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2.

Allmählich lichteten sich die Morgennebel über dem Wasser. Die Sonne hatte sich nun schon fast eine Handbreit über den Horizont erhoben, und unter dem Einfluss ihrer Strahlen zerstreuten sich die dichten Schwaden. Sie gaben den Blick auf den Hafen von Knosaur frei, der in einer hufeisenförmigen Bucht angelegt war.

Die Flut hatte fast ihren höchsten Stand erreicht, und die GRAGAN dümpelte leicht in dem schwachen Wellengang. Sie war ein Segler von fast dreißig Meter Länge und acht Meter Breite, und somit für die Begriffe, die auf Grosocht galten, ein sehr ansehnliches Schiff.

Sie stammte vom weit entfernten Kontinent Beschra und hatte rund zweitausend Meilen zurücklegen müssen, um hierher zu gelangen. Am Abend zuvor war sie eingetroffen und hatte vor Knosaur geankert. Nun waren alle Segel eingeholt, und die Besatzung hatte Gelegenheit, sich von den Strapazen der langen Fahrt zu erholen.

Fast alle Männer an Bord schliefen noch, auch der Kapitän. Nur der Koch war bereits an der Arbeit, und zwei junge Seeleute standen an der Backbordreling und sahen nachdenklich zu der Stadt hinüber. Ihre Mienen waren finster, doch daran war nicht der Nebel schuld.

»Was ist das hier nur für ein merkwürdiges Land!«, meinte Preschtan und spuckte zielsicher auf ein morsches Holzstück, das unter ihnen vorbeitrieb. »Ich bin nun schon ziemlich weit herumgekommen, aber so etwas wie hier habe ich noch nicht erlebt.«

»Die Leute sind merkwürdig, nicht das Land«, korrigierte Erwisch und strich sich mit der knochigen Hand durch das fast farblose strähnige Haar. Langsam drehte er sich zur Seite und setzte sein Gesicht den wärmenden Sonnenstrahlen aus, wobei er die schweren Lider über die Augen sinken ließ. Wie alle Tonamer – so nannten sich die Bewohner von Grosocht – verabscheute er die Kälte, die der Nebel erzeugt hatte. Auf einer Welt, die sonst nichts als einen ewigen Frühling kannte, war das nur natürlich.

Preschtan tat es ihm gleich und nickte dann.

»Ich verstehe das einfach nicht«, knurrte er missmutig. »Wo wir auch bisher gewesen sind, überall wurden wir freundlich empfangen. Die Waren, die wir bringen, sind begehrt, und die Kaufleute überschlagen sich fast vor lauter Freundlichkeit. Jeder Händler ist bestrebt, möglichst gute Geschäfte zu machen, und jeder kleine Tipp in dieser Hinsicht wird von ihnen großzügig mit Geschenken belohnt. Entsinnst du dich noch daran, wie in Hormarsch der dicke Grummol in der Nacht nach unserem Einlaufen heimlich an Bord kam?«

Erwisch schmunzelte, und die Hautlappen in seinem dunklen Gesicht legten sich in zahllose Falten.

»Und ob ich mich entsinne, Freund! Eine solche Begebenheit kann man nicht so leicht vergessen. Wir beide hatten Wache, während alle anderen an Land gegangen waren, um sich zu vergnügen. Er musste Schwerarbeit leisten, um das Boot zu rudern, doch die Habgier ließ ihn alles andere vergessen. Nun, wir sind umgängliche Leute, und so ließen wir ihn an Bord kommen, zumal er reichliche Geschenke mitgebracht hatte. Er bekam seinen Tipp, und seine Freude war so groß, dass er alle Vorsicht vergaß, als er wieder von Bord ging. In der Dunkelheit verfehlte er die Strickleiter, und plumps ...!«

Preschtan stieß ein glucksendes Lachen aus, das tief aus seiner Kehle kam.

»Wirklich, es war ein Bild für die Götter. Wenn er wenigstens noch still geblieben wäre – aber nein, er musste so laut um Hilfe schreien, dass der halbe Hafen rebellisch wurde! So erntete er soviel Spott, dass er freiwillig darauf verzichtete, das beabsichtigte Geschäft mit dem Kapitän zu machen.«

Erwisch nickte tiefsinnig.

»Er hätte beizeiten schwimmen lernen sollen, der Gute, dann wäre ihm das erspart geblieben. Doch damit sind wir wieder beim Ausgangspunkt angelangt: In allen anderen Häfen werden wir freudig begrüßt, nur hier in Knosaur nicht! Man braucht unsere Waren, deshalb gestattet man uns gnädig das Einlaufen, aber das ist auch schon alles. Ansonsten behandelt man uns, als hätten wir eine ansteckende Krankheit – wir müssen im freien Wasser Anker werfen, statt am Ufer festzumachen, und die ganze Nacht über haben Posten darüber gewacht, dass niemand von uns das Schiff verließ.«

Preschtan öffnete die Augen und deutete dann zur Ufermauer hinüber, die nun schon deutlich zu erkennen war.

»Sie sind auch jetzt noch da, wenn auch nicht mehr so zahlreich. Aus irgendeinem Grund scheint man uns zu misstrauen, aber warum nur? Selbst in Knosaur sollte man doch wissen, wonach einem Seemann nach fünfzig Tagen und zweitausend Meilen Fahrt der Sinn steht.«

Der Freund seufzte entsagend.

»Du sagst es, Preschtan! Endlich wieder einmal Land unter den Füßen zu spüren, einen Bummel durch das Vergnügungsviertel zu machen, um schließlich auf dem Lager eines Mädchens zu landen, das vielleicht teuer, dafür aber auch willig ist ... Hier gibt es jedoch nichts von alledem.«

»Nicht einmal ein Vergnügungsviertel, soviel ich weiß«, bestätigte der andere. »Es soll schon Seeleute gegeben haben, die hier trotz der Posten heimlich an Land gelangt sind, aber sie wurden bitter enttäuscht. Ein Teil von ihnen kehrte nie zurück, niemand weiß, was mit ihnen geschehen ist. Diejenigen, die wieder auf ihre Schiffe gelangten, berichteten anschließend, dass Knosaur ihnen einfach unheimlich vorkam. Niemand scheint hier etwas für Freude und Vergnügen übrig zu haben, alle Leute sind so ernst und bedrückt, als stände ein übermächtiger Feind direkt vor den Toren der Stadt. Doch nicht nur hier soll es so sein, auch von den anderen Häfen dieses Landes wird ähnliches berichtet.«

»Es soll aber nicht immer so gewesen sein«, spann Erwisch den Faden weiter. »Aus alten Überlieferungen geht hervor, dass sich hier früher das Leben von dem unseren nicht wesentlich unterschied. Irgendwann muss sich das plötzlich geändert haben, und seitdem sind Fremde hier nicht mehr gut gelitten. Es soll irgendwie mit geheimnisvollen Gebäuden zusammenhängen, die damals in allen Städten errichtet worden sind.«

»Vielleicht hat man sich hier einen neuen Gott zugelegt?«, überlegte Preschtan träge. »Das wäre wohl die einleuchtendste Erklärung; Priester sind oft recht merkwürdige Gesellen, die alles mögliche tun, um ihre Gläubigen auf dem Weg zu halten, der ihrer Meinung nach der richtige ist. Was hältst du denn von Göttern und Priestern?«

Erwisch grinste abfällig und verscheuchte einen Seevogel, der sich auf der Reling niederlassen wollte.

»Ungefähr die Hälfte von nichts, wenn du es genau wissen willst. Die sind noch schlimmer als die Kaufleute – sie predigen auf der einen Seite die Furcht vor ihren Göttern, und auf der anderen halten sie eifrig die Hände auf, um sich an den Gaben zu bereichern, die für diesen oder jenen Gott bestimmt sind! Sicher mag es da auch Ausnahmen geben, aber viele sind es bestimmt nicht.«

»Man müsste dem einmal auf den Grund gehen«, meinte Preschtan, der plötzlich ungewöhnlich ernst geworden war. Der Freund sah ihn argwöhnisch an.

»Was willst du damit sagen?«, forschte er beunruhigt. Nun war es Preschtan, der zu grinsen begann.

»Seit wann bist du so schwer von Begriff?«, spottete er provozierend. »Du hältst nichts von Göttern und Priestern, genauso wie ich. Müsste es dir da nicht direkt Vergnügen bereiten, den Vorgängen hier in Knosaur auf die Spur zu kommen? Vielleicht könnten wir dadurch sogar erreichen, dass man uns beim nächsten Besuch in diesem Hafen weit freundlicher empfängt, wer weiß?«

»Das wäre schon einige Mühe wert«, räumte Erwisch nach kurzem Überlegen ein. »Doch dazu müssten wir erst einmal an Land gelangen, und dabei dürfte es erhebliche Schwierigkeiten geben. Vergiss nicht die Posten, die Tag und Nacht aufpassen, um eben das zu verhindern!«

Preschtan schüttelte geringschätzig den Kopf.

»Die bereiten mir nicht allzu viele Sorgen«, erklärte er. »Sie bewachen nur die Hafenbucht, das kannst du an den Fackeln sehen, die nachts entzündet werden. Weiter draußen passt aber niemand mehr auf, und das gibt uns eine Chance! Wir brauchen nur abzuwarten, bis am Abend die Ebbe eintritt – dann gehen wir heimlich über Bord und lassen uns von ihr bis außerhalb der Bucht tragen. Dort gehen wir dann irgendwo an Land. Bis zum Morgen sind unsere Sachen wieder trocken, und nichts kann uns mehr daran hindern, heimlich in die Stadt zu gelangen!«

»Man könnte uns als Fremde erkennen«, gab Erwisch zu bedenken, aber der andere winkte ab.

»Wenn wir uns nicht gar zu ungeschickt benehmen, auf keinen Fall. Knosaur hat ungefähr vierzigtausend Einwohner, und da kann nicht jeder jeden kennen. Es kann nicht mehr lange dauern, bis das Boot der Hafenaufsicht zur GRAGAN kommt, und anschließend beginnt das Ausladen, das von Leuten aus Knosaur vorgenommen wird. Dabei haben wir ausreichend Gelegenheit, ihr Verhalten zu studieren, damit wir es später überzeugend nachahmen können. Das sollte uns doch wohl gelingen – oder traust du dir das nicht zu?«

Erwisch antwortete nicht sofort, sondern überlegte noch eine Weile. Dann erhellte sich sein Gesicht, und er schlug seinem Gefährten auf die Schulter.

»Die Sache reizt mich – ich bin dabei! Doch jetzt müssen wir wohl oder übel den Kapitän wecken, eben stößt das Boot der Hafenaufsicht drüben von der Ufermauer ab. Wir reden dann später noch über die Sache.«

*

»Ersäufen sollte man sie alle!«, knurrte Kapitän Firnak aufgebracht, und der neben ihm an der Reling stehende Steuermann sah ihn verwundert an. Von dieser Seite kannte er den Schiffsherrn noch gar nicht.

Firnak war ein ruhiger, ausgeglichener Mann im besten Alter. Als Seefahrer war er ein Könner, und doch konnte er den Kaufmann nie ganz verleugnen. Im Verlauf unzähliger Verkaufsverhandlungen hatte er sich jenes Maß von Verbindlichkeit zugelegt, das ihm zur zweiten Natur geworden und ihm in allen Lagen von Nutzen war. Sie bestimmte auch sein Verhalten gegenüber der Schiffsbesatzung, und damit war er immer gut gefahren.

Wo andere Befehle brüllten, weil sie glaubten, ihren Status herausstreichen zu müssen, sprach er ruhig und gelassen, und trotzdem setzte er sich durch. Mehr noch, seine Männer achteten ihn weit mehr als andere Kapitäne, weil sie erkannten, dass hinter seiner Gelassenheit eine gehörige Portion Klugheit steckte. Er hatte es nicht nötig, den starken Mann zu spielen, man gehorchte ihm auch so.

Um so mehr verblüffte dieser unverhoffte Ausbruch nun den Steuermann. Sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen, aber Firnak sprach bereits weiter.

»Ich möchte nur wissen, was sich die Leute von Knosaur eigentlich denken!«, meinte er erbittert. »Als der Hafenkapitän gestern abends an Bord kam, hat er mich behandelt, als wäre ich der letzte Straßenfeger. Meinen guten Wein hat er kurzerhand abgelehnt, und nicht ein einziges freundliches Wort ist über seine Lippen gekommen. Statt dessen hagelte es Verbote und Befehle – geht man so mit Leuten um, die einem Waren bringen, die man nötig braucht?«

»War es wirklich so schlimm?«, erkundigte sich der Steuermann. Kapitän Firnak nickte mit grimmigem Gesicht.

»Ich bin schon weit herumgekommen, aber so etwas habe ich noch nirgends erlebt. Dass die Hafeneinfahrt bis auf eine schmale Passage durch Pfähle versperrt ist, erschien mir schon ungewöhnlich genug, aber das konnte auch eine Verteidigungsmaßnahme gegen Piratenüberfälle sein. Doch dann kam dieser Schelkar, und von da ab sah ich klar. Eines darfst du mir glauben, Bashtor: Wir waren einmal hier in Knosaur – ein zweites Mal wird es mit Sicherheit nicht geben!«

Der Steuermann kam nicht mehr dazu, etwas zu entgegnen, denn inzwischen hatte das Boot die GRAGAN erreicht.

Es war breit und plump, an den Rudern saßen sechs Männer. Fünf weitere befanden sich neben dem Hafenkapitän an Bord, und sie alle waren mit schweren Armbrüsten bewaffnet, die gespannt und mit Bolzen geladen waren. Es sah aus, als wären sie gekommen, das Schiff zu erobern, und Bashtor begann seinen Kapitän zu verstehen.

Auf Firnaks Wink hin ließ Preschtan eine Strickleiter herab, und Schelkar kam an Bord.

Der Hafenkapitän war ein großer, gut gebauter Tonamer, doch sein Gesicht war maskenhaft starr. Kein einziger Hautlappen bewegte sich, als er die Hand zu einem knappen Gruß erhob.

»Ich komme, um deine Ladung zu begutachten, Kapitän Firnak. Wir kaufen nur einwandfreie Waren, jeder Versuch, mich zu betrügen, wird geahndet werden. Führe mich in die Laderäume.«

Der Kapitän knirschte heimlich mit den Zähnen, aber er fügte sich in das Unvermeidliche. Er hatte schon früher gehört, dass die Leute von Knosaur schwierige Gesellen waren, aber so etwas hatte er nicht erwartet. Er war daran gewöhnt, mit Händlern umzugehen, mit ihnen zu trinken und zu feilschen, und das alles in einer heiteren, zwanglosen Atmosphäre. Natürlich versuchte jeder, ihn ein wenig übers Ohr zu hauen, aber diese Schliche kannte er auswendig. Bisher war er immer noch derjenige gewesen, der die anderen hereingelegt hatte. Und nun das hier ...

Es war einfach widerlich, wie man hier mit ihm umsprang!

Eine Stunde lang stapfte Schelkar fast wortlos durch die Laderäume. Er schien ein Experte auf allen Gebieten zu sein, denn seinen Augen entging nicht der kleinste Mangel. Hundert wertvolle Vernak-Felle strich er von der Liste, weil er an einem einzigen eine kahle Stelle entdeckt hatte. Jeder normale Händler hätte sie bedenkenlos genommen, weil er an ihnen ein halbes Vermögen verdienen konnte!

Erwisch und Preschtan, die die beiden begleiteten, warfen sich bezeichnende Blicke zu. Bald darauf staunten sie jedoch noch viel mehr.

Der Hafenkapitän akzeptierte widerspruchslos alle Preise, die Firnak ihm nannte! Den beiden jungen Männern traten fast die Augen aus den Höhlen, als sie bedachten, welcher Gewinn dabei für die Besatzung der GRAGAN abfiel.

Als geschäftstüchtiger Kauffahrer hatte der Kapitän natürlich von vornherein die Preise so angesetzt, dass er bei jedem Artikel noch einen ausgiebigen Nachlass gewähren konnte, ohne dabei etwas zu verlieren. Die Leute von Knosaur schienen nicht nur extrem unfreundlich, sondern auch extrem dumm zu sein, wenn sie nicht einmal den kleinsten Versuch machten, etwas abzuhandeln!

Als Schelkar wieder von Bord gegangen war, machte Erwisch eine entsprechende Bemerkung, aber Firnak schüttelte den Kopf.

»Sie sind keineswegs dumm, das darfst du mir glauben. Sie sind einfach gezwungen, soviel zu zahlen, sonst würde kein einziges Schiff mehr ihren Hafen anlaufen. Dass das ohnehin nur selten geschieht, siehst du ja daran, dass die GRAGAN das einzige fremde Fahrzeug hier in Knosaur ist.«

Eine halbe Stunde später wurde mit dem Entladen begonnen.

Da das Schiff etwa fünfzig Mannslängen vom Ufer entfernt hatte ankern müssen, gab es keine Möglichkeit, einen Steg dorthin auszulegen. Ein Dutzend Boote wurde herangebracht, machte an der GRAGAN fest, und dann kamen die Ladearbeiter an Bord. Es waren normale, kräftige Männer, aber irgendwie glichen sie alle dem Hafenkapitän. Sie sprachen kein überflüssiges Wort, schufteten dafür aber wie die Besessenen.

Infolge des umständlichen Entladeverfahrens wurde es bereits dunkel, als die letzten Waren das Schiff verlassen hatten. Anschließend erschien wieder Schelkar, erstattete Firnak den Kaufpreis und verlangte dann, dass die GRAGAN unverzüglich wieder auslaufen müsse. Der Kapitän ließ ihn ausreden, doch dann sagte er selbst Worte, die zu seinem sonstigen diplomatischen Verhalten in einem sehr als krassen Widerspruch standen.

»Ich habe mir von dir eine Menge bieten lassen, Schelkar, aber einmal ist es genug! Bei allen Seeteufeln – was denkt ihr hier in Knosaur eigentlich, wer ihr seid? Ich will es dir genau sagen: Ihr seid die ungebildetsten, unhöflichsten Schnelks, die mir je auf Grosocht begegnet sind! Kein vernünftiger Tonamer würde sich je so benehmen wie ihr.«

Schlagartig stand offene Feindseligkeit im Raum. Der Hafenkapitän fuhr steil in die Höhe, und seine Hand griff nach dem langen Degen, der an seiner Hüfte hing, während Bashtor den Wurfdolch hervorholte, der in seinem Gürtel steckte.

Firnak achtete nicht darauf, sondern sprach im gleichen Ton weiter: »Das wirft die interessante Frage auf, welcher merkwürdigen Gattung ihr angehört, aber ich will das beiseite lassen. Wir sind nicht weniger als fünfzig Tage unterwegs gewesen und haben zweitausend Meilen zurückgelegt, um zu euch zu gelangen. Jetzt gehen unsere Lebensmittel zur Neige, und auch unsere Wasservorräte sind fast aufgebraucht. Ich verlange die Gelegenheit, beides zu ergänzen! Früher wird die GRAGAN kein einziges Segel setzen – habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Schelkar schien vor Grimm fast bersten zu wollen. Die Hautlappen in seinem Gesicht zuckten wie wild, und der Steuermann beobachtete ihn aufmerksam, den Dolch griffbereit in der Hand. Doch plötzlich trat eine überraschende Wendung ein.

Mit einer abrupten Bewegung schob der Hafenkapitän den halb gezückten Degen wieder in die Scheide zurück. Von einem Augenblick zum anderen erlosch die Wut in seinen Zügen und machte einem Ausdruck völliger Gleichgültigkeit Platz. Als er dann sprach, klang es so ruhig und sachlich, als würde ein ganz anderer Mann aus ihm reden.

»In Ordnung, Kapitän, ich erkenne deine Gründe an. Ihr dürft noch einen Tag länger bleiben, ich selbst werde veranlassen, dass euch alles geliefert wird, was ihr braucht. Fertige eine Liste an, ich nehme sie gleich mit.«

Firnak war nicht weniger überrascht als sein Steuermann, doch er stellte sich mit der ihm eigenen Wendigkeit sofort auf die neue Lage ein. Zehn Minuten später hatte er die Aufstellung gemacht und übergab sie Schelkar, der sie wortlos einsteckte und dann mit gravitätischem Schritt die Kabine verließ.

Als er von Bord gegangen war, wandte sich Firnak an seine Männer.

»Es ist zwar schon spät, aber eine Arbeit muss unbedingt noch heute getan werden: Scheuert das Deck, und zwar so gründlich wie möglich – überall dort, wo Schelkar gegangen ist ...«

Die Seeleute nickten verständnisvoll und machten sich sofort an die Arbeit. Firnak belohnte sie mit einem Fässchen Falmor, trank selbst mit, und an Bord der GRAGAN kehrte wieder der gewohnte Zustand der Ausgeglichenheit ein. Niemand sprach davon, doch alle wussten es auch ohne Worte: das Schiff würde nie mehr nach Knosaur zurückkehren!

Eine Stunde später leerte sich das Deck, alle verschwanden in ihren Kabinen. Eine Wache wurde nicht aufgestellt, denn die Posten an der Ufermauer hatten längst wieder ihre Positionen eingenommen. Sie wachten nicht nur darüber, dass niemand den Segler verließ, sondern auch darüber, dass ihn niemand betrat, und das konnte dem Kapitän nur recht sein.

Gegen Mitternacht stahlen sich Erwisch und Preschtan wieder nach oben. Ihr Plan stand fest.

Sie hatten sich beim Trinken zurückgehalten und waren vollkommen nüchtern. Am Tage hatten sie ausreichend Gelegenheit gehabt, das Verhalten der Männer aus Knosaur zu studieren und trauten sich nun zu, es überzeugend kopieren zu können. Beide trugen eine dunkle, unauffällige Kleidung, wie sie offenbar in der Stadt bevorzugt wurde. Auch in dieser Hinsicht nahm sie eine Sonderstellung ein, denn im allgemeinen liebten die Tonamer farbenfrohe Gewänder.

Sie übereilten nichts, hielten sich im Schatten und spähten zu den Posten hinüber, deren Fackeln die einzigen Lichter waren, die noch in ganz Knosaur brannten. Auch das war ungewöhnlich, zumindest für eine Hafenstadt. Welche Rätsel mochte diese wohl bergen, dass ihre Bewohner so sorgsam darauf bedacht waren, sie vor allen Fremden zu verbergen?

Die Ebbe hatte bereits eingesetzt, und die GRAGAN stemmte sich gegen den Anker, der sie an ihrem Platz festhielt. Die beiden jungen Männer wechselten auf die andere Schiffsseite hinüber, entkleideten sich und banden sich ihre Kleidung auf dem Rücken fest. Dann ließen sie sich an einem vorbereiteten Seil geräuschlos über Bord ins Wasser gleiten. Der Sog der Ebbe erfasste sie und zog sie mit sich, dem offenen Meer entgegen. Die Pfahlsperre an der Hafeneinfahrt bildete kein Hindernis für sie.

Sie schwammen einem Abenteuer entgegen, das größer war als alles, das sie sich in ihren kühnsten Träumen hätten ausmalen können ...

Perry Rhodan 747: Die Körperlosen von Grosocht

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