satzes durch konkrete Beispiele beweist! Frechheit und Beweis seiner Zwietrachtpolitik ist, daß Klaus nachdem wir seinen Artikel gelesen haben, triumphierend zu seinen Gesinnungsgenossen sagte: ›Seht Ihr, wie Sie sich getroffen fühlen.‹ Wenn man so beschuldigt und angegriffen wird, muß man sich empören, oder man kann herrlich schauspielern!«

Inka fing ihren Beitrag mit Selbstkritik an. »Klaus hat recht, wenn er sagt, daß ich mich an gemeinsamen Unternehmungen der Klasse nie beteiligte. Ich hatte bisher wenig Interesse daran. Um meinen Fehler wieder gutzumachen, will ich jetzt mit ganzem Herzen helfen, aus unserer Klasse ein gutes, festes Kollektiv zu schaffen.«

Klingt nach Lippenbekenntnis, ist keins, Hannes. Lies weiter! »Aber eins, Klaus und Rudi, ist nicht richtig an Eurer Haltung. Warum eröffnet Ihr diese Diskussion an unserer Wandzeitung erst, nachdem die Sache auf der Schülervollversammlung ins Rollen gebracht wurde? Ihr wußtet schon eine ganze Weile, daß unser Klassenkollektiv vollkommen zerfallen war und daß sich dies schon in unserem Studium bemerkbar machte. Es stimmt, daß Klaus ein Klassennapoleon sein will, der alle diese Freunde nicht leiden kann, die seine Vorschläge und Taten nicht unterstützen. Auf Kritik reagiert Klaus stets unsachlich und jäh aufbrausend. Ich glaube, mit seiner ganzen Art hat er viel dazu beigetragen, daß in unserer Klasse zwei sich feindlich gegenüberstehende Lager entstanden sind.«

Inkas Strickjacke war an den Ärmeln so kurz geworden, die dünnen Handgelenke guckten heraus. »Außerdem ist es ein Zeichen von Feigheit, wenn Klaus an der Wandzeitung Regina, Irina und andere als kollektivfeindlich bezeichnet und bei der Bitte um konkrete Angaben sagt: ›Euch habe ich ja gar nicht gemeint‹. Inka Knetsch.«

Pockrandt wich nicht von Rudis Seite, was den störte. Für Friedhelm war das Schwäche. Die Partei ist schwach, Brigitta haben sie eingebüßt, Harry erzieht und überdreht.

Harrys Lippen waren ein Strich. Bei der HJ gabs solche Typen auch. An der Stelle, wo das Lindenblatt klebt, sind sie verwundbar.

Regina stand auf, nahm die Schultern zurück.

Ich mag einen schönen Körper, bloß sie mag mich nicht, bin ihr zu unsolide. Die sehe ich schon mit Säugling. Ich bewundre einen schönen Körper, ich, mit meinen hängenden Schultern, beim Fußball nicht zu gebrauchen. Eine wie die Regina gönn ich dir, bissel trotzig, bissel bockig, unersättlich und treu. Was willst du mehr?

Pause.

Ein Lungenzug verstärkte die Nachdenklichkeit. Vergiss deine Ruth. Es gibt Dinge, die du als Junge machen willst und solche, die Mädchen machen wollen. Püppchen halten. Alle, die wir hier sind, wollen Bibliothekare werden. Mit einem Unterschied, sie bringts raus. Niemand ändert das. Böckler wieherte.

Sag Harry, ich geh früher weg, sag, dass ich beim Arzt bin. Eine wie Regina wünsch ich dir. Das Mädchen aus der Arztpraxis wartete. An nichts andres denke ich. Bei der verströme ich mich.

Sie gingen auf ihre Plätze.

Am Nachmittag die Versammlung. Es gibt eine neue Situation in der Klasse, erklärte Harry Matter, denn als sich die Klasse zusammenfand, unter den besonderen Bedingungen, hatte es den Anschein, als wollte sie nicht nur in ihrer Stellung zum Ausbildungsplan eine Ausnahme machen, sondern auch in kollektiver Beziehung, weil wir überwiegend Arbeiterkinder sind. Jetzt ist von Anschuldigungen die Rede, von Kollektivfeindlichkeit. Das Klassenkollektiv ist zerfallen.

Gertraude schrieb mit.

Ich sags mal einfach, sagte Rudi, der wieder aufstand, wir sind eine Klasse, die aus neuen Menschen bestehen soll. Das gabs in den anderen Klassen bisher so nicht. Er sprach von einem Fall Bärlach. An dem erklärte er die antagonistische Stimmung des größten Teils der Schüler gegenüber unserer Klasse, sodass sich die 7 a fester zusammenschloss. Als der Vorbereitungslehrgang zu Ende war, verwischte sich die labile Stellung unserer Klasse innerhalb des Schulkörpers. Inzwischen hat die Akklimatisation einiger Schüler aus der 7 a dazu geführt, dass sie von den reaktionären Schülern anerkannt sind. Jetzt, denkt man, kann man die Maske fallen lassen. Ich sage, der Klassenkampf beginnt auch in der 7 a.

Brauchst du ein Kissen, Friedhelm? Weil du so kippelst?

Darf ich das nicht, Evi? Niemand lachte. Er ging.

Bist entschuldigt, sagte Harry.

Wir streiten, setzte Rudi fort, die sonst so trägen Gemüter sind aus ihrer Defensive herausgekommen, was zu der Hoffnung berechtigt, dass im Laufe unseres Zusammenseins auch sie zwar kaum Genossen, aber Gesinnungsfreunde werden.

Irinas Gesicht hellte sich um eine Andeutung auf.

Nochmal Pause.

Die denken, die können uns einwickeln. Hannes, es wird in der Klasse bei einem Fall Bärlach nicht bleiben. Er hat Die tote Tante einstudiert, sie hat sie gespielt. Sind beide fort. »Die Innocentia liegt mir« – die ist das, sagte Irina leise. Du steigst in Gesundbrunnen aus der S-Bahn und bist raus aus allem. Ich bleibe hier. Ich hänge an Dresden.

Nach der Pause hatte sie ihren Auftritt.

Was du gesagt hast, Rudi, klingt vernünftig, dass wir als künftige Bibliothekare auch kaum Genossen sein werden, so doch wenigstens – ich suche das Wort, das du verwendet hast – Gesinnungsfreunde, danke, hört sich gut an, zum Beispiel Jugendfreunde innerhalb eines Kollektivs – (Pockrandt notierte das) – Kollektiv­freunde, Busenfreunde, nein, Busenfreunde ziehe ich zurück, das geht zu weit.

Rudi sprang auf. Die Auseinandersetzung zum Wandzeitungsartikel unserer zukünftigen Gesinnungsfreundinnen sehe ich durchaus positiv, weil jemand »gewagt« hat, einen Gegenartikel zu schreiben, mir kommt der Artikel aber auch vor wie der Aufschrei des getroffenen Wildes. Solange Artikel ohne offene Stellungnahme erscheinen und ohne die Namen der beteiligten Gesinnungsgenossen, sind sie keine Kritik, sondern eine Verteidigung.

Verteidigung der von ihnen selbst erkannten Schwächen, warf Pockrandt dazwischen.

Irina blieb sitzen, als sie sagte: Getroffnes Wild finde ich schlecht, Rudi. Willst du damit sagen, dass wir gejagt werden? Der Knall, ich gebs zu, hat uns erschreckt. Trotzdem. Ihr habt daneben geschossen.

Das ließ Rudi nicht auf sich sitzen. Ich bin überzeugt, dass alle, die nicht zum Kollektiv finden oder aus dem Kollektiv ausbrechen, von der Kraft des Kollektivs auf den richtigen Weg gebracht werden. Wer Zweifel an meinen Worten hegt, dem empfehle ich Makarenko: Der Weg ins Leben.

Gertraude, jetzt du.

Was antagonistisch heißt, weiß ich nicht, aber ich ahne, bestimmt nichts Gutes. Harry half aus. Unversöhnlich.

Also feindlich. Sie redete schnell. Das »Feindlich« für meine Person weise ich zurück. Ich denke sogar, dass ich für alle spreche, die Klaus Pockrandt kollektivfeindlich einsortiert hat: Die Falschen ins Kröpfchen. Der Artikel sät Unfrieden. Was du sagst, Klaus, bleibt unbewiesen, du kannst mir damit gestohlen bleiben und solltest dir eine Entschuldigung ausdenken.

Sie hatte ihn abgefertigt.

Pockrandt reagierte mit Selbstkritik. Festgestellt sei zuerst, dass mein Artikel die Diskussion eröffnet hat, wenn er auch nicht in allem sachlich und richtig war. Er danke den Jungendfreundinnen Neumann und Halmich für ihre Kritik, weil sie erstmals und offen ihre Meinung zum Ausdruck brachten, die nicht in allem richtig sei, und sah Harry, als er das sagte, herausfordernd an. Es sei selbstverständlich nicht jedem gegegeben, ein brillanter Rhetoriker zu sein. Er fasste zusammen: Es gibt eben drei Lager in unserer Klasse, und wenn Regina Halmich in ihr »Gesinnungsgenossen« erkannt hat, bekenne er sich dazu. Fest steht, dass diese Gruppe die politisch fortschrittlichste und aktivste ist. Als kollektivfeindlich habe ich die Gruppierung Halmich bezeichnet, weil sie sich von den politisch fortschrittlichsten Freunden abkapselt und gegen die Beschlüsse der Gruppenleitung insgeheim opponierte.

Das beweise mir mal, rief sie.

Harry sah auf die Uhr.

Es gibt Jugendfreunde, die noch nie durch besondere politische Aktivität ihre politische Überzeugung demonstriert haben.

Das bringst du in Russisch zum Ausdruck! rief Irina.

Klaus brachte kein Wort heraus, was Harry genoss, bis Pockrandt die Sprache wiederfand. Er sei überzeugt, dass die »Gesinnungsgenossen« und der andere Teil der Gruppe nach harter politischer Diskussion ein gutes Kollektiv werden. Trotz allem. Danke.

Jetzt weiß ich, was du mit uns vor hast, sagte Irina, ich bedanke mich auch.

Da kniff er die Augen zusammen. Weil niemand was sagte, knöpfte Harry die Federmappe zu. Walter meldete sich. Musste auch was sagen. Weil der Wettbewerb alle angeht, er las vor: »Die Mithilfe am freiwilligen Aufbau unserer vom Krieg zerstörten Heimat und die Mithilfe am Aufbau des Sozialismus ist für jeden FDJler nicht nur Ehrensache, sondern heilige Verpflichtung.«

Eins von Walters großen Worten. Dem fleißigsten und besten Freund winke bei der Weihnachtsfeier eine Buchprämie.

Nach der Versammlung wurde gefragt, ob Verpflichtung nicht genüge. Ist mir rausgerutscht.

Du wirst an das Dritte Gebot gedacht haben, unbewusst, grinste jemand.

Das Thema wechselte.

Die Tage wären zur allgemeinen Zufriedenheit verlaufen, hätte Pockrandt nicht wieder für Aufregung gesorgt und neue Tinte an die Wandzeitung gespritzt. »Ist es nicht denkbar, daß einige Freunde davon wußten, daß die Schülerinnen Otto und Knetsch bereits seit drei Wochen unbezahltes Essen bezogen? Nun, diese Möglichkeit sei außer acht gelassen, obgleich es sehr aufschlußreich und interessant sein würde, diese Linie weiter zu verfolgen.«

Inka unter Tränen: Was Klaus behauptet, stimmt nicht, ich habe Nachschlag geholt ohne alles.

Mit dir diskutiere ich nicht, fertigte Pockrandt sie ab.

Du weißt, dass du die gewählte Leitung ignorierst, Klaus, hielt Harry ihm vor.

Ich musste handeln, weil du nicht handelst. Da schoss Harry das Blut ins Gesicht. Verstehe.

Ich bitte, dass nach dem Unterricht alle dableiben.

An der Wandzeitung eine Berichtigung: »Ich habe in 4 Wochen 8 mal den Nachschlag geholt, ohne Kompott, Semmeln, ohne Fleisch. Inka Knetsch.«

Ich kann nicht mehr hingucken ans Brett, wenn ich zum Unterricht komme, beklagte sich Gertraude. Viel Hunger könne ein Grund sein, meinte einer von den Jungs.

Pockrandt schrieb gleich im Stehen. »Es ist eine Frechheit von Seiten der Schülerin Knetsch, sich mit irgendeiner Summe von gestohlenem Essen zu ›entschuldigen‹. Klaus.«

»Nachsatz: In meinem Verständnis jedenfalls ist es unmöglich, daß überhaupt einer der Freunde versuchen kann, diesen Betrug und Diebstahl am Kollektiv irgendwie ›menschlich‹ zu motivieren.«

Die dünne Inka, dem Weinen nahe, wollte reden, kam nicht dazu.

Klaus Pockrandt schlug vor, heute noch den Beschluss zu fassen, beiden Schülerinnen eine Verwarnung auszusprechen, ihnen für die Dauer eines halben Jahres das Recht abzusprechen, irgendeine Funktion auszuüben, und sie zu veranlassen, dass sie das bezogene Essen nachträglich bezahlen. Die Tat selbst und das arrogante und freche Verhalten dieser Schülerinnen zu ihrem unkameradschaftlichen Verhalten fordern diese Bestrafung.

Wenn die Frauen in der Essenausgabe einen Nachschlag geben, ist das ihre Entscheidung, und dir, Klaus, wenn du darum bittest, werden sie auch einen Nachschlag geben oder dich abweisen, weil du wohlgenährt bist, schrie Irina, schickt den mal weg, werden sie sagen.

Hans Joachim sagte dazu nur: Der ist krank – und vielleicht traf es das auch.

Ausgedehnte Diskussionen, erklärte Gisela Otto, die auch Nachschlag genommen hatte, sind bei dieser »Verfehlung« nicht erforderlich, ich habe weder betrogen noch gestohlen, ich gehe. Gertraude schloss sich an. Dann gehen wir auch, sagte die Mehrheit. Die Versammlung löste sich auf. Harry verließ den Raum.

Du hättest dich mit den Genossen beraten sollen, nuschelte Böckler, meinte er Pockrandt?

Friedhelm wartete. Es gibt zwei Verlierer, Hannes. Siehst du das auch so? Pockrandt ist angeschlagen.

Harry auch.

Einige Tage verstrichen, und Harry setzte eine außerordentliche Gruppenversammlung an. Dazu erschien er im Anzug, in diesem dunklen Anzug, den er fürs Theater hatte. Er zögerte einen Moment, bevor er sagte: Wir haben es soweit gebracht, dass unsere Klasse, die sich aus Kindern von Werktätigen zusammensetzt, als abschreckendes Beispiel dient. Man nennt im Dozentenzimmer keine Namen. Sind eben Arbeiterkinder, was erwartet ihr von denen?

Es gibt Lehrer, die gern kommen.

Weiß ich, Regina.

Wir vergessen die Tradition unserer Väter, die weiterzuführen wir da sind. Aber so wie jetzt können wir sie nicht weiterführen und sinken zu Parasiten herab, die zwar nehmen, aber nichts geben und den Wirt innerlich zerfressen.

Friedhelm stocherte im Mund, das Streichholz brach ab. Gulasch, sagte er. Vor den Fensterscheiben eine kalte Sonne.

Harry stellte im Unterricht unerwartete Fragen, las viel, von Thomas Mann alles, was er kriegen konnte.

Schwebt in ziemlicher Höhe, meinte Irina.

Inzwischen trieb Harry im Strom eines über die Ufer tretenden Monologs dahin. Es ist keine Schande, sondern eine Ehre, Arbeiter zu sein, bewusster Arbeiter. Wir müssen diesem Namen Ehre gebühren. Wie könnten wir es besser tun als durch den Beweis, hier zu lernen, was bisher nur bürgerliche oder begüterte Schichten konnten. Wir können es und noch besser.

Walter Döring sah auf die Uhr.

Die Zeit gebt ihr mir noch für das, was ich vorbereitet habe.

Margot Roebke, das dünnfingrige blasse Mädchen, sagte, ja, aber … Evelyne nickte.

Doch wie sieht es in unserer Klasse aus? Bla, bla, würde Irina sagen. Da drehte sich Harry, wie von einem Strudel erfasst, schon im Kreise. Und wir? Katastrophal.

Mit einem Mal erfasste Johannes, wie ernst es Harry Matter mit dem Bibliothekarsberuf war, mit Bildung. Was für andere bloß Hingehn, Ableisten, Schule war, ihm reichte das nicht.

Eine letzte Schubkarre Schlamm aus dem Teich herauszukratzen zum Düngen, um zu überleben, daran musste Johannes denken, wer sich geschunden hatte, bis das Herz kaputt war, wusste er.

Wir verschleudern doch nur Geld unseres Staates, der Arbeiter, wenn wir uns weiter so verhalten wie bisher. Die Schule, ihre Einrichtungen sind Volkseigentum. Handelt man so mit Dingen, die allen gehören? Warum zerstören, wenn bei etwas Vernunft auch ohne Schäden gelernt werden kann? Viele benehmen sich, als wären sie gezwungen, diese Schule zu besuchen. Wer so denkt, braucht nicht länger unser Mitschüler zu sein. Die Arbeiter bezahlen solche Menschen nicht. Wer den Unterricht nur erträgt, kann künftig diese Schule meiden. Wer denkt, vorläufig gut untergekommen zu sein und das Vertrauen von Millionen Werktätigen missbraucht, muss unsere Schule verlassen. Gerade von uns hat man anderes erwartet als Ignorieren des Unterrichtsstoffes, Nichtvorbereitetsein, keine Fragen haben, Privatgespräche führen, den Russischunterricht schwänzen.

Was war mit Harry passiert? Mit uns? Wann mag ihm zu Bewusstsein gekommen sein, was es bedeutete, sich Liederlichkeit anzupassen und ihr zu unterwerfen?

Wenn von irgendwo Maßnahmen getroffen werden, übergeht man die, wir wundern uns, dass härtere folgen. Freunde, so geht das nicht, so etwas darf man nicht übergehen. Dass es geschieht, zeigt, dass etwas faul bei uns ist, was ausgerottet werden muss.

Was Harry beunruhigte, lag tiefer. Er hatte einen Defekt entdeckt, den andere nicht bemerkten, als läge da eine Bombe, die jeden Moment in die Luft gehen konnte.

Die Ursachen liegen bei uns. Er wendete wieder ein Blatt um. Es gibt Freunde, die alles ignorieren, die jede geäußerte bessere Einsicht verspotten, missachten, dagegen handeln. Sind wir so weit gekommen, dass nicht einmal die persönliche Meinung geachtet wird? Das Bessere muss gewählt werden. Wer dagegen handelt, stellt sich außerhalb der Gruppe und muss bestraft werden oder soll seiner eigenen Wege gehen.

Im Klubraum, am Flügel, wo Friedhelm nach Schulschluss am liebsten saß, griff der diesen Punkt auf: Harry meint Pockrandt. Pockrandt fühlt sich sicher, weil die Mehrheit nicht sagt, was sie denkt, weil sie sich fürchtet. Das hat Gründe. Harry hat das erkannt. Gehen wir mal davon aus, dass ers erkannt hat, er könnte den Defekt erkannt haben, die Gründe will ich gar nicht untersuchen, wenn er sagt: Die große Meinung herrscht, dass gesellschaftliche Betätigung etwas Zusätzliches ist, eine Bürde, die man abwerfen muss. Das ängstigt Harry.

Evelyne Fehrmann putzt keine Ziegel, war für Wandzeitung verantwortlich, aber Wandzeitungsartikel wollte niemand schreiben. Sie legte fest, dass geschrieben wird, wer schreibt, Hannes über den Waffenstillstand in Korea, und wann. Das Politbüro zum Beispiel bemängelte die ungenügende Propagierung der fortschrittlichen Literatur beim Kampf des deutschen Volkes für Frieden, Demokratie und Sozialismus. Dazu trieb sie einen Artikel ein. Über die Propagierung des neuen Buches wollte niemand schreiben, deshalb, liebe Freunde, bitte ich nochmals, die Richtlinien für unsere spätere Arbeit als Kulturfunktionäre und Bibliothekare durchzustudieren (rot unterstrichen) und für die Wandzeitung zu schreiben.

Die Initiative fehlt. Harry hatte das erkannt. Er sah den Aufwand, den Verdruss, die Verluste an Kraft und Zeit. Ohne endloses Überzeugen und Drängen bewegte sich nichts. Was als Mittel übrig bleibt, ist Zwang, ganzer Zwang, halber. Wenn es nicht gelingt, das zu ändern, wird Harry gedacht haben, sind wir verloren. Harry war hellhörig geworden gegenüber den üblichen Entschuldigungen, diesen schlangengleichen Wendungen und dazwischengewebten Lügen, bestimmt auch den eigenen.

Mit grüner Tinte hatte Friedhelm Eichler die Oktoberrevolution gewürdigt, die den Werktätigen den Weg in eine hoffnungsvolle Zukunft öffnete, und Evelyne den Artikel ans blaue Brett geheftet.

Wissenschaft und Gesellschaft sind gleichwertige Bestandteile des Unterrichts. Als Harry das sagte, lachte Gertraude laut.

Wer das nicht anerkennt, muss die Konsequenz ziehen. Wieder drehte sich Harry im Kreis.

Vielleicht sollte ich nicht weiter reden, sagte er plötzlich, das beschriebne Papier vor sich. Ich hab mir zuviel vorgenommen. Ein großer Teil von euch will mein Tun nicht anerkennen. Ich wende mich nicht aus Sucht nach Vorherrschaft an oder gewissermaßen gegen euch, ich habe das nie getan, nicht in der Vergangenheit und nicht heute. Er zögerte und sagte dann mit fast tonloser Stimme: In einigen Tagen verlasse ich diese Schule.

Jemand atmete tief. Das sagst du uns jetzt?!

Genossen wissen nicht alles, verriet Gertraudes Blick.

Schafft das Kollektiv! – forderst du und verlässt uns, sagte Rudi Gernitz, die Schule verlassen, geht zu weit.

Friedhelm erinnerte sich, dass Rudi mal sagte: Unsre Aufgabe ist, den Fortschritt durchzusetzen, da stand er im Mantel vor Harry. Musst die Machtfrage stellen, und Rudi Gernitz hatte mit zwei Fingern den Mantelknopf von Matter angefasst.

Die Abiturklassen spielen Theater, reden über Inszenierungen, schwelgen in Gedichten. Bei uns gibt’s aber auch Schüler, denen genügt die Zusammenfassung. Die wollen die Maggiwürze, wie Friedhelm es nannte.

Mir nicht, hatte Gertraude gesagt. Johannes imponierte das.

Weil Harry nicht aufstand, blieben alle sitzen. Er sagte nicht, ich verzichte auf eure Gemeinschaft, hatte nur ruhig gesagt, ich verlasse die Schule.

Vielleicht greifen wieder einige die Person an, ich habe auch Fehler gemacht, große oder kleine, das sagte er noch, aber noch nie haben mein ehrlicher Wille, meine Disziplin und Einsatzbereitschaft gefehlt. Bei vielen unter uns vermisse ich das, was kein persönlicher Angriff sein soll, bloß die Feststellung einer Tatsache. Wir müssen nicht diskutieren, das wäre Unfug. Handelt so, dass diese Worte der Enttäuschung in Zukunft verfallen. Redet nicht vom Kollektiv, schafft es, fügt euch der besseren Einsicht. Nicht der Mensch handelt frei, der immer anderer Meinung ist, sondern derjenige, der sich der Notwendigkeit fügt.

Da die Gruppe weiter sitzen blieb, blieb er auch sitzen, eher erleichtert, dass er, die Brille in der Hand, die Gruppe nicht deutlich sah.

Mir war es unmöglich, weiter zuzusehn. Ich muss nun keine Bemerkungen mehr fürchten. Es wird sich zeigen, wer ehrlich ist mit sich selbst. Der neu zu wählenden Leitung, der ich nicht mehr angehören werde, gebe ich den Rat, energisch gegen Störenfriede vorzugehen, Störungen im Keim zu ersticken. Die neue Leitung wird es nicht leicht haben, sondern schwerer. Vor ihr steht der Erfolg, den wir nicht hatten. Ihr werdet Erfolg haben, wenn ihr konsequent seid. Ich spreche hiermit jeden Freund von uns an. Jeder aufrechte FDJler und besonders die Genossen unserer Partei müssen sich für die Durchführung des Kampfes einsetzen; das muss man von ihnen verlangen.

Beweist eure Bereitschaft in den Tagen, die bis Weihnachten noch bleiben, dann wird das Weihnachtsfest doppelt so schön ausfallen. Ich war offen und ehrlich, seid ihr es auch. Noch ist es nicht zu spät.

Das war am 9. Dezember 1953.

Irrtum, sagte Friedhelm, bloß Harry trifft keine Schuld, es sind die Verhältnisse.

Sie gingen zur Straßenbahn. Hat er mit denen abgerechnet, die die Disziplin verletzen? Oder mit denen, die an dem Zustand Schuld sind? Wenn ja, griff Matter den Zustand an, in dem er nicht bleiben wollte. Erwartete er Unterwerfung durch Einsicht? Für mich bleibt das im Zwielicht.

Ich seh nicht mal das, Hannes. Erinnerst du dich, wie das war mit Harry? Quatsch, kannst du nicht, weil du sonstwo warst, als die Panzer kamen, während wir uns bewähren durften. Harry war anwesend, ich entsinne mich bloß nicht, eigenartigerweise, dass ich ihn gesehen habe. War vielleicht auf dem Lokus.

Die Kälte kommt einem durch die Schuhsohlen, die Baskenmütze habe ich auch vergessen in dieser Dezemberluft, bei der die Wäsche reingenommen wird. Schlenkernden Schritts, Hände in den Manteltaschen sagte er das. Am Tag, als du ankamst und Pockrandt über dich herfiel, war das.

Wo Pockrandt steht, weiß ich, wo Harry steht, habe ich in seiner Abschiedsrede zu verstehen versucht, ich finde es nicht heraus. Wie denn? Nichts bleibt, wie es ist. Ich weiß nicht, auf welcher Seite er steht. Bei uns suchte er die Arbeiterseele oder hat sie gesucht, die ist nicht zu finden, höchstens bei Böckler. Ich suchte die Liebe, Arnold hat sie gefunden, da verlor er den Faden, ich bin müde. Sie sahen die Bahn davonfahren.

Harry drehte sich wie im Gewinde. Nehmen wir mal an, dass er das Gewinde untersucht hat, in dem er sich drehte. Könnte doch sein? Er brannte sich eine Zigarette an. Harry wollte nicht mehr.

Vielleicht sollten wir einen saufen gehn.

15

Je weiter sie sich als Kollektiv, das sie nicht waren, von jenem Juni entfernten, sie kamen davon nicht los

Er zog die altmodischen Fenstervorhänge zu, sah den Brief liegen, hörte Wolfram über den Flur tappen.

Ruth hatte geschrieben. »Ich habe Deinen Brief erhalten und danke Dir für Deine Offenheit und Ehrlichkeit. Mit den gleichen Voraussetzungen will ich Dir antworten. Dass Du so enttäuscht bist über unsere Freundschaft, tut mir leid, aber es geht nicht anders. Ich kann eben nicht unehrlich gegen meine Empfindungen sein und möchte Dich doch bitten, mir nicht böse zu sein, wenn ich unsere Beziehungen abbreche. Entschuldige bitte, daß ich am Sonntag auf dem Bahnhof ohne mich von Dir zu verabschieden fortgegangen bin, da ich doch schnell zur Bahn musste. Du weißt doch, daß wir ab 24 Uhr nicht mehr rein dürfen. Für mein schlechtes Benehmen während der Fahrt von Dresden nach Leipzig möchte ich mich entschuldigen. Es war nicht schön von mir. Deine Vermutung, daß ich Dir mißtraue, trifft nicht zu. Ich habe Dich immer als Freund geachtet und tue es auch jetzt noch. Deine Neckereien habe ich nicht übel genommen, da kannst Du beruhigt sein. Sei mir bitte nicht böse, daß ich Dir diese Enttäuschung bereiten musste. Meine Briefe und Bilder kannst Du gerne behalten. Ich möchte, daß Du nicht schlecht von mir denkst. Meine Freundschaft zu Dir war ehrlich. Viele Grüße Ruth Jansen.«

Den Brief hatte er Friedhelm zu lesen gegeben. Wirklich verbunden waren wir nicht. Viel Schreiberei, wenig Küsse, sagte Friedhelm dazu. Die ist schon Frau, wie sie schreibt, die will was Festes, nicht bloß Gedachtes. Im Unterricht wars, da saß er mit hängenden Schultern auf seinem Platz, als er das sagte, wartete auf die Pause und dachte an wer weiß wen.

Den ockerfarbnen Mond sah er im Fenster cremig weiß. Mich fröstelt. Die Straßenbeauftragte wollte sich um die Feuerung kümmern. Die Kohlen auf Gutschein werden Sie vielleicht noch bekommen. Wenns schlimm kommt, sagte Frau Wolfram, halten Sie sich bei uns auf.

Du könntest dunkle Handtücher gebrauchen, schrieb Vater, ich brauche auch welche. Geh durch die Warenhäuser und gib Bescheid, wenn du dunkle Handtücher erspähst.

Die Milch säuert. Den Gaskocher könnte ich benutzen, wenn ich Wolframs frage. Irina fiel ihm ein. Der irre Streit. Harry ist fertig, ich auch, bloß andersrum. Eins kommt zum andern, wenn man nicht einschläft.

Auf das Plüschsofa, das mit den hohen Seitenlehnen, hatte er sich hingehangen, die Beine über die Plüschwulst der Seitenlehne, er döste, ging die Versammlungsgesichter durch.

Harry macht zu viel Wesens um die Arbeiter. Regina trug den blauen Pullover, den sie liebte. Er dachte an Klaus Grimm, die Roschkampfbahn, wenn hinter Stehern die letzte Runde eingeläutet wurde. Die Frau mit dem Seghersgesicht hatte seine Nachbewilligung unterstützt. Willi Tschiedert heftete seine vor Begeisterung brennenden Augen an einen Text und warf dichtes schwarzbraunes Haar aus dem Gesicht. Sein Lachen dröhnte. Der Unterrichtstag im Juni, an dem er mit den Worten seines akademischen Lehrers abtauchte, geriet fast in Vergessenheit. Die überschlanke Ellen Recknagel kam ihm in den Sinn, die im Haus der DSF, der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft am Dittrichring, über die großen Russen sprach, die Weltliteratur, die großen Amerikaner. Rolf Recknagel suchte nach B. Traven.

Harry Matters Platz blieb leer.

Der Vorhang, den Harry lüftete, hob sich nicht mehr. Der Juni war die Lektion. Was hatte Sinn? Was war sinnlos? Die Bibliothekarschule hieß jetzt Erich-Weinert-Schule. Die neue Schulordnung war am 14. Oktober 1953 erlassen worden. Verlust des Fachschülerausweises war spätestens innerhalb von 24 Stunden der Schulleitung schriftlich zu melden. Jede Verfälschung, missbräuchliche Überlassung oder unrechtmäßige Benutzung kann eine Schulstrafe nach sich ziehn. Die Eingänge zur Schule sind in der Rathenaustraße zu benutzen. Der Pförtner öffnet eine halbe Stunde vor Beginn des Unterrichts den stadtwärts gelegenen Zugang. »Ich weiß, dass ich verpflichtet bin, die Schulordnung einzuhalten.«

Die SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) übernahm die Direktorenräume, die FDJ (Freie Deutsche Jugend) das »SED-Zimmer«, der Direktor das »FDJ-Zimmer«, Frau Trautmann das Dozentenzimmer, die Wirtschaftsleitung den Tischtennisraum.

In diesem Umzug steckte der zweite heiße Juni. Beim ersten waren die Russen mit den Deckelmützen gekommen und die Muschkoten mit Käppis, Stiefeln, Stoffbeuteln.

Zeichen blieben.

Als der Vorkurs anfing, sagte Irina, waren die Klassen schon geteilt, aber wir redeten ohne Wandzeitung. Jetzt haben wir die Wandzeitung; du wirst angegriffen und musst dich verteidigen. Darin besteht die Kollektivbildung. Friedhelm in einer der Großen Pausen sagte aus dem Anlass, mir gehen die Wahlverwandtschaften durch den Kopf. Du wirst mit der Pflichtlektüre vielleicht nicht so weit sein, Hannes, ich habe zügig weitergelesen, wegen dieser Beziehungen, in denen sich die Paare bewegen. Er bewunderte, wie Goe­the die Schicksale der Frauen ineinander gedreht, ja verschlungen hatte, das sagte er ohne jede Beimischung von Sarkasmus, auf die man bei ihm immer gefasst sein musste. Was dort passiert, dass man sich öffnet, findet bei uns, ich meine in unsrer Klasse unter den Werktätigen, so weit gehe ich, nicht statt. Wenn du die Stelle im 13. Kapitel gefunden hast, diskutieren wir. Das war die Stelle. »Völlig fremde und gegeneinander gleichgültige Menschen, wenn sie eine Zeitlang zusammenleben, kehren ihr Inneres wechselseitig heraus, und es muß eine gewisse Vertraulichkeit entstehen. Um so mehr läßt sich erwarten, daß unsern beiden Freunden, indem sie wieder nebeneinander wohnten, täglich und stündlich zusammen umgingen, gegenseitig nichts verborgen blieb. Sie wiederholten das Andenken ihrer früheren Zustände, und der Major verhehlte nicht, daß Charlotte Eduarden, als er von Reisen zurückgekommen, Ottilien zugedacht, daß sie ihm das schöne Kind in der Folge zu vermählen gemeint habe.«

Könnten wir beide das nicht sein? Eher nicht. In der Klasse nicht.

Wir hocken aufeinander und gehen doch auf Tauchstation. Ich les in die Stelle vielleicht zu viel rein. Es geht um das Freundespaar. Rudi und Pockrandt, wenn sie Partei spielen, könnten so ein Paar sein, doch schon bei denen gibt es eine Grenze, davon bin ich überzeugt. Der Dicke verrät nicht, wo sein Ausweis geblieben ist, und Rudi weiß von nichts. Du dagegen solltest ihnen am Siebzehnten alles sagen. Quer durch die Klasse lässt keiner die Hülle fallen, das Hemd gleich gar nicht. Deshalb findet Ehrlichkeit nicht statt.

Die Fragebogen-Antworten standen auf dem Zettel, die Vater mit ihm durchgesprochen hatte. Junge, dabei bleibst du, wie ich in Gefangenschaft, wenn sie mich in das Holzgehäuse reinstellten, nichts zum Sitzen, bloß um jemand reinzustellen, bis man zur Vernehmung rausgeholt wurde. Immer dieselbe Antwort geben. Geschlagen haben mich die Russen nicht, bloß gedroht.

Den Direktor sahen sie mit dem Gewehr zum Schießstand laufen. Du könntest in Gesellschaftskunde diese Stelle aus den Wahlverwandtschaften anbringen, Friedhelm. Der trat die Kippe aus. Bin doch nicht dämlich. Sie hörten Kleinkaliber. In der Großen Pause und nach dem Unterricht durfte geschossen werden.

Stundenklingeln. Heise gab Chemie. Engländer hatten sein Flugzeug abgeschossen. Beim Gehen knarrten die Prothesen. Deswegen blieb er am Pult stehn, groß war er, kräftig. Auf dem umgedrehten Stuhl, den sie ihm hinstellten, auf der Lehne, legte er das Gesäß ab.

Je weiter sie sich als Kollektiv, das sie nicht waren, von jenem Juni entfernten, sie kamen davon nicht los. Der Tag ging mit. Der Gruppenname erinnerte daran, die Hausordnung, der Ausweis, der trockne Knall am Schießstand, das Türschild, auf dem Zeugnis der Name, der Briefkopf, das Türschild, seit sich die Schule nach Erich Weinert benannt hatte. Den Namen Loest hatten sie abgelegt.

An Brigittas Stelle war Harry getreten. Im Kopf hatten die Panzer gestanden, in jedem Kopf, und jetzt war Hannes der Sekretär, den sie wählten.

Harry hatte an das Gute appelliert. Es hatte sich ihm nicht gezeigt. Wenigstens nicht ausreichend, vielleicht gar nicht. Die schweren Panzer hatten an der Elsterbrücke gestanden. Pockrandt zermürbte Harry Matter, als er die Klasse in feindliche Gruppierungen zerlegte. Eine Gemeinschaft von Arbeiterkindern, die zum Bewusstsein ihrer selbst gelangten, hatte Harry nicht gefunden. In der Arbeitszeit durfte nicht mehr Tischtennis gespielt werden. Das hatte die Verwaltungsleitung durchgesetzt. Ekelhaft diese Schmetterbälle.

Wolfgang Böckler hüpfte zur Wandzeitung und las, was Johannes mitzuteilen hatte: »Muß man immer schwatzen? Die Leitung möchte hiermit nochmals den Jugendfreund Klaus Pockrandt auffordern, mittwochs den Russisch-Unterricht für Anfänger zu besuchen. Dieser Russisch-Unterricht ist regulärer Unterricht und nicht etwa außerhalb unserer Schulzeit. Es geht nicht, daß man direkt Unterrichtsstunden schwänzt, nur weil demjenigen der Dozent oder etwas anderes nicht behagt. Wenn Klaus zum nächsten Unterrichtstag wieder nicht erscheint (Januar 54) dann werden wir die Schulleitung davon in Kenntnis setzen. Johannes, Sekretär, 17. 12. 1953.«

Kannst in Russisch nicht einfach zu Hause bleiben. So geit dat nöch. Johannes kam dazu, Rudi wechselte das Thema. Die Genossen waren zerstritten. »Gleiches trifft auf den obligatorischen Sportunterricht zu, zu dem Klaus z. B. gestern wieder nicht erschien. Ich erwarte eine Stellungnahme. Hans Joachim.«

Klaus erkrankte. Im Januar räumte er den Fehler ein. »Fehlen, ob unentschuldigt oder ›entschuldigt‹, ist auf jeden Fall falsch. In dieser Frage bin ich einer Meinung mit der Gruppenleitung. Doch da wir uns einmal dieser Frage zugewandt haben, sollte man auch die fadenscheinigen konstruierten Entschuldigungen einiger Freunde, die dem Russischunterricht auch fernbleiben, vonseiten der Leitung überprüfen. Der Satz, daß ich selbstkritisch meinen Fehler einsehe, würde hier wohl etwas abgeschmackt wirken. Klaus P.«

Sie bezogen die Schulbaracke, saßen nicht mehr zwischen schiefen Wänden. Alle waren erwählt, den neuen Menschen hervorzubringen, nicht bloß die Arbeiterkinder.

Sie redeten über Fasching. Du gehst als Korsar, schlug Friedhelm vor, das steht dir. Sie möchte die Jugend mal beim Fasching sehn, schrieb Mutter und berichtete, dass der Schneepflug nicht kam und von Jürgens weitem Schulweg. Als Sitzenbleiber muss er neue Freunde finden. An den Straßenrändern Schneemauern. »Du hättest mit uns, lieber Junge, heute Mittagessen sollen, Leber, Kartoffelmus, Pflaumen. Will zum Wochenende waschen, und Du schickst bitte sofort schmutzige Wäsche ab, alles, zehn Pfund ungefähr.« Immer drehte es sich ums Waschen. »Mit Postkarte, bitte, damit ich nachfragen kann, denn Wäsche ist kostbar.«

Auf der Faschingseinladung eine lodernde Flamme.

Monatsplan und Wettbewerb. Termine und Verantwortlichkeiten: 4. Februar Funktionärssitzung. 7. Februar Heimfahrtstag. 20. Fasching. 26. Aufbaueinsatz. 28. Jugendgesetz. Fünfter März Stalinfeier. Friedhelm verzog den Mund. Irina mit hochgezogenen Augenbrauen. Stalin. Bloß keine Diskussion anfangen, aber Gertraude meldete sich, die nahm zum Glück den Arm gleich wieder runter.

Für den Theaterbesuch erwarte ich drei Vorschläge von der Kultur. Ich denke, dass alle mitgehn.

Irina drehte sich um. Warum alle, Brigitta? Immer hundert Prozent. Dann eben nicht.

Über den Termin der Gruppenversammlung konnten sie sich nicht einigen. Gabs bei mir nie, maulte Pockrandt. Als Jochen sagte, war mal, warf er den Kopf in den Nacken.

Zum Tagesordnungspunkt 2, Wettbewerb. Bei Friedhelm die Andeutung eines Grinsens. Den Wettbewerb führte Walter. Döring hatte in der Wettbewerbsführung nichts zustandegebracht. Wills nochmal versuchen. Denkst du, das funktioniert, Walter? Ich kann das Punktesystem nicht verbessern. Lass den Wettbewerb laufen, wie er läuft, meinte Friedhelm. Klappt er nicht, beschließen wir, dass wir ihn verbessern, oder die Sache hat ein andrer am Halse, oder wir sind weg von der Schule.

Verstehe, sagte Walter, bloß hängts jetzt an mir.

Gibt Schlimmres. Du lässt dir melden, zählst die Punkte zusammen, vielleicht stirbt er von selber der Wettbewerb. Erst mal stirbt er über mir, Friedhelm. Walter steckte sich ein Stück Würfelzucker in den Mund. Gibt Kraft. Lasst mich bloß nicht sitzen mit dem Wettbewerb.

Es gab Pluspunkte für Agit-Einsätze, Leseabende, Buchbesprechungen. Regina, die an ihrem Halskettchen spielte, war Sportfunktionär. Agit-Einsätze sind an Friedhelm zu melden. Zettel genügt. Der Wettbewerbssieger fährt kostenlos zum Deutschland­treffen. Irina: Wenn der nicht will, auch?

Die Versammlung wäre zu Ende gewesen, als Friedhelm einwarf, er sei nicht einverstanden, dass Agit, die Hausagitation war gemeint, bei der sie zu Dritt anmarschierten, bloß einen Punkt bringen würde. Er nannte das seine Tournee. Ich mache Ernst, Jugendfreunde, rief er, er verteilte die sechs Häuser der Georg-Schwarz-Straße. Einsatzbericht geht ans Aufklärungslokal der Nationalen Front, Karl-Liebknecht-Platz.

Waltraud hing die Punkteübersicht an die Wandzeitung. Die quatschen einem nach dem Munde oder sagen nichts, nörgelte Inka. Rudi las, die Zigarettenschachtel in der Hand, dass das Leistungsabzeichen Sport Gold fünfzehn Punkte brachte. Hast du dich beim Aufbaueinsatz geschunden, dir Kleidung besorgt, dich umgezogen, geschippt, geschwitzt, gefroren, die Stube halb kalt und stehst vor der Waschschüssel, geben sie dir einen Punkt. Den gabs auch für die Lesestunde. Trabst hin zum Lesen, denken die sich, liest was vor, fertig. Die spinnen, wenn das bleibt, wars meine letzte, sagte Renate Großmann. Die Pionierleitertätigkeit bringt fünf Punkte.

Orden bringen das meiste, meinte Friedhelm. Die Partei wird das ändern, versprach Rudi Gernitz.

Alles Unfug! Nichts geschah.

16

Und du, Hannes? Du möchtest studieren. Den Pockrandt wirst du nicht los, das weißt du

Kein Drängen in der Erde, Schnee, und auch noch Fasching. Dieses Gedrängel am Einlass der Apothekenschule, an der Ruth Jansen Schülerin war. Du gehst mit, Hannes, entschied Friedhelm. Diese Blicke, das Aufeinanderlosgehn, als die Musik anfing. Friedhelm genoss es. Die Weiber wollen das. Man fand sich, knutschte, klebte aneinander, anfangs in dunklen Ecken, später bei Licht. Unter einer von den Maskeraden steckt Ruth, war vielleicht das Nasengesicht, das ihn anlachte. Mädchen, die sich nicht zierten. Die Lust regierte.

Er vermutete sie hinter jeder Maske, in jeder Pose, bis ihn diese maskierte Offenheit ankotzte und er weglief. Erst in der Straßenbahn riss er sich die schwarze Pappbrille ab, die Korsarenmütze.

Friedhelm war geblieben, entschuldigte sich für früh. Ich kann dir gar nicht sagen, wie geil die war mit den wasserblauen Augen, die Blonde. Übermüdet unter den Augen, Haut knittrig, und vielleicht hing ihm noch Puder im Gesicht. Die Mütze war plötzlich weg, ich dachte, das Schiff, das du geentert hast, liegt im Hafen.

In der Großen Pause spazierten sie durch den Park. Sie erinnerten sich an den Klassenraum, der die schiefen Wände hatte, zwischen denen Harry die Welt geraderücken wollte. Matter hatte Züge von einem Missionar; der dir eine Welt zusammenbaut und glaubt, er hat dazu den Schlüssel, sagte Friedhelm.

Endlich Tauwetter. Vom Barackendach tropfte es, die Tropfenabstände werden kürzer.

Der Frühling.

Wir haben überwintert

Ein wenig besser als die junge Saat

Auf hartgefrornem Feld.

Nun taut der Schnee.

Bissel konventionell, sonst nicht schlecht, stand mit grüner Füllertinte auf dem Zettel, den Hannes auseinanderrollte.

Den Brief nach Westdeutschland, wer schreibt den? Du, Gertraude? Nein, bitte nicht, ich habe mich gemeldet, weil ich gegen eine Stalinfeier bin.

Rudi entgeistert. Irina überrascht. Böckler guckte zu Rudi, und Klaus Pockrandt hatte plötzlich was Lauerndes im Gesicht.

Ich bin dafür, schlug Gertraude vor, dass wir statt der Feierstunde das Denkmal aufsuchen. Soll ich schwarz erscheinen?

Zwinkerte sie ihm zu? Ich sehe sie zweifach, ganz hinten als die, die sich die Ringelsöckchen hochzog, als ich an die Schule kam.

Jugendfreunde, wir legen was nieder, schlug Rudi vor, eine Klasse wie unsre kann den Todestag nicht vorbeigehn lassen.

Irina, welches Denkmal? rief Annelies.

Gibt’s denn zweie? Wenns zweie gibt, wird das große genommen, in der Innenstadt das, entschied Gertraude.

Die Gebinde, die Blumen, die Kränze mit den totenfarbnen Kunstblumen waren vom Schnee ziemlich bedeckt. Stalin findest du, hatte Regina gesagt, wenn du vom Kroch-Hochhaus aus der Passage kommst, einen Arm hat er vor der Brust, der andre hängt.

Auf Stalin liegt Schnee, behauptete Gertraude. Annelies hat keinen Schnee entdeckt. Habt eben nicht richtig hingeguckt.

Auch Stalin, zu dem sie gehen wollten, war eine von diesen Wiederholungen, an die sie sich gewöhnten. Schnee lag, und manchmal waren selbst die Straßenbahnen nicht mehr zu hören vor lauter spätem Schnee, der bis in die Zeit der Frühjahrsmesse hinein liegen blieb. Die Straßenbahnen fuhren wie auf Watte, bloß ziemlich grau war die.

Am Hauptbahnhof begegnete er noch einmal Ruth. Hast dich verändert. Ich mich auch. Es täte ihr leid, sie gehöre einem anderen, sagte sie verlegen. Weil der neue Mensch, mag sie gedacht haben, hinter deinen Büchern aufragt.

Er behielt diesen Frühling, der über ihn hereingebrochen war, in Erinnerung. Regina brachte Narzissen. Die schlammgelben Wege von der Schulbaracke bis zur Essenausgabe waren von Märzenbechern gesäumt. Krokusse schossen hervor, blaue Keile, gelbe.

Friedhelm wischte mit der Hand über die Tasten, als läge Staub drauf. Schön, wenn niemand hereingestürmt kommt. Sie redeten, und Friedhelm sagte: Mal wird es vielleicht kommen, das Erden­paradies, auf das du wartest, wenns gerecht zugeht auf der Welt, wenn nicht so, dann eben anders. Ich rechne damit, dass es nicht funktioniert. Wie denn? Den Himmel auf Erden wollten schon viele. »Wir wollen und werden erkämpfen den Himmel auf Erden.«

Stell dir vor, der Zettel, auf dem das steht, steckt hinterm Spiegel. Den vergiss, und wenn du ihn wiederfindest, bist du entweder im Himmel auf Erden, oder die Zeit hat dich widerlegt.

Du lachst? Ich lache nicht. Wieso soll einer lachen, Hannes, weil jemand hofft?

Nein, wir werden uns treffen, vielleicht im Leutzscher Holz bei himmlischer Wärme auf einer Parkbank, und wenn du fragst, wo­ran ich denke, werde ich sagen, ans Paradies, an Schlachten, die wir glücklich gewonnen haben, und mir eine Zigarette anbrennen.

Dummes Zeug! Ich verblöde. Er fingerte eine letzte Zigarette aus der Packung. Andersrum wird’s sein. Eichler verzieht sich in eine stille Bibliothek, wo lauter neue Menschen leben, in der Hoffnung, sie merken nicht, dass ich keiner bin. Sind die Prüfungen bestanden, gehe ich in die Bücherei zurück, leihe aus, lese, werde Lesungen veranstalten, solange es gute Bücher gibt, mich vergraben, hoffen, sie merken es nicht, und wenn, setze ich mich auf den Zug.

Und du, Hannes? Du möchtest studieren?

Den Pockrandt wirst du nicht los, das weißt du.

17

Hausversammlung. Der Genosse mit Stock und steifem Bein sagt: Ein Bericht ist besser als keiner. Pfingsttreffen

Hausversammlung Georg-Schwarz-Straße hundertvierundzwanzig. In der Küche einer Wohnung die stumme Runde der Frauen. Der Genosse mit Stock und steifem Bein sagte zu den Agitatoren, wenn die Zeit rum ist, geht Ihr.

Wenns so leicht wäre, wegzugehn. Der Krieg hat euch bloß gestreift. Eine Frau nickte. Ihr habt Ahnung! Bevor du sterben darfst, musst du leiden, so ähnlich drückte sich der Mann aus, und die Frau hatte Tränen im Blick. Friedhelm rieb sich die Augen. Den Bericht brauche ich, selbst wenn nichts los war, der muss zum Karl-Liebknecht-Platz. Der dort sitzt, sagt, ein Bericht ist besser als keiner.

Und Ihr wollt eine Welt erobern?

Hausversammlung ist bei Meier,

Zweimal klingeln eine Treppe oben.

Wieder tönt zu uns die alte Leier.

Nun werden wir en gros erzogen.

Und der Agitator spricht

Sich die papiernen Lippen wund.

Mit gedachten Größen ficht

Er gegen unsre stumme Rund.

Hausversammlung ist bei Meier,

Und die Überzeugungsplatte kreist,

Lauter wird der heisre Schreier,

Seine Hand auf uns, die Masse, weist.

Denn in deinen Rechnerein,

Sollen wir die Nullen sein.

»Hausversammlung« gelungen, aber Fragment, Friedhelm, hatte der in der Schule mit seiner grünen Füllertinte an den Rand geschrieben. Bei uns gings, sagte er beim nächsten Mal, ich unterhalte die Leute, bis die Zeit rum ist. Eine Frau hatte gefragt: Kommen Sie wieder? Nächste Woche. Ich will Sie nicht erschrecken, war Spaß. Die hatten nichts dagegen. Viele sind einsam. Junge waren nicht dabei. Wäre mir aufgefallen.

Es dauerte noch Wochen, bis die Wärme draußen Farbe in die Blüten trieb, Pfingstrosen ihre Blütenköpfe neigten, weiße, rote, und der Rittersporn wie eine wasserblaue Fontäne über den Gartenzaun langen wird.

Blau wie die Wandzeitung war der Himmel unter der blauen Fahne mit der aufgehenden Sonne. Die Jugend wird zum Pfingsttreffen aufmarschieren. Aufziehen nannte das Rudi. Friedhelm warf einen Blick auf die Wandzeitung. Die Delegierung der Klasse war beschlossen. Uns hinzuschicken, als Auszeichnung, ist für die Leitung am einfachsten. Da musst du keinen überzeugen. Ich nehm dir nicht übel, was du sagen wirst, Johannes.

Der Gruppensekretär hatte die Delegierung zu erläutern. Wir müssen uns darüber klar sein, liebe Freunde, dass der Beschluss der Zentralen Schulgruppenleitung, unsere Klasse zum II. Deutschlandtreffen vollzählig zu delegieren, uns anerkennt. Wenn zwingende familiäre Gründe vorliegen, nicht hinzufahren, werden sie selbstverständlich berücksichtigt. Bei begründeten Geldschwierigkeiten wird die ZSGL, die Zentrale Schulgruppenleitung, die Teilnahme ermöglichen. Funktionnärssitzungen waren am 10. Juni und die Auswertung zum Deutschlandtreffen am 24. Juni. Ohne Termin Theaterbesuch (Irina), Kinobesuch. Wettschwimmen übernimmt Klaus Grimm. Das Sportfest bereiten Regina und Joachim vor. Nach der Prüfung Abschlussfeier.

An der Wandzeitung hing Pockrandts jüngste Stellungnahme. »Aus der Selbsteinschätzung heraus bin ich der Meinung, daß ich die Zwischenprüfung kaum bestehen werde. In dieser Lage ist es mir nicht möglich, die Bibliographie der Neuerscheinungen für Mai zusammenzustellen. Um einen Beitrag zur Vorbereitung des II. Deutschlandtreffens zu leisten sowie zur Überprüfung unseres gesellschaftswissenschaftlichen Wissens, möchte ich den Freunden« – rot unterstrichen – »die Bildung eines Zirkels zur Vorbereitung auf die Prüfung für das Abzeichen ›Für Gutes Wissen‹ in Silber vorschlagen. Dieser Gutes-Wissen-Zirkel zur Unterstützung Eures Selbststudiums wird vierzehntägig zusammentreten, eine Stunde Lektion, die zweite Konsultation.« – Absatz. – »Zwei Freunde haben sich erboten, Lektionen zu halten, Rudi Gernitz: Die Entwicklung der Philosophie, Klaus Pockrandt: Die Entwicklung der Kultur. Der Zirkel wird seine Arbeit im Mai 54 abschließen. Euch wird nicht Zeit geraubt, sondern Wissen gegeben. K. Pockrandt.«

Acht Wochen war das her. Rudi hatte die erste Lektion gehalten und kein Ende gefunden, Pockrandt seitdem mit einem Ausdruck von Ermüdung, den er nicht los wurde. Rudis Gesicht war kantiger geworden. So stelle ich mir dich als Panzerfahrer vor, sagte Friedhelm, im Vorkurs sahst du voller aus. Du auch. Ich weiß, wo ichs verloren hab, angefuttert in meiner Bücherei bei Frauen, die mir Mutter waren – sie lachten beide.

Bin ferienreif, Hannes, und in Versorgungsschwierigkeiten, ich hab zwar noch Marken, wie die langen sollen, weiß ich nicht.

Johannes schrieb nach Hause: »Von den Eiern sind sechs Stück übrig, als letzte Reserve, wenn ich abgebrannt bin, könnt Ihr was schicken? Gesundheitlich bin ich noch auf der Höhe. Unbedingt lesen: Oskar Maria Graf, Wir sind Gefangene und Unruhe um einen Friedfertigen. Wir sind wie gehetztes Wild. Jeden Nachmittag ist was los, ich als Sekretär, außer der Schularbeit, erleichtere mir trotzdem vieles. Morgen und übermorgen Abzeichenprüfung. Mit dem Wissensabzeichen sollen wir aufmarschieren, an den Füßen Bundschuhe, die sind versprochen, die Verpflegungsbeutel auch, am besten zwei Stück. Von Nachmittag bis 20.30 Uhr habe ich Dienst in der Schießbude auf der Kleinmesse fürs Deutschlandtreffen. Nach Berlin fahre ich nun mit, halb gezwungen. Nach dem Treffen Fachschulsportfest. Man kommt von diesem verfluchten Karussell nicht runter. Die nächste Karte kommt aus Berlin.« Nachsatz: »Donnerstag! Drei Kreuze«. Ausrufzeichen. Weil da Schluss war.

Im Güterzug bleierne Müdigkeit. Anhalten, anfahren, halten. Endlich aussteigen. Sie warteten auf einem grauen endlos langen Bahnsteig. Von dort in die S-Bahn. Antreten in Marschkolonne. Schritt halten. Aufmarsch vom Alexanderplatz zum Brandenburger Tor, eingefügt wie der Bolzen in einer Verriegelung. Regina marschierte weiter hinten, mit ihr Hans Joachim.

Propagandamarsch hieß das früher, sagte Friedhelm, der die Baskenmütze aufgesetzt hatte, die ließ er sich nicht nehmen. Den Verpflegungsbeutel mit den harten Würsten hatte er sich zweimal geben lassen. Die Bundschuhe drückten nicht. Keine Blasen. Es konnte nicht besser kommen. Raus zum Stadion Mitte oder zum Friedrichstadtpalast? Da hatte sich Friedhelm schon eine Jugendfreundin angelacht.

Johannes fuhr bis zur Rennbahn Karlshorst über Ostkreuz. Schnelles Fahren. Solches Sausen. Schienenstöße. Haltepunkte. Im Treptower Park ragte die riesenhafte Figur auf, der Soldat mit dem Kind auf dem Arm und dem zertretenen Hakenkreuz unter den Füßen.

Gräberreihen! Steinberge. Vielleicht von Hitlers Reichskanzlei! Die Sektorengrenze eine rote Pünktchenlinie auf der Übersichtskarte, die hatte jeder mit dem Teilnehmerausweis bekommen.

Abtauchen in die U-Bahn. Am Bahnhof Gesundbrunnen war er ausgestiegen. Im Gewühl auf dem Bahnsteig Gertraude Schubert. Keine Pünktchenlinie, kein roter Strich, dafür Schaufenster, bunte Zeitungen.

Der Ostsektor gehörte der Jugend. Erinnert mich an was, sagte Friedhelm zu einem, der ihm Kekse und Drops auf den Strohsack legte. Pfundskerl! Die weisen uns die Falle gleich zu, den Schlafplatz.

Der mit der FDJ-Bluse fragte, warum trägst du keine? Weil ich schon in Jungenschaftsbluse rumgezogen bin. Da guckte er vielleicht. Das hast du ihm gesagt? Natürlich nicht. Friedhelm lachte, bloß gedacht. Wenn ich höre, Geländebeschreibung, Sonderzüge, Massenquartier, alles schon dagewesen, Fresspakete, Bodendurchgang. Der das sagte, wollte eine große Nummer sein, Verpflegungsstellenleiter, uns in die »Falle« scheuchen, denkste! Eichler kommt gar nicht. Nie der letzte sein. Was glaubst du, was für Bilder vor meinen Augen aufsteigen, in meiner Altersgruppe. Alle haben die Bilder im Kopf. Leute, die Arme hochreißen, gegen die Absperrung drängen, jubeln. Diese besoffenen Augen. Meine hab ich nicht gesehn.

Die Mundharmonika spielte, ich saß auf meinem Strohsack, dem andern, der dazugehörte, ich übte, wenn der Stubendurchgang vorbei war. Spiel noch eins, bettelten die Kameraden.

In den Staub dieses Deutschlandtreffens waren sie eingehüllt, der sich in die Schleimhäute setzte, bei jedem Schritt auf dem Stroh bis an die Dachsparren hochwirbelte und unendlich langsam heruntersank, wie ein wallender Nebel, der sich früh in Wiesen legt.

Er hatte einen Moment die Niedern Wiesen auf Putzkau zu vor Augen. Die Sonnenstrahlen waren die Zeigefinger aus Licht, die durch Dachluken lugten, bis der Staub in den mit Wasser gefüllten Zinkwannen versank.

Kneipen halb unter der Erde. Schönes kühles Bier. Die Puschkinallee endlos. Ein blauer Strom Jugend, Kopf an Kopf. Kulturgruppen tanzten auf Holzbühnen oder sangen. Ka-linka, ka-linka, ka-li-ni-ka moja. Antreten zwischen Trümmerbergen. Ein Gewitterguss vertrieb die Truppe. Davonstürzen wie im Krieg. Bloß der Fahnenträger blieb stehn. Blitze zuckten. Friedhelm hatte sich untergestellt: Die Fahne! Die heilige Fahne!

Der Pfingsthimmel riss auf. Nasse Straßen, dampfend unterm Sonnenstich. Sechzehnerreihen! Schließt auf! Gleichschritt! Du! Ja, du! Schritt halten. Ich latsch dir sonst auf die Kappen!

Schon passiert ... Links, zwei ... Still mitzählen, Großer! Der meinte mich. Jaaa. Sooo. Prima. Klappt. Oh, wie das klappte. Die Stimme hinter Hannes: Mussten wir alle lernen.

»Abzeichen für Gutes Wissen abgelegt. Gold. Kein Grund, stolz zu sein, die üblichen Fragen«, schrieb er nach Hause.

Joachim war mit Regina viele Stunden im Friedrichstadtpalast gewesen. Die sind zusammen zurück, sagte Friedhelm, sind Hand in Hand angekommen. Du weißt, was ich dir gesagt habe, wenn ich du wäre, ich würde Regina nehmen, solange sie noch zu haben ist. Warst deiner Ruth hinterher, du Esel, die Regina war für dich wie geschaffen, die hättest du haben können. Da war das Deutschlandtreffen schon vorbei, als Friedhelm das sagte.

»Vielen Dank für Euer reichhaltiges Paket, bloß der Appetit nach Hartwurst ist mir vergangen, so viel Wurst habe ich aus Berlin mitgebracht. Beiliegend die Kartoffelkarte, dazu 1.250 Gramm Fleischmarken, 3.690 Gramm Fett, 4.875 Gramm Zucker, das blieb übrig nach der Berlinfahrt. Im Friedrichstadtpalast tanzte die berühmte Uljanowa. Das war was! Für den Zucker könntest Du was einkochen. Sonst geht es mir einigermaßen. Prüfungsfächer dieses Jahr sind: Buchkunde (technisch, geschichtlich), Deutsche Literatur der Gegenwart, Russisch = schriftlich. KPdSU, Bibliothekslehre, Geschichte der Arbeiterbewegung = mündlich. An Rhabarber habe ich mich überfressen. Ich werde ein Paket schmutzige Wäsche schicken. Den Bezugsschein für ein Arbeitshemd habe ich mir erkämpft. Wollte zur Messe als Helfer gehen, als Fahrstuhlführer, hätte aber eine Woche vor Messebeginn anfangen müssen. Am 27. schreite ich gemessenen Schrittes zur Wahl, bin mir meiner staatsbürgerlichen Pflicht und welthistorisch bedeutsamen Aufgabe bewußt.«

Von Mutter kam Post.

Aus Versehen hatte sie einen Brief mitgeschickt, der für Vater bestimmt war. Wie durchs Schlüsselloch sah er plötzlich in ein Verhältnis, bloß dass es die Eltern waren. Gewiss, Mutter hatte manches berichtet, wie sie am Hotel Gude vorbei zur Rekrutensammelstelle gegangen waren, dass Mutter Vater am Valtenberg beim Skifahren kennenlernte, dass ihr auch Alfred gefallen hatte. Manches wusste er nicht. Er entdeckte ein Verhältnis, das stattfand, über das er bisher nicht hatte nachdenken müssen. Immer hatte er die Eltern als Ganzes gesehen, bloß zeitweilig getrennt. Krieg und Gefangenschaft trennten. Diese Trennung war überwunden. Warum sie nicht mitging, als ich den Vater am Bahnhof abholte, der in dieser unförmigen Wattejacke steckte, den Gefangenenbeutel auf dem Rücken, die Frage stellte er sich heute. Als ein Ganzes sah er Adele und Erwin, den Weifaer Walter mit seiner Frau, wenn der bei der Anprobe die Stecknadeln zwischen den Lippen hielt. Bist in den Beinen zu kurz geraten, Junge, eine Idee zu kurz. Dora Adolph und der Lehrer waren ein Paar. Das Schicksal hatte es auseinandergerissen und nicht wieder zusammengefügt.

Mutter schrieb, dass sie den Schlüssel gefunden hätte, der ihr beim Melken verloren gegangen war. Hatte es um den Schlüssel Streit gegeben? »Ich kann nicht in Unfrieden leben«, schrieb sie, »ich brauche Harmonie.« Sie nannte Vater einen Verstandesmenschen. Ein bisschen Liebe gehört dazu. »Der Briefträger wird die Post gleich mitnehmen«, hatte sie in Eile geschrieben und den Urlaubsbrief an die Lützner Straße geschickt.

Jetzt wusste er, Vater hatte für sie einen Ferienplatz beim FDGB organisiert, für sie, einen Einzelplatz, den niemand haben wollte, Hintere Sächsische Schweiz, um überhaupt mal einen der kostbaren Plätze zu bekommen. In der Bäckergenossenschaft war außer ihm niemand in der Gewerkschaft. Er war die Korridore entlang gegangen, an Türschildern vorbei, an den vielen Namen. Er war wegen dem Platz durch alle möglichen Zimmerfluchten des ehemaligen Landratsamtes gelaufen und mit dem Ferienplatz zurück in die Genossenschaft zu seinen Mehlrechnungen. Wenn das die Zukunft war, sie werden daran ersticken. Der Stillstand hinter den Türen hatte für Georg etwas Mahlstromhaftes. Das Landratsamt hieß inzwischen Kreisrat, es hatte wieder Glas in den Fenstern, die Dächer waren wieder dicht, die zerschossenen Panzer vom Bahnhofsvorplatz abtransportiert, die Betriebe arbeiteten, und er hatte einen Ferienscheck ergattert.

Ich hab was für dich. Sie strahlte, bis ihr einfiel, dass Georg die Ziege nicht melken konnte. Da schickte sie ihn in den Urlaub.

Ihre letzten gemeinsamen Ferien vor dem Krieg waren im Zillertal gewesen. »Ich freue mich, dass du endlich einmal verdient ausruhen kannst, und vielleicht wirst du manchmal nicht mehr ganz so kleinlich sein, in Zukunft, gelt Vati, und mit allen guten Vorsätzen geladen zurückfahren. Man muss im Leben nicht so sehr den kleinen Unschönheiten die Rechte geben«, hing sie noch an, »weil man sich oft um manche frohe, heitere Stunde bringt, und Tage braucht es, bis das innere Gleichgewicht wieder hergestellt ist. Schön glatt geht es in keiner Familie. Es ist eben die Kunst einer Lebensgemeinschaft, die Familie harmonisch zu meistern. Wir sind ja schon über die Hälfte des Lebens geschritten.«

Mit einem Gedankenstrich brach ihr Brief ab.

Sein Betriebsessen koste inzwischen sechzig Pfennige, der Nachbar werde die Wiese hauen, vorausgesetzt das Wetter ist danach, und wenn er heimkomme, werde Hannes von Berlin zurück sein.

»Nun erhole dich recht gut, schlafe viel, gucke dir die Frauen an und sage, ob es eine ›bessere‹ gibt.«

Es war das einzige Mal, dass er in Mutters Herz so hineinsah.

Das Bezirkssportfest der Fachschulen war vorbei. Hannes hatte für den Speerwurf Ehrenburgs Sturm überreicht bekommen, einen Tausendseitenroman. Der Weltrekord, den ein Amerikaner warf, war doppelt so weit. Ferienhelfertätigkeit in Prerow schloss sich an, die im Regen versank. Der Strand menschenleer, weiße Kämme auf den Wellen, der Himmel grau, und in diesem Grau schienen sich Himmel und Wasser aufeinanderzuzubewegen. Regenschauer rauschten auf die großen grauen Zelte, wie Friedhelm sie von früher kannte.

Die neue Zeit hatte begonnen, und die vielen Kinder, die in die Lagerbücherei drängten, gehörten dazu.

»Eine zweite Belegung möchte ich nicht bleiben, trotz reichlich Essen und Kultur. Es gibt was, das wertvoller ist und von mir höher eingeschätzt wird. Ich habe den Einsatz und das Lagerleben Klein-Canossa genannt und mir den Mund verbrannt. Was man friederizianische Zucht und und und genannt hat, da rein will man die Kinder pressen. In Teillager I, in dem ich liege, sind dreihundert westdeutsche Kinder aus Kiel und Waldorf (Hessen). Als Bibliothekare sind wir sogar Mitglied der Lagerleitung. Weshalb ich schreibe, der Straßenvertrauensmann in Leipzig gab mir die G-Abmeldung und die Julikarte mit. Die hätte dort bleiben müssen. Abgeschnitten wird, was ich in Gemeinschaftsverpflegung hier verbrauche. Deshalb schicke ich die Julikarte, und wenn ich am dreißigsten abgefahren bin, werde ich beim Straßenvertrauensmann die Augustkarte vorlegen. Er schneidet dann ab, was ich im Juli zuviel erhalten habe. Stipendium habe ich bekommen.«

So endete dieser Sommer.

18

Sie stellen den Antrag wegen der Sonderreife, sagte der Stellvertreter des Prorektors. Wenn Sie die Prüfung erfolgreich abgelegt haben, steht einem Studium nichts mehr im Wege

September. Der erste Unterrichtstag. Die Baracke ungelüftet. Niemand fehlte. Rudi schweigsam. Klaus Pockrandt ließ durchblicken, dass er beim Pionierlagereinsatz eine Riesenverantwortung getragen hatte. Böckler fragte: Warst wie ich Parteisekretär? Klaus war mehr, Lagerleiter.

Unser Lagerleiter war schrecklich, berichtete Regina. Wenn die Helfer-Hausfrauen, alles Muttis bester Qualität, und die prima Wirtschaftsleiterin nicht gewesen wären, ich hätte nicht durchgehalten. Wie sollst du so eine Bande in Schach halten, sechs Wochen, sechzig Jungen und Mädchen, bei dieser Schlechtwetterperiode, der Ziegenpeter-Quarantäne, nicht mal durchs Dorf durften wir, na, für die Kinder wars trotzdem schön. In der Heidecksburg sind wir in großen Filzpantoffeln übers blitzblanke Parkett in die Gemäldegalerie gerutscht. Quarantäne war bei uns auch, sagte Waltraud, meine Kinder haben manchen sehnenden Blick auf das von der Sonne beschienene Jena geworfen. War ich mit den Eltern, sagte Friedhelm, lange her, immer noch schön.

Waltraud hatte einen Sängerwettstreit gegen die Langeweile veranstaltet, einen wie auf der Wartburg, wie bei Richard Wagner. Wer sich berufen fühlte, dichtete.

Mich seht ihr nach der Schule in einer Kinderbibliothek. Freihand, reizt mich, meinte Regina. Besucht haben wir keine, wegen Quarantäne, den Kindern hätte ich die Freihand liebendgern gezeigt.

Ich war leider krank, meinte Walter. Niemand fragte. Nicht bloß Waltraud hielt ihn für einen Drückeberger.

Irina spitz wie immer: Mir scheint, ihr seid bloß im Lager gewesen, war denn sonst gar nichts?

Friedhelm angelte eine Zigarette aus der Brusttasche. Den Glimmstengel steckte er Johannes hinters Ohr. Deutsche Literatur.Bei Zschiedert. Der sah Johannes an. Nichts, sagte er zu Zschiedert, was Friedhelm bemerkte. Da war was, mag er gedacht haben.

So vergingen die Wochen.

Waltraud begann eine Auseinandersetzung mit Walter Döring und die Zeit lief wieder schneller. Ich verliere einfach die Geduld, sagte sie in der Gruppenversammlung. Seit Wochen haben wir einen Aufbaueinsatz vorgesehen, sie zeigte zur Wandzeitung, unzählige Male haben wir dich erinnert, dass du dich um die Aufbaueinsätze zu kümmern hast. Dich ließ alles ungerührt.

Walter sah Waltraud an, senkte den Blick.

Kümmerst dich um nichts. Schon lange kann dir Regine aus unserer Nachbarklasse sagen, wo wir den Aufbaueinsatz ableisten können. Ich frage dich, soll deine grenzenlose Bummelei so weiter gehen?

Irina saß unbeweglich.

Ich bitte Walter um eine mündliche Stellungnahme, entschied Johannes. Jetzt gleich oder schriftlich, fragte Waltraud. Rudi verlangte, dass wir das jetzt klären.

Ob mich das ungerührt lässt, kannst du nicht beurteilen, fing Walter an. Vielleicht war er nahe dran zu sagen, was sollen diese Einsätze!? Ihr könnt kaum die Schaufel heben, alles Augenauswischerei, Punktesammeln. Ich hänge was an die Wandzeitung.

Wann?

Morgen.

Margot Roebke meldete sich. Beschlüsse werden gefasst, damit sie nicht erfüllt werden. Dem Grundsatz scheinen auch andre zu huldigen, nicht bloß Walter. Handheben und Ja-Sagen fällt keinem schwer, und Skat spielen ist bestimmt angenehmer als Vokabeln lernen. Sie fasste Böckler ins Auge, die ganze Truppe, als sie sagte: Vielleicht habt ihr es auch nicht nötig?!

Manche Leute sind über derartige Kleinigkeiten erhaben. Vielleicht könnt ihr zugunsten des Französischen noch eine Stunde in der Woche opfern? schlug Hans Joachim vor.

Rudi zeigte Bereitschaft.

Ein neues Schuljahr hatte begonnen. Das Herbstsportfest 1954 der Bibliothekarschule »Erich Weinert« folgte. Johannes siegte im Kugelstoß der männlichen Jugend. Die Urkunde zeigte mit nacktem Oberkörper einen jungen Mann, in den Händen Eichenlaub. Regina organisierte das Herbstsportfest. Die Weiten eintragen an der Weitsprunggrube, machst du für mich? Jochen nimmt Zeit bei den Hundert Metern. Nicht auf den Balken treten! Drei Sprünge.

Ein Mädchen, das am weitesten sprang, blieb im Sand sitzen. Sie ließ sich hochziehn, umarmte ihn. Sie hieß Regine.

An der Universität meldete sich Johannes beim Stellvertreter des Prorektors wegen der Sonderreife. Sie stellen den Antrag, sagte der, und wenn Sie die Prüfung erfolgreich abgelegt haben, steht einem Studium nichts mehr im Wege. Von der Weinertschule aus der Werktätigenklasse werden Sie sich unter die Arbeiterstudenten unserer Karl-Marx-Universität einreihen.

Zschiedert hatte die Beurteilung geschrieben, auf Kopfbogen, und war sich ziemlich sicher, dass Rückfragen nicht zu befürchten waren. Mit einem mächtigen Lachen draußen im Park antwortete der, als er vom Gespräch im Prorektorat hörte.

Die Herbstmesse nahte. Sie liefen das ganze Angebot ab, bis die monumentalen Hallen der Messehäuser schlossen. Auch das war Leipzig. Was bot diese Stadt nicht alles. Theater, Museen, zweimal die großartigen Messen.

Die Frau mit dem Anna-Seghers-Gesicht kam zum Unterricht, führte an Einsichten heran, das mochten sie, die feine Art, in der sie über Literatur sprach, Texte auswählte, Zusammenhänge erörterte. Die Behutsamkeit ihrer Bewegungen blieb, auch Willy Zschiederts dröhnendes Lachen, die brennenden Augen am Text oder den Blick deklamierend an die Decke der Unterrichtsbaracke geheftet.

Sie beschlossen für die FDJ-Jahreshauptversammlung Ende Oktober eine Arbeitsentschließung. Von dir, Klaus, hätte ich ein Zeichen erwartet, wenigstens den guten Willen. Pockrandt bewegte die Lippen.

Inka rief: Fürchtest du dich, wieder mal eine Verpflichtung einzugehen, die du nicht einhalten wirst? Der soll uns nicht wieder auf dem Kopf rumtanzen, meinte Irina auf dem Weg zur Straßenbahn.

Johannes scheute die Auseinandersetzung mit der Partei. Lass dir nichts bieten von ihnen, sagte sie. Seine Stube war ausgekühlt, als er ankam, denn Wolframs feuerten nur die Küche. Ob Walter krank machen würde oder die Stellungnahme mitbrachte? Wie wäre es, wenn er Waltraud bei den bevorstehenden FDJ-Wahlen zum Gruppensekretär vorschlug? In manchem glich sie Harry, bloß baute sie keine Luftschlösser.

Walter erschien ohne Stellungnahme. Morgen, wenn ich nicht wieder diese Kopfschmerzen bekomme. Alles lachte. Dann hing Walters Antwort doch an der Wandzeitung: »Ob mich alles ungerührt läßt und ich mich um gar nichts kümmere, kannst Du, liebe Waltraud, am allerwenigsten beurteilen. Wenn Du versuchst, es mit der Gruppenversammlung zu beweisen, so könnte ich ja von dir das Gleiche behaupten, denn Du als Klassenfunktionärin hieltest es ja auch nicht für nötig, trotz Einladung der Parteileitung, an der öffentlichen Parteiversammlung teilzunehmen, in der wichtige Fragen der FDJ-Arbeit zur Debatte standen. Von mir wußtest Du, dass ich zur Zeit in ärztlicher Behandlung stehe. Außerdem war die Gruppenversammlung, wo der Auftrag verteilt wurde, auf Dienstag angesetzt, und der Termin ist wieder, wie üblich, verändert worden, so daß ich nicht teilnehmen konnte. Du hast mich angeblich unzählige Male an die Durchführung eines Aufbaueinsatzes erinnert. Jawohl, ich streite das nicht ab, aber auch ich habe unseren mit der zentralen Leitung beauftragten FDJ-Funktionär mehrmals um einen Aufbaueinsatz angehalten. Er ist für mich maßgebend und nicht Regine. Der in der ZSGL dazu betraute Funktionär kann sich auch nicht noch um Aufbaueinsätze kümmern, da er seine Zeit zur Vorbereitung der Zwischenprüfung braucht. Wörtliche Äußerung desselben zu mir. Leider muß ich also deine Anschuldigungen zurückweisen und dir raten, in Zukunft genaue Erkundigungen einzuziehen, eh Du über einen Freund herfällst. Ist das nicht auch Bummelei? Walter.«

In der Pause heftete Waltraud die Antwort an.

»Nur kurz will ich auf deinen Artikel eingehn. Erstens. Nicht aus Interessenlosigkeit oder Bummelei kam ich nicht zu eurer Parteiversammlung, sondern ich war verhindert, daran teilzunehmen. Zweitens. FDJ-Versammlungen sind nur sehr selten verschoben worden, und dann nur aus schulischen Gründen. Es kann also kein Grund sein, daß Du deine Verantwortung nicht wahrgenommen hast. Waltraud.«

Einer greift den anderen an, an der Wandzeitung, und das Kollektiv existiert. War es nicht so? Die Ausarbeitung war von Irina, behauptete Friedhelm. So schreibt Walter nicht, ich werde Waltraud auch ins Gespräch bringen. Hast die Scheiße ein Jahr gemacht, Hannes, soll ein andrer ran.

Inka schlug dann Waltraud vor, was viel Zustimmung fand.

Den Entwurf der Verpflichtungsentschließung zum Jugendgesetz hatte Evelyne ausgearbeitet. »Erstens. Wir wollen uns bemühen, unsere Studienarbeit und -disziplin zu verbessern. Zur Verbesserung der kollektiven Studienarbeit soll das wöchentliche gemeinsame Wiederholen des Französischstoffes beitragen. Zweitens. Jeder Schüler unserer Klasse soll sich bemühen, nicht zu spät zum Unterricht zu kommen. Jeder, der zu spät kommt, soll 0,20 DM in die Klassenkasse zahlen. Drittens. Um unsere Wandzeitung noch besser zu gestalten, verpflichten wir uns alle, an ihrer Ausgestaltung zu helfen. Viertens. Im Jahre 1955 wird unsere Klasse 400 Aufbaustunden ableisten.«

Hätte Harry uns nicht verlassen, er würde jetzt aufhören. Wie meinst du das?

Irina wusste genau, was er meinte. Was geschieht, passiert auf dem Papier. Darin besteht der Fortschritt, und steht er in der Zeitung, »beflügelt« er andere. Solche Selbstverpflichtungen gebe ich am laufenden Band ab, damit ich meine Ruhe habe.

Für mich ist es die erste.

Na dann prost, Hannes! Auf die nächsten!

Je weiter sie sich von jenem Juni entfernten, desto deutlicher wurde, dass sie sich nicht entfernen konnten, der Tag ging mit, womit sich Friedhelm wiederholte, aber vielleicht bildeten sie sich das auch nur ein. Die Gruppierungen blieben. Klaus hatte sie nicht erfunden. Es gab sie seit jenem Juni.

Der erste Schnee. Mutter wollte die Wäsche am liebsten gleich haben. Auf eine Weihnachtsgans kannst du dich freuen, schrieb Vater, eine aus der Heide vom Bäckermeister Rötzschke, Neudorf an der Spree, Bautzner Verwandtschaft, sonst hätten wir keine. Horst Adolph hat die Absicht, hat Mutter gehört, das Studium vielleicht aufzugeben, er könnte als Elektrotechniker beim Rundfunk anfangen, 550 Anfangsgehalt.

Im Auwald war die Schneedecke zu dünn. Die Eichenriesen standen schwarz in dem weiten Gelände, nichts hüllte sie ein.

Hat dir das Adventskränzel gefallen? Auf dem Tisch lag es. Neben dem Tisch das Sofa mit den wuchtigen Seitenlehnen, mit dem das Zimmer fast vollgestellt war. Mutter hatte die Milchkarte beigelegt. Die Milch musst du warm machen, brennt schnell an. Bei wem warm machen? In der Küche bei Wolframs? Lass dir die Äpfel schmecken. Der angehängte Zettel mahnte: »Vergiß deine Haare nicht zu pflegen«. Mitgeschickt hatte Mutter ein Nachthemd, zwei Taghemden, drei Paar Strümpfe, Taschentücher, ein Sporthemd, zwei Handtücher, »eins davon ist um den Kuchen gewickelt«.

Weihnachten ging vorüber. Die Räder der Straßenbahnen drehten durch dicken Schnee, bis der Verkehr stillstand. Man musste zur Arbeit laufen. Wer es weit hatte, blieb zu Hause. Schnee lag bis in die Frühjahrsmesse. Waltraud Arlt war FDJ-Sekretär, Evelyne Fehrmann Stellvertreter. Immer war was. Er wartete auf Nachricht von der Universität. Von der Bewerbung zum Studium wusste an der Schule niemand außer Zschiedert.

Bloß gut.

19

Die Schillerehrung im Schauspielhaus

Sie hatten sich verpflichtet, an der Schillerehrung im Schauspielhaus teilzunehmen. Die orangefarbene Sonne versank an einem sonst grauen Himmel. Den Auwald tränkte Frühjahrsnässe. Regina setzte sich zwischen Irina und Walter, neben ihm saß Hans Joachim. Das Haus füllte sich. Der Platz zwischen Johannes und Pockrandt war frei. Bei Vorträgen sitz ich gerne vorn, sagte Regine, Abiturklasse, die er vom Sportfest kannte und setzte sich. Sie hatte ein hochgeschlossnes Kleid mit kleinen Kragenecken.

Schwer zu sagen, ob es damit anfing.

In der ersten Reihe kam Beifall auf. Korffs Junge Gemeinde, murmelte Pockrandt. In der Körperhaltung nicht mehr ganz sicher, in Gamaschen, trat Professor Korff ans Rednerpult, und Zschiedert applaudierte. Der Beifall übersprang die vorderen Reihen.

Pockrandt hatte keine Hand gerührt. Das Mädchen, das Regine hieß, flüsterte: Ich sag dazu später was. Es kam nicht dazu. Ihr Freund wartete.

Johannes ließ sich von Frau Wolfram die Gamasche erklären. Zu Friedenszeiten trugen das feine Messegäste unter der Anzughose, der Überstrumpf war die Halbgamasche.

Über drei Punkte wolle Korff zum Schillerfrühling sprechen. Ist Schiller ein politischer Dichter gewesen? Zweitens. Welche Auffassung hatte er vom Wesen und von der Aufgabe der Kunst? Drittens. Zum ästhetischen Moment in Schillers Wirken.

Johannes schrieb was auf. Pockrandt schob die Lippen vor.

Ist Schiller ein politischer Dichter gewesen oder nicht? Für Korff war Schiller ein leidenschaftlich Vorwärtsstürmender, der den Weg zu den Sternen suche, getrieben vom Drang nach Höhe und Größe. In Kampf und Widerstreit sind die gewaltigen Jugendwerke entstanden, und die waren Ausbruch eines großen Geistes. Schiller gestalte den großen Menschen auf dem Kolossalgemälde der Zeit, die ihm zur Darstellung die Mittel gäbe. Seine Entwicklung verlief stürmisch vorwärts – experimentell, nach allen Seiten –, aber er wurde nicht zum politischen Dichter.

Typisch idealistisch! zischte Pockrandt. Muss Büchner lesen, den Danton, den im Räderwerk der Revolution steckenden Menschen.

Stimme in der hinteren Reihe: Ruhe!

Im Mittelpunkt stehe das Ringen großer Menschen, zum Beispiel Kabale und Liebe. Die Helden scheitern nicht an den gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern an ihrer eigenen Unzulänglichkeit.

Niemals!

Das Mädchen aus der Abiturklasse: Jetzt halte einfach mal den Mund!

Zwischen Don Carlos und Wallenstein liege in Schillers Schaffen eine Pause von mehreren Jahren, der gereifte Dichter habe sie benötigt, um sich der eigenen, rein gefühlsmäßig vollzogenen Entwicklung bewusst zu werden. Das führe vom »Kraftmenschen«, man denke an Die Räuber, zum Edelmenschen. Ich glaube, das Wort sagte er. Nach der Größe des Menschengeschlechts fragte der Vortrag auch.

Die höchste Forderung in Schillers hoher Tragödie sei das Wecken der Begeisterung und die Parteinahme für das Edle. Für Schiller bestehe der Sinn der Kunst darin, wenn ich richtig mitgeschrieben habe, die Wirklichkeit in Bildern zu erleben, ohne von den Bildern erschlagen zu werden.

Die Geschichtsphilosophie bereichere Schiller durch die Herausstellung des Anteils der Kunst an der Menschheitsentwicklung.

Menschheit! Die zerfällt in Klassen, murmelte Klaus.

Bei Regine entdeckte er einen winzigen Ohrring, als sie ihm zuflüsterte: Sag nichts. Er spürte ihr Haar.

Warum sei die Tragödie Gegenstand der Kunst, obwohl sie Zerwürfnis und Niedergang zeige, ja Schiller den Untergang geradezu feiere? Trotzdem verließe der Zuschauer das Theater in erhabener Stimmung. Liebe bzw. Hass empfinde der Mensch beim Kunstgenuss. Diese Fähigkeit des Menschen habe den Dichter angetrieben, den Kunstgenuss theoretisch zu fassen.

Ende und Beifall.

Regine stand auf. Bis zum Wiedersehn, ich werde erwartet.

Friedhelm hatte den Vortrag verschlafen. Korff war gut, was? Wie ich dich kenne, hast du mitgeschrieben.

Er wartete an der Schulbaracke: Seh ich schlimm aus?

Erschreckend!

Glaub ich dir nicht. Sie liebt mich, bloß ich bin fix und fertig.

Hab nicht alles verstanden, ich tröste mich, dass seine Jünger, die ihm zu Füßen gesessen haben, auch nicht alles verstehen. Vom Wissen hängt es ab. Ich weiß zu wenig.

Korff hätte ich mir gern angehört, ich frag mich, was sie hundertfünfzig Jahre nach unserm Tod über uns sagen werden? Über mich? Den Eichler. Der war ein ... Wie sagt Irina?

Molch. Nein, Lustmolch. Der Eichler war ein Lustmolch, der für sein Leben gern vögelte, werden sie sagen, wenn sie überhaupt was sagen. War ihr Lustmolch auch dort?

Regina saß dazwischen.

Siehst du, das sind die Zufälle. So ein Zufall ist verräterisch. Frauen erzählen sich alles, wenn sie glücklich sind, musst du wissen, und sind sie unglücklich, auch. Wirst es erleben.

Wie meinte er das? Dass die aus der Abiturklasse neben ihm saß, war Irina bestimmt nicht entgangen und Regina auch nicht.

Mittag wars. Wir nehmen die Bank. Die trugen sie auf die Wiese und machten in der Märzensonne die Beine lang. Wenn eine auf ihre Tage wartet, ehe sie’s dir sagt, sagt sie’s der liebsten Freundin, setzte er das Gespräch fort, bilde mir das wenigstens ein. War bei Bärbel so, die hat mal verzweifelt gewartet.

Sie sahen zu, wer die Freitreppe herunterkam und den Klub­raum verließ. Friedhelm tippte mit der Fußspitze den Takt einer Melodie. Sonnenstrahlen hellten die Gesimse aus Porphyr auf.

Friedhelm rauchte sich eine an. Die nach uns kommen, werden vielleicht nicht mal mehr wissen, dass es uns gegeben hat. Kannst du dir vorstellen, dass du restlos weg bist?

Ja, habs gesehn, zweimal, wenn Erde reinfällt und der drin liegt, auch zu Erde wird. Die schaufeln neu aus, wenn die Zeit rum ist. Auf den Friedhof geht ihr wohl nicht?

Friedhelm schüttelte den Kopf. Den Vater haben die Fische gefressen, meinen, und Mutter hat das Elterngrab aufgegeben, ich weiß nicht mal genau, wo es war. Er ließ die Schultern hängen. Ist bei dir anders, du Bauer, bist du doch?

Johannes verschlug es die Sprache, was Friedhelm bemerkte. Ich meins anerkennend, positiv, wenn ich an die Äpfel denke, die du im Koffer angeschleppt bringst. Friedhelm lachte.

Isst erst die gedrückten, die ramponierten, danach die guten, ich machs umgekehrt, sagt Irina.

Damit ärgerten sie ihn. Stirbt der Bauer, bekommt er seinen Platz, wo die andern schon liegen, und glaubt er, dass er dem Dorf was bedeutet, liegt der Bauer eben vor der Kirche. Als hätte Friedhelm gesehn, wo die Patzigs liegen. Wer in die Kirche geht, muss an ihnen vorbei. Rolf Patzig hat keine Kinder, der wird das Elterngrab mal aufgeben. Als er aus Gefangenschaft kam, sagte er, mich hätten die Fische beinahe auch gefressen. Sie haben mich rausgefischt.

Sie drehten die Bank zur Sonne. Den Korff hätte ich gerne gehört, schade, ein Lehrer aus meiner Penne redete von ihm, der hatte ihn im Examen.

Du hättest vielleicht auch nur die Hälfte verstanden.

Einen Großen muss man nicht immer verstehen, aber die Hälfte verstehn, nimm mirs nicht übel, geht überhaupt nicht, die ist dann auch unverstanden. Den Geist der Goethezeit bewunderte unser Deutschlehrer. Von Korff hat er eine extrem hohe Meinung gehabt. Kommt bei Morgenstern vor, der Name, sonst hätte ich ihn mir als Schüler vielleicht nicht gemerkt.

Schiller suchte den Weg zu den Sternen, sagst du, seine gewaltigen Jugendwerke sind Ausbruch eines großen Geistes.

Ich habs so mitgeschrieben, nur die Zeit hätte dem Dichter die Mittel an die Hand gegeben, etwas Gewaltiges darzustellen. Seine Entwicklung verlief stürmisch. Das sind Stichpunkte. Er wäre kein politischer Dichter gewesen. Ich irre mich nicht, dass er das gesagt hat; denn Pockrandt protestierte.

Leuchtet mir nicht ein, Hannes, der nächste Punkt auch nicht: Du sagst, er sagte, im Mittelpunkt steht das Ringen großer Menschen. In Kabale und Liebe würden die Helden nicht an den gesellschaftlichen Verhältnissen scheitern, sondern an ihrer Unzulänglichkeit. Verstehe ich überhaupt nicht. Für mich war Schiller immer ein politischer Dichter.

Es sind meine Stichpunkte. Man müsste richtig studieren.

Stimmt, wir hier sind, entschuldige, im Schnellkurs, im Schnelldurchlauf, Überblicksmenschen, kriegen den Kurzen Lehrgang. Studiere! Bist der Mensch dazu, ich nicht. Überpolitisch alles, er meinte, hochpolitisch. Was nicht reinpasst ins Schema, in den ML, wird reingepasst oder abgeschafft.

Würdest du studieren, wenn sie dich lassen?

Die Fakten bleiben, denke ich, da studiere ich eben die.

Dass du dich nicht irrst. Lieber verkrieche ich mich in eine Bibliothek, wo die vielen schönen Frauen an der Theke stehen.

Er zerriss die Zigarettenschachtel. Kannst du mir was borgen? Bis morgen nur.

Ich brauch das Geld fürs Fahrrad.

Fahrrad? Nicht schlecht.

Was Gebrauchtes.

Von wem?

Von Wolframs Sohn, der mir das Zimmer verschafft hat. Wenn die Luft hält, nehm ichs.

In deiner Brieftasche ist wenigstens was drin. Entschuldige, dass ich dich anpumpe. Von Gernitz will ichs nicht.

20

Befreiungstag mit Regine

Hannes mit Fahrrad! Viel hatte der Sohn von Wolframs nicht dafür verlangt, als er seins für mich gegen ein Friedensfahrtfahrrad abgab. Friedhelm fuhr gleich eine Runde. Sattel zu tief. Er stieg ab. Sie standen an der Tischtennishalle. Jetzt du, Irina?

Ich kann Rad fahren.

Schön die Jahreszeit. Besorgt euch ein Fahrrad.

Zwischen Flutbecken und »Kleinmesse« bog er in Richtung Angerbrücke ab, wenn er zur Schule fuhr. Wenn die aus war, fuhr er den großen Bogen zum Lindenauer Markt.

Die Neuigkeit war keine mehr.

Sie gingen zum Unterricht.

Auf der anderen Seite vom Flutbecken wuchs aus Schutt das »Stadion der Hunderttausend«. Auf der Schuttmasse grünte es. Grasinseln, Büsche. Bäume fingen an hochzuwachsen auf Schutt, den Leipziger beim Enttrümmern zusammengekarrt hatten.

Das Schwimmstadion war fertig. Wie eine Schüssel mit aufsteigenden Sitzreihen. Der Sport brachte Farbe. Wenn Sportfest war, war alles bunt.

Auch die der »Kleinmesse« zugewandte Straßenseite war von Büschen eingefasst, am dichtesten standen sie am Flutbecken. Manchmal ließ er das Rad stehen. Im Vorbeiziehen war die Strömung der Elster kaum zu bemerken. Möwen in ständiger Unruhe. Mal schwebend, mal stürzend. Möwen gibt’s nicht bloß am Meer.

Die Märzenbecher an der Schulbaracke waren im Verblühen. Er wollte losfahren, als Friedhelm sagte: Mir zuckts in den Gliedern, dir auch?

Du hast eine? fragte er plötzlich, Eichler spürt das. Sag wenigstens, wie sie heißt. Jemand von der Schule?

Als er den Namen hörte, sagte er: So verrückt geht’s zu.

Und Irina?

Was weiß ich.

Als die bessere Jahreszeit anfing, hatte Regine vorgeschlagen, dass sie ja ab und zu mitfahren könnte.

Diesmal begleitete er sie bis zum Palmengartenwehr. Das Wasser toste, es roch nach Chemie, sie stellten die Räder aneinander.

Er pflückte Veilchen. Schenk ich dir. In Masse standen die hier.

Morgen ist was? Was? Keine Schule.

Noch was? Sie kam nicht drauf.

Befreiungstag. Als ich am Achten reingestolpert kam in die Klasse, verstauten die unten ihre Transparente. Kennst du nicht.

Doch.

Am Stadion zwischen Elsterbecken und Kleinmesse fing es an. Sie hielten sich umschlungen. Ich glaube, die Fahrradklingel hörten sie gar nicht. Der Rock rutschte. Kann uns jemand sehen?

Sie küsste, er biss die Zähne zusammen, bis es verebbte, lachte, strich sich übers Haar. Oh Gott, was war mit mir los? Ich war weg.

Schämst du dich?

Hebt sich auf.

Ich könnte mich gleich ausziehn. Bloß viel zu kalt. Puh, hast du kalte Hände.

Und Christian?

Freund.

Früh fiel ihm ein, er hatte gefragt, wer anfängt, wenns wärmer wird.

Wird sich finden. Weil zwei Räder dort gestanden hatten und niemand zu sehen war, hatte jemand geklingelt.

Du gefällst mir. Die Veilchen waren der Anfang. An den Kuss in der Weitsprunggrube erinnerte sie sich nicht. Wen küsst man nicht alles.

Im Zimmer hatte er sich aufs Bett geworfen, durchgeschlafen, am Befreiungstag die Kasernierten, stahlblau gekleidete Arbeiterwehren mit roter Armbinde, die Lützner Straße entlang marschieren gehört, Schritt gehalten, halb im Schlaf, wie in der Marschkolonne Unter den Linden. War der Heimfahrtstag ein Planungsfehler, den die Schule nicht mehr umeseln konnte?

In meiner Angelegenheit ist noch keine endgültige Klärung erfolgt, schrieb er nach Hause, nur dass ich für Ende Juni zur Sonderreifeprüfung zugelassen bin. Ich möchte dem Prorektorat Studienwünsche nennen. Publizistik = fünf Jahre, das nicht, viel Gewi. Frei war Geschichte. Die größte Aussicht besteht für Oberschullehrer. Bibliothekswissenschaften ja, aber sich vom Bibliothekswesen auf entfernt liegende Fächer zu bewerben, wäre zwecklos. Im Internat könnte ich unterkommen.

Dass ich studieren möchte, muss ich Regine sagen, selbst wenn sie aus allen Wolken fällt.

Am Nachmittag fuhren sie zur Schule, stellten die Räder ab, hörten Friedhelm spielen.

Dass du in Begleitung bist, hatte ich gar nicht erwartet.

Regine sagte, wir kennen uns von Korff.

Hab gefehlt, weil ich so erledigt war.

Bin im Bilde, sagte sie.

Die ist in Ordnung, meinte Friedhelm, als sie mal raus musste. Wenn ihr allein sein wollt, ich mache den Wächter.

Sie setzten sich ans Fenster mit dem Blick auf die Terrasse. Friedhelm spielte seinen geliebten Gershwin.

Als sie ihn wieder hörte, sagte sie: Wenn du mich anfasst, das kommt wie in kleinen Wellen, ich geh wie auf Zehenspitzen. Sie kitzelte ihn mit der Zungenspitze. Als ob die Zeit stehn bleibt.

Es fing an dunkel zu werden. Friedhelm hatte aufgehört zu spielen. Ich hab gewacht, sagte er, als sie ankamen.

Sie standen an den Rädern. Soll ich dir sagen, was mir durch den Kopf geht? Christian. Wenns auch nichts war.

Dieses eine Mal nur erwähnte sie Christian noch.

Schöne warme Tage folgten, alles grün. Grün fiel richtig über einen her. Wenn sie durch den Auwald radelten, dann anhielten, die Schule vorbei war, kam selten jemand. Sie hatten ihren Platz. Es hatte mit Lust zu tun. Wie im Leerlauf einen Berg runterrasen, war das. Wenn Friedhelm von einer sagte, die lässt, meinte er diese Hemmungslosigkeit.

Es war warm am Flutbecken, wo die Möwen über dem seichten Wasser herumkurvten. Die Erde war warm, ganz oben kreiste ein Vogel. In den Himmel gucken, aufgehoben sein, noch nicht an die Zeit nach der Schule denken, war schön. Irgendwie planten alle schon. Denkst du, dass welche weggehn?

Aus allen Klassen sind welche gegangen, sagte er.

Ich meine, weiter weg. Hast du mal dran gedacht? Sie überdrehte die Augen, als wolle sie an seinen Augen die Antwort prüfen.

Ich bleibe.

Du meinst, Arbeiterkinder bleiben. Sie sagte das so hin, obwohl da Absicht war. Sie erwähnte den Vater, der bei München lebte, der nicht noch einmal hatte anfangen können.

Weißt du, wie das war? Sie wartete nicht auf Antwort. In zwanzig Minuten mussten wir raus, sagt Mutti, die SS. Wir haben kaum Andenken. Das goldne Kettchen, was ich im Theater umhatte, ist eins. Plötzlich waren die Russen da. Die Erinnerung raubt mir den Schlaf, sagt Mutter.

Regine hatte die Sandalen abgestreift. Sind noch mehr in der Klasse, wie ich, sagt meine Freundin, bloß redet niemand drüber, wird alles gleich politisch aufgefasst. Oder?

Die Sonne blendete, sie schloss die Augen, sagte, der Zug stand auf freier Fläche, und ich sehe, wie sich der Himmel färbt. Wir alle von Breslau klebten am Abteilfenster. Dresden brennt.

Ihr Vater war in amerikanischer Gefangenschaft gewesen.

Seid ihr geschieden? Sie lächelte. So ungefähr.

Sie lebten getrennt.

Er kaute an einem Grashalm, hatte das süße Ende herausgezogen.

Wenn das wiederkommt? Sie lag ausgestreckt.

Was?

Dass ihr die Uniform anziehen müsst.

Später dachte er manchmal daran, dass sie das fragte. Die Wolken segelten. An was denkst du? Sie zog die Beine an. Wer anfängt.

Ich sags jetzt, sagte er plötzlich, und sein Herz fing an zu pochen. Wolframs haben einen Ferienplatz. Ab übermorgen.

Sie ließ sich hochziehn, strich übers verstrubbelte Haar. Soll ich kommen?

Würd ichs sagen?

Muss ich mich kämmen?

Sie fuhren nebeneinander her, und als die Stelle erreicht war, wo sie sich meist trennten, winkte sie in die Kurve hineinfahrend und das Rad verschwand auf dem Weg zum Palmengarten.

21

Die musst du alleine trinken. Das sagte sie nachher, als er in der Küche den Korkenzieher suchte

Die Woche verstrich anders. In ihren Augen war was, in seinen auch, wenn sie sich in den Pausen wie zufällig sahen.

Er sah den Spiegel im Flur bei Sparbeleuchtung, den Wolframs hatten. Die Fenstervorhänge waren zugezogen, der Wasserkrug war gefüllt. Im Hof die Frau, die ganz oben wohnte, hing Wäsche auf. Leinen waren kreuz und quer gespannt.

Wenn Regine jetzt käme, würde sie der Frau in die Arme rennen.

Die Tür war angelehnt. Die Glasfenster zum Treppenhaus hin waren mit Gitterranken gesichert, die Türkette nahm er ab, und als er sich umdrehte, stand Regine in der Tür, bisschen blass.

Hat sie dich gesehn? I wo. Hatte Wäsche vor der Nase.

Sie nahm die Weinflasche vom Tisch. Also hier wohnst du. Sie setzte die Flasche wieder hin. Die musst du alleine trinken. Das sagte sie nachher, als er in der Küche den Korkenzieher suchte.

Sie saß nackt auf dem Bett. Komm, ich küss dich. Das war in diesem Halbdunkel vor dem hellen gelblichen Vorhang, bis er sie spürte und sich fallen ließ, dass die Sprungfedern ächzten.

Sie legte die Sofadecke auf den Fußboden. Zudecke brauchen wir nicht. Gefall ich dir? Die Zeit rannte. Ja, so ist es schön. Bin ich dir zu schwer? Lass es kommen. Sie redeten nicht.

Als sie hereingekommen war und der Wein auf dem Tisch stand, hatte sie kess gefragt: Die brauchst du wohl? Und den Wein wieder hingestellt. Mit dem Rücken zum Fenster hatte sie die Bluse abgestreift und auf den Tisch geworfen. Du bist dran.

Sein Hemd hing am Stuhl.

Sie öffnete den Rock. Jetzt du. Es dauerte bissel, es hätte eine Ewigkeit dauern können.

Soll ich für dich ein Turnerhemd einpacken, hatte Mutter gefragt, das er auszog.

Sie löste das Häkchen, schlenkerte den BH, den sie in hohem Bogen über die Bücher fliegen ließ.

Plötzlich war die Spannung raus. Es gibt Mädchen, die keine haben, mir sind welche gewachsen, und verschränkte die Arme hinterm Kopf.

Der Rock lag unten. Ich lasse was an.

Hinten die Waschecke. Ich mag keinen Wein. Du hast nichts mit?

Na das. Das war der Unterschied zur Abiturklasse.

Musst dich nicht schämen. Ich will nicht schwanger werden.

Sie zog was an. Ich hab dich lieb. Sie fuhr ihm durchs Haar. Bist du mir böse?

Er ging über den Flur, holte Wasser.

Das Haus war dunkel, als sie ging, die Hände am Treppengeländer. Bloß kein Licht machen. Er schloss auf. Im Morgenlicht der Hof, kühl, still. Die Wäsche war abgenommen.

Den Ferienplatz hatten Wolframs vierzehn Tage.

In einer von den Großen Pausen standen Friedhelm und die halbe Werktätigenklasse zusammen, Irina, Regina, Inka. Walter fehlte. Friedhelm setzte sich an den Flügel. Regine kam dazu.

Es war wie immer und doch anders.

Brigitta ist Mama geworden, sagte Regina. Frank heißt er, 52 cm lang, wiegt achteinhalb Pfund.

Ziemlich schwer, was? Ich konnte mir Brigitta nicht vorstellen, ehrlich, mit einem richtigen lebendigen Baby. Du, Irina?

Dass Brigitta ein Kind erwartet, wussten sie seit langem. Der Molch guckt die Frauen so genau an. Mir hat sie’s als erstem anvertraut, bloß um das klar zu stellen, sagte Friedhelm.

Brigitta hatte sich von Pockrandt losgerissen. Sie versteckte den Bauch nicht mehr. Als das Kind zu sehen war, ging sie mitten im Unterricht zur Toilette. Klaus guckte weg. Vielleicht war ers doch? Sie saßen getrennt.

Du weißt, wie ich das sehe, Pomuchelskopp! Wolfgang lachte verlegen. Er hatte seine Funktion abgegeben. Seitdem gingen sich die Genossen Böckler und Pockrandt aus dem Weg.

Was bei Wolframs war, konnte Friedhelm nicht wissen, er hatte höchstens eine Ahnung davon und spielte: »Du, du, du, laß mein kleines Herz in Ruh«. Regine lief an.

Die glühte ja, sagte Friedhelm, als sie in der Großen Pause ihre Runde drehten. Kann dir egal sein, wie Frauen das beurteilen.

Du lernst wohl Russisch, rief Gertraude Schubert, die Rudi mit einem Zettel und Zigarette stehen sah.

Regine lachte. Da mischt sich die Abiturklasse nicht ein.

Es gab Unterrichtstage, da spürten sie sich heftig, wenn sie mit den anderen aus der Unterrichtsbaracke oder der Villa herausdrängten. Die Liebe war an manchen Tagen so stark, dass er erschrak. Sie fuhren nach der Schule durchs Leutzscher Holz, bis die Elster aufblitzte, drängten durch die Holunderbüsche, wo ihr Platz war, legten sich auf die braune Decke ins dicke Gras. Die schöne Sonne. Den Pullover unterm Kopf lag sie auf dem Rücken.

Hast du gedacht, dass was passiert ist?

I wo. Wie denn? Sind die guten Tage.

Und wenn jemand kommt? Kommt er eben. Er nahm sie in die Arme, bis sie sich wieder fanden. Ich hab dich lieb. Ja, so, bist du lieb zu mir.

Wenn jemand gekommen wäre, sie hätten es nicht bemerkt. Niemand kam, die Büsche reglos. Sie stützte sich auf. Wir sind verrückt. Mit dem Kleid deckte sie ihn zu. Mit dir ins Lager wäre ich lieber gefahren. Gemeint war das Pionierlager, in das sie fuhr.

Bis überübermorgen liebt uns die Sonne, wenn sie scheint.

Dass ich von der Schule vielleicht abgehe, kein wissenschaftlicher Bibliothekar werde, sollte ich ihr sagen.

An der Elsterbrücke, wo die Panzer gestanden hatten, trugen sie die Räder über die Gleise, zu der Zeit fingen die Dahlieninseln im Palmengarten noch nicht mal mit Blühen an. Im späten Juli werden die Blütenköpfe aufleuchten. Die blühen wochenlang, einfache, volle, halbvolle.

Du schwärmst ja, sagte sie erstaunt.

Solche Blüteninseln gibt’s, die eine flammend rot, in verglühendem Rosa die andre, dickes Dahliengelb dazwischen. Wenn die Herbstmesse anfängt, blühen sie immer noch.

Da geht das letzte Schuljahr los, sagte sie, und bald rollen uns die Kastanien vors Rad. Er begleitete sie fast bis nach Hause. Soll ich dich mal einladen, mag sie gedacht haben.

Am nächsten Tag am Bahnsteig wollte er Regine was sagen. Sie legte den Finger an den Mund. Sag nichts, ich will mir nicht vorstellen, dass es mal aufhört mit uns. Du schreibst mir doch?

Sie hatte das Abteilfenster heruntergelassen. Er winkte, bis ihr Winken nicht mehr zu sehen war.

22

Bestehe ich die Prüfung, entscheidet sich alles neu

Mutter hatte Wäsche auf der Bleiche. Du wirst mir die Weißwäsche gießen, sagte sie, als die Briefträgerin auftauchte, die das Fahrrad schob. Ich sehe, ich werde erwartet, sagte die Brieffrau.

Mutter sah zu. Nein, nicht von der Uni. Auf den Brief warte ich auch. Bloß, Mutter glaubte nicht, dass es ein Liebesbrief war.

Musst dir keine Gedanken machen, schrieb Regine.

Bei Wolframs hatte ich Schiss, das war gemeint, sie auch. Da hing die Wäsche im Hof, als ich den Korkenzieher suchte. Im Brief die Frage: »Soll ich ins Lager schreiben, wenn du dort sein wirst, oder möchtest Du das nicht, weil Friedhelm mitfährt?«

»Wie Du weißt, bin ich mit weißen Söckchen und Sommersachen hierher gekutscht, jetzt muß ich mir was für den Regen nachschicken lassen. Bin gestern bis auf die Haut naß gewesen. Gott sei Dank, hat es aufgehört zu regnen. Jetzt finde ich es sogar schön hier, liege auf dem Bauch und schreibe. Bloß tut mir der Bauch weh, der Magen, ich habe zu viel Reis verkonsumiert, ich entwickle einen tollen Appetit. Ich würde ja lachen, wenn ich in die Kleider nicht mehr rein könnte. Am Montag ging es ein bissel drunter und drüber, ich hatte nicht die geringste Lust fürs Pionierlager, das muss ich sagen. Jetzt habe ich mich damit abgefunden, dich so lange nicht zu sehen.« Sie wird ihren Vater in München besuchen.

Hannes, vergiss die Wäsche nicht!

Eine Libelle stand reglos am Teichrand, ein Sprung, sie war fort. »Die Pionierleiter sind ganz prima. Einen davon nennen wir den rasenden Roland. Er ist Sanitäter und spioniert jedem nach, ob er sich die Hände nach dem Austreten wäscht, ob man Läuse hat oder sonstige Sachen. Heute muß ich Bücher für 450.– DM einkaufen. Wenn es mehr Geld wäre, würde ich damit vielleicht abhauen.«

Ob ich nun wissenschaftlicher Bibliothekar werde, fragt sie zum Schluss. »Dann müßtest Du ein viertel Jahr länger in Leipzig bleiben.« So weit denkt sie. »Schreibst Du mir bald? Sei mir bitte nicht böse, dass ich so geschmiert habe, aber wenn man auf dem Bauch liegt, geht es eben nicht besser. Viele Grüße von Regine.«

Er schrieb zurück. Dass er auf Zulassung zur Prüfung wartete, nicht. Wenn ich studieren werde, muss ichs sagen.

Als der Termin der schriftlichen Prüfung feststand, entschied er sich für Geschichte des Mittelalters, Ostexpansion. Er baute ein Tatsachengerüst, las, exzerpierte. Der Stoff kam ihm riesig vor.

Was sie zur Lagerbücherei schrieb, läuft ab wie in Prerow. Da gabs die Kim-Ir-Sen-Lagerbücherei der Volkswerft Stralsund. Vorm Tisch die Warteschlange. Alter abschätzen, damit fings an. Dann fragen. Es blinkt ein einsam Segel. Kenn ich. Timur und sein Trupp? Nee, das nicht, was von Seeräubern. Die Schatz­insel. Ja. geben Sie das.

Der nächste. Tom Sawyer? Gelesen. Paarmal. Huckleburry Finn? Kennst du die Fortsetzung auch? Wie die den Fluss runterfahren? Den Ohio, sagte der schmächtige Junge.

Ich hab schlecht geträumt, Gießwasser zu den Tomaten geschleppt, Regine gesehen, die ihr Kleid drüber deckte. Post, ruft die Briefträgerin, und ich habe Regines Brief von gestern in der Hand.

»Unser Kulturknopp ist der Meinung, ich wäre hochmütig. Das kam so. In einer Sitzung wurde mir gesagt, ich möchte eine Buchbesprechung ausarbeiten, eine über Ernst Thälmann. Weißt Du, wie? Daß die Pionierleiter das Buch nicht lesen brauchen und trotzdem eine Vorlesestunde halten können, so eine. Ich habe der Polit­abteilung klarzumachen versucht, daß, wenn man das Buch nicht kennt, auch keine Vorlesestunde stattfinden kann. Was denkst du, was da los war? Ich dachte, die fressen mich. Das Ferienlager ist am Sechsundzwanzigsten zu Ende, ich bleibe keine Minute länger und werde am Neunundzwanzigsten wahrscheinlich nach München fahren, da sehn wir uns nicht nochmal.« Auf einem Zettel stand: »Vielleicht sehen wir uns doch noch, wenns klappt. Du schreibst, im kommenden Semester hättest Du Zeit zum Fortgehen usw. Weil die Prüfung ja erst nach Weihnachten ist. Wann willst Du denn lernen? Aber Du weißt ja alles! Na, jetzt muß ich Schluß machen, mein Bett (Strohsack) ist noch in Unordnung. Es grüßt herzlich Regine.

Entschuldige bitte, daß ich mit Bleistift geschrieben habe, meine Tinte ist alle und im ganzen Lager keine vorhanden.«

Bestehe ich die Prüfung, entscheidet sich alles neu.

23

Ist das nun alles, was bleibt? Im Untergang des Ganzen war auch die Leistung des Einzelnen untergegangen

Am Morgen lag die Julihitze noch auf den Feldern, als sie zum Bahnhof gingen. Die Vögel lärmten. Vater hatte Johannes den Pappkoffer abgenommen. Er dachte an Schubert, den er vor einiger Zeit unter gänzlich gewandelten Verhältnissen aufgesucht hatte. Sie hatten sich gegenüber gesessen, wie damals, wenn der, den er mit Herr Oberregierungsrat anredete, ihn einbestellte, vor dem wuchtigen Schreibtisch, an dem der Regierungsrat inzwischen nicht mehr saß. Der Blick auf die Türme der Stadt war geblieben, der Abstand zu früher, wie die untergegangene Zeit inzwischen hieß, irgendwie auch.

Ja, wollen Sie denn wirklich weg? Er hatte die Frage sogar wiederholt: Für diesen Fall wolle er ihm ein Zeugnis ausstellen.

Es kam zu einem Gespräch, und nebenher hatte Georg gefragt: Mit den Juden – glauben Sie das?

Schubert sagte nicht ja, nicht nein, nickte bloß. Vorsicht stand zwischen ihnen wie ein Fliegenfenster. Auf ein persönliches Gespräch schien er sich nicht einlassen zu wollen, dazu hätten sie sich näher treten müssen, näher als früher, und Schubert brach ab, als das Gespräch dahin abzugleiten drohte. Sobald ich das Zeugnis ausgefertigt habe, sende ich es Ihnen auf dem Postweg zu.

Als Georg eines Sonnabends von der Arbeit kam, lag das Papier auf dem Tisch, engzeilig mit Maschine geschrieben. »Er ist ein eifriger, pflichttreuer, ziel- und verantwortungsbewußter, vielseitig verwendbarer Beamter gewesen, geschickt im Verkehr mit dem Publikum und durch sein ruhiges, offenes Wesen beliebt bei seinen Mitarbeitern. Seine Tätigkeit wurde am 26. 8. 1939 durch Militärdienst bis 1942 unterbrochen und nach nochmaliger militärischer Einberufung im Februar 1943 und Kriegsgefangenschaft beendet.«

Edith hatte den Brief geöffnet, als befürchte sie, der Inhalt werde noch einmal in ihr und sein Leben eingreifen. Edith, sag was! Ist das nun alles, was bleibt? Er fuhr sich über die Augen, schluckte. Im Untergang des Ganzen war auch die Leistung des Einzelnen untergegangen. Wie eine Todesanzeige nahm er das am 21. September 1954 Geschriebene entgegen, wie eine Grabinschrift, die für ihn verfasst war.

Es hätte schlimmer kommen können, Georg, und du wärst wie Alfred, verzeih mir, dass ich so rede, irgendwo zu Staub zerfallen. War das nicht Grund genug, dankbar zu sein, dass er zurückgekehrt war, dorthin, wo alles begann? Gestellungsbefehl in der Tasche, die Siebensachen gepackt, zum Albertgarten. In der Kaserne hatte er die Uniform übergezogen, war in viel zu große Stiefel gestiegen, setzte das Käppi auf.

In einer abgerissenen Offiziershose war Georg aus der Gefangenschaft heimgekommen. Alfred, der in der Uniform eines Oberzahlmeisters steckte, weil er als Lehrer ein Stück höher stand, die Pistole gehörte dazu, starb in einem Schusswechsel, nachdem die Panzerdivision Müncheberg in Spandau kapituliert hatte und die vier Zahlmeister der Verpflegungskompanie in Richtung Westen losfuhren, wo sie vor Falkensee auf Russen stießen. Der Fahrer überlebte und teilte Alfreds Tod in Gefangenschaft einem Dritten mit. Georg war das erspart geblieben, auch Schubert.

Geboren Null Zwei, wohnhaft dort und dort, manches war in Georgs Beurteilung unterstrichen. »Ist nach zwanzigjähriger Tätigkeit zunächst in der Bezirkssteuereinnahme und dann in der städtischen Verwaltung hier am 1. Januar 1938 in die Reichsfinanzverwaltung als Steuerinspektor im Finanzamt übernommen worden, wo er erst in der Bewertungsstelle mit allen vorkommenden Arbeiten und dann in der Veranlagungsabteilung als Bearbeiter eines Steuerbezirks tätig gewesen ist.« Gezeichnet Georg Schubert, Oberregierungsrat a. D., Vorsteher des Finanzamtes bis 1945. Diese Feststellung war die Hauptsache. Mit diesem Zeugnis ließ sich das vergangene Leben, wenn man überlebte, fortsetzen, wo es aufgehört hatte. Schuberts gabs viele. Ohne Partei, mit Partei. Georg könnte nach getaner Arbeit am Rhein spazieren. Wer bin ich? In Baracken hatte er gelebt, Kohlrübensuppe im Leib, bis Wärme in die Gesichter gestiegen war und der Streit anfing über Kochrezepte, wessen Frau oder Mutter, deine oder meine, am besten kochte, gestritten wurde bis aufs Messer, bis der Hunger zurückkehrte. Sinnlos alles, die Sinnlosigkeit nahm kein Ende.

Manchmal denke ich an die Ärztin, die mir das Leben gerettet hat, die dort saß, als ich aufwachte und deutsch mit mir redete.

Georg erinnerte sich, wie er bei Schnee und Sonne den Weg vom Bahnhof heruntergekommen war, in dieser knielangen schwarzen Wattejacke, die vielleicht einem russischen Panzersoldaten gehört hatte, unendlich müde, vor sich die leere Straße. Die schweren Schuhe mit angegossener Gummisohle, Kriegshilfsgut, amerikanisches, hinterließen Tritte im feuchten Schnee. Er hatte im gleißenden Licht die Augen zusammengekniffen und mit einem Mal den Jungen erblickt. Jetzt brachte er Johannes, auf den sich seine Hoffnung richtete, zum Bahnhof.

Georg hatte sich entschieden zu bleiben. Es wäre ihm schwer gefallen, aus einer Vielzahl von Gründen dafür den Hauptgrund herauszufinden. Ediths Gründe waren nicht seine. Sich trennen? Wer würde die Gräber pflegen, wenn nicht sie? Alles aufgeben? Für welche Zukunft? Georg konnte nicht einmal seine Wattejacke wegwerfen. Die Anzüge, mit denen er ins Finanzamt gegangen war, waren in seinem Schrank hängen geblieben. Er hätte den Anzug nur wieder anziehen müssen, den Hut aufsetzen und auf der anderen Seite in einem Finanzamt mit dem Zeugnis von Schubert vorsprechen.

Dass sich der Junge der Sonderreifeprüfung stellte, war Teil der Entscheidung hierzubleiben. Sie spürten die Kühle in dem Wäldchen, in das sie eingetreten waren. Georg wusste, dass Johannes aus ihrer Welt wird heraustreten müssen, wenn er die Studienzulassung bekommt.

Sie bemerkten vor sich die Verwandten, Adele und Erwin, die auch zum Bahnhof gingen, sodass sie langsamer gingen. Solche Zufälle, mein Junge, musst du aushalten.

Die Fahrkarte war gekauft. Die Taschenuhr in der Hand, kon­trollierte Georg die Zeit.

Seit Frühjahr arbeitete Erwin bei der Bauunion. Unter den Lausitzer Wäldern lag Kohle, und die wurde aufgeschlossen. Die vor uns, er meinte Adele und Erwin, haben es im Leben richtig gemacht und machen es wieder richtig. Damit war Siegfried Arbeiterkind. Stipendienantrag und Lohnbescheinigung sind einzureichen.

Siggis Stipendium war Erwins Lohnzulage, und wenn Siegfried Arzt wird, wird er dir die Zähne ziehn, oder dich, wenns auf der Brust pfeift, abhorchen, entweder in der Poliklinik oder der eignen Praxis. Du, Hannes, wirst in der Gemeindebücherei Leuten wie mir vielleicht Bücher empfehlen, damit unsereins nicht in Trostlosigkeit versinkt in diesem Lande, wo die Pförtnerloge inzwischen in jedem Amtseingang steht und du dich ausweisen musst.

Die Partei bestimmt, ob sie dir zwei Zimmer zubilligen oder drei oder gar keins. Die »Genussen« sind Verteiler von etwas, was sie sich genommen haben. Hingeschmissen haben ihnen das die Russen.

Georg verfiel in Schweigen. Die Schritte knirschten. Schlaglöcher, die mit Sand zugeschüttet waren.

Ein Studiendirektor für Kader und Erziehung hatte über die Prüfungszulassung entschieden. Johannes hatte die Gebühr für die Sonderreifeprüfung an die Arbeiter- und Bauern-Fakultät eingezahlt, fünfzig D-Mark, Konto der Universität, Deutsche Notenbank, Sachkonto 2011, Sonderreife. Der Einzahlungsbeleg war vorzulegen, Schreibmaterial mitzubringen. Fahrgeldermäßigung gewährte die Universität nicht.

Das hatte Georg in der Küche vorgelesen. Die Fahrkarte werden wir bezahlen können.

Wie muss ich mir einen solchen Studiendirektor vorstellen, der die Unterlagen überprüft und die Zulassung ausgesprochen hat, fragte er. Wirst du ihn zu Gesicht bekommen?

Es wird gelingen, sagte Mutter zum Abschied. Sorgen machte sie sich, dass der Schwindel, wie sie es nannte, im Fragebogen entdeckt werden könnte. Der Mensch soll bei der Wahrheit bleiben. So bin ich erzogen.

Georg widersprach. Dieses Dasein ist verlogen, und auch wenn es deine Verwandten wieder richtig gemacht haben, bleibt es verlogen.

Es liegt auch daran, dass sie sich einig sind.

24

Das große Teilen hatte begonnen. Dafür war die akademische Bildung im Wert gestiegen

Bei Mutter bestand eine gewisse innere Unfreiheit, das hatte Vater längst erkannt. Die Verwandtschaft legte Vermögen in Grundbesitz und Sachwerten an, Villa mit Herrenzimmer und stattlicher Treppe, Schmuck, Porzellan, vor der Währungsreform bogenweise Briefmarken. Inzwischen waren Grund und Boden nicht mehr unantastbar, das Eigentum erschüttert. Das große Teilen hatte begonnen. Dafür war die akademische Bildung im Wert gestiegen.

Studieren! Am besten Medizin, weil der Arztberuf unangreifbar schien, was auch Hedwigs und Ediths Ziel war. Daraus wurde nichts. Die Oberschule fehlte.

In der Schule hieß Rechnen jetzt Mathematik. Die Zahlen verbündeten sich mit den Buchstaben. Nicht jeder Neulehrer konnte die Buchstabenrechnung erklären. Erwin aus dem Baufach schloss Siegfrieds Lücken zu Hause. Physik, Chemie, Mathematik, analytisches Denken waren was Besonderes. Die gebildeteren Frauen hatten bestenfalls die Haushaltschule besucht oder Maschineschreiben gelernt.

In Gefangenschaft glichen die Verlorenen einander, abgeschabt, wie sie waren, mager. Es gab Gegenbeispiele mit Bildung auch in Gefangenschaft. Vater ließ diesen Gedanken fallen. Es gab entwertetes Wissen; darüber wurde auch geredet. Im Arbeiterzug las Georg, was die Gemeinbebibliothek hergab, Verbotenes und Verbranntes von damals. Erwin las so gut wie nicht, er hatte weder das Leben eingebüßt, wie Alfred, noch die verlorenen Jahre aushalten müssen.

Es ging eben ungerecht zu. Wenn Mutter von Herzensbildung sprach, meinte sie Bildung, die mehr war als Wissen. In guten Jahren war in der Richter-Mühle und der Familie Geld. Als die Mühle verloren war, schien der Beamte das bessere Los gezogen zu haben.

Das Politische ist gefährlich, meinte Mutter, ich möchte, dass wir mit Politik nichts mehr zu tun haben. Im Dorf studiert niemand Geschichte. Wenn sie davon hören, werden sie dich auslachen.

Edith hatte Vater den grauen Sommerhut hingehalten, bevor sie losgingen. Den hängte er zurück in den Schrank. Bei Rönischs schnaubten die Pferde. Mutter, leise, wiederholte: Hauptsache, der Schwindel kommt nicht raus.

Sein Gesicht nahm einen verschmitzten Ausdruck an. »Beruf des Vaters?«, Angestellter. Verquatschen darfst du dich nicht. Wir werden zu Meistern im Lügen, sinds schon. Bei Hitler fing das an. Mit Lug und Trug stehn wir auf du und du. Sie waren längst auf dem Weg zum Bahnhof, als er das sagte. Kannst Beelzebub nur mit Beelzebub austreiben. Was hilft dem Schwachen sonst? Meine Mutter, diese fromme, gute Seele auf der Messergasse, hätte mich gescholten, würde sie noch leben. Der Krieg hat die Ehrlichkeit vollends zerstört. Diese biederbraven kleinen Leute, die in der Bibel lasen, haben sie hochgehalten.

Ehrlichkeit, Brüderlichkeit, mein Vater glaubte, dass sie vorangetragen werden. Er neigte den Roten zu. Mutter vom Dorf kam aus einer Maurerfamilie. Sie war in ihrer Güte so selbstlos, dass Vater, selbst wenn er andrer Meinung war, sie nie verletzte, anders als ich, was ich mir zum Vorwurf mache. Die Lüge hat eine Grenze, ich denke, Hannes, dass ich sie noch nicht überschritten habe.

Vögel flogen auf, die über den Wiesen schwebten, vielleicht Bussarde, mit Rufen aus großer Höhe. Frauen, die frisch gehaunes Gras zerstreuten. Vater sah nicht hin. Alles Fleisch ist wie Gras, sagte er, wenn auch mein Leben noch nicht zu Ende ist.

Ins Amt lassen sie mich nicht mehr, Lehrer ja, die kommen zurück. Damit muss ich mich abfinden.

Am Bahnhof hing die große Normaluhr, die sich von beiden Seiten ablesen ließ, die Verwandtschaft, Adele und Erwin, einen halben Schritt voraus. Die fahren weit, sagte Georg. Wir gehn durch, wenn sie ihre Fahrkarte gelöst haben.

Sie betraten jetzt die kleine Schalterhalle. Der lange Bahnsteig war frühe Eisenbahnzeit, hatte gusseiserne Säulen mit Blechdach. Die elektrische Uhr gabs auch, bloß kleiner.

Morgen miteinander.

Guten Morgen, ihr beiden.

Auch so früh. Ja. Keine Seite fragte, wohin.

Es hatte gedauert, und so hatten sie aus dem Schalterfenster gehört, wohin die Reise ging. Greifswald hin und zurück, zweimal, wiederholte die Frau mit Käppi und Haarspange über der Tolle. Marianne Johne schob Adele die Fahrkarte hin.

Als der Schnellzug Wasserdampf zischend über den Bahnsteig blies, stellte sich Jojo, wie sie genannt wurde, mit der roten Deckelmütze und in der für die Deutsche Reichsbahn üblichen Kostümuniform an den Zug, sah Adele und Erwin zusteigen. Johannes war im anderen Wagen zugestiegen. Der Zeiger schnellte auf die Abfahrtminute, die Fahrdienstleiterin hob die Kelle.

Georg sah den Zug entschwinden, bis Jojo sagte: Bei mir wissen Sie gleich, wo die Verwandtschaft hinfährt.

Ich denke, das wird klappen mit der Wohnung, sagte Frau Johne noch und trug Edith Grüße auf. Sie kannten sich seit jungen Jahren. Ihr Mann war im Krieg geblieben. Sie beobachtete scharf, war stets vergnügt, was Georg nicht gegeben war.

Die reisen, damit sie Siggi freigeben, der sich verpflichtet hat, sagte Jojo, der will nicht Militärarzt werden.

Wenn ich mitgeh, kommen mir bloß die Tränen, hatte Edith gesagt, als Georg zurückkam.

Auf uns könnt ihr euch verlassen. Erwin hatte die Rede geschrieben, und jetzt fahren sie bitteln. Militärarzt, diesen Preis will er nicht zahlen, und vielleicht liegt auf dem Tisch dort auf der Akte, wenn sie reinkommen, eine Deckelmütze. Wir brauchen den Jungen, wenn er studiert, und vielleicht wird Adele sagen, weil wir zur Gemüseversorgung viel beitragen, und Erwin hilft, die Energieversorgung in Schwarze Pumpe sichern.

Ich bin gehässig.

Bin’s geworden.

25

Die Termine für die Mündliche kommen mit der Post. – Was machen Sie mit mir?

Er hatte sich an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät Döllnitzer Straße, Haus 2, einzufinden, einem Neubau von ziemlicher Größe mit hohen Fenstern. Im Giebelfeld prangte ein Wappenschild. An der Tür, auf Pappe geschrieben: 9.00 bis 12.00 Thema für alle (Gewi), 14.00 bis 17.00 Fachklausur (gewünschtes Studienfach).

Die sich dort sammelten, schwiegen, bis ein Mädchen in Blauhemd klinkte. Immer noch zu, rief sie, und Hannes tauchte in den Ereignisstrom ein. Den wird die Erinnerung vielleicht einmal freisetzen, auch für das Mädchen im Blauhemd, auch für Hannes, für alle, die bestanden haben und sich zur Immatrikulation versammeln, in der Kongresshalle des Zoo, unter Fahnen, Musik und dem Gelöbnis, in das hinein ein Löwe brüllen wird.

Die Aula war Turnhalle, in die sie eintraten, an einer Seite Wandmalerei. Ein Barren stand herum, ein Turnpferd mit abgewetzter Lederbacke, dem ein Prüfling, den er im Hörsaal 40 wiedertreffen wird, einen Hieb versetzte, bevor er seinen Platz suchte. Geschrieben wurde an Tischreihen. Jeder zweite Stuhl blieb frei. An der Wandtafel mit Kreide das Thema.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Fenster vor sich sah er eine mit wildem Wein bewachsene Villa, im Fenster hing Wäsche.

Zweieinhalb Stunden später gaben die ersten die Klausur ab. Mit dem Allgemeinen umzugehen, hatte er inzwischen gelernt. Die Handgriffe saßen wie damals beim Sirupkochen, als der Richter-Großvater im Waschhaus Rüben wusch, schnitzelte, kochte, presste, eindickte, anschmeckte. Hannes hatte Gustav vorgelesen.

Die Anspannung, in die er beim Schreiben geraten war, ließ nach. Was hatte die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in der alten Aula, die nicht mehr so hieß, nicht alles hinmalen lassen?

Ein Bergmann in blauer Hose drückte den Presslufthammer in die Kohle. Wie Hennecke. An Blau fehlte es nicht. Blau waren die Mützen der Straßenbauer, die Teer abzapften. Frauen gingen in blauer Schürze und Kopftuch. Ein langhaariger Junge lenkte einen Traktor, an dem ein blauer Wimpel wehte. Auf Patzigs Feldern ist noch kein Traktor gerollt in der Zeit danach, der anderen Zeit. Das Wandbild war die Verheißung. Der Hochofenbauer war zum Kinderarzt geworden, der Hauer zum Agraringenieur.

Er ging essen, die Kommission auch, vorbei an dem blauen Meer, an der Weltkarte, an Kontinenten wie Inseln, vor denen niemand stehen blieb.

Die Anspannung hatte nachgelassen. Nach dem Essen bloß nicht müde werden. Manche rauchten.

Umschläge mit Namen lagen vor ihnen. Einer schlitzte seinen Umschlag auf, saß wie erstarrt vor dem Schreibzeug.

Johannes holte Luft, als müsse er einen Stein heben. »Die deutsche Ostexpansion im Mittelalter. Grundzüge und Verlauf.« Wieder sah er die Wäsche im Fenster auf der Straße gegenüber. Er schrieb einen kurzen Entwurf, die Ausarbeitung in einem Guss.

Die Slawen siedelten in Flussauen, erschlossen die fruchtbaren Böden, bevor die deutschen Siedler mit Waldrodung vordrangen. Das herrschaftliche Vordringen ging dem bäuerlichen voraus. Die Straßendörfer der Hufenbauern lagen im Oberland, in der Niederung die Runddörfer der Sorben. Herrschaftliche Urpfarreien entstanden für das überrannte Slawenvolk. Göda mit seiner Kirche war eine davon.

Die Aufsicht klopfte. Entwürfe sind abzugeben. Im Gehen gab er dem Turnpferd eins mit der flachen Hand. War mein Pferdsprung. Er dachte an Regine.

Das Mädchen in Blauhemd, das geklinkt hatte, stellte sich ans Fenster, er ging hin und sah in hellgrüne Augen.

Weil am Eingang sonst niemand im FDJ-Hemd zur Prüfung erschienen war, hatten einige überrascht geguckt.

Zufrieden?

Er wollte das auch fragen, da bemerkte er auf der Straßenseite gegenüber drei Männer, einen in Uniform, der ein Papier aus der Aktentasche zog.

Ist was?

Komisch.

Was, fragte sie.

Mir war, als hätte ich jemand erkannt.

Sie lachte. Das gibt’s. Wenn ich die Sonderreife habe, studiere ich Medizin, und du?

Geschichte.

Sie ging zu ihrer Tasche, legte zwei Tomaten aufs Fensterbrett. Eine für mich. Sie rückte ihren Rock zurecht.

Die Termine für die Mündliche kommen mit der Post, wer schriftlich bestanden hat, rief die Aufsicht.

Kannst dir ja mal die Internate ansehen gehen. Machs gut! Sie kannte sich vermutlich aus.

Wilder Wein kletterte über die Fassade von der Villa gegenüber. Die Tür war angelehnt. An der Wand Medaillons, gemalte Vasen. Im Hausflur stand ein zusammengebautes Fahrrad.

Jemand auf der Treppe rief von oben: Dazu haben Sie kein Recht! Was machen Sie mit mir!?

Bloß weg.

Am Ausgang zur Döllnitzer Straße, wo die Straßenbahn hielt, beherrschte die graue steife Kirche mit spitzem Turm den Platz. Hinter dem Park ragte ein Giebel heraus, an dem ein rotes Spruchband hing. Der Fahrer im Kastenwagen blieb sitzen. Russen. Kinder in Schuluniform. Die Garnisonskinder. Der Fahrer prüfte, ob die Türen geschlossen waren.

Was hätte das Mädchen im Blauhemd dazu gesagt?

Von den Männern auf der Straße war ihm ein Gesicht bekannt vorgekommen. Es erinnerte an jemand. Aber an wen?

Er lag lange wach. Waren Wolframs draußen im Garten? Ich kann nicht einschlafen. Was machen Sie mit mir!? Er hatte nur die Stimme gehört.

War die schriftliche Prüfung bestanden? Wann werde ich es Regine sagen? Sie hatte letztes Mal ihm die Arme um den Hals geschlungen, sie konnten sich nicht trennen in der Allee dort, wo sie bei ihrer Mutter wohnte.

Zwischen den grauen Hinterhäusern zog die Wärme nicht ab. Wolfram kam von der Schicht. Vielleicht sind sie gar nicht im Garten gewesen.

Du bestehst, sagte Vater, der in Stimmung gewesen war. Sonntag bleibt die Fabrik zu, hatte er gesagt, wir schlafen aus. Sonntag wird nicht gesägt. Jeder Ochse hat seinen Sonntag.

Sägen werden wir auch. Weil du im Herbst nicht mehr da sein wirst. Du bestehst, und bestehst du nicht, läuft die Schule eben weiter

Er sah auf den Hof, einen grauen Lützner Straßenhinterhof. Was hatten sie sich zu Hause beim Sägen nicht alles erzählt? Wie die Jungs abmarschierten, nein, auf den Laster stiegen, dort hatte er sie aus den Augen verloren. Das Schweineschlachten im Waschhaus war so ein Augenblick. Was die Landser hatten liegen lassen, gehörte dazu, Planen, Verbandszeug, Nebelbüchsen ohne Zünder, Bauklammern, Ledersäcke, die Eisenkiste, ganz große Schraubenschlüssel, vielleicht für Panzer und Kanonen. Hinter einen Querbalken im Schuppen hatte Johannes den Feldspaten gesteckt. Die den Bahndamm stürmten, hatten solche Spaten. Vielleicht gehörte einem von ihnen das Gesicht, das er gesehen hatte.

26

Wärst von uns der erste zum Studium

Er fuhr zu den Eltern, wartete auf Bescheid. Er holte Vater am Bahnhof ab. Zu erzählen gabs immer. Viele, die rumlaufen, sind wie aus der Zeit gerissen, sagte Vater, wie Kalenderblätter im Papierkorb. Wer erzählt denn noch was? Die Mütter? Von dem außer der Einberufung und dem Schrecklichen danach? Ob Erwin als Brigadier in der Bauunion erzählen wird, dass er mit Sammelbüchse rumgelaufen ist? Oder was er an den Granitquadern verdient hat für die Reichskanzlei? Soll die Adolph-Dora sagen, seit sie nicht mehr schwarz geht, wie das war in Teplitz? Vom großen Handballspieler wird sie berichten, das war der Adolph Walter wirklich, dem die Schüler, als die Olympiade stattfand, am Munde hingen. Alfreds Briefe an Mutter habe ich gelesen. Edith und Anneliese haben sie nicht weggetan, glücklicherweise, weil sie an Mutter gerichtet waren, sonst hätten sie Rendezvous gemacht, wie die Leute sagen. Sein Gesicht nahm einen schmerzlichen Ausdruck an. Die Briefe machen mich unendlich traurig. Alfreds Darmgeschichte hätte fürs Lazarett gereicht. Dieses verfluchte Pflichtgefühl, und immer Mutters Hoffnung, dass sie uns nochmal sehen wird in diesem eisigen Winter, in dem sie gestorben ist.

Anneliese hat alle Post eingebüßt, als die Russen die Marschnerstraße besetzten, an der jetzt der grüne Zaun lang läuft.

Alfred hat mehr aufgeschrieben als ich, er hat sich mehr getraut. Die eingeäscherten Dörfer, die brandschwarzen Reste, auf die Schnee fällt, bloß die Öfen sind stehngeblieben, schreibt er. Alfred ist von Polen vorgerückt in die Ukraine. Tod und Zerstörung sind bei den Russen gewesen. Den Vormarsch hab ich nicht mitgemacht.

Du warst bis Leningrad?

Vater setzte die Tasche ab. Da muss ich stehen bleiben. Du gehst mir zu schnell. Die Beschießung hab ich miterlebt. Hab manchmal geträumt davon. Angefangen haben wir. Weißt du, dass man in Farbe träumen kann? Dieses Blitzen. Der Horizont wie zerrissen.

Nach dem Essen fragte Mutter: Müsst ihr? Weil Hannes nicht mehr da sein wird im Herbst, müssen wir sägen.

Oswald hatte die Säge geschärft. Ist wieder zur Wismut in den Schacht nach Aue. Als Obersteiger. Wie geht’s, hat er mich gefragt.Mit seinem stillen unausdeutbaren Lachen, einem wissenden und vielleicht verzeihenden sagte er es. Ich sag immer zur Ella, wenn ich zum Zug geh, ich leb wie im wilden Westen, wenn Sie sich vorstellen können, was das ist. Zueinander sagen wir »Sie«.

Als ich mehr wissen wollte, winkte er ab. Die Russen bestimmen.

Am Tag drauf winkte Mutter. Post! Für dich.

Ich bin zu aufgeregt.

Die Holzpantoffeln in der Hand, sah er den großen Umschlag. Von der Universität.

Sie sagte: Ich geh raus.

Als sie wieder hereinkam, hatte er das Schreiben noch nicht aufgemacht.

Sie öffnete.

Ich hab kein schlechtes Gefühl.

Er hatte bestanden. Sie umarmte ihn.

Georg kam, legte den Finger an den Mund.

Die sind nicht da.

Geh klinken, ob sie da sind. Er meinte Benesch und die Schmidt Anna.

Für mich sind sie immer da. Georg nahm die Brille. Einladung zur mündlichen Prüfung. Ich freu mich.

Die Hauptsache war das Schriftliche, du wirst bestehn, bloß sorglos darfst du nicht werden.

Er holte drei Schnapsgläser, nahm ein viertes für Jürgen, wenn er aus der Schule kommt. Mutter war dagegen.

Heute wird keiner ausgeschlossen.

Wärst von uns der erste zum Studium. Wenn ich an den Pulverarbeiter denke, an den Schlosser und Zirkelschmied, was mein Vater war. Alfred hat es bis zum Lehrer gebracht. Den hab ich beneidet. Ich hab Zigarren sortiert, bis mich der Vater aus der Lehre nahm, weil mir ständig übel wurde. Linkshänder war ich, unmusikalisch, also unbrauchbar für die Orgel. Die Seminaristen sollten die Orgel spielen, den Kantor ersetzen, ich glaube, das änderte sich für Alfred erst seit der Revolution.

Ich wurde Schreiber. Im Krieg zogen Mädchen in die Verwaltung ein. Ich hör auf.

Wir sollten uns freuen, Georg.

Er holte den Ungarnwein aus dem Keller. Den hatte ihm die Genossenschaft zum Fünfzigsten geschenkt.

Auf den Studenten!

Die können nicht alles durchforsten, was im Fragebogen steht, hab ich gedacht, sagte Vater, und jetzt hast du mündliche Prüfung.

Am 25. Juli muss ich dort sein.

27

Ich lieb dich eben, sagte sie, von dir hab ich geträumt

Er hatte Regine umgehend geschrieben. »Ich war erstaunt«, schrieb sie zurück, »als ich schon Post bekam, aber noch mehr, als ich den Brief las! Fängst Du im Herbst an zu studieren? Oder machst Du erst dein Bibliothekarsexamen? Was studierst Du denn? Geschichte? Eigentlich geht mich das ja nichts an, nur kann ich mir nicht vorstellen, wenn du im September nicht mehr an der Schule sein wirst.«

Sie kommt vielleicht doch.

»Allerhöchstens könnten wir uns den einen Tag sehen, und abends spät wieder zurück. Am Tag vorher ist großer Kulturausscheid, da lassen sie mich nicht weg, weil ich mit verantwortlich bin. Seit ich den Brief gelesen habe, bin ich traurig. Warum, weiß ich nicht. Bitte, lass dich nicht von mir beeinflussen. Sei mir bitte bitte nicht böse, wenn es mit dem Wiedersehn nicht klappen sollte, weil ich nach M. fahre.«

Warum sollte ich böse sein.

Dann noch ein Nachsatz.

»Lieber Hannes, ich habe mir nochmals alles überlegt. Wir könnten uns höchstens am Dienstag, 21.00 dort, weißt schon, treffen. Ich werde alle Hebel in Bewegung setzen, dass ich kommen kann. Für die mündliche Prüfung wünsche ich dir recht viel Glück. Regine.«

Er zwang sich an die Prüfung zu denken und dachte wieder an sie.

Sie kam vom Hauptbahnhof mit der Straßenbahn, um Zeit zu gewinnen, das Fahrrad stand sowieso zu Hause.

Sie legten sich ins Gras, die Hast verflog. Still wars. Immer mal wieder fuhr eine Straßenbahn über die entfernte Brücke. Sie spürten keine Mücken, wenns überhaupt welche gab. Vom Flutbecken hinter der Stadionseite kam ein schwacher Lichtschein. Die Luft brachte die Schnellfahrgeräusche der Straßenbahnen mit, wenn die an der Kleinmesse volles Tempo fuhren.

Ich lieb dich eben, sagte sie, von dir habe ich geträumt.

Bloß nicht zu früh binden, war Mutters Rede, die Mädels aus deiner Klasse, wenn sie sich zur Mütterberatung treffen, schieben schon den Kinderwagen.

Mit der Straßenbahn fuhren sie zum Bahnhof.

Umgehend schrieb sie zurück, ohne Anrede: »Bei mir hat alles geklappt, aber ehrlich, wohl gefühlt habe ich mich nicht. Lieber Hannes. Ich möchte nicht, dass du denkst, du mußt mir etwas vormachen. Vielleicht war es aufdringlich von mir, als ich dir schrieb, dass wir uns treffen könnten. Vielleicht ist alles Quatsch.«

Sie lenkte ab.

»Was andres. Heute war ich zur Generalprobe. Wir sind über den Steg gelaufen mit allem Drum und Dran. Sogar mit Musik. Es spielte ein ganz kleines Orchester, drei Mann. Was denkst du, was die für eine tolle Musik machten. Zu jedem Kleid usw. die passende Melodie. Ich mußte ein weißes Perlonkleid, einen Morgenrock, ein Cocktailkleid und einen Hausanzug zeigen, ach ja, und einen Strandanzug. Am besten gefällt mir der Hausanzug. Ganz schwarz. Aber weißt du, ich bekomme bestimmt einen roten Kopf, wenn ich mich mit dem Zeug muß vor den Leuten zeigen. Das ist ein ganz figurbetontes Modell und dann der Ausschnitt! Wenn mich meine Mutti sehen würde! Es klappte ganz gut, nur bei dem Verbeugen im Perlonkleid legte ich instinktiv die Hand auf den Ausschnitt. Alle lachten! Das soll ich nicht tun. Langsam begreife ich, warum sie so dagegen ist. So und nun bis zum Wiedersehn, wenn ich von M. zurück bin. Viele Grüße von Regine.«

Vom Laufsteg hat sie mir nichts erzählt. Er redete mir ihr und dachte an sie.

Er hatte bestanden. Die letzte Frage, die sie in der mündlichen Prüfung stellten, war, ob August Bebel im August Vierzehn den Kriegskrediten zugestimmt hat.

Nein, Bebel war tot, als der Krieg ausbrach.

Prüfer und Beisitzer hatten sich angeguckt. Bestanden.

28

Geschichte beruht auf Tatsachen, das bleibt. Da drauf stoßen wir an

Die Post hatte die Studienzulassung gebracht, den Stipendien­antrag, die Einladung zur Immatrikulationsfeier.

Vater mit dem Stipendienantrag. Ausgefüllt wird zuletzt. Punkt 1.5. Soziale Herkunft: Das ist der Punkt, auf den’s ankommt. Sie verglichen die Angaben: Büroangestellter; vor 1933: Büroangestellter, 1933 bis 45: Büroangestellter, 1940 eingezogen. 1945 bis 50: Büroangestellter. Für 1951, 1952, 1953, 1954 wollen sie es für jedes Jahr wissen. Bleibt alles so.

Beruf der Mutter: Ungelernt. Der Fragebogen hatte sich nicht verändert. Vor 1933? Landwirtschaftshilfe. Bleibt alles, sagte Vater.

Soll ich die Haushaltungsschule in Hirschberg angeben, fragte Mutter, inzwischen alles Polen? Verwirrt nur. Wenn was zur Schule gefragt ist, sagst du, 1933 bis 45: Hausgehilfin, Hausfrau.

Als wir uns kennenlernten, das wirst du vielleicht nicht mehr wissen, Georg, war ich Küchenhilfe im Ratskeller und wollte der Verwandtschaft nicht begegnen. Die bauten ihre Villa. Wir waren verarmt, was unser Vater, Hannes, nicht zugeben wollte. Für dich, Georg, war ich die Müllerstochter, wenn auch bloß die Pachtmühle übrig geblieben war, als wir uns kennenlernten. Muttel hat sehr darunter gelitten.

Du hast im Ratskeller Teller abgeräumt, ich aß dort Mittag als städtischer Angestellter.

Wer hätte geahnt, was kommt?

Leben ist Kampf. War so eine Rede von deinem Vater, als er mit Bäckerartikeln auf Kundschaft fuhr. Als Verlierer habe ich ihn nicht gesehn.

Für die Verwandtschaft waren wir das, sagte sie. Du warst Beamter, das zählte für mich, und jetzt sind wir wieder Verlierer, du mit, Hannes, als sie dich ablehnten. Im Kreisratsamt war sie an beschilderten Türen vorbeigelaufen zum Kreisrat. Die Beamten sind in der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung entmachtet worden, sagte der schneidend: Ihr Gatte war Beamter, der Zugang zur akademischen Bildung gehört dazu, damit müssen Sie sich abfinden.

Bei Anneliese habe ich geweint.

Sie brachte das Mittagessen auf den Tisch. Er holte eine Flasche Apfelwein. Die Flasche leisten wir uns. Der neue Mensch ist der angepasste Mensch. Der Fragebogen vergisst nicht, denke dran.

Die zweite Flasche tranken sie am Abend.

Dass du Geschichte studieren wirst, darf ich niemand erzählen, sagte Mutter. – Geschichte beruht auf Tatsachen, das bleibt. Wer in Rückstand geraten ist, muss Umwege gehen, zu der Überzeugung bin ich gekommen, sagte Vater.

Wenn Siegfried die Uniform anziehen müsste, würde mich das sogar beruhigen, meinte Mutter.

Vielleicht muss ein Schlussstrich her. Georg hob das Glas. Als sie nach Greifswald fuhren, dachte ich, der Vorsprung wird kürzer.

Auf seinem Gesicht zuckte es. Eigentlich muss man sich dafür, dass man sich so vergleicht, schämen, aber wer in Rückstand geraten ist, muss aufholen. Da drauf stoßen wir an, Hannes, sagte Vater. Ein richtiges Apfelweinglas ist das, so ein gedrungenes. Meine Mutter hätte dir davon die ganze Geschichte erzählen können, ich bringe sie nicht mehr zusammen. Ganz neu anzufangen, den Mut habe ich nicht mehr.

Du, Hannes, hast die Entscheidung gesucht.

Leipzig

Подняться наверх