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Alis Tasche

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Als in Bagdad das Denkmal des Diktators stürzte, kam es im Fernsehraum zu einer bösartigen Auseinandersetzung. Sechs junge Sudanesen begannen eine Prügelei mit einer Gruppe Iraker, die den Sturz des Diktators feierten. »Die Amisoldaten werden eure Frauen vögeln. Warum freut ihr euch darüber?« Diese Äußerung eines Sudanesen namens Jûssuf hatte den Funken entzündet.

Die Afghanen und ein paar Nigerianer versuchten, die Streithähne zu trennen. Die Iraner verließen den Raum und schauten lieber durchs Fenster zu. Es floss viel Blut. Einer der Sudanesen musste bewusstlos ins Krankenhaus gebracht werden, nachdem ihm jemand den Schädel eingeschlagen hatte. Als die Ordnungshüter eintrafen, stank es im Raum bestialisch und das Mobiliar war zertrümmert. Ich betrachtete, kalt und distanziert, von der Tür aus die Schlägerei. Seit über drei Jahren war ich nun schon im Aufnahmezentrum für Flüchtlinge in der kleinen italienischen Stadt und hatte schon so manche böse Streiterei miterlebt. Solche Streitereien brachen aus wegen Waschpulver oder wegen Frauenunterwäsche. Letzteres geschah beispielsweise, als die Kurdin Barwên ihren kurdischen Mitflüchtlingen erzählte, einen jungen Pakistaner dabei beobachtet zu haben, wie er ihre Unterwäsche von der Leine klaute. Das löste einen Ehrenhändel zwischen den Pakistanern und den Kurden aus, der erst nach drei Tagen zu Ende ging, nachdem der Chef des Zentrums die Polizei zu Hilfe gerufen hatte, da das Wachpersonal der Lage nicht Herr wurde.

Was bei dieser Schlägerei im Fernsehraum meine Neugier weckte, war Ali Basrâwi. Er saß, seine Tasche fest an sich gedrückt, mit einem irren Grinsen in einer Ecke des Zimmers. Dieser sanfte junge Mann hatte sich seit seiner Ankunft sehr verändert. Ich lud ihn am Abend zu einem Kaffee in mein Zimmer ein, um mehr über ihn zu erfahren und mich von ihm zu verabschieden. Er hatte beschlossen, nach Finnland weiterzuziehen, eine Entscheidung, die mich nicht so recht überzeugte. Ich riet ihm, doch lieber nach Deutschland oder in ein anderes Land zu gehen, wo die Chancen vielleicht besser wären, Arbeit zu finden. Wir unterhielten uns lange: über seine Träume, seine Ängste, seine Pläne. Er erzählte mir, er könne die Stimme seiner Mutter hören. Sie habe liebevoll zu ihm gesprochen und ihm Ratschläge erteilt, aber sie habe ihn auch dafür getadelt, was im Wald in Griechenland mit ihrem Kopf passiert sei. Auch er war glücklich, als der Diktator stürzte, doch ihn ängstigte der Gedanke, die europäischen Länder würden aufhören, irakische Flüchtlinge aufzunehmen. Ich tröstete ihn, die Verhältnisse im Land könnten sich verändern und wir alle vielleicht bald wieder nach Hause und zu unseren Familien zurückkehren. Doch dann erinnerte er mich an seine bleigraue Tasche. »Ich habe weder Familie noch Freunde, noch Hoffnung. Alles, was ich besitze, trage ich in dieser Tasche mit mir herum. Ich wünsche mir nur, meine Mutter an einen sicheren und ruhigen Ort zu bringen. Die Arme hat lange genug gelitten.«

Ich habe mir oft vorgestellt, mein Leben damit zu verbringen, all die skurrilen Geschichten niederzuschreiben, die ich auf den geheimen Pfaden der Emigration erlebt hatte. Das ist mein Krebs, von dem ich nicht weiß, wie ich von ihm geheilt werden kann. Ich fürchte, ich könnte ein so seltsames Ende finden wie der irakische Schriftsteller Châlid Hamrâwi, der sein ganzes Leben lang über die Leute des einfachen Markts unweit seines Hauses geschrieben und, als der Markt abgerissen und an seiner Stelle ein großer Wohnblock errichtet wurde, Selbstmord begangen hatte. Er hinterließ sechs Bände mit Geschichten, die alle vom Weben und Leben auf diesem Markt erzählen. Einmal unterhielt ich mich mit einem jungen deutschen Romanautor über meine persönlichen Erfahrungen als klandestiner Emigrant und meine Vorstellungen darüber, wie das Erlebte fiktional zu gestalten sei. Als dann der junge Deutsche von sich zu reden begann, gab er zu, noch nie etwas Substanzielles geschrieben zu haben. Der Grund dafür, glaubte er, liege in seinem jugendlichen Alter und seinem geringen Erfahrungsschatz. Ich hatte fast das Gefühl, er beneide mich um all meine seltsamen und schmerzhaften Lebenserfahrungen. Doch statt mir darauf etwas einzubilden, schämte ich mich. Seine Bemerkungen hatten mir wieder einmal gezeigt, was für ein zerstörtes und orientierungsloses Etwas ich war. Bittere Scham ergriff von mir Besitz, die Scham jenes Mannes, von dem Andrej Tarkowskij erzählt: Ein Mann hat auf der Straße einen Unfall, bei dem ihm ein Arm abgetrennt wird. Als sich Passanten versammeln und auf den Krankenwagen warten, zieht er ein Taschentuch hervor, um seinen Arm vor den Blicken der anderen zu verbergen.

Doch Ali Basrâwis Geschichte niederzuschreiben lockte mich die ganze Zeit, obwohl sie voller Elend und Tristesse war und auch noch einige wenige Drittweltelemente enthielt, die sich an die Gefühlswelt westlicher Leser richten. Seine Geschichte hat mir immer die Poesie des menschlichen Gesichts verdeutlicht, das wie ein Juwel unter Millionen Tonnen von Trivialmüll dieses Lebens verborgen ist. Vielleicht weil ich ein Dichter bin und als Flüchtling an einem solchen Ort wohne, einem Kuhstall, habe ich ein verhärtetes Herz oder vielleicht ein Gehirn, das nicht ohne die albernen Weisheiten des Nihilismus auskommt, ein Gehirn, das versucht, mit dürftigen Worten gleichzeitig seinen Zorn über und seine Leidenschaft für die menschliche Angst auszudrücken. Aber jedes Mal, wenn ich einen Baum anschaue oder über eine Nacht voller Wölfe des Zweifels nachdenke, reißt in meinem Herzen eine Quelle aus simpler, kindlicher Traurigkeit auf. Ich bin überzeugt, dass das Schreiben sich nicht behindern lassen darf durch das demütige Gefühl Massen von Menschen gegenüber, aus deren Hemden der Schweiß dampft und die sich ähneln wie die Klos in einer Toilette. Doch Alis Geschichte sickerte in mein Blut und drängte mir viele Nächte lang Tränen in die Augen. Ich weinte über mein verhärtetes Herz. Ich weinte, weil die Welt um vieles reiner und schöner sein könnte.

Als Ali Basrâwi im vergangenen Jahr ins Aufnahmezentrum kam, gab es viel Unruhe. Die anderen Bewohner machten einen Riesentumult. Es wurde viel gelacht und gewitzelt, was wohl in seiner bleigrauen Tasche war, einer Reisetasche im Stil der 1950er-Jahre. Gleich nach seiner Ankunft wurde Ali von der Polizei vorgeladen und drei Tage einbehalten. Danach ließ man ihn gehen, gab ihm aber seine Tasche erst drei Monate später zurück. Während dieser Zeit wurde sie in den Labors der Hauptstadt untersucht. Und der Direktor des Aufnahmezentrums war schockiert, als Ali schließlich seine Tasche mit dem gesamten Inhalt zurückerhielt.

In den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts lebte Ali mit seinen sieben Brüdern, alle älter als er, in einem elenden Viertel in Bagdad. Sein Vater arbeitete als Nachtwächter für mehrere Läden in der Stadtmitte. Seine Mutter war, wie die meisten irakischen Mütter, ein Wesen, über das man den Morast der Traurigkeit, der Ungerechtigkeit und der Einsamkeit ausschüttete. Man könnte leicht die Existenz Gottes leugnen, wenn man auch nur einen Tag im Leben einer irakischen Mutter erlebt hat. Natürlich könnten Regungen dieser Art als simple, romantische Gefühlsaufwallungen abgetan werden, doch wenn es geheime Kameras gäbe, die der Welt zeigten, was eine Frau in irakischen Häusern zu ertragen hat, würden Steine reden und die Verhältnisse und ihre Verursacher anprangern. Alis Brüder hatten von ihrem Vater die zwanghafte Neigung geerbt, die Mutter für alles Unheil und alle Probleme, für Armut und Schicksalsschläge verantwortlich zu machen. Beim trivialsten Anlass wurde sie geschlagen, und die Mutter haderte mit ihrem Herrn, dass er ihr keine Tochter geschenkt hatte, dir ihr im Haushalt beistehen und Sympathie für sie haben könnte. Ali konnte nie den Tag vergessen, an dem sein ältester Bruder die arme Frau mit Händen und Füßen traktierte, bis sie ohnmächtig zusammenbrach, und das nur, weil sie ihn nicht geweckt hatte, damit er auf dem Markt Arbeit suchen konnte. Die Reaktion der Mutter auf all die Gewalt und Demütigung war immer dieselbe: Sie setzte sich neben den alten Kleiderschrank und weinte; sie beschwor die Gott wohlgefälligen Heiligen, sie aus ihrer Lage zu erlösen. Ali war damals noch ein kleiner Junge. Die Mutter schloss ihn in die Arme und drückte ihn schluchzend an die Brust. Und vielleicht umarmte sie ja einen Sohn, der, einmal erwachsen, sie auch schlagen würde.

Wenn sie ausgeweint hatte, erzählte Ali, holte sie ihre kleine Tasche aus dem Kleiderschrank, das Einzige, was sie besaß: eine alte Reisetasche, darin ein Holzkamm, ein Spiegel und ein Bild von Imam Ali, außerdem ein Koranexemplar, das in ein grünes Tuch gewickelt war, und ein Schwarz-Weiß-Foto von ihr selbst als junges Mädchen mit ihrem Vater am Flussufer. Sie löste ihr schwarzes Kopftuch und kämmte eine volle Stunde völlig stumpfsinnig ihr Haar. Dazu summte sie ein altes Lied, in dem es um die Liebe zur Mutter ging. Vielleicht fand ja die ständig wiederholte Bitte der Frau um Erlösung aus diesem Leben bei den Satanen des Himmels schließlich Gehör. Sie starb völlig überraschend an einem Gehirnschlag. Ali musste nach ihrem Tod noch Jahre warten, bis er sich an seinen Brüdern und seinem Vater rächen konnte, der wie ein Stück Dreck gelähmt auf seinem Rollstuhl saß.

Ein Jahr lang bereitete Ali alles aufs Genaueste vor. Er hatte beschlossen, zuerst nach Iran zu fliehen. In der Nacht, in der er aufbrechen wollte, ging er ins Zimmer seiner Mutter und nahm ihre Tasche, danach schlich er sich aus dem Haus. Sein Freund Adnân erwartete ihn am Ende der Gasse mit Hacke und Schaufel, in einem Sack versteckt. Die beiden Freunde zündeten sich eine Zigarette an und marschierten zum Friedhof. Der Himmel war klar, und der Mond, groß wie Alis Schmerz, erleuchtete das Grab, das die Freunde öffneten. Mit einem orangen Tuch säuberten sie die Knochen seiner Mutter und legten sie in die Tasche.

Ali nahm seine Mutter in der Tasche mit auf seine Flucht nach Iran, glücklich über seine Rache. Er stellte sich die leichenblassen Gesichter von Vater und Brüdern vor, wenn sie die Sache entdeckten. Die Knochentasche verließ ihn auch während seiner zweiten Etappe über das Gebirge in die Türkei nie. Er schlief in Tälern mit anderen Flüchtlingen, die Tasche fest an sich gedrückt wie etwas Geliebtes, etwas Geheiligtes. Diese seltsame Tasche und Alis übertriebene Aufmerksamkeit dafür wurden Anlass zu Spott und Belustigung, was ihn aber nicht kümmerte. Und nie offenbarte er irgendjemandem ihr Geheimnis. Ein Jahr lang arbeitete er in Istanbul in einer Ballonfabrik, um seine Reise auf den geheimen Pfaden der Emigration fortsetzen zu können. Und während dieses Jahres unterhielt sich Ali bei Nacht mit seiner Mutter über das ferne Land, in dem er in Frieden wohnen wollte, auch über seinen Wunsch, ein neues Leben zu beginnen und die Pein zu vergessen. Doch immer schmerzte es ihn, dass er seine Mutter in eine Tasche hatte stopfen müssen.

Als es in Istanbul bitterkalt wurde, vereinbarte Ali mit einem Schlepper, sich von ihm über die türkisch-griechische Grenze bringen zu lassen. Der Winter ist die geeignetste Jahreszeit für solche Unternehmungen, weil die Grenzwächter ihre täglichen Patrouillen etwas weniger ernst nehmen. Ali hatte zwar Angst vor der Flussüberquerung, doch der Schlepper beruhigte ihn und versicherte ihm, diese erfolge in einem Boot mit genügend Platz für alle. Im kalten Wasser könne man sowieso nicht hinüberschwimmen. Trotzdem besorgte sich Ali Plastiktüten, um die Gebeine seiner Mutter darin zu verstauen.

Kaum hatte sich die Gruppe hinter dem Schlepper im Wald in Bewegung gesetzt, tauchten auch schon griechische Grenzsoldaten auf. Sie sollten stehen bleiben, wurde ihnen befohlen. Doch der Schlepper forderte sie auf, ihm durch den dichten, dunklen Wald zu folgen. Sie rannten los. Äste zerschrammten ihnen die Gesichter und zerrissen ihnen die Wintermäntel. Die Tasche fest an die Brust gedrückt, rannte Ali, so schnell er konnte, dicht hinter dem Schlepper her, um sich nicht zu verirren. Doch dann stieß er gegen einen Baumstamm, prallte zurück und fiel zu Boden. Die Gebeine seiner Mutter flogen in alle Richtungen und verteilten sich im Dunkeln auf dem Waldboden, er selbst blutete an der Stirn. Entsetzt und verwirrt sammelte er die Knochen ein, tastete sie sorgsam ab und legte sie zurück in die Tasche. Dann wischte er das Blut von seinen Augen und nahm torkelnd seine Flucht wieder auf. Von Zeit zu Zeit war in der Ferne noch das Rufen der Grenzpolizisten zu hören.

Wie durch ein Wunder und dank ihres intelligenten Schleppers, der den Weg durch den Wald kannte, gelang es der Gruppe, sich in Sicherheit zu bringen. Nur ein junger Iraner und ein junger Kurde verloren den Anschluss und wurden möglicherweise festgenommen. Die Übrigen erreichten wohlbehalten Athen und wurden einem alten griechischen Schlepper übergeben, der sie übers Meer nach Italien bringen sollte.

Während seines Aufenthalts in einem Versteck für Flüchtlinge in Athen untersuchte Ali den Inhalt seiner Tasche. Die Gebeine seiner Mutter, der Spiegel und der hölzerne Kamm, das Bild von Imam Ali und das Koranexemplar – alles war da. Es fehlte einzig der Kopf, der einst seinen Kopf berührt und sich zärtlich über ihn geneigt hatte.

Gewiss wird Ali seine Tasche an einen sicheren Ort bringen und für die Gebeine ein Grab finden, zu dem kein anderer den Weg kennt. Und vielleicht wird er dort, allein, eines der Lieder seiner Mutter hören, deren Kopf in jenem Wald verloren ging.

Der Verrückte vom Freiheitsplatz

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