Читать книгу 200 Liebesromane von Hedwig Courths-Mahler: Band 1 - Hedwig Courths-Mahler - Страница 4

Der verlorene Ring

Оглавление

Inhaltsverzeichnis

Käte Harland legte schnell die Stickerei beiseite, als Günter Warneck zu ihr ins Zimmer trat.

„Haben Sie ein Weilchen Zeit für mich, Käte?“, fragte er.

Eine leise Röte war in ihre Wangen getreten, als sie ihn erblickte. „Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Günter.“

Er lächelte. „Haben Sie einmal nichts Wichtiges zu tun?“

„Nichts, als eine belanglose Handarbeit fortzusetzen. Das eilt nicht.“

„Es ist mir sehr lieb, Käte, ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen und bin eigens zu diesem Zweck zu so ungewöhnlicher Zeit aus dem Geschäft nach Hause zurückgekehrt.“

Das feine Rot in ihrem Antlitz hatte sich vertieft, aber er achtete in seiner sichtlichen Erregung nicht darauf. Er war mit seinen Gedanken so ganz bei der Angelegenheit, die ihn beschäftigte, dass er wenig Interesse für Käte Harland hatte.

Käte aber war seit Jahren gewöhnt, Günter Warneck verbergen zu müssen, was in ihrem Inneren vorging. Stets musste sie ihm eine gleichmütige Ruhe vortäuschen, auch wenn ihr Herz in seiner Gegenwart bis zum Hals hinauf schlug. Er sollte, durfte nicht merken, wie ihr Herz zitterte, wenn sie ihn ansah oder mit ihm sprach, denn sie wusste, dass er ihr gleichgültig, bestenfalls mit ruhiger Sympathie gegenüberstand. Er durfte nicht ahnen, dass sie ihn liebte vom ersten Augenblick an, da er in ihr Leben getreten war.

Das war vor drei Jahren gewesen, als Günters Vater, der reiche Kaufmann Heinrich Warneck, sie zu sich genommen hatte in sein Haus.

Er war ihres verstorbenen Vaters bester Freund gewesen. Eine seltene Freundschaft hatte die beiden Männer verbunden, obwohl sie in ihrer ganzen Art grundverschieden waren. Ihre Freundschaft hatte die härtesten Proben bestanden.

Käte Harlands Vater hatte Heinrich Warneck, als die beiden noch jung waren, einen großen Dienst erwiesen, indem er eine Torheit des Freundes, die ihm sein ganzes Leben zerstört haben würde, mit allen Mitteln verhindert hatte. Das hatte Heinrich Warneck dem Freund nie vergessen. Ihre Freundschaft hatte noch manche Probe siegreich bestanden, obwohl das Leben sie beide später auseinander führte. Klaus Harland war an eine süddeutsche Universität als Professor berufen worden und hatte sich dort verheiratet, während Heinrich Warneck in Berlin blieb und nach dem Tod seines Vaters Chef der Firma Warneck wurde.

Aber auch diese verschiedene Entfaltung ihrer äußeren Schicksale hatte die beiden Männer einander nicht entfremden können. Und als Klaus Harland zwei Jahre nach seiner Gattin starb, erschien es Heinrich Warneck selbstverständlich, dass er sich der verwaisten Tochter seines Freundes väterlich annahm. So kam die siebzehnjährige Käte in sein Haus.

Das junge, warmherzige Geschöpf hatte es verstanden, durch ihre bescheidene, anmutige Frische das Haus ihres Vormunds zu beleben und zu erwärmen. Dieses vornehme Haus des reichen Fabrikherrn war zuvor sehr still und freudlos gewesen. Die Gattin Heinrich Warnecks war schon seit zehn Jahren tot, und zwischen ihm und seinem Sohn Günter hatten sich inzwischen scharfe Gegensätze herausgebildet, die in den beiden Charakteren begründet lagen. Günters Mutter hatte, solange sie lebte, mit linder Hand diese Gegensätze zu überbrücken vermocht, aber seit ihrem Tod war niemand mehr da, der zwischen Vater und Sohn taktvoll vermittelt hätte. Und so wuchsen sich die Gegensätze fast zu einer vollkommenen Entfremdung aus. Der „Warnecksche Starrkopf“ saß auf den Schultern beider Männer, und sie gerieten leicht hart aneinander.

Käte Harland war es gelungen, die emporkeimende Entfremdung zum mindesten aufzuhalten. Nicht, dass sie es vermocht hätte, wie Günters Mutter, die schroffen Gegensätze auszugleichen, aber schon durch ihr Dasein verhinderte sie allzu heftige Explosionen.

Ob Vater und Sohn sich bewusst wurden, dass Käte Harland als Friedensengel zwischen ihnen stand, war nicht zu ergründen. Heinrich Warneck fühlte nur mit Behagen, dass wieder ein sanfter, weiblicher Geist in seinem Hause lebte, der sich seinen Wünschen und Launen anschmiegte und ihn fürsorglich umgab. Günter Warneck hatte Käte zunächst wenig beachtet. Aber dann wurde es ihm zur Gewohnheit, sie bei den Mahlzeiten sich gegenüber zu sehen, und schließlich machte es ihm sogar einiges Vergnügen, ab und zu eine müßige Stunde mit ihr zu verplaudern.

Aber Günter hatte keine Ahnung davon, dass Käte ihn liebte. Sie war noch so jung, als sie in seines Vaters Haus kam, und er selbst war damals noch nicht lange aus dem Krieg heimgekehrt. Ein Armschuss hatte ihn davor bewahrt das letzte Jahr am Feldzug teilnehmen zu müssen. Und in jener Zeit war er in nicht sehr rosiger Stimmung gewesen, zumal er gleich wieder hart mit seinem Vater zusammengeraten war. Und Käte entwickelte sich dann so allmählich aus dem etwas eckigen, überschlanken Backfisch zu einer anmutigen jungen Dame, dass es ihm kaum auffiel. Sie war keine Schönheit, und Günter war von den schönen Frauen seiner Gesellschaftsklasse ziemlich verwöhnt und achtete der feinen stillen Reize nicht, die im Haus seines Vaters erblühten. Ihm, dem Erben des reichen Heinrich Warnecks, der obendrein noch eine sehr interessante, fesselnde Erscheinung war, die auf Frauen wirkte wie ein Magnet, kamen so viele schöne Frauen und Mädchen huldvoll entgegen, dass die stille Käte keinen großen Eindruck auf ihn machte. Freilich, er hätte sie nie mehr missen mögen in seinem Leben, sie gehörte mehr und mehr, ohne dass es ihm bewusst wurde, zu seinem häuslichen Behagen, aber nie wäre es ihm eingefallen, die kleine Käte mit anderen als etwa brüderlichen Augen anzusehen. Und Käte wusste ganz genau, dass sie ihm gleichgültig war, für sie war es schon ein Gewinn, wenn er ein freundliches Wort mit ihr sprach oder ein wenig mit ihr scherzte und plauderte.

Günters Vater hatte sein Mündel mit der Zeit herzlich lieb gewonnen. Sie war seinem Herzen im Grunde näher gekommen als sein eigener Sohn. Und wenn er früher zuweilen in seinem Gesellschaftskreis einmal Ausschau hielt, welche der jungen Damen er sich wohl zur Schwiegertochter wünschen sollte, so unterließ er das mehr und mehr seit Käte im Haus war und sich zu einer lieblichen Mädchenblüte entfaltete. Wenn er sie jetzt anschaute, fragte er sich oft, ob Günter keine Augen im Kopf habe. Er malte sich aus, wie schön es sein müsse, Käte für immer im Haus zu haben, und er machte sich daher mit dem Gedanken vertraut, dass aus Günter und Käte ein Paar werden müsse.

Wenn aber Heinrich Warneck etwas wollte, dann führte er es auch aus. Nicht umsonst war der „Warnecksche Dickschädel“ in der Familie bekannt. Und eines Tages saß es dann ganz fest in seinem Kopf und war beschlossene Sache, dass Käte Harland seine Schwiegertochter werden sollte.

Wohlweislich sprach er seinem Sohn vorläufig nicht davon, aber er suchte die beiden jungen Menschen einander näher zu bringen und sorgte dafür, dass Käte schöne Kleider trug und sich schmückte.

„Meine alten Augen wollen sich freuen an dir. Du musst dich schön machen für deinen alten Onkel Heinrich“, sagte er lächelnd zu Käte, wenn sie sich zu anspruchslos und einfach kleidete.

Im Übrigen übereilte er nichts, es hatte ja Zeit. Die beiden waren noch jung, und Günter mochte sich ruhig erst die Hörner abstoßen.

In letzter Zeit jedoch hatte der alte Herr mit Verdruss und einiger Unruhe gesehen, dass Günter sich mehr, als ihm lieb war, um eine junge Schauspielerin bemühte. Lori Leixner war sehr schön, sehr bezaubernd, aber auch sehr talentlos.

Vor allen Dingen aber war sie eine raffinierte Kokotte, die jeden Mann, der ihr nahe kam, in ihre Netze zu ziehen versuchte. Und Heinrich Warneck hatte alle Ursache, unruhig zu sein, denn sein Sohn gehörte viel mehr, als er ahnte, zu den Opfern der schönen Lori Leixner. Und da Günter sich sehr viel Idealismus bewahrt hatte und die junge Schauspielerin ernsthaft liebte, war das besonders gefährlich. Lori Leixner wusste, dass sie beim Theater kein Glück haben würde, wenn sie auch weit davon entfernt war, an ihre Talentlosigkeit zu glauben. Und so war sie darauf bedacht, sich eine glänzende Stellung zu erobern. Ihre anderen Verehrer, an denen es ihr natürlich nicht fehlte, dachten nicht daran, sie zu heiraten. Aber in Günter erblickte sie einen ernsthaften Bewerber. Er kam ihr von Anfang an achtungsvoller und ernsthafter entgegen, und sie spielte ihm, im Leben geschickter als auf der Bühne, eine ganz raffinierte Komödie vor.

Mit tränenschimmernden Augen erzählte sie ihm, wie sie von den Männern verfolgt, von neidischen Kolleginnen gehasst würde. Man gebe ihr nur keine guten Rollen, in denen sie ihr Können zu zeigen vermöge, weil sie zu stolz sei, ihre Ehre zu opfern. Sie sei leider verwaist und gezwungen, sich ihr Brot als Schauspielerin zu verdienen, aber ihr ganzes Wesen wurzele in einer anderen Sphäre. Sie sei aus guter Familie und hege keinen innigeren Wunsch, als der Bühne den Rücken kehren und ein stilles Leben führen zu dürfen.

Günter Warneck war so vollständig von ihr bezaubert, dass er ihr freudig jedes Opfer gebracht hätte. Er glaubte an ihre Ehrbarkeit, an ihre lautere, vornehme Gesinnung und hatte keinen heißeren Wunsch, als das geliebte Mädchen in einen sicheren Hafen zu retten. Lori merkte sehr bald, dass er sich mit ernsten Heiratsabsichten trug, und sie war nicht gewillt, dieses Opfer wieder loszulassen. Sie brach alle Beziehungen zu ihren anderen Verehrern ab und gab Günter zu verstehen, dass sie sich als seine Braut betrachte. Wie Günter geartet war, widersprach er dem nicht. Er warb ritterlich um sie und bat sie nur, ihm Zeit zu lassen, bis er mit seinem Vater ins Reine gekommen sei.

Heinrich Warneck hatte keine Ahnung, dass die Angelegenheit schon so weit gediehen war, aber immerhin erschien ihm diese Liaison verschiedener Anzeichen halber zu gefährlich, als dass er willens gewesen wäre, länger ruhig zuzusehen. Kurz und bündig erklärte er Günter, es sei an der Zeit für ihn, an eine Heirat zu denken. Er möge seine galanten Beziehungen abbrechen und sich darauf vorbereiten, dass er in Bälde Käte Harlands Gatte werde, denn es sei sein fester Wille, sein Mündel zu seiner Schwiegertochter zu machen.

Diese Eröffnung hatte er seinem Sohn am Vormittag dieses Tages gemacht. Wenn Heinrich Warneck seinen Sohn gekannt hätte, wäre ihm klar geworden, dass er durch eine derartig despotische Ankündigung nur zum Ungehorsam gereizt werden würde. Nur seiner maßlosen Überraschung war es zu danken, dass er nicht gleich eine scharf ablehnende Antwort gab, sonst hätte sich ein Konflikt schon jetzt nicht vermeiden lassen.

„Es ist nicht nötig“, fuhr der Vater fort, „dass du dich schon in diesem Augenblick entscheidest; aber bis heute in acht Tagen wünsche ich dich von allen anderen Verpflichtungen frei zu sehen. Bitte, halte dir vor Augen, dass ich in Käte deine künftige Gattin sehe, und in einer Woche wünsche ich deine Zustimmung zu erhalten – wenn du nicht ganz stichhaltige Gegengründe hast oder mir sagen kannst, dass du dir bereits eine andere Frau aus unseren Kreisen erwählt hast. In diesem Fall will ich natürlich keinen Zwang auf dich ausüben. Aber das eine sage ich dir, eine Liebelei mit einer obskuren Theaterdame gilt mir nicht als Gegengrund. Also bitte, überlege das ruhig und gib mir heute in einer Woche deinen Bescheid!“

Günter war indessen durchaus nicht imstande, sich diese Angelegenheit ruhig zu überlegen. Die despotische Art des Vaters reizte ihn namenlos. Hätte man ihm Zeit gelassen, seine Leidenschaft für die schöne Schauspielerin ausklingen zu lassen, so wäre es vielleicht nicht zum Äußersten gekommen. Vielleicht wären ihm dann die Augen über den wahren Wert Loris aufgegangen. Aber gerade, dass sein Vater ihn mit kalter Überlegenheit und starrem Willen in eine Ehe mit einer Frau hineindrängen wollte, die er bisher noch nie mit den Augen eines Mannes angesehen hatte, weckte in ihm den Widerspruchsgeist.

Während der Mittagstafel hatte er nur wenige Worte mit dem Vater gesprochen. Aber zum ersten Mal sah er an diesem Tag mit prüfendem Blick seine junge Hausgenossin an. Und er konnte nicht umhin, festzustellen, Käte habe sich, ohne dass er es beachtet hatte, zu einer lieblichen Erscheinung ausgewachsen. Sie hatte es wahrlich nicht nötig, sich von seinem Vater so diktatorisch unter die Haube bringen zu lassen. Er war fest davon überzeugt, dass Käte über den Heiratsplan seines Vaters ebenso empört sein würde wie er. Ein Mädchen wie sie bot man nicht an.

Und Günter beschloss, Käte gegen ähnliche Pläne seines Vaters in Schutz zu nehmen. Es wäre jammerschade, ein so liebes, reizendes Mädchen in eine liebeleere Ehe hineinzudrängen.

Ganz warm wurde Günter bei diesem Gedanken, als er seinen Blick auf Käte ruhen ließ. Und wenn sein Herz und seine Sinne nicht so ganz von Lori Leixner gefesselt gewesen wären, hätte der Gedanke, Käte zu heiraten, gar keinen Schrecken für ihn gehabt. Sie war sehr wohl dazu geschaffen, einen Mann glücklich zu machen. Aber dieser Mann konnte nicht er sein, er, der so fest in den Banden der schönen Lori lag.

Und er überlegte, was er tun müsse, um Lori zu seiner Frau machen zu können, ohne dass es eine häusliche Katastrophe geben würde.

Da fiel ihm ein, dass Käte durch ihre taktvolle Vermittlung schon manchen Sturm von ihm abgewendet hatte. Deshalb kam er am Nachmittag zu ganz ungewöhnlicher Zeit nach Hause und trat zu Käte ins Wohnzimmer. Er wollte sich ganz offen mit ihr aussprechen und mit ihr beraten, was zu tun sei, um den Heiratsplan seines Vaters zunichte zu machen.

„Bitte, nehmen Sie Platz, Günter, und sagen Sie mir, was Sie zu mir führt!“, sagte Käte, so ruhig sie es vermochte.

Er ließ sich ihr gegenüber in einen Sessel nieder und sah etwas unsicher in ihr zart gerötetes Gesicht. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie schön ihre großen braunen Augen waren.

Mit einem tiefen Atemzug richtete er sich auf und sagte:

„Es ist etwas sehr Ungewöhnliches, das mich zu Ihnen führt, Käte, und ehe ich mich ausspreche, möchte ich Sie fragen, ob Sie überzeugt sind, dass ich Ihnen so gegenüberstehe, wie ich vielleicht zu einer jungen Schwester stehen würde?“

Sie sah ihm ein wenig erstaunt in das erregte Gesicht.

„Ich glaube, Günter, dass ich von Ihrer Sympathie überzeugt sein kann. Sie sind immer sehr freundlich und gütig zu mir gewesen und haben mich nie als lästigen Eindringling behandelt.“

„Dazu hatte ich wahrlich keine Veranlassung. Ich bin sehr froh, dass mein Vater Sie ins Haus gebracht hat, denn Sie haben zwischen ihm und mir die Mittelsperson gespielt. Sie wissen, Käte, dass Vater und ich zu verschiedene Charaktere sind, um immer in Frieden miteinander auszukommen.“

Mit einem feinen Lächeln sah sie zu ihm auf.

„Wenn ich mir erlauben darf, etwas zu äußern, so ist es das, dass Sie sich in einem Irrtum befinden. Es kommt zwischen Ihnen und Ihrem Vater nur deshalb so leicht zu Schroffheiten, weil Sie einander zu ähnlich sind.“

Er stutzte und sah sie erstaunt an. „Zu ähnlich? Unsere Charaktere sollen sich ähnlich sein?“

„Viel mehr, als Sie es selbst denken. Gerade da, wo Ihre Charaktere einander gleichen, setzt auf beiden Seiten das Verständnis und die Duldung aus.“

Er schüttelte den Kopf. „Ihre Worte berühren mich sonderbar. Ich finde die Art meines Vaters oft unerträglich. Und nach Ihrer Ansicht soll ich einen ähnlichen Charakter besitzen?“

„Unerträglich erscheint es nur Ihnen. Sie leiden beide, weil Sie sich gegenseitig an den gleichen markanten Stellen Ihrer Charaktere wund reiben. Verzeihen Sie, Günter, dass ich das so offen ausspreche. Mir ist, als müsse ich das auch Ihrem Vater einmal sagen, weil ich denke, das müsste Ihnen gegenseitig helfen. Ich meine es gut, sonst würde ich mir nicht erlauben, solch ein Urteil abzugeben. Ich habe ja kein Recht dazu.“

Er wehrte hastig ab. „Sprechen Sie doch nicht immer, als bestehe Ihr Dasein in unserem Hause nur aus tausend Pflichten und aus keinem einzigen Recht.“

„Es ist aber so, oder vielmehr, mein ganzes Dasein hier legt mir nur eine einzige große Pflicht auf – die der Dankbarkeit. Rechte habe ich nicht.“

Kopfschüttelnd sah er sie an.

„Das sind also die Gedanken, die hinter Ihrer weißen Stirn spazieren gehen? Sie sind sich gar nicht bewusst, dass wir, Vater und ich, Ihnen viel mehr zu danken haben als Sie uns. Allein durch Ihr Hier sein verpflichten Sie uns zur Dankbarkeit, denn wenn in diesem Hause noch etwas von Familienfrieden und Zusammengehörigkeit zu finden ist, so ist das Ihnen auf die Rechnung zu setzen. Das wird mir jetzt erst klar, wo ich es ausspreche. Wenn Sie wüssten, eine wie unbehagliche Stimmung hier herrschte, ehe Sie kamen, würde Ihnen der Unterschied zwischen damals und jetzt sehr auffallen. Ich will noch gar nicht davon sprechen, was Sie uns täglich für große und kleine Dienste leisten, wie Sie Behagen und Ordnung um uns verbreiten und den ganzen Haushalt am Schnürchen haben, was bei Ihrer Jugend bewundernswert ist. Und nun reden Sie noch von einer Pflicht der Dankbarkeit“, sagte er in herzlichem Ton.

Ihr Gesicht hatte sich von Neuem gerötet.

„Ich fand hier eine Heimat, ich fand Güte und Freundlichkeit – wenn ich dafür nicht mit tausend kleinen Diensten danken könnte, womit sollte ich es sonst tun?“

„Nun gut, so stehen wir mindestens auf Gegenseitigkeit einander gegenüber. Aber nun komme ich wieder auf Ihren Ausspruch zurück, dass mein Charakter dem meines Vaters ähnlich sein soll. Ich war stets vom Gegenteil überzeugt.“

„Wie Ihr Vater auch, Günter. Er behauptet gleichfalls, Sie und er seien verschieden wie Tag und Nacht. Und doch sind Sie beide im Irrtum. Ich habe Gelegenheit genug gehabt, Ihre Charaktere kennen zu lernen. Sie sind beide sehr stolz und eigenwillig, beide konsequent bis zur – darf ich es sagen? – bis zur Halsstarrigkeit, wenn Sie etwas als recht erkannt haben. Sie sind auch beide sehr positiv und gar nicht gewillt, schwachherzige Zugeständnisse zu machen; trotzdem ist der Grundzug Ihrer Charaktere eine vornehme Güte. Seltsamerweise reiben Sie sich beide viel mehr an Ihren Vorzügen als an Ihren Fehlern.“

Er sah nachdenklich vor sich hin.

„Mein Vater ist sehr hart, despotisch und ungerecht – sind das auch Eigenschaften, die Sie an mir entdeckt haben?“, fragte er jetzt.

Käte überlegte. Dann sagte sie lächelnd:

„Sie vergessen, dass Sie noch viel jünger sind als Ihr Vater, den das Leben wohl noch härter gemacht hat. Was Sie despotisch nennen, ist vielleicht nichts als die Gewohnheit des Herrschens. Er muss über viele Menschen gebieten. Und wenn Sie das eines Tages werden tun müssen, werden auch Sie darin Ihrem Vater gleichen. Ungerecht aber, nein, ungerecht habe ich Ihren Vater noch nie gefunden.“

Günter strich das Haar aus der Stirn. Sein Gesicht hatte einen unbehaglichen Ausdruck. Der feste Zug um Mund und Kinn wurde dadurch vertieft, dass er die Zähne fest zusammenbiss, und seine grauen, tief liegenden Augen blickten düster vor sich hin.

„Ich stoße mich wund an dieser Härte, an diesem Despotismus, und ich finde es eben ungerecht, dass er diesen auch mir gegenüber geltend macht, genau wie allen denen gegenüber, die von ihm abhängig sind.“

Sie sah ihn flehend an.

„Günter, all diese fühlen sich wohl unter seiner starken Hand. Haben Sie noch nie darüber nachgedacht, dass Sie ihn mit ein wenig Nachgiebigkeit und freiwilliger Unterordnung entwaffnen können?“, fragte sie weich.

Er lauschte mit einem ganz seltsamen Gefühl auf ihre weiche, klare Stimme und sah versonnen in ihr Gesicht.

„Seltsam, Käte, wie Ihre Worte auf mich wirken. Schade, dass wir bisher nie dazu gekommen sind, darüber zu sprechen. Wenn wir einmal zusammen plauderten, waren es immer oberflächliche Themen, die wir anschlugen. Offen gestanden, ich habe bisher gar nicht gewusst, was für ein Gewinn es ist, seine Gedanken mit Ihnen auszutauschen. Ich fürchte, ich habe Sie sehr unterschätzt – in jeder Beziehung, und habe versäumt, Ihnen innerlich näher zu kommen. Das tut mir jetzt sehr Leid. Aber zum Glück lässt sich das Versäumnis nachholen. Und ich bin sehr froh, dass ich jetzt zu Ihnen gekommen bin mit meinem bedrückten Herzen. Wenn ich Ihnen vorhin sagte, dass ich mich wund stoße an der Härte meines Vaters, so habe ich dazu heute eine besondere Veranlassung.“

In Kätes Herzen erwachte eine heiße Freude über seine Worte. Wie dankbar war sie dem Schicksal, dass Günter den Weg zu ihr gefunden hatte, da ihn ein Leid bedrückte. Noch nie war der Wunsch, zwischen Vater und Sohn ausgleichen und vermitteln zu können, so stark gewesen wie gerade jetzt, wo man sich so ruhig aussprechen konnte.

„Hat es wieder etwas zwischen Ihnen gegeben?“, fragte sie voller Teilnahme.

Er atmete tief auf. Und dann stieß er erregt hervor: „Meines Vaters Despotismus geht so weit, dass er mir vorschreiben will, welche Frau ich zu meiner Gattin machen soll.“

Sie zuckte leise zusammen und erblasste. Aber mit Aufbietung aller Kraft zwang sie sich zur Ruhe.

„Wie könnte er das?“, fragte sie heiser. Er sprang auf, von seiner Unruhe getrieben.

„Ja, wie könnte er das? Aber er hat es tatsächlich getan, und deshalb komme ich zu Ihnen, Käte, wir müssen ein Schutz-und-Trutz-Bündnis schließen gegen meines Vaters Willkür, weil er starrsinnig an dem festhalten wird, was er will.“

Beklommen sah sie ihn an. „Aber was kann ich dabei tun? Weshalb wollen Sie gerade ein Bündnis mit mir schließen?“

„Weil er machtlos sein wird, wenn wir zusammenhalten. Denn die Frau, die mein Vater mir ausgesucht hat, sind Sie, Käte.“

Sie schrak zusammen wie unter einem Schlag und wurde totenblass. Ihre Augen blickten starr.

„Ich – soll Ihre Frau werden?“, fragte sie tonlos.

Er fasste ihre bebende Hand. „Nicht wahr, Käte, jetzt erschrecken Sie auch? Aber seien Sie ruhig, hier ist seine Macht zu Ende. Zu einer Heirat lässt man sich nicht kommandieren. Deshalb kam ich zu Ihnen, Käte, wir müssen beide Front machen gegen diese Vergewaltigung. Wenn wir nur zusammen einig sind, Käte, dann muss er einsehen, dass sich dieses Mal sein Wille nicht durchsetzen lässt“, sagte er fast weich.

Mit übermenschlicher Anstrengung zwang sich Käte zur Ruhe. Sie hätte aufschreien mögen in namenloser Qual. Da stand der Mann vor ihr, dem die Liebe ihres Herzens gehörte, und bäumte sich auf gegen den Gedanken, dass sie seine Frau werden könnte. Es erschien ihm ungeheuerlich, dass sein Vater ihm eine ungeliebte Frau aufzwingen wollte. Ungeheuerlich erschien es auch ihr, dass Onkel Heinrich so über sie verfügen wollte, ohne sie zu fragen, obwohl sie wusste und fühlte, dass er es gut mit ihr meinte. Unsagbar gedemütigt kam sie sich vor, und das gab ihr Kraft, ihre Haltung zu bewahren.

Endlich hatte sich Käte wieder ganz in der Gewalt. Sie fasste nach den Armlehnen ihres Sessels und sah vor sich hin. Anzusehen wagte sie Günter jetzt nicht.

Mit tonloser Stimme sagte sie: „Ja, das muss er einsehen.“

Er nickte überzeugt. „Nicht wahr, Käte, auch Sie lassen sich nicht in eine Ehe hineinzwingen, zu der Sie Ihr Herz nicht treibt?“

„Lieber sterben!“, stieß sie hervor.

Er ahnte nicht, wie grausam er war. „Gottlob, dass wir darüber einig sind, Käte. Sie müssen mich nicht falsch verstehen, eigentlich klingen meine Worte sehr unritterlich, aber ich weiß bestimmt, dass Sie mich so wenig lieben wie ich Sie. Dazu bin ich doch genug Frauenkenner, um zu wissen, dass ich Ihnen bestenfalls sympathisch bin wie ein guter Freund.“

Sie strich sich das Haar aus der Stirn. „Sie haben Recht, Günter. Und das werde ich auch Ihrem Vater erklären, falls er mir gegenüber seinem Wunsch Ausdruck geben sollte.“

Er setzte sich wieder zu ihr und lächelte wie erlöst. „Gott sei Dank, dass das vom Herzen herunter ist!“

Sie vermochte zu lächeln. Gott allein wusste, was dieses Lächeln sie kostete, als sie sagte: „Hat es Sie so arg bedrückt, Günter?“

Er beugte sich vor. „Ja, aus einem besonderen Grund, Käte, und den will ich Ihnen jetzt offenbaren. Sie sollen meine Vertraute sein. Mir ist, als seien wir uns in dieser Stunde näher gekommen als in all den Jahren, die wir zusammen verlebt haben. Darf ich mich Ihnen gegenüber so offen aussprechen, als seien Sie meine Schwester?“ Er sah nicht das wehe Zucken um ihren Mund, als sie jetzt antwortete:

„Sprechen Sie nur, Günter, ich will mir Ihr Vertrauen zu verdienen suchen.“

Er fasste nach ihrer Hand, und es fiel ihm auf, dass sie kalt und schwer in der seinen lag, obwohl sich jetzt all seine Gedanken nur auf einen Punkt konzentrierten.

„Also hören Sie mich an, Käte, ich liebe eine Frau, die mein Vater nicht als vollwertig anerkennt.“

Käte fühlte, wie ein scharfer, schneidender Schmerz durch ihre Seele drang, aber sie blieb ruhig sitzen, ohne sich zu regen.

„Sprechen Sie weiter!“, rang es sich über ihre blassen Lippen. Und Günter fuhr fort:

„Mein Vater hat mir nur die Wahl gelassen zwischen Ihnen oder irgendeiner anderen Dame aus unseren Kreisen. Aber die Frau, die ich liebe und die mich von ganzem Herzen wiederliebt, gehört unseren gesellschaftlichen Kreisen nicht an. Sie ist Schauspielerin. Mein Vater wird, wie ich ihn kenne, niemals einwilligen, dass ich sie zu meiner Frau mache. Sie kennen ja den hochmütigen Kastengeist unserer Gesellschaftssphäre, den auch die neue Zeit nicht getötet hat. Wer nicht zu dieser Sphäre gehört, wird als minderwertig abgetan. Aber das soll mich nicht abhalten, mich zu meiner Liebe zu bekennen. Ich will und werde Lori Leixner zu meiner Frau machen.“

Wieder zuckte Käte zusammen. Der Name dieser Schauspielerin war ihr nicht fremd. Sie war eine eifrige Theaterbesucherin und kannte fast alle Schauspieler und Schauspielerinnen mit Namen. Dazu gehörte auch Lori Leixner.

Lori Leixner spielte zwar, wie sie wusste, nur kleine Rollen, aber sie war ihr durch ihre Schönheit aufgefallen. Und eines Abends nach der Vorstellung hatte Käte mit Günters Vater vor dem Theater auf das Vorfahren des Wagens gewartet. Da war Lori Leixner an ihr vorübergegangen am Arm eines bekannten Lebemannes. Sie hatte sich girrend und kokettierend an seinen Arm geschmiegt und gerade, als sie bei Käte vorüberkam, zu ihm gesagt: „Aber Schatz, ich habe dich sehnsüchtig erwartet.“ Und dabei hatte sie ihn verliebt angesehen.

Diese Worte hatten Käte lange im Ohr geklungen, und sie hatte das Gefühl, dieses schöne Geschöpf, das seine Sätze auf der Bühne so seelenlos herunterplapperte, habe diese Worte in verhaltener Leidenschaft hervorgestoßen.

Und diese Frau wollte Günter Warneck heiraten – diese Frau, die noch vor wenigen Wochen einen anderen Mann Schatz nannte und ihm versicherte, dass sie ihn sehnsüchtig erwartete habe.

Ihr war, als presse eine raue Hand ihre Kehle zusammen. Ihr eigener Schmerz verblasste vor der Angst um Günter. Es erschien ihr kaum zweifelhaft, dass er sein Herz an eine Unwürdige verloren hatte. Großer Gott, wenn er sie wirklich heiratete, im guten Glauben an ihren Wert, und dann eines Tages einsehen musste, dass sie seiner unwürdig war!

Ihr war, als müsse sie ihm sagen, was sie gehört hatte. Aber es wollte nicht über ihre Lippen. Gerade sie durfte nichts tun, um ihn vor einem entscheidenden Schritt zu bewahren – weil sie ihn selbst liebte.

So sagte sie nur mit verhaltener Stimme: „Was soll aber werden, wenn Ihr Vater seine Einwilligung nicht gibt?“

Er ließ sich in seinen Sessel zurückfallen. Seine Hände schlugen hart auf die Armlehnen auf. „Dann heirate ich Lori Leixner ohne seine Einwilligung.“

Sie faltete die Hände wie zum Gebet.

„Es wird dann einen Bruch geben zwischen Ihnen und Ihrem Vater, Günter. So weit ich ihn kenne, verzeiht er es nicht, wenn Sie – wenn Sie eine Schauspielerin heiraten. Ach, mein Gott, was soll das werden?“

Er strich sich über die Stirn. „Es ist rührend von Ihnen, Käte, wie meine Angelegenheiten Sie aufregen. Ganz blass sind Sie geworden.“

Sie rang mit ihrer Angst und Sorge und mit ihrer Liebe und sagte tapfer: „Ich zittere vor einer Auseinandersetzung zwischen Ihnen und Ihrem Vater, Günter.“

Er wehrte ab. „Stellen Sie sich das nicht schlimmer vor, als es ist. Wenn mein Vater einsehen muss, dass seine Weigerung nichts ändert, wird er sich eben fügen müssen. Machen Sie doch nicht so ängstliche Augen, kleine Käte! Und helfen Sie mir ein wenig, ja? Vater gibt viel auf Sie. Vielleicht können Sie ihn ein wenig beeinflussen.“

Sie presste die Handflächen zusammen. „Wenn ich es könnte – nichts sollte mir zu schwer fallen, wenn ich Ihnen helfen könnte – zu Ihrem Glück. Aber – bitte, glauben Sie nicht, dass ich dazwischenreden will, ich habe ja kein Recht dazu –, aber – wird Ihnen eine Ehe mit dieser Dame auch wirklich ein Glück bringen, wie Sie es sich ersehnen?“

Er lächelte zuversichtlich. „Sie kennen die Liebe nicht, Käte. Wenn man liebt, kann man nur glücklich sein im Besitz des geliebten Menschen, sonst ist man eben unglücklich.“

„Sonst ist man eben unglücklich“, sagte sie leise vor sich hin, und sie fühlte, wie Recht er hatte.

Er sah seltsam gefesselt in ihre Augen, in diese beseelten Augen, deren klare Schönheit er heute zum ersten Mal erkannte.

„Ich danke Ihnen, dass Sie sich meine Sache so sehr zu Herzen nehmen. Also heute in acht Tagen wird die Entscheidung fallen; bis dahin soll ich meinem Vater eine bündige Erklärung geben. Und er wird sie erhalten.“

Sie drückte die Hände aufs Herz. „Ich will alles tun, was ich kann, um Ihren Vater zur Milde zu bewegen. Aber er wird halsstarrig sein – wie Sie.“

„Trotzdem werde ich Ihnen für jedes gute Wort danken, das Sie für mich einlegen. Und wenn Sie einmal im Leben Rat und Hilfe brauchen, dann kommen Sie zu mir. Die Stunde hat uns zu treuen Freunden gemacht, nicht wahr?“

Sie legte die Hand in die seine. Ihre Augen glänzten, feucht. „Ich will mir diese Freundschaft zu verdienen suchen, Günter.“

So schieden sie.

Käte sah Günter nach, als er durch den Garten davonging. Ihre Hände pressten sich fest auf das Herz.

„Hilf ihm, Vater im Himmel! Ich will klaglos alles tragen, aber hilf ihm“, betete sie inbrünstig.

***

Am Abend dieses Tages saß Käte mit Heinrich Warneck allein im Wohnzimmer. Günter hatte zwar das Abendessen mit ihnen eingenommen, war dann aber fortgegangen.

Der Vater sah ihm eine Weile schweigend nach. Dann sagte er aufatmend zu Käte: „Würdest du mir ein paar Lieder singen, Käte? Ich bin heute in einer unbehaglichen Stimmung, die soll mir dein Gesang verscheuchen. Und dein Gesang tut mir immer so wohl.“ Er blickte sie an.

Käte erhob sich sofort.

„Gern, Onkel Heinrich. Hast du einen besonderen Wunsch, was ich singen soll?“

Er sah zu ihr auf. Sie stand rank und schlank vor ihm, ein Bild blühenden Lebens und köstlicher Reinheit.

„Es ist ganz gleich, was du singst, Käte. Deine Lieder sind alle Medizin für mich und mein betrübtes Herz.“

Sie fasste seine Hand.

„Du hast ein betrübtes Herz, Onkel Heinrich?“

Er atmete tief auf. „Ein wenig.“

„Kann ich dir nicht anders helfen als durch meine Lieder? Die sind doch so schlicht und anspruchslos.“

„Gerade weil sie das sind, sprechen sie zum Herzen. Also lass dich hören, kleiner Singvogel.“

Sie zögerte noch einen Augenblick, allzu gern hätte sie ihn gefragt, was ihm das Herz bedrücke, aber sie wagte es nicht.

Wenn er nicht von selber sprach, vermochte sie nichts zu Günters Gunsten vorzubringen. Der sonst so gütige Onkel Heinrich konnte auch zu ihr schroff und hart sein, wenn sie seine Stimmungen nicht respektierte. Und ihm gegen seinen Willen auch nur ein Wort zu entreißen, erschien ihr unmöglich. So ging sie ins Musikzimmer hinüber, das an das Wohnzimmer grenzte. Hier stand ein wundervoller Flügel.

Leise begann sie ein Vorspiel, und dann sang sie ein Schumannsches Lied. Diesem ließ sie das Lied der Solveig von Grieg folgen, und zuletzt kam sie, sie wusste selbst nicht wie, auf das Veilchen von Mozart.

Sie hatte ganz vergessen, dass sie einen Zuhörer hatte, und es lag mehr von ihrem Empfinden in ihren Liedern, als sie zeigen wollte. Unbewusst sprach sich in dem letzten Lied ihre ganze resignierte Bescheidenheit, die ganze Hoffnungslosigkeit ihrer eigenen jungen Liebe aus:

„Ach, dacht das Veilchen, wär

ich nur

Die schönste Blume der Natur.

Ach – nur ein kleines Weilchen.“

Das klang, wie brennende Sehnsucht. Sie war sich ihrer eigenen Unscheinbarkeit so sehr bewusst und wäre doch so gern schön und verführerisch gewesen, nicht nur, um das eigene Glück, sondern vor allem, um Günter Warneck zu retten, ihn abzulenken von der Frau, die seiner gewiss nicht wert war und die ihn nicht glücklich machen würde. Aber er strebte eben nur nach der stolzen Rose und beachtete nicht das bescheidene Veilchen in seinem Hausgarten.

Zertrat das arme Veilchen.

Es sank und starb und freut sich noch …

Wie Tränen klang es durch ihre Stimme, als sie zum Schluss dann noch sang:

„Das arme Veilchen.

Es war ein herzig’s Veilchen.“

Wie ein Hauch, wie ein Seufzer erklang dieser Schluss.

Auf der Schwelle des Wohnzimmers erschien Heinrich Warneck.

„Nun sag mir nicht wieder, dass deine Lieder zu schlicht und anspruchslos sind. Dieses letzte hast du gesungen wie eine gottbegnadete Künstlerin, kleine Käte.“

Käte war zusammengezuckt. Wie aus einem Traum erwachend, sah sie zu dem alten Herrn auf und sagte:

„Ich singe dieses Lied besonders gern, Onkel.“

„Ja, ja, ich hörte es schon einige Male von dir, aber nie hast du es so ergreifend gesungen wie heute. Das arme Veilchen! Komm, Käte, wir wollen noch ein wenig plaudern.“

Und der stolze, stattliche Mann legte den Arm um ihre Schultern und führte sie so ins Wohnzimmer hinüber. Mit einem Gefühl der Rührung sah er auf ihr geneigtes Köpfchen herab.

„Kleine Käte, bist selbst so ein bescheidenes kleines Veilchen“, sagte er lächelnd.

Sie sah mit ihren schönen Augen zu ihm auf. „Es kommt mir ja auch nicht zu, etwas anderes zu sein, Onkel Heinrich.“

„Nun, darüber ließe sich streiten. Aber mit dir will ich es nicht tun, mit dir will ich immer in Frieden leben – muss ich mich doch genug mit meinem widerspenstigen Sohn herumstreiten.“

Sie fasste seine Hand. „Das muss doch nicht sein“, entfuhr es ihren Lippen.

Er setzte sich ihr gegenüber und zog die Stirne kraus. „Nein, es müsste nicht sein, wenn Günter nicht so starrköpfig wäre.“

Sie nahm das Herz tapfer in die Hände, um für Günter eine Lanze brechen zu können.

„Ein Mann muss doch einen festen Willen haben und eine bestimmte Meinung, Onkel Heinrich. Wäre Günter ein Schwächling, der dir immer nur nach dem Mund redete, dann hättest du Ursache, dich zu beklagen. Du solltest dich freuen, dass dein Sohn ein ganzer Mann ist!“

Der alte Herr sah mit einem humorvollen Schmunzeln zu ihr auf. „Sieh, sieh – jetzt regst du dich auch noch mit mir auf, Günters wegen.“

Sie atmete erregt. „Verzeih, Onkel Heinrich, wenn ich mir erlaube, eine Meinung darüber zu äußern. Ich denke mir, du weißt recht wohl, dass Günter in allen Dingen dein Ebenbild ist. Den Starrkopf hat er von dir geerbt, und wenn er nicht auch die Widersetzlichkeit von dir geerbt hat, so liegt das daran, dass du gegen niemand als gegen dich selbst widersetzlich sein kannst, weil du keinen Herrn über dir hast.“

Er sah sie ganz betroffen an. „Nun seh einer die kleine Nachtigall, die plötzlich wie eine Elster plappert! Von mir geerbt? Du sagst, Günter habe seinen Starrkopf von mir geerbt?“

Sie nickte tapfer. „Ja, ganz gewiss. Und du müsstest dich eigentlich freuen, dass er solche prägnanten Charakterzüge von dir hat. Es ist ein gutes, wertvolles Erbe.“

Eine Weile sah der alte Herr starr vor sich hin. Er wusste nicht, wie es kam, aber Kätes Worte hatten plötzlich einen Schleier von seiner Erinnerung fortgezogen. Er musste jener Zeit gedenken, da er etwa in Günters Alter gewesen war. Hatte er damals nicht auch seinem Vater mit derselben Starrköpfigkeit gegenübergestanden wie Günter jetzt ihm? Und hatte er damals in seiner Widersetzlichkeit nicht beinahe eine Torheit begangen, die nie gutzumachen gewesen wäre und von der ihn nur Klaus Harland, sein Freund, zurückgehalten hatte?

Ja, ja, die Warnecks hatten allezeit harte Köpfe, sonst hätten sie es nicht so weit gebracht. Aber – musste immer ein Warneck gegen den anderen mit dem Starrschädel anrennen? Er selbst hatte doch auch erkannt, dass es sein Vater gut mit ihm gemeint hatte, und er hatte eingesehen, dass sein Vater ihn liebte trotz aller Härte, und hatte es ihm später mit herzlicher Liebe gedankt. Günter sollte das auch einsehen.

„Ich habe Günter sehr lieb, Käte, wenn ich es auch nicht so zeigen kann, wie ich möchte, weil er mich immer wieder reizt“, sagte er, halb gegen seinen Willen.

„Oh, Onkel Heinrich, Günter liebt dich ebenfalls von ganzem Herzen und kann es dir auch nicht so zeigen, weil ihr beiden harten Köpfe immer so scharf aneinander geratet“, sagte Käte tapfer.

Der alte Herr sah sie nachdenklich an. „Meinst du? Bist du so fest davon überzeugt, dass er mich liebt?“

„Ganz fest.“

„Du hast überhaupt eine gute Meinung von ihm?“

Käte nickte mit ernstem Blick und entgegnete fest: „Die beste, die man von einem Menschen haben kann.“

Forschend sah er sie eine Weile an. Dann nickte er vor sich hin.

„Nun gut, ich will dir glauben, dass sein harter Kopf ihn nicht hindert, ein warmes Herz zu haben. Und wenn er mir einen Wunsch erfüllt, an dessen Erfüllung mir viel liegt, und den ich ihm heute offenbart habe, dann will ich ihm alles vergeben, was er mir je mit seiner Starrköpfigkeit angetan hat.“

Käte seufzte tief auf.

„Und wenn er diesen Wunsch nicht erfüllen kann, Onkel Heinrich?“, fragte sie, ihn mit bangen Augen ansehend.

Lächelnd fasste er ihre Hand. „Ich verlange nur von ihm, dass er sich glücklich machen lässt. Brauchst nicht so ängstlich auszusehen. Er soll nur einen wertlosen Glasscherben im Schmutz liegen lassen und dafür einen kostbaren Edelstein von mir annehmen. Ist das ein so unbilliges Verlangen? Sag selbst, Käte, müsste ich ihn, als guter Vater, nicht zwingen, meinen Wunsch zu erfüllen?“

***

Als Günter Warneck an diesem Tag das Haus verlassen hatte, begab er sich zum Theater. Lori Leixner war schon nach dem zweiten Akt des heute gespielten Stücks fertig, und als sie sich in ihrer Garderobe umkleidete, wurde sie von einer Kollegin, die die Garderobe mit ihr teilte, ein wenig geneckt.

„Du hat es gut, Lori, bist schon fertig und kannst mit einem deiner Verehrer soupieren gehen. Wer ist denn heute an der Reihe?“

Lori warf den Kopf zurück.

„Das geht dich gar nichts an, meine Liebe.“

„Nun, nun, man wird doch fragen können. Ach – du hast ja so Recht, wenn du dein bisschen Jugend und deine Schönheit nützest. Wie bald ist es aus damit. Übrigens, die Robe, die du da anhast, die hat ein kleines Vermögen gekostet. So etwas kann man sich eben nur leisten, wenn man jung und schön ist und reiche Verehrer hat.“ Lori machte eine verächtliche Geste.

„Neidisch?“

Die Kollegin zuckte die Achseln und zündete sich eine Zigarette an.

„Ich weiß nicht, ob ich sonst mit dir tauschen möchte, aber um die guten Soupers beneide ich dich wirklich.“

Lori warf noch einen befriedigten Blick in den Spiegel, zupfte die Locken zurecht und pfiff ein paar Takte vor sich hin.

„Daran liegt mir nicht so viel; wenn man zu gut isst, kommt man außer Form. Also guten Abend!“

„Guten Abend – viel Vergnügen!“

Lori warf bei diesem ironischen Wunsch der Kollegin den Kopf zurück.

Aber schon ehe sie den Ausgang des Theaters erreichte, hatte sie einen Ausdruck süßer, verzagter Hilflosigkeit auf ihr Antlitz gezaubert. Und so trat sie Günter Warneck entgegen, der an der Künstlerpforte auf sie gewartet hatte. Er begrüßte sie mit aufleuchtenden Augen.

„Endlich, Lori!“ Das klang wie erlöst.

„Hast du lange warten müssen, Schatz?“

„Nun, da du bei mir bist, weiß ich nichts mehr davon. Die Sehnsucht ließ die Zeit länger erscheinen“, sagte er, befreit aufatmend.

Sie seufzte.

„Wenn du wüsstest, wie lang mir diese Abende im Theater werden, wenn ich. weiß, dass du auf mich wartest. Überhaupt – seit ich dich kenne, hasse ich das Theater noch viel mehr als zuvor. Es ist mir eine Pein, auf der Bühne zu stehen und dem Blick fremder Männer preisgegeben zu sein. Sie sind so zudringlich, die Männer, und glauben, eine Künstlerin habe kein Feingefühl. Und hinter den Kulissen Neid und Bosheit – ach, Günter, bei dir ist Ruhe und Frieden.“

Und sie schmiegte sich an ihn.

Er drückte ihren Arm fest an sich. „Bald bist du erlöst, meine Lori – bald bist du meine Frau. In nächster Zeit spreche ich mit meinem Vater.“

Sie sah ihn von der Seite forschend an.

„Und wenn dein Vater dir seine Zustimmung versagt?“

„Dann wirst du trotzdem meine Frau. Ich stelle dann meinen Vater einfach der vollendeten Tatsache gegenüber. Wenn er sieht, dass nichts mehr zu ändern ist, wird er sich fügen.“

„Bist du dessen so sicher?“

„Unbedingt, du kannst ganz ruhig sein.“

Sie seufzte tief auf. „Wenn ich nur schon alles hinter mir hätte! Das Leben hat mich in eine harte Schule genommen, seit ich mit meinem Vater auch mein ganzes Vermögen verlor.“

Lori hatte Günter ein schönes Märchen erzählt über ihren Vater und ihre früheren „glänzenden Verhältnisse“. In Wahrheit war ihr Vater ein Pumpgenie gewesen, das immer auf Kosten anderer Leute lebte, mit dem Geld anderer Leute mehr oder minder unsaubere Geschäfte machte und schließlich einem Unfall erlag. Ihre Mutter hatte Lori sehr früh verloren, und der leichtfertige Vater hatte auch nicht davor zurückgeschreckt, die Schönheit seiner Tochter als Lockmittel für seine Geschäfte ins Treffen zu führen. Lori war genauso leichtfertig, wie ihr Vater es gewesen war. Sie lebte sorglos in den Tag hinein und ließ immer andere für sich sorgen. Und sie fuhr gut dabei, denn ihre Verehrer sparten nicht, wenn es darum ging, für ihre schöne Geliebte Kleider und Schmuck zu bezahlen.

Als Günter sich einmal über ihren Kleideraufwand wunderte, erzählte sie ihm, dass sie gelegentlich für Modehäuser Reklame mache und daher all die schönen Dinge kostenlos zur Verfügung gestellt bekäme. Den Schmuck aber habe sie von ihrer verstorbenen Mutter geerbt.

An diesem Abend besprach Günter ernsthaft mit Lori seinen Heiratsplan. Im Theater wurde Lori ohnedies in etwa zwei Wochen frei. Sie war nur für das laufende Stück engagiert, und das ging mit dem Monat zu Ende. Lori sollte sich dann frei halten.

„Gibt mein Vater mir heute in einer Woche nicht seine Einwilligung zu einer Verbindung mit dir, bestelle ich ohne Säumen unser Aufgebot. Mag mein Vater dann, wenn ich ihm meine vollzogene Vermählung melde, auch zunächst ein wenig toben – wir gehen dann auf die Hochzeitsreise, meine süße Lori, und wenn wir zurückkehren, wird er sich beruhigt haben.“

Und Günter glaubte selbst an das, was er sagte.

Lori interessierte sich sehr dafür, wohin die Hochzeitsreise gehen sollte. Er ließ ihr lächelnd die Wahl, und sie schlug die Hände zusammen wie ein bittendes Kind.

„Lass uns ins Hochgebirge gehen, Günter, nach Bayern oder nach Tirol oder in die Schweiz. Die Berge im Schnee möchte ich sehen, so kenne ich sie noch nicht. Ich denke es mir wundervoll, ein wenig Wintersport zu treiben, mit dir über Schnee und Eis hinwegzufliegen – in den Himmel hinein! Ach, Günter, das ist wie ein holder Traum“, schmeichelte sie.

„Es soll holde Wirklichkeit werden, wir reisen in die Berge“, sagte er, entzückt ihre Hände küssend, die so mollig weich waren wie Kinderhände – aber charakterlos und unbeseelt. Aber das merkte er nicht.

***

Die Frist, die Heinrich Warneck seinem Sohn gegeben hatte, war vorüber.

„Heute spreche ich mit meinem Vater, Käte, und sage ihm, dass ich mich mit Lori Leixner verlobt habe. Halten Sie mir den Daumen, dass alles gut geht“, sagte Günter, als er sich am Morgen nach dem Frühstück von Käte verabschiedete.

Sie sah ihn besorgt an. „Wollen Sie die Entscheidung nicht noch ein wenig hinausschieben? Ich habe leider noch nicht viel zu Ihren Gunsten mit Ihrem Vater sprechen können“, bat sie voll Unruhe.

Er schüttelte heftig den Kopf. „Nein, Käte, es muss jetzt klar werden. Ich kann meine Braut nicht länger in diesen ungewissen Verhältnissen lassen.“

Ein banger Seufzer entstieg ihrer Brust. „Dann wünsche ich Ihnen Glück auf den Weg. Möge sich alles so fügen, wie es zu Ihrem Heil notwendig ist. Gott mit Ihnen!“

Er fasste ihre Hand und sah ihr eine Weile in die Augen.

„Ich danke Ihnen, liebe Käte.“

Günter war im Auto zu den Fabriken hinausgefahren. Hier herrschte, wie immer, reges Leben und Treiben. Das Auto hielt vor dem großen Kontorhaus. Günter fuhr im Fahrstuhl hinauf zu seinem Privatkontor. Nachdem er die für ihn bereitliegende Post durchgesehen hatte, klingelte er seinen Vater an und fragte, ob er Zeit für ihn habe. Da klang die Antwort zurück.

„Komm herüber, Günter, ich erwarte dich.“

Wenige Minuten später trat Günter in den großen vornehm ausgestatteten Raum, in dem sein Vater seine Geschäfte zu erledigen pflegte. Hier liefen alle Fäden des großen Betriebs ineinander.

Der alte Herr saß am Schreibtisch und sah zu ihm auf.

„Was bringst du mir, Günter?“

Der junge Mann atmete tief auf. „Du wolltest heute meine Entscheidung haben in der Frage, die du mir vor einer Woche vorlegtest. Ich bin. gekommen, um dir zu sagen, dass es mir unmöglich ist, Käte Harland zu meiner Frau zu machen. Ich habe mich mit Käte darüber ausgesprochen – sie denkt ebenfalls nicht daran, mich zu heiraten.“

Mit einem aufzuckenden Blick sah Heinrich Warneck seinen Sohn an. „So? Sie denkt nicht daran? Also hat sie dir auf deine Werbung eine Absage gegeben?“

„Nein, dazu ist es nicht gekommen. Ich habe nicht um Kätes Hand angehalten. Aber ich habe ihr gesagt, dass du wünschst, dass ich es tun solle und dass ich überzeugt sei, dass sie so wenig wie ich selbst den Wunsch hege, dass wir uns heiraten. Sie hat mir völlig beigestimmt.“

Die Stirn des alten Herrn hatte sich gerötet. Aber er hielt an sich und sagte mit erzwungener Ruhe:

„Das ist kolossal überzeugend! Glaubst du vielleicht, dass ein Mädchen wie Käte Harland dir auf solche Worte antworten würde: Nein, Sie irren sich, ich würde Sie im Gegenteil gern heiraten. Bei einer so stolzen, zurückhaltenden Natur ist es doch selbstverständlich, dass sie lieber sterben würde, als einzugestehen, dass sie dich liebt, wenn du ihr sagst, dass du nicht daran denkst, sie zu heiraten. Sie kann doch gar nicht anders antworten, als sie es getan hat, wenn sie sich nicht demütigen soll. Ich bin fest überzeugt, dass sie dich nicht abweisen würde, wenn du in der richtigen Form um sie anhieltest.“

Günter sah etwas betroffen vor sich hin und dachte an Kätes seltsame Erregung bei jener Unterredung. Aber er hatte jetzt Wichtigeres vor, als darüber nachzudenken, und sagte fest:

„Wie dem auch sei – Käte weiß, dass ich gar nicht mehr in der Lage bin, um ihre Hand anzuhalten. Sie weiß, dass mein Herz einer anderen Frau gehört und weiß, dass diese Frau meine Braut ist.“

Unheilverkündend zuckte es in Heinrich Warnecks Augen auf.

„Und wer ist diese Frau? Ich nehme als selbstverständlich an, dass sie unserer Gesellschaftssphäre angehört und des Namens Warneck würdig ist.“

Günter biss die Zähne zusammen. Er wusste, jetzt würde es hart auf hart gehen.

„Die Frau, mit der ich mich verlobte, gehört nicht in unsere Gesellschaftskreise, aber sie ist des stolzesten Namens würdig, wenn sie auch nur eine arme Schauspielerin ist. Sie steht in meinen Augen umso höher, da sie ehrlich den Lebenskampf aufgenommen hat, als sie verwaist im Leben zurückblieb. Deshalb bitte ich dich Vater – ich habe dich selten um etwas gebeten, aber jetzt tue ich es mit aller Inbrunst meines Herzens –, willige in meine Verbindung mit Lori Leixner ein.“

Der alte Herr rang mit einer furchtbaren Erregung. Dann sprang er auf, reckte sich hoch empor und schlug mit der Hand auf den Schreibtisch.

„Niemals!“

Es klang scharf und schneidend und seine Augen blickten starr auf seinen Sohn.

„Vater!“, rief Günter beschwörend.

Der alte Herr machte eine Bewegung, als durchschneide er die Luft zwischen sich und ihm. „Niemals, sage ich dir! Diese Dirne kommt mir nicht in mein Haus.“

Günter fuhr empor wie von einem Peitschenhieb getroffen. „Vater, du wagst es, meine Braut zu beleidigen!“, rief er außer sich.

„Ich wage es, sie beim rechten Namen zu nennen.“

Günter krampfte die Hände zusammen und zwang sich mit aller Kraft zur Ruhe. „Man hat meine Braut bei dir verleumdet, wenn du glauben kannst, was du aussprichst.“

„Niemand hat sie verleumdet. Ich sah sie aber mit meinen eigenen Augen mit einem Herrn, der mir als Lebemann bekannt ist, aus einem Chambre séparée kommen, das nur von der leichtfertigen Lebewelt besucht wird.“

Diese Worte blieben nicht ohne Eindruck auf Günter. Aber er richtete sich auf und sagte hastig:

„Eine Künstlerin kann nicht abgeschlossen wie eine Klosterfrau leben. Ich weiß, dass sie es einige Male nicht vermeiden konnte, an solchen Soupers teilzunehmen. Das ist jedoch eine harmlose Angelegenheit. Und selbstverständlich hat sie alle derartigen Beziehungen abgebrochen. Sie hat es oft beklagt, dass sie sich nicht in den sicheren Schutz einer Familie flüchten konnte. Deshalb darf sie kein Mensch verdammen, auch mein Vater nicht!“

„Du wirst mir trotzdem gestatten müssen, dass ich mich für eine familiäre Zusammengehörigkeit mit einem Fräulein Leixner bedanke.“ Wie schroff der alte Herr das sagte! Trotz wallte in Günter auf.

„Und du wirst mir gestatten müssen, dass ich den Schimpf, den du meiner Braut angetan hast, damit wettmache, dass ich sie zu meiner Frau mache.“

„Nein, das gestatte ich nicht!“

„Ich bin mündig, Vater, und Herr meiner selbst. Hier hört deine Bevormundung auf. Meine Frau suche ich mir selbst aus.“

Heinrich Warneck starrte einen Augenblick vor sich hin. Er kämpfte seine Erregung nieder, so gut es ging, und sagte hart und fest:

„Nun wohl, aber ich gebe dir mein Wort, dass ich dir nie meine Einwilligung zu einer Heirat mit dieser Person gebe!“

Günter setzte ebenfalls seinen Starrkopf auf. „Dein Wort gegen das meine – ich habe meiner Braut mein Wort gegeben, und das werde ich auch halten.“

Warneck ballte die Hände zusammen, und die Adern an seiner Stirn schwollen an.

„Ich hoffe, dass du dir das noch überlegst, wenn ich dir schwöre, dass ich dich an dem Tag enterben werde, an dem du dich mit einer solchen Person verheiratest, die unseres Namens unwürdig ist. Hörst du – ich schwöre es –, diese Person kommt nicht in mein Haus – eher würde ich auch dich hinausweisen.“

Nun schwollen auch Günters Adern an der Stirn.

„Für mich gibt es nach deinen Worten nichts mehr zu überlegen. Gestatte, dass ich mich jetzt zurückziehe! Ich möchte nicht vergessen, dass ich dein Sohn bin.“

„Du kannst gehen – und hoffentlich vergisst du das nicht. Meinen Schwur halte ich, das weißt du.“

Günter sah seinem Vater noch einen Augenblick in das harte, unbewegte Gesicht. Etwas wie Schmerz zuckte in seinen Augen auf. Aber dann wandte er sich rasch zum Gehen.

„Auf Wiedersehen, Vater!“

„Auf Wiedersehen!“

Günter zwang, als er allein war, die Erregung in sich nieder.

Es war nur eine Machtprobe seines Vaters, daran glaubte er fest, und wenn er Lori geheiratet hatte und der Vater einsah, dass sie des Namens Warneck würdig war, dann würde sein Schwur in nichts zufallen.

„Nur nicht Bange machen lassen!“, sagte er zu sich selbst.

Und er war fest entschlossen, unverzüglich seine Verheiratung ins Werk zu setzen.

Heinrich Warneck sah seinem Sohn eine Weile schwer atmend nach. Dann aber raffte er sich auf. Es musste etwas geschehen, man musste Günter überzeugen, dass diese Lori Leixner eine leichte Person war und in nichts dem Idealbild glich, das er sich von ihr gemacht hatte.

Unverzüglich klingelte er bei dem ihm bekannten Lebemann an, in dessen Gesellschaft er Lori Leixner hatte aus dem Chambre séparée kommen sehen.

Am Telefon meldete sich nur dessen Diener.

„Ist Herr Körner zu sprechen?“, fragte der alte Herr.

„Der gnädige Herr ist verreist.“

„Wohin?“

„Das hat er nicht hinterlassen.“

„Wann kommt er zurück?“ :

„In zehn bis zwölf Tagen.“

„Danke. Wenn er zurückkommt, sagen Sie ihm, ich lasse bitten, dass er mich sofort anruft.“

„Sehr wohl.“

Heinrich Warneck legte den Hörer hin. Ruhelos ging er im Zimmer auf und ab und überlegte, was er noch tun könne. Auf Herrn Körner allein wollte er seine Hoffnung nicht setzen.

Und er rief bei einem Detektivbüro an und ließ sich einen Beamten kommen. Diesem gab er den Auftrag, in Erfahrung zu bringen, welches Vorleben die Schauspielerin Lori Leixner bis zum heutigen Tag geführt habe und woher sie stamme. Er wusste, dass auch darüber erst in einiger Zeit Berichte zu erwarten waren, aber er glaubte nicht, dass es so sehr eilen würde.

Keine Ahnung kam ihm, dass sein Sohn noch an demselben Vormittag zum Standesamt ging und sein Aufgebot mit Fräulein Lori Leixner bestellte.

***

Vater und Sohn gingen einander in den nächsten beiden Wochen tunlichst aus dem Weg. Heinrich Warneck wartete auf die Rückkehr des Herrn Körner und auf das Ergebnis des Überwachungsbüros.

Die Rückkehr des Herrn Körners hatte sich jedoch noch um einige Tage verzögert, und so hatte Heinrich Warneck noch nichts in Erfahrung gebracht, womit er seinem verblendeten Sohn hätte die Augen öffnen können.

Günter traf indessen heimlich alle Vorbereitungen zu seiner Verheiratung. Er besorgte auch für Lori und sich Pässe nach der Schweiz, aber als er sie schon erhalten hatte, plädierte Lori für Partenkirchen. Sie beschlossen also, ihre Hochzeitsreise nach Partenkirchen zu machen.

Es kam in diesen Tagen zwischen Günter und Käte nur selten zu einem kurzen Alleinsein, und er vermied es dann, von seiner Angelegenheit zu sprechen. Tagsüber war er in der Fabrik, wo er in seinem Ressort so vorarbeitete, dass er unbesorgt abreisen konnte. Noch immer glaubte er, dass es sich nur um eine Abwesenheit von Wochen handeln würde; denn er war eben überzeugt, dass seines Vaters Schwur, ihn zu enterben, im Grunde nichts gewesen sei als eine leere Drohung. Seine Lori war ein ehrenhafter, wertvoller Mensch, das würde der Vater bald einsehen, und dann würde er sich, wenn auch über seine Niederlage grollend, fügen.

Des Abends ging Günter, wie fast immer, nach dem Abendessen noch aus. Er besuchte dann seine Braut auf kurze Zeit, und er hielt streng darauf, dass Loris Wirtin, eine verwitwete Revisorsgattin, diesem Beisammensein als Ehrendame beiwohnte. Er wollte alles vermeiden, was Loris Ruf schaden konnte. Und er verließ seine Braut stets bald wieder.

Zuweilen ging er dann noch mit einigen Bekannten aus, aber meistens begab er sich von Lori nach Hause. Dann aber suchte er sogleich seine Zimmer auf, um nicht noch mit seinem Vater zusammenzutreffen.

So geschah es auch zwei Tage vor seiner geplanten Hochzeit. Als er, heimkehrend, das Vestibül betreten hatte, blieb er plötzlich lauschend stehen. Aus dem Musikzimmer tönte ihm Klavierspiel entgegen, und gleich darauf setzte ein voller, weicher Mezzosopran ein. Er sah fragend auf den Diener.

„Wer singt da?“

„Fräulein Harland, gnädiger Herr. Sie pflegt meistens um diese Zeit zu musizieren.“

Günter winkte ab, nachdem er Hut und Mantel abgelegt hatte, und ging, jedes Geräusch vermeidend, in den Wintergarten, der, an der entgegengesetzten Seite wie das Wohnzimmer, an das Musikzimmer grenzte.

Hier blieb er, ohne zu wissen, warum er das tat, im Dunkeln stehen und lauschte auf Kätes Gesang. Unter den weichen, klaren Tönen der süßen Mädchenstimme regte sich in seinem Herzen ein seltsames Empfinden. Ihm war, als tue er einen Blick in ein sonst vor ihm verschlossenes Heiligtum. Und ein tiefer, süßer Frieden kam in seine Brust. Ihm war, als streiche eine sanfte Hand alles Herbe und Schwere aus seinem Wesen.

„Schließe mir die Augen beide

Mit den lieben Händen zu.

Geht doch alles, was ich leide,

Unter deiner Hand zur Ruh’.“

So klang es zu ihm herüber, und diese Worten waren gewissermaßen der Ausdruck seines eigenen Empfindens.

Kleine Käte, was hast du für einen Zauber in deiner Stimme, aus der ein so warmes Empfinden herausklingt, dachte er.

Und als dieses Lied verklungen war, hörte er die Stimme seines Vaters aus dem Wohnzimmer herüberrufen:

„Nun singe mir noch einmal das Veilchen, kleine Nachtigall, dann will ich dich nicht weiter quälen.“

„Du quälst mich nicht, Onkel Heinrich, ich bin froh, dass ich dir mit meinen Liedern eine kleine Freude machen kann“, erwiderte Käte.

Und gleich darauf erklang das Vorspiel zu Mozarts Veilchen, und dann setzte Kätes weiche Stimme ein:

„Ein Veilchen auf der Wiese stand,

Gebückt in sich, und unbekannt,

Es war ein herzig’s Veilchen.“

Wieder lauschte Günter atemlos. Und auch ihn ergriff die stille, tragische Bescheidenheit des armen Veilchens, das sein Leben unter dem vernichtenden Schritt des geliebten Gegenstandes aushaucht.

„Das arme Veilchen!“

Verriet Käte in diesem Lied zu viel von ihrem Seelenleben?

Günter hatte ein Empfinden, als müsse er hinübergehen, sanft über Kätes blondes Köpfchen streicheln und zu ihr sagen:

„Du armes Veilchen!“

Aber er wollte seinem Vater nicht mehr begegnen, und als er jetzt hörte, dass Käte den Flügel schloss, ging er leise hinaus und begab sich in sein Zimmer.

***

Am nächsten Abend suchte Günter noch einmal seine Braut auf, um alles Nötige für den morgigen Hochzeitstag mit ihr zu besprechen.

Er hatte Lori klar gemacht, dass es das Beste sei, wenn sie sich jetzt nur standesamtlich trauen ließen.

„Die kirchliche Trauung holen wir nach, wenn mein Vater erst seinen Segen zu unserer Verbindung gibt, Lori“, hatte er gesagt.

Und an diesem Abend sagte er, als Lori, reizender als je, vor ihm stand:

„Wenn mein Vater dich nur erst einmal richtig kennen lernt, dann wird er deinem Zauber so wenig widerstehen wie ich.“

Lori lächelte schelmisch. Sie war sich ihrer Macht über Männerherzen bewusst.

„Ich will jedenfalls alles tun, seine Abneigung gegen mich zu besiegen, Günter.“

„Auch mit Käte Harland wirst du dich gut stellen, Lori.“

Sie sah ihn mit einem seltsam forschenden Blick an.

„In welchem Verhältnis stehst du eigentlich zu diesem Fräulein Harland?“

„Ich sagte dir schon, Lori, sie ist die Tochter von meines Vaters bestem Freund. Außerdem ist sie unser guter Hausgeist. Ohne ihre Vermittlung wäre es sicher zu manchem schweren Konflikt zwischen meinem Vater und mir gekommen. Und ich kann dir sagen, dass ich mir mein Vaterhaus ohne die kleine Käte gar nicht mehr vorstellen könnte.“

Lori stieß die Fingerspitzen gegeneinander. „Wie soll das aber werden, Günter, wenn ich erst meinen Einzug halte in das Haus deines Vaters? Du sagst mir, dass wir bestimmt darin wohnen werden, weil das große Haus Raum genug hat für deinen Vater und für uns. Und natürlich werde ich gern mit deinem Vater unter einem Dach wohnen und freue mich schon darauf, ihm alles recht behaglich zu machen. Aber dieses fremde Mädchen? Wie soll ich mich zu ihr stellen?“

„Hoffentlich wie zu einer Schwester, Lori“, sagte er herzlich. „Ihr werdet gewiss gut miteinander auskommen, denn Käte ist ein warmherziger und sehr wertvoller Mensch.“

Sie schmiegte sich an ihn und sah ihn an wie ein lieblich schmollendes Kind.

„Ich bin ein wenig eifersüchtig auf diese Käte. Du sprichst immer in einer so herzlichen Weise von ihr, als sei sie dir sehr lieb.“

Er lachte und küsste sie entzückt auf ihren schmollenden Mund.

„Süße kleine Törin, du brauchst auf nichts und niemanden eifersüchtig zu sein! Käte ist mir wie eine Schwester.“

Sie seufzte.

„Ich möchte dich ganz allein für mich haben, und dieses fremde Mädchen soll dir nichts sein. Du verstehst mich. Vor allen Dingen möchte ich mit dir allein sein.“

Er nahm Lori beim Kopf.

„Sei unbesorgt, meine Lori, unser Haus ist groß genug, dass man sich aus dem Weg gehen kann, und Käte ist ungemein taktvoll und bescheiden. Du wirst sie schnell lieb gewinnen.“

Und er seufzte tief auf, weil er denken musste: Wäre es nur erst so weit, dass ich dich in meines Vaters Haus führen könnte!

„Warum seufzt du, Günter?“

Er lächelte und sagte ausweichend, seine Lippen auf ihr Haar pressend:

„Es fiel mir nur ein, dass ich dich werde bitten müssen, dir eine andere Frisur zu machen.“

„Weshalb? Gefällt dir mein Bubenkopf nicht?“

„Er ist entzückend. Aber du darfst nicht vergessen, Lori, eine Frau Warneck muss die Firma Warneck würdig repräsentieren, und als Frau Warneck bist du eine seriöse Persönlichkeit und nicht mehr die Schauspielerin Lori Leixner. Ich möchte dich bitten, dass du dein Haar wieder lang wachsen lässt und zu einer anspruchsvolleren Frisur ordnest.“

Sie lachte. „Ach, Günter, das wird nicht so schnell gehen mit dem Wachsen.“

„Wenn du es nicht mehr schneiden lässt, wird es sich schon anders frisieren lassen, wenn wir von unserer Hochzeitsreise zurückkommen. Ehe ich dich meinem Vater zuführe, muss es geschehen.“

„Und wenn ich dann wie eine Vogelscheuche aussehe?“

Er drückte das aufgebauschte Haar fest um ihren Kopf und nahm es im Nacken zusammen.

„Sieh – so sieht es sehr nett aus und viel vornehmer.“

Lori sah in den Spiegel. Im Grunde war sie der Bubenfrisur schon müde. Sie nickte ihm lachend zu.

„Weil du es willst, Günter.“

Er war entzückt über ihre Fügsamkeit und küsste ihr die Hände. Sie plauderten dann noch eine Weile mit Loris Wirtin, Frau Schmeidler, die inzwischen sehr interessiert zum Fenster hinausgesehen hatte.

Dann verabschiedete sich Günter.

„Auf morgen, meine Lori, um zehn Uhr hole ich dich ab“, sagte er.

Und als er dann auf dem Heimweg war, musste er daran denken, dass Käte vielleicht doch eine etwas schwierige Stellung würde einnehmen müssen, wenn Lori erst als Herrin in sein Vaterhaus einziehen würde.

„Das arme Veilchen“, dachte er mitleidig, und ihm war zumute, als habe er Käte, ohne es zu wissen und zu wollen, ein Unrecht zugefügt.

Inzwischen hatte Lori begonnen, ihren Reisekoffer zu packen. Morgen Früh, gleich nach der Trauung, wollte Günter zu seinem Vater gehen, um ihm seine vollzogene Vermählung mitzuteilen, und danach wollte das junge Paar seine Hochzeitsreise antreten. Denn dass sein Vater gleich anderen Sinnes werden und Lori in sein Haus aufnehmen könnte, das wagte Günter doch nicht zu hoffen. Deshalb hielt er es für besser, er verreiste erst einige Wochen mit Lori, bis der erste Sturm sich gelegt und Käte ein wenig hatte zum Guten reden können. Darum wollte er Käte morgen bitten, ehe er abreiste, und er wusste, dass er nicht vergeblich bitten würde.

Frau Schmeidler half Lori beim Packen und schwatzte in ihrer etwas aufdringlichen und nicht sehr feinfühligen Art auf sie ein. Frau Schmeidler wusste mehr von Lori, als ihr lieb war.

„Wissen Sie, Fräulein Lori, dieses Fräulein Harland wäre mir auch unbequem, wenn ich an Ihrer Stelle wäre“, sagte sie.

Lori sah achselzuckend auf die robuste Dame, die sich immer den Anschein großer Ehrbarkeit gab und trotzdem ein recht weites Gewissen hatte.

„Seien Sie ganz unbesorgt, liebe Frau Schmeidler, dieses junge Mädchen werde ich mir bald vom Hals schaffen. Man kann sie vielleicht verheiraten. Ich glaube, sie ist leidlich hübsch.“

„Recht haben Sie. Es ist genug, dass Sie den Schwiegervater im Haus haben werden. Aber mit den Männern werden Sie schon fertig, das verstehen Sie. Ihr Verlobter scheint sehr große Stücke auf dieses Fräulein Harland zu halten, er ist doch immer des Lobes voll über sie. Na, er ist überhaupt ein Idealist vom reinsten Wasser. Von allen Menschen denkt er nur Gutes. Sie werden es leicht haben mit ihm – nur das Dekorum müssen Sie ängstlich wahren. Es ist zu komisch, dass er, der morgen Ihr Gatte wird, nicht eine halbe Stunde mit Ihnen allein bleiben will.“

Wie sie das sagte! Lori lachte auf, aber dann zeigte sie eine würdevolle Miene.

„Man muss eben das Dekorum wahren.“

Frau Schmeidler stieß Lori mit unangenehmer Vertraulichkeit in die Seite. „Wenn er wüsste, wie oft Sie schon hier mit Ihren anderen Verehrern allein gewesen sind!“

Lori richtete sich in pomphafter Theaterpose hoch auf und sagte scharf:

„Was wollen Sie damit sagen, Frau Schmeidler?“

Diese wollte es mit der künftigen reichen Frau Warneck, von der sie sich noch allerlei Vorteile erhoffte, nicht verderben. Wieder stieß sie Lori neckend an.

„Nun, man wird doch einen Scherz machen dürfen, Fräulein Lori. Wir sind ja allein, und dass ich verschwiegen bin, wissen Sie doch.“

Lori entging das gefährliche Funkeln in den Augen ihrer Wirtin nicht.

„Meine liebe Frau Schmeidler, mein Verlobter weiß alles, was gewesen ist. Ich habe ihm nicht verschwiegen, dass ich auch anderen Männern begehrenswert erschienen bin. Dass ich, weil ich allein und verlassen in der Welt stand, schwere Kämpfe bestehen musste, um meine Ehre rein zu halten, weiß er auch. Aber schließlich zeugt es ja zur Genüge für meine Ehrbarkeit, dass ich so lange Aufnahme in Ihrem Hause fand. Unter Ihrem Schutz war ich doch sicher, nicht wahr? Über Ihre Schwelle hätte sich doch nichts Unreines gewagt. Das habe ich meinem Verlobten auch gesagt. Und ich wäre ja auch nicht bei Ihnen geblieben, wenn ich nicht von Ihrer Ehrenhaftigkeit überzeugt gewesen wäre.“

Frau Schmeidler beeilte sich, zu versichern, dass Lori selbstverständlich unter ihrem Schutz sicher gewesen sei.

„Das habe ich ja auch Ihrem Verlobten gesagt, Fräulein Lori. Und wir bleiben doch gute Freunde, auch wenn Sie erst Frau Warneck sind, nicht wahr?“

Lori nickte gnädig.

„Selbstverständlich, liebe Frau Schmeidler, ich werde Ihnen nie vergessen, dass Sie mich unter Ihren mütterlichen Schutz genommen haben.“

Natürlich wusste Lori ganz genau, dass sie nur so lange auf die Verschwiegenheit der Frau Schmeidler rechnen dürfte, wie sie sich einen Vorteil davon versprach. Deshalb musste sie dafür sorgen, ihr einen solchen zu verschaffen. Wenn Lori auch nicht besonders ängstlich war und stets mit allerhand Ausreden selbst über die peinlichste Situation hinwegkam, so musste sie doch wenigstens dafür sorgen, dass Günter bis nach der Hochzeit und bis zur Sanktionierung ihrer Ehe durch den Schwiegervater an ihre tadellose Vergangenheit glaubte. Sie wusste genau, dass Günter sie nicht zu seiner Frau gemacht haben würde, wäre er nicht von ihrer strengsten Ehrbarkeit überzeugt gewesen. War sie aber erst seine Frau, dann würde sie sowohl mit ihm als auch mit ihrem Schwiegervater fertig werden.

In bester Eintracht packte Lori mit Frau Schmeidler ihre Koffer fertig und ging dann seelenruhig zu Bett.

***

Am nächsten Morgen gegen halb zehn Uhr fuhr Günter unten im Wagen vor und holte seine Braut ab. Auf dem Standesamt trafen sie mit den beiden Trauzeugen zusammen, die Günter bestellt hatte. Und wenige Minuten später war die standesamtliche Trauung vollzogen. In der Wohnung der Frau Schmeidler nahm das junge Paar mit ihr und den beiden Trauzeugen ein Frühstück ein, und dann verabschiedete sich Günter mit den beiden Trauzeugen von den Damen.

„Ich komme so schnell wie möglich zu dir zurück, Lori. Sobald ich mit meinem Vater und Käte Harland gesprochen habe, bin ich wieder hier“, flüsterte er Lori zu, sie entzückt betrachtend.

Sie hatte mit großem Raffinement Toilette gemacht und sah sinnverwirrend schön aus. Man konnte es dem jungen Ehemann nicht verdenken, wenn ihm jetzt die Trennung schwer fiel.

Sie nickte ihm zärtlich zu.

„Ich zähle die Sekunden, bis du wieder bei mir bist, mein geliebter Mann“, sagte sie mit flammenden Augen.

Günter riss sich los. Unten vor dem Haus verabschiedete er sich von den beiden Trauzeugen.

Dann fuhr er auf schnellstem Weg nach der Fabrik hinaus, um seinen Vater zu sprechen.

Zu derselben Zeit, da sein Sohn auf dem Standesamt seine Trauung vollziehen ließ, erhielt Heinrich Warneck in seinem Privatkontor einen schon längst erwarteten Besuch. Herr Körner war von seiner Reise zurückgekehrt und sogleich bei ihm vorgefahren.

„Mein hochverehrter Herr Warneck, mein Diener hat mir gesagt, dass Sie mich verschiedentlich in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen wünschten. Ich habe mich deshalb gleich aufgemacht. Womit kann ich Ihnen dienen?“

Heinrich Warneck ließ seinen Besucher Platz nehmen und bot ihm zu rauchen an.

„Ich danke Ihnen, Herr Körner, dass Sie mich mit Ihrem Besuch beehren. Ich habe eine Frage von großer Delikatesse an Sie zu richten. Bitte, halten Sie es nicht für Neugier – ich habe schwer wiegende Gründe.“

„Aber bitte sehr, sprechen Sie unbesorgt!“

Heinrich Warneck setzte sich seinem Gast gegenüber und strich sich über die Stirn.

„Also, ich sah Sie vor einiger Zeit eines Abends mit einer Schauspielerin, Fräulein Lori Leixner, aus dem Chambre séparée eines bekannten Weinlokals kommen. Ganz offen gesagt – mein Sohn hat sich in diese Dame verliebt.“

Herr Körner verneigte sich.

„Ich weiß – denn ich habe Ihrem Herrn Sohn weichen müssen“, sagte er mit ironischer Bitterkeit.

„Also hatten Sie wirklich Beziehungen zu dieser Dame? Mein Sohn sieht in ihr eine Dame von tadellosem Ruf und vornehmer Gesinnung; er ist Idealist. Mir erscheint es nicht so zweifellos, dass Fräulein Leixner absolut als Dame anzusehen ist, und in meiner Unruhe wende ich mich an Sie. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass außer meinem Sohn kein Mensch erfahren wird, was Sie mir auf die Frage antworten: In welcher Beziehung haben Sie zu Fräulein Leixner gestanden? Ich nehme an, dass ich sagen kann: gestanden. Denn inzwischen haben sich wohl diese Beziehungen gelöst?“

Herr Körner machte ein etwas unbehagliches Gesicht und zuckte nervös mit den Schultern.

„Ja, mein verehrter Herr Warneck, da bringen Sie mich in eine peinliche Situation. Ich bin zwar Junggeselle und habe auf niemanden Rücksicht zu nehmen, aber schließlich ist man doch Kavalier, auch – nun ja, auch einem Fräulein Leixner gegenüber.“

Heinrich Warneck nickte.

„Ich verstehe Ihren Standpunkt, und für mich sind Ihre Worte schon überzeugend. Sie sind ein Eingeständnis, dass Fräulein Leixners Ruf von Ihrem Kavaliertum abhängt.“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Nein, nein, Sie drückten sich vorsichtiger aus. Ich verstand Sie trotzdem. Aber darauf kommt es leider nicht an. Es muss auch meinem Sohn einleuchten. Und nur die Angst um meinen Sohn lässt mich so indiskret sein. Kurz und gut, mein Sohn ist so fest von der Untadeligkeit dieser Dame überzeugt, dass er sie heiraten will.“

Herr Körner zuckte empor. Auf seinem Gesicht erschien ein bestürzter Ausdruck.

„Um Gottes willen, so etwas heiratet man doch nicht!“, entfuhr es ihm in der Überraschung.

Heinrich Warneck atmete tief auf.

„Sie haben mir mit diesem Ausdruck betätigt, dass meine Befürchtungen nicht grundlos sind.“

Herr Körner strich sich vorsichtig über seinen tadellosen Scheitel und sah sehr unbehaglich aus.

„Es ist mir da allerdings eine unüberlegte Äußerung entschlüpft, aber in Anbetracht dessen, was für Sie auf dem Spiel steht, tut es mir kaum Leid. Ich begreife Ihre Unruhe vollständig – aber Ihren Herrn Sohn begreife ich nicht. Für einen solchen Idealisten hätte ich ihn nicht gehalten. Zum Donnerwetter, wenn er sich zu einem Heiratsversprechen hat hinreißen lassen, so soll er es rückgängig machen. Er soll sich loskaufen – mit einem Schmuck, einem Scheck oder dergleichen. Na, deutlicher kann ich doch nicht werden, Herr Warneck.“

Der alte Herr atmete schwer.

„Nein, nein, für mich brauchen Sie nicht deutlicher zu werden. Aber mein Sohn ist total bezaubert von dieser Theaterdame. Wenn ich ihn von ihr losbringen will, muss ich Beweise haben, die ihn überzeugen, sonst wird er mir wieder erklären, man habe Fräulein Leixner verleumdet. Könnten Sie sich nicht entschließen, meinem Sohn klipp und klar zu bezeugen, dass Fräulein Leixner Ihre Geliebte war?“

Herr Körner sprang auf und strich sich über die Stirn.

„Das ist eine verflixte Situation, Herr Warneck! Ihrem Herrn Sohn zu Gefallen soll ich meinen Prinzipien untreu werden? Ich war einigermaßen erbost auf Ihren Herrn Sohn, weil er mir sehr zur Unzeit dazwischenkam. Fräulein Leixner ist immerhin eine sehr reizvolle Persönlichkeit, sie besitzt eine entzückende Art und lügt so reizend, dass man in ihrer Gesellschaft nie Langeweile verspürt. Ich – ich hätte mich noch nicht von ihr zurückgezogen, wenn sie mir nicht kurz und bündig gesagt hätte, sie müsse mit mir brechen, weil sie anderweitig engagiert sei. Das fand ich immerhin anständig, und, wie gesagt, ich ahnte, dass mich Ihr Sohn ausgestochen hatte. An eine Heirat habe ich natürlich nicht geglaubt. Er hat mich um viele reizvolle Stunden gebracht, die ich in Fräulein Leixners Gesellschaft sicher noch erlebt hätte – und zum Dank soll ich ihn durch eine Indiskretion von einer Torheit zurückhalten. Das ist ein wenig zu viel verlangt.“

„Sie tun es nicht, für meinen Sohn, Herr Körner, sondern für mich.“

Körner atmete tief auf.

„Lassen Sie mir Bedenkzeit! Ob ich Ihnen weitere Beweise liefern soll, muss ich mir wirklich erst überlegen. Es ist eine verflixte Zwickmühle. Einesteils möchte ich Sie vor Kummer bewahren, denn ich schätze Sie sehr hoch, andernteils ist es mir ein scheußlicher Gedanke, dass ich sozusagen an einer Frau das Scharfrichteramt übernehmen soll. Also bitte, entschuldigen Sie mich jetzt – ich lasse heute im Laufe des Tages von mir hören.“

„Ich danke Ihnen und bitte Sie, zu bedenken, was für mich auf dem Spiel steht. Mein Sohn ist ein solcher Idealist, dass ihn nur Beweise kurieren können. Sie erweisen mir einen großen Dienst, wenn Sie mir solche verschaffen oder selbst sprechen.“

„Nun gut, ich lasse von mir hören. Jetzt entschuldigen Sie mich.“ Damit ging Herr Körner hastig davon. Heinrich Warneck sah ihm mit starren Blicken nach und wiederholte mechanisch den Ausruf, den sein Besucher sich hatte entschlüpfen lassen:

„Um Gottes willen! So etwas heiratet man doch nicht!“

Er prägte sich diese Worte fest ein. Und dann nahm er den Hörer des Telefons vom Schreibtisch und rief im Privatkontor seines Sohnes an. Er bekam aber keine Antwort. Darauf klingelte er beim Portier des Kontorhauses an, der aus seiner am Eingang gelegenen Loge den Aus- und Eingang aller Personen kontrollieren konnte.

„Ist mein Sohn im Haus?“, fragte er.

Der Portier meldete ihm, Günter sei heute Morgen noch nicht erschienen, und Heinrich Warneck gab ihm Weisung, er möge seinen Sohn sofort zu ihm schicken, wenn er kommen würde.

Unruhig schritt Heinrich Warneck lange Zeit auf und ab. Die Zeit bis zum Eintreffen seines Sohnes dünkte ihn eine Ewigkeit.

Endlich trat Günter ein. Er hatte den Mantel noch nicht abgelegt und trug den Hut in der Hand.

„Du wünschst mich zu sprechen, Vater? Ich wäre ohnedies zu dir gekommen, da auch ich dir eine Mitteilung zu machen habe. Bitte, deine Angelegenheit geht vor“, sagte er, so ruhig er konnte.

Der alte Herr zwang sich zur Ruhe.

„Ich wollte dich fragen, mein Sohn, ob du zu einer besseren Einsicht gekommen bist oder ob du noch immer willens bist, dieses Fräulein Leixner zu heiraten?“

Günters Gestalt straffte sich. Einen Augenblick zögerte er noch, denn er wusste, dass er seinem Vater jetzt einen Schlag versetzen musste. Wie tödlich dieser Schlag treffen würde, ahnte er freilich nicht.

„Ich bin gekommen, Vater, um dir zu sagen, dass ich mich heute Vormittag habe standesamtlich trauen lassen. Lori ist meine Frau“, sagte er fest und bestimmt.

Aber kaum waren diese Worte seinen Lippen entflohen, da erschrak er bis ins Herz hinein. Diese Wirkung hatte er nicht erwartet.

Sein Vater sank leichenblass in seinem Sessel zusammen, als habe alle Kraft ihn verlassen. Hier saß er wie vernichtet, und seine Hände zitterten.

„Das – das hast du mir angetan? Sag, dass es nicht wahr ist – nicht wahr“, ächzte er.

In Günter mochte es jetzt aufdämmern, dass es seinem Vater doch nicht nur auf eine starrköpfige Machtprobe angekommen war. Es lag eine tiefe Verzweiflung im Ausdruck des sonst so beherrschten Gesichts des alten Herrn. Günters Trotz schwand dahin. Gewaltsam musste er seine Kampfstimmung aufrechterhalten.

„Du hast mir keine Wahl gelassen, Vater. Ich hatte Lori mein Wort gegeben, und du gabst mir dein Wort, dass du nie deine Einwilligung geben würdest. So musste ich ohne deine Einwilligung mein Wort einlösen.“

Jetzt ermannte sich der alte Herr ein wenig.

„Wie ein dummer Junge hast du dich von einem hübschen Lärvchen düpieren lassen. Einer solchen Person zuliebe hast du deinen Vater brüskiert. Aber bei Gott, sie soll sich verrechnet haben, wenn sie glaubt, dass die Pforten meines Hauses sich ihr erschließen. Du hast gehört, was ich geschworen habe, und meinen Schwur halte ich. Diese Person betritt meine Schwelle nicht, so lange ich lebe. Und du – du hast gewählt zwischen ihr und mir. Löse dich von dieser Frau, dann steht dir dein Vaterhaus wieder offen! Lösche den Schandfleck, den du dem Namen Warneck angeheftet hast.“

Das stieß er in einer verhaltenen Erregung hervor, und in seinen Augen lag ein Ausdruck tiefen Schmerzes.

Günter hörte aber nur, dass sein Vater Lori einen Schandfleck nannte. Er richtete sich in trotzigem Stolz auf.

„Ich werde nur umso fester zu meiner Frau halten, je mehr du sie schmähst. Du kennst sie ja gar nicht und erniedrigst und beleidigst sie doch namenlos in deinem ungerechten Zorn.“

Bitter und schneidend lachte der alte Herr auf und sagte beißend:

„Ungerecht? Auf den Knien wollte ich es ihr abbitten, wenn ich ungerecht wäre. Dort, auf diesem Sessel, saß vor einer Stunde ein Mann, der diese Person besser kennt als du und ich – einer ihrer Verehrer. Und dieser Mann sagte zu mir, als ich ihm mitteilte, dass du sie heiraten wolltest: ‚Um Gottes willen! So etwas heiratet man doch nicht‘.“

Günter zuckte zusammen wie unter einem Schlag.

„Wer ist dieser Mann? Nenne mir seinen Namen, dass ich ihn niederschlagen kann!“

„Ich werde dir den Namen nicht nennen, um dich nicht zu einer neuen Torheit zu verleiten.“

„Er ist ein gemeiner Verleumder! Vielleicht einer jener Gecken, die vergeblich um Loris Gunst bettelten und von ihr abgewiesen wurden. Ich verlange von dir, mir seinen Namen zu nennen, damit ich dir den Beweis erbringen kann, dass er ein Verleumder ist.“

Tief seufzte der alte Herr auf.

„Leider ist er das nicht. Nur schwer entschloss er sich, mir zuzugeben, dass er Beziehungen zu der Dame hatte, die erst nach deinem Dazwischentreten gelöst wurden. Vielleicht liefert mir der Mann Beweise. Er hat sich Bedenkzeit erbeten.“

„Du glaubst also diesem fremden Menschen mehr als deinem Sohn?“

Jetzt sprang der alte Herr auf und schlug auf den Tisch.

„Mein Sohn ist ein Narr! Ich glaube jenem Mann jedenfalls mehr als einer Person, von der er mir sagte: ‚Sie lügt so reizend, dass man in ihrer Gesellschaft nie Langeweile verspürt‘. So spricht man von einer Frau, der du deinen ehrlichen Namen ausliefertest. Und noch einmal: So lange du zu dieser Person gehörst, ist das Tischtuch zwischen uns zerschnitten. Mein Haus will ich rein halten, und über meine Schwelle kommt sie nie. Von deinem Erbe wirst du nur das Pflichtteil erhalten, ich breche meinen Schwur nicht. Das ist mein letztes Wort!“

Günter schwieg einen Augenblick, überwältigt von seinen eigenen Gefühlen und von dem zornigen, bitteren Schmerz in den Augen seines Vaters. Dann raffte er sich auf.

„Dann habe ich dir nichts mehr zu sagen, Vater. Ich gehe dahin, wohin ich gehöre, zu meiner Frau. Und ich werde nicht eher zurückkehren, bis du mich rufst, mit meiner Frau!“

Der alte Herr krampfte die Fäuste zusammen.

„Mit ihr, niemals!“

„Dann leb wohl, Vater!“

„Geh! Ich bin zu Ende – mit meiner Kraft.“

Günter sah von der Tür noch einmal nach seinem Vater zurück, und als er ihn so verstört in seinem Sessel sitzen sah, griff es ihm ans Herz. So hatte er den Vater nie gesehen. Immer kannte er ihn nur stolz und aufrecht, unnahbar und hart. Schon wollte er umkehren und ihm ein gutes Wort sagen, da winkte der alte Herr, sich schroff aufrichtend, ab.

„Geh!“

Da ging Günter hinaus.

Er fuhr sogleich nach Hause. In der Zerrissenheit seines Gemüts hatte er nur das eine Verlangen, Käte noch einmal wiederzusehen.

Sie stand gerade im Vestibül und ordnete mit dem Gärtner die Pflanzengruppen zu beiden Seiten der Treppe, die hinauf zum ersten Stock führte.

Erschrocken sah sie auf, als Günter plötzlich vor ihr stand. Sein blasses, erregt zuckendes Gesicht verriet ihr nichts Gutes.

„Käte, bitte kommen Sie mit ins Wohnzimmer, ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen.“

Sie stellte schnell eine kleine Gießkanne nieder und folgte ihm. Im Wohnzimmer blieb sie vor ihm stehen. Die helle Wintersonne warf funkelnde Lichter auf ihr Haar. Ihre Augen blickten fragend zu ihm auf.

„Was ist geschehen, Günter?“

Er lachte hart auf und warf sich in einen Sessel. „Woher wissen Sie, dass etwas geschehen ist?“

Sie atmete erregt. „Ich lese es in ihren Augen, Günter. Und Sie sehen so bleich und verstört aus. Haben Sie etwas mit Ihrem Vater gehabt?“

Er presste die Hände an die Schläfen. „Ja, Käte, es ist zu einem Zerwürfnis gekommen – zum Bruch. Vater hat mich aus seinem Haus gewiesen. Ich bin sein Sohn nicht mehr.“

Sie erschrak bis ins Herz hinein. Aber dann bezwang sie sich und versuchte zu lächeln.

„Aber Günter, das war doch unmöglich sein Ernst! Er hat das doch nicht ernst gemeint.“

„Doch, doch. Es war sein Ernst. Mein Vater hat mich aus seinem Haus gewiesen, er wird mich enterben und auf mein Pflichtteil setzen. Es ist alles zu Ende zwischen uns.“

„Das wolle Gott verhindern, Günter. Was haben Sie denn getan, um ihn so zu reizen?“

Er atmete tief auf.

„Ich habe mich heute Vormittag mit Lori Leixner verheiratet.“

Das kam zu plötzlich über Käte Harland, sie wurde totenbleich und taumelte, als habe sie den Boden unter den Füßen verloren. Günter musste schnell zufassen, um sie zu stützen, sonst wäre sie zu Boden gestürzt.

„Käte, was ist Ihnen?“, fragte er betroffen.

Aber mit fast übermenschlicher Kraft riss sie sich zusammen und trat, sich in einen Sessel gleiten lassend, rasch von ihm zurück.

„Es ist nichts – nur –, ich bin ein wenig erschrocken, Günter. Bitte, achten Sie nicht darauf! Gönnen Sie mir nur einen Augenblick, dass ich fassen kann, was Sie eben sagten“, kam es tonlos über die Lippen. Und er sah in ihren Augen wieder den erschütternden Ausdruck, der ihm schon einmal zu denken gegeben hatte. Liebte ihn Käte Harland? War sie deshalb so erschrocken über seine Heirat? Es konnte doch fast keine andere Deutung geben.

In all seinem eigenen Schmerz überkam ihn ein tiefes, erbarmendes Mitleid. Armes Veilchen? War er es, der diese feine, stille Blüte achtlos zertreten hatte? Armes kleines Veilchen! Er hätte sie gern in seine Arme genommen und sie getröstet und gestreichelt, aber er sagte sich, dass er ihr, gerade wenn seine Vermutung richtig war, keine größere Wohltat erweisen konnte, als wenn er ihre Erregung nicht beachtete. Alles, was er für sie tun konnte, war, dass er ihren Stolz nicht verletzte.

„Also, auch Sie sind fassungslos, wie es mein Vater war, dieser Nachricht gegenüber“, sagte er leise.

Sie war an Selbstbeherrschung gewöhnt und hatte sich schon wieder in der Gewalt.

„Das müssen Sie doch verstehen, Günter. Wie soll ich nicht erschrecken, da ich weiß, wie Ihr Vater dieser Verbindung gegenübersteht! Ist es die Wahrheit – Sie haben sich verheiratet mit Fräulein Leixner?“

„Ja, Käte, Und ich komme von meinem Vater. Es gab eine schlimme Szene. Vater beschimpfte meine Frau, weil ihm ein ehrloser Verleumder in den Ohren gelegen hatte, dem er mehr glaubte als mir. Ich nahm meine Frau in Schutz – es gab harte Worte. Kurzum, er sagte sich los von mir. Meine Frau soll nicht über die Schwelle seines Hauses und – ich auch nicht, so lange ich zu ihr gehöre – also für immer, denn ich bin unlösbar mit meiner Frau verbunden.“

Käte presste die Handflächen zusammen. „Ach, mein Gott, dass ich nicht dabei sein konnte, dass ich das Schlimmste hätte verhindern können. Günter, bedenken Sie doch, Ihr Vater meinte es trotz allem gut mit Ihnen, er – er glaubt nur nicht, dass die Frau, die Sie sich erwählt haben, Sie glücklich machen kann. Hätten Sie doch Ihrem Trotz nicht die Zügel schießen lassen!“

Günter ballte die Hände.

„Wenn er meine Frau beschimpft und beleidigt! Wenn er darauf hört, was feige Verleumder ihm berichten! Ich bin jetzt eins mit meiner Frau und darf Lori nicht beschimpfen lassen – auch von meinem Vater nicht. Das müssen Sie doch verstehen, Käte.“

Das Herz klopfte ihr dumpf und schwer bis zum Hals hinauf. Sie wusste nicht, mit welchen Worten Günters Vater seine Frau beleidigt hatte; nur das wusste sie, dass diese Frau wertlos war und dass sie einen anderen Mann „Schatz“ genannt hatte zu einer Zeit, da Günter schon in ihr Leben getreten war.

Hätte sie Günter doch gleich an jenem Tag davon sprechen sollen, als er ihr von seiner Liebe erzählte?

Aber er hätte ihr sicher ebenso wenig geglaubt wie seinem Vater.

Mutlos und verzagt sah sie ihn an. „Was soll nun werden, Günter?“, fragte sie beklommen.

Er zuckte die Schultern. „Es gibt keine Verständigung zwischen meinem Vater und mir, wenn ich ihm nicht beweisen kann, dass meine Frau bei ihm böswillig verleumdet wurde. Ob mir das je gelingen wird, weiß ich nicht. Jedenfalls ist mir von heute an sein Haus verschlossen. Und ich möchte Sie bitten, Käte, all meine Sachen zusammenpacken zu lassen, sobald ich Ihnen Nachricht gebe, wohin sie mir nachzusenden sind. Ich reise noch heute mit meiner Frau ab. Alles, was ich auf der Hochzeitsreise brauche, habe ich bereits gestern packen und nach dem Bahnhof schaffen lassen. Und dann habe ich noch eine dringende Bitte an Sie, Käte. Darf ich sie aussprechen?“

Sie nickte matt. „Sprechen Sie, Günter! Wenn ich etwas für Sie tun kann, soll es mit Freuden geschehen!“

Er atmete auf.

„Sie sind ein wunderbarer Mensch, Käte, ich lerne Sie immer höher schätzen. Es ist nicht recht von mir, dass ich immer wieder neue Anliegen an Sie habe. Aber – wen soll ich sonst darum bitten, ein gutes Wort bei meinem Vater einzulegen! Nicht, dass er mir meinen eigenmächtigen Schritt verzeihen soll – das wird er wohl nie tun, aber Sie sollen ihm sagen, dass ich jetzt einsehe, dass ich übereilt handelte. Ich hätte erst den Verleumder zur Verantwortung ziehen und den Ruf meiner Frau auch in den Augen meines Vaters rein waschen sollen, ehe ich sie heiratete. Ich glaubte wirklich nur, dass es Vater auf eine neue Machtprobe ankam. Jetzt weiß ich, dass er tiefere Gründe hatte. Sagen Sie ihm, nicht heute und morgen, aber wenn er ruhiger geworden ist, dass ich nicht ruhen und rasten werde, bis ich ihn davon überzeugt habe, dass meine Frau des Namens Warneck wert ist. Und Sie müssen meinem Vater jetzt noch mehr sein als zuvor, Käte, denn – so seltsam es klingen mag – seit heute weiß ich, dass mein Vater mich liebt. Jetzt steht etwas Ernstes zwischen uns, und Gott mag mir helfen, dass ich das hinwegräumen kann. Schwer, sehr schwer wird es mir doch, von meinem Vater zu gehen, das sage ich aber nur Ihnen, Käte. Der Bruch zwischen uns tut mir weh, wie er auch ihm weh getan hat. Suchen Sie ihm alles leichter zu machen, ich bitte Sie darum. Sie haben große Macht über ihn, mehr, als Sie in Ihrer Bescheidenheit glauben. Und das ist mir in allem Schmerz wie ein Trost. Auch bitte ich Sie inständig, Käte, geben Sie mir zuweilen Nachricht, wie es meinem Vater geht. Ich werde Sie immer wissen lassen, wo mich Ihre Nachrichten erreichen. Wollen Sie mir diese Bitte erfüllen?“

Sie sah ihn mit einem Blick an, der ihn bis ins Herz traf. Dann sagte sie mit fester Stimme:

„Alles will ich tun, was ich für Sie zu tun vermag, und Gott wird mir helfen, dass ich die Scheidewand zwischen Ihnen und Ihrem Vater wegräumen kann. Ich kenne keine mir heiligere Aufgabe. Und alles Glück der Welt mit Ihnen, Günter! Gott mag helfen, dass Sie wirklich glücklich werden.“

„Ich danke Ihnen.“

Er zog ihre Hand an seine Lippen. Es war das erste Mal, dass er das tat, und er fühlte das leise Beben ihrer Hand. Abrupt wandte er sich ab und ging eilig davon. Er sah nicht mehr, dass Käte, die am Ende ihrer Kraft war, wankte und dann haltlos zu Boden stürzte.

***

Ungeduldig hatte Lori auf die Rückkehr ihres Gatten gewartet. Als er endlich eintraf, kam sie ihm, schon im Reisekleid, entgegen und umarmte ihn.

„Endlich, mein Günter! Wie habe ich mich nach dir gesehnt!“

Er küsste sie und zog sie neben sich auf den Diwan nieder. Heute war, die Ehrendame Schmeidler überflüssig, sie waren beide allein.

„Verzeih, dass ich dich warten ließ, Lori, aber die Unterredung mit meinem Vater ist etwas stürmisch verlaufen, und ich musste dann noch nach Hause fahren, um Order geben zu können, dass man meine Sachen einpacken lässt.“

„Deine Sachen? Du hast doch, denke ich, deine Koffer schon nach dem Bahnhof bringen lassen?“

„Ja, Lori, was ich auf der Reise brauche. Aber auch meine übrigen Sachen wird man mir nachsenden – ich muss es dir sagen, Lori, mein Vater war außer sich, dass ich mich gegen seinen Willen verheiratet habe. Er – hat mich verstoßen!“

Sie zuckte zusammen, und ihre Augen starrten ihn erschrocken an. Ihr Traum von Glanz und Pracht schien ihr gefährdet.

„Was heißt das, Günter? Verstoßen hat dich dein Vater? Wie soll ich das verstehen?“

Er vergrub sein Gesicht in ihrem Haar.

„So, wie ich es sage, Lori, zwischen meinem Vater und mir ist alles aus. Er weigert sich, meine Ehe anzuerkennen und – aber lassen wir das alles! Ich will nicht mehr daran denken. Du und ich, wir wollen glücklich sein, gerade weil man uns dieses Glück rauben will.“

Und er zog sie in seine Arme und küsste sie wie von Sinnen. Aber sie machte sich los.

„Günter, sag mir doch erst, was soll daraus werden? Wenn nun dein Vater seine Hand von dir abzieht? Wovon sollen wir denn leben?“

Eine Weile sah er sie ernüchtert an. Er begriff nicht, dass sie jetzt daran denken konnte. Langsam strich er über seine Stirn.

„Darum brauchst du nicht in Sorge zu sein. Ich habe mein eigenes Bankkonto. Brauchst keine Angst zu haben, dass es dir an etwas fehlen wird.“

Dass sein Vater ihn enterbt und nur auf sein Pflichtteil gesetzt hatte, sagte er ihr nicht.

Wozu sie damit erschrecken? Er fühlte sich Manns genug, selbst für eine Familie sorgen zu können.

Lori war schnell beruhigt. Sie schmiegte sich wieder an ihn. „Nun erzähle doch, Günter – wie verlief die Unterredung mit deinem Vater?“

Er strich sich über die Stirn. „Erlass es mir, darüber zu sprechen! Wir wollen nicht mehr daran denken – heut ist unser Hochzeitstag.“

Sie umfasste seinen Hals. „Und meine Liebe soll dir alles andere ersetzen.“

Er riss sie an sich und bedeckte ihren Mund, ihre Augen mit Küssen. „Du musst mir auch alles sein, Liebste“, flüsterte er, und er vergaß jetzt alles, was ihn bedrückte, über der beseligenden Gewissheit, dass dieses bezaubernde Weib ihm gehörte.

Endlich machte Lori der zärtlichen Stunde ein Ende. „Wir müssen uns fertig machen, Günter, sonst kommen wir zu spät zum Bahnhof.“

Er sprang auf und fragte hastig:

„Ist dein Gepäck fertig, Lori?“

„Bis auf diesen Koffer. Ich weiß nicht, ob ich auf der Reise meinen Pelzmantel oder meine Lederjacke tragen soll. Rate du mir!“, sagte sie.

Er sah sie erstaunt an. „Von welchem Pelz sprachst du, Lori, und von welcher Lederjacke?“

„Nun, du kennst doch beides, Günter.“

„Du sagtest mir doch, dass du diesen Pelzmantel und diese Lederjacke nur zur Reklame für eine Firma trägst.“

Mit schelmischem Blick sah sie ihn an.

„Oh, jetzt gehören beide mir. Ja, ich wollte sie gestern zurückgeben, sagte aber ganz offen, dass ich mich nur ungern davon trennen würde und fragte, ob man sie mir nicht für einen Extra-Preis überlassen könnte. Ich muss dir ein Geständnis machen – du darfst aber nicht böse sein –, ich dachte daran, dass du mir, wenn ich erst deine Frau sein würde, wohl das Geld dafür geben würdest. Aber denke dir, es war nicht einmal nötig. Die Firma sagte mir, sie habe durch meine Reklame so gute Geschäfte gemacht, dass sie mir für den Pelz und die Lederjacke, die doch nun schon getragen seien, einen ganz lächerlich geringen Preis machen würden. Und so viel Geld besaß ich noch, um die Rechnung begleichen zu können. Und nun gehören die beiden Prachtstücke mir, und ich brauche meinen geliebten Mann nicht einmal um Geld zu bitten.“

Günter hätte zwar am liebsten keines der beiden Kleidungsstücke an Lori gesehen, denn es war ihm peinlich, dass die Frau Günter Warnecks Reklamestücke getragen hatte. Aber er wollte Loris Freude an dem billigen Erwerb nicht trüben. Schließlich war es ja keine Schande.

„Die Lederjacke ist vielleicht praktischer auf der Reise, Lori. Und du siehst darin entzückend aus. Man wird mich um meine schöne Frau beneiden.“

„Soll man auch“, neckte sie.

Und sie schloss schnell ihren Pelzmantel in den Koffer, den sie hinuntertragen ließ zu dem wartenden Auto.

Dann setzte sie eine elegante Reisekappe auf ihr kurzes Haar und ließ sich von Günter in die rotbraune Lederjacke helfen, die mit einem großen Wolfsfellkragen und ebensolchen Ärmelaufschlägen besetzt war. Sie sah allerdings entzückend aus, und es war Günter nicht zu verdenken, dass er beim Anblick seiner schönen Frau alles vergaß.

Wenige Minuten später saß das junge Paar, das sich von Frau Schmeidler verabschiedet hatte, im Auto und fuhr zum Bahnhof.

Und während Günters Augen entzückt auf seiner schönen Frau ruhten, ahnte er nicht, dass sie ihm über den Pelz und die Lederjacke ein Märchen erzählt hatte. Die beiden kostbaren Gegenstände gehörten von Anfang an ihr. Sie hatte sie von ihren Verehrern zum Geschenk erhalten, wie auch viele andere Kostbarkeiten.

Man machte zuerst in München Station. Von hier aus setzte das junge Paar seine Reise nach Partenkirchen fort. Es war ein herrlicher, klarer Wintermorgen, als sie in dem eleganten Aussichtswagen der Starnberger Bahn ins bayerische Hochgebirge fuhren. Immer schöner und gigantischer wuchs die schneebedeckte Bergwelt empor.

In glücklicher Stimmung traf das junge Paar in Partenkirchen ein. Am Bahnhof bestiegen sie einen Schlitten und fuhren nach Jeschkes Hotel. Schon auf der Fahrt sahen sie auf den Sportplätzen ein reges Treiben. Die jauchzenden Wintersportler sausten im Schlitten oder als Skiläufer zu Tal und ließen sich entweder hochziehen oder kletterten zur Erwärmung selbst wieder zur Höhe hinauf.

In dem gut geheizten Hotel waren ihre Zimmer bereit, und in dieser Umgebung von Luxus und Lebensfreude tauchte Günter nun in den nächsten Tagen mit seiner jungen Frau unter.

Sie genossen ihren Honigmond in vollen Zügen. Da Günter Lori jeden Wunsch von den Augen ablas und das Geld mit der selbstverständlichen Noblesse des reichen Mannes ausgab, war Lori sehr zufrieden mit ihrem Dasein als Frau Warneck.

Sie wurde viel umschwärmt und bewundert. Aber vorläufig fand sie ein Vergnügen daran, die vornehme, zurückhaltende Frau zu spielen. Sie benahm sich zu Günters Freude tadellos, und er war fester denn je davon überzeugt, dass sein Vater nur der Verleumdung sein Ohr geliehen hatte.

***

Käte Harland hatte inzwischen einen schweren Stand mit Heinrich Warneck. Der alte Herr schien mit sich und der Welt zerfallen, seit er seinen Sohn von sich gestoßen hatte.

Er war in düsterer Stimmung am Mittag des kritischen Tages nach Hause gekommen und hatte starr und teilnahmslos vor sich hingeblickt. Käte hatte ihn liebevoll angesehen und bittend über seine Hand gestreichelt.

„Willst du nicht essen?“

Da hatte er sie mit einem Blick angesehen, der sie erschütterte. Wie im Krampf hatte es sich über seine Lippen gerungen: „Weißt du, dass ich keinen Sohn mehr habe, Käte?“

Sie hatte seine Hand gefasst. „Günter war hier, Onkel Heinrich. Er hat mich gebeten, seine Sachen packen zu lassen und sie ihm nachzusenden, sobald er Order gibt. Muss ich das wirklich tun, Onkel Heinrich? Können Günters Sachen nicht hier bleiben, bis er eines Tages wiederkommt?“

Der alte Herr schüttelte den Kopf. „Er hat gewählt zwischen mir – und einem sehr wertlosen Objekt. Und sein Herz wird nicht einmal dabei gezuckt haben. Was gilt ihm sein Vater?“

„Mehr, als du denkst. Ach, hättest du ihn nur gehört! So besorgt war er um dich. Er weiß, dass er dir hat sehr weh tun müssen.“

Schneidend lachte der alte Herr auf. „Warum hat er es denn getan?“

„Weil – ach, Onkel Heinrich, er glaubt an seine Frau – und er muss sie sehr lieben. Es tut ihm jetzt selbst Leid, dass er dich mit seiner Heirat überrumpelt hat. Er glaubte, es sei nur eine Machtprobe von dir gewesen. Nun, da er weiß, dass du tiefere Gründe hattest, bedauert er, dass – dass er den Ruf seiner Frau in deinen Augen nicht erst rehabilitiert hat, ehe er sie heiratete.“

„Dann wäre es wohl nie zu einer Heirat gekommen“, höhnte der alte Herr mit bitterer Ironie.

„Verzeih ihm doch, Onkel Heinrich!“

Er sah sie seltsam an. „Du bittest um Verzeihung für ihn – du?“

Sie errötete tief. „Warum ich nicht?“, fragte sie leise.

Er nahm ihr Gesicht in beide Hände. „Weil du ihn liebst, Käte, und weil er in törichter Verblendung über dich hinweg sah und sich leider von jener – jener Person einfangen ließ, die es nicht wert ist, dir die Schuhriemen zu lösen.“

Aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen.

Sie trat zurück und richtete sich stolz auf. „Davon darfst du nicht reden, Onkel Heinrich – niemals wieder! Ich will dich nicht belügen in dieser Stunde – ja, ich liebe Günter, ich habe ihn geliebt vom ersten Tag an, da ich ihn sah, und werde ihn immer lieben, solange ich lebe. Aber er kann doch nichts dafür, dass er mich nicht wiederliebt. Niemand kann sein Herz bezwingen. Und nun, da ich meinem Stolz dieses Bekenntnis abgerungen habe – nun versprich mir, nie mehr daran zu rühren und es als tiefes Geheimnis in deiner Brust zu verschließen.“

Er nickte seufzend. „Ich verspreche es dir, mein armes Kind.“

Als Heinrich Warneck am Nachmittag in sein Privatkontor kam, fand er auf seinem Schreibtisch ein ziemlich dickes Kuvert liegen. Es trug in einer Ecke gedruckt den Namen Walter Körner und seinen eigenen Namen als Aufschrift. Der Kontordiener sagte ihm, ein Bote habe das Schreiben vor wenigen Minuten gebracht.

Heinrich Warneck sah mit brennenden Augen darauf nieder und befahl, dass man ihn nicht stören möge.

Als er allein war, öffnete er das Kuvert. Es enthielt zwei Briefe und zwei Rechnungen. Heinrich Warneck entfaltete den einen Brief und las:

Hochverehrter Herr Warneck! Als ich Sie heute Morgen verließ, geschah es, um mich Ihrem Einfluss zu entziehen. Ich wollte nicht zum Ankläger werden gegen eine Frau, die mir schöne Stunden geschenkt hat. Ich glaubte immerhin, dass sie einmal etwas für mich gefühlt hatte und dass ich wenigstens kurze Zeit der einzige Mann war, mit dem sie verkehrte. Ein Zufall führte mich auf dem Nachhauseweg meinem Freund Doktor Arndt in den Weg, und er plauderte aus, dass er, ohne es zu wissen und zu wollen, zu gleicher Zeit mein Rivale in der Gunst der schönen Lori Leixner gewesen ist. Das Resultat unserer darauf folgenden Bekenntnisse ist die beiliegende, für Herrn Doktor Arndt ausgestellte und von ihm beglichene Rechnung. Ich habe mich danach zu der Einsicht durchgerungen, dass Diskretion einem Fräulein Leixner gegenüber nicht am Platz ist, wenn ein guter Name, wie der Ihre, auf dem Spiel steht. Ich lege Ihnen also ohne weiteren Kommentar auch eine für mich ausgestellte Rechnung und einen Brief der betreffenden Dame bei. Ich denke, das wird genügen, um Ihren Herrn Sohn zu überzeugen, dass man so etwas nicht heiratet, wenn man das Glück hat, einen ehrenhaften Namen zu führen. Ich hoffe, Ihnen einen Dienst erwiesen zu haben, indem ich Ihnen diese Papiere aushändige, und mache Sie noch darauf aufmerksam, dass die beiden Rechnungen fast zu gleicher Zeit ausgestellt wurden. Vielleicht war auch Ihr Herr Sohn an jenem Datum schon mit Fräulein Leixner liiert, wie sie mit Doktor Arndt und mir liiert war. Diskretion brauche ich über diese Angelegenheit weder zu erbitten noch zu versprechen. Wir haben alle das gleiche Interesse, sie totzuschweigen. Ich begrüße Sie mit größter Hochachtung

Ihr Walter Körner

Heinrich Warneck starrte auf den Brief herab.

„Zu spät!“, sagte er bitter.

Aber dann richtete er sich auf.

Nicht spät genug, um meinen Sohn aus unwürdigen Banden zu befreien, dachte er aufatmend.

Und dann entfaltete er die beiden Rechnungen.

Die eine war von einer Pelzfirma für Herrn Walter Körner ausgestellt und lautete:

Ein Sealpelzmantel für Fräulein Lori Leixner in Ihrem Auftrag geliefert.

Die andere Rechnung war von einer Firma für Sportkleidung ausgestellt für Herrn Doktor Arndt und lautete:

Eine Nappalederjacke mit Wolfspelzkragen und Ärmelaufschlägen für Fräulein Lori Leixner auf Ihre Bestellung angefertigt.

Es zuckte verächtlich um Heinrich Warnecks Mund. Das war deutlich genug.

Fräulein Leixner hatte sich ihre Gunst mit einem Pelzmantel und einer Lederjacke bezahlen lassen. Und sie war seines Sohnes Frau und trug seinen Namen!

Ein Stöhnen brach über die Lippen des alten Herrn.

Endlich raffte er sich auf und las auch noch den zweiten Brief. Er steckte in einem veilchenfarbenen Kuvert und war parfümiert. Unterschrieben war er mit „Lori“ und er lautete:

Mein einzig lieber, süßer Schatz! Schnell muss ich dir tausend dankbare Küsse senden. Ich fand in deinen Blumen das Etui mit dem Brillantring versteckt. Er ist wundervoll, noch viel schöner, als ich glaubte, als ich ihn im Schaufenster sah. Wie lieb von dir, mir diesen Herzenswunsch zu erfüllen! Du bist mein lieber, lieber Schatz, und ich werde dich belohnen. Bitte, hole mich aber nicht vom Theater ab! Wir wollen auch nicht ausgehen, Schatz. Frau Schmeidler kann uns ein Souper zusammenstellen, dann sind wir allein und nicht unter fremden Menschen. Du erwartest mich bei mir zu Hause halb zehn Uhr. In inniger Sehnsucht nach einem Wiedersehen, mit tausend süßen Küssen deine Lori.

Datiert war dieser Brief vom 10. Oktober, die Rechnung für Doktor Arndt vom 14. Oktober und die Rechnung für Walter Körner vom 21. Oktober.

Mit einem verächtlichen Blick verglich Heinrich Warneck diese Daten, die allerdings für sich selber sprachen.

Nun hielt er die Beweise in den Händen, dass Lori Leixner nicht nur die Geliebte des Herrn Körner, sondern zu gleicher Zeit auch die des Herrn Doktor Arndt gewesen war. Ob sie in jener Zeit schon mit seinem Sohn bekannt war, würde er selbst wissen. Und es stand fest für ihn, dass sein Sohn diese Papiere erhalten müsse.

Aber dieser Tag sollte dem alten Herrn noch weitere Aufschlüsse über die Person Lori Leixners bringen. Die Firma, die er beauftragt hatte, über das Vorleben der jungen Schauspielerin Nachforschungen anzustellen, berichtete ihm, was sie in Erfahrung gebracht hatte. Es war ebenfalls nichts Lobenswertes, im Gegenteil – Heinrich Warneck erhielt auch über das Vorleben der jungen Dame allerlei Aufschlüsse, die es ihm unerträglich machten, in ihr seine Schwiegertochter zu sehen.

Seine Hände ballten sich. Diese Beweise mussten auch seinem Sohn genügen, und wenn er danach noch nicht von dieser Frau zu lösen war, dann war er verloren.

Düster starrte er vor sich hin. War es möglich, dass Günter bei dieser Frau blieb, selbst wenn er die Beweise ihres Unwerts in Händen hielt?

Er biss die Zähne zusammen, und die Adern an seiner Stirn schwollen an. Mit einer entschlossenen Gebärde richtete er sich auf und legte einen großen Briefbogen vor sich hin.

Mein letzter Wille.

So schrieb er mit seinen großen steilen Buchstaben. Und ohne lange zu überlegen, schrieb er sein Testament nieder.

Als Heinrich Warneck am Abend dieses ereignisreichen Tages vom Abendessen aufstand, sagte er zu Käte Harland: „Bitte, komm mit mir hinüber in mein Arbeitszimmer! Du bist so sehr meine Vertraute geworden, dass ich etwas mit dir besprechen möchte, das man sonst nicht mit jungen Damen zu besprechen pflegt.“

Käte sah fragend in sein blasses Gesicht, in das dieser Tag einen qualvollen Leidenszug eingegraben hatte, aber sie ging ohne Widerrede mit ihm.

Als sie das große Arbeitszimmer betreten hatten, ließ sich Heinrich Warneck vor seinem Schreibtisch nieder und bat Käte, in einem Sessel Platz zu nehmen. Dann entnahm er seiner Brieftasche einige Papiere.

„Du weißt, was mir jetzt am meisten auf der Seele liegt, Käte.“

Sie nickte. „Ja Onkel, ich weiß es!“

Er strich sich über die Stirn. „Heute Mittag fand ich in meinem Kontor einen Brief vor; er hat mir den Beweis gebracht, dass jene Person, die meinen Sohn in ihre Netze gezogen hat, tatsächlich ein minderwertiges Geschöpf ist.“

„Was hast du in Erfahrung gebracht, Onkel Heinrich?“

Er legte die Beweisstücke, die er von Walter Körner erhalten hatte, vor sie hin. „Bitte, lies das in Ruhe durch!“ Mit bebenden Händen entfaltete sie die Schriftstücke, las sie und ließ die Hände kraftlos herabsinken.

„Um Gottes willen!“, rang es sich über ihre blassen Lippen.

Der alte Herr legte ein Schriftstück vor sie hin, das er zurückgehalten hatte. „So, und nun lies das! Es ist ein Bericht über das Vorleben dieser Person. Sie hat mit ihrem Vater, der sich keines guten Leumunds erfreute, ein sehr abenteuerliches Leben geführt. Und das ist jetzt meines Sohnes Frau!“

Käte las auch dieses Schriftstück, und dann stöhnte sie auf. „Onkel Heinrich, das darf Günter nie erfahren!“

Der alte Herr fuhr auf. „Doch, das muss er erfahren!“

Sie rang die Hände. „Es wird ihn vernichten.“

„Nein, es wird ihn frei machen, wenn er ein Mann ist.“

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Es wird ihm weh tun – es wird sein ganzes Glück zerstören.“

„Sein Glück? Hältst du es für ein Glück für einen Mann, der Gatte einer solchen Person zu sein?“

Zitternd atmete sie auf. „Solange er sie noch für rein und ehrenhaft hält, wird er glücklich sein. Nimmt man ihm seinen Glauben, so wird sein Glück vernichtet. Gerade weil er so schrankenlos vertraut, wird er umso tiefer getroffen werden. Denke dich doch in seine Lage, Onkel Heinrich! Er liebt diese Frau, er glaubt an sie und sieht ein Ideal in ihr. Und gerade jetzt, in den ersten Tagen seiner Ehe, wird er sich seines Glücks freuen. Kannst du es übers Herz bringen, ihm diesen Schlag zu versetzen?“

„Das ist ein Schlag, der ihn gesund machen wird von einem unreinen Gefühl.“

Sie hob flehend die Hände. „Und wenn nicht? Wenn diese Frau gerade jetzt in den ersten Wochen der Ehe so viel Macht über ihn hätte, dass er sich nicht von ihr zu lösen vermag, auch nicht, wenn er es wollte? Lieber, lieber Onkel Heinrich, ich flehe dich an, gönne ihm jetzt wenigstens eine Frist, ehe du ihm diese furchtbare Eröffnung machst! Vielleicht wird er inzwischen selbst ernüchtert, vielleicht entdeckt er Fehler und Schwächen an ihr, die ihn klarer sehen lassen. So trifft es ihn vielleicht dann nicht mehr so hart wie gerade jetzt.“

Mit einem seltsam weichen Blick sah der alte Herr in ihr blasses, erregtes Gesicht.

„Du großes, liebes Herz! Immer nur denkst du an ihn und achtest der eigenen Schmerzen nicht. Also, dir zuliebe will ich ihm eine Frist geben, selbst zur Vernunft zu kommen. Wie lange soll ich ihn in den Klauen dieser Person lassen? Entscheide du!“

Sie machte ein ängstlich abwehrendes Gesicht. „O bitte, Onkel Heinrich, bürde mir keine Entscheidung auf! Es würde mich sehr belasten. Gönne ihm nur eine Gnadenfrist, dass er nicht zu jäh aus seinem Himmel stürzt!“

Leise strich er über ihr Haar. Dann steckte er die belastenden Schriftstücke in ein Kuvert, verschloss es und schrieb den Namen seines Sohnes drauf.

„So, Käte, nimm das an dich! Sende es Günter, wenn du willst, aber nicht später als heute in zwei Wochen. Darauf muss ich bestehen. Mir lastet ohnedies jeder Tag, den ich meinen Sohn in den Händen dieser Frau weiß, wie ein Alp auf der Seele.“

Käte fasste schnell nach dem Kuvert.

„Ich danke dir, für Günter, und Gott mag geben, dass er schon früher zur Einsicht kommt und hoffentlich schmerzloser, als ich fürchte.“

„Du gibst mir aber dein Wort, dass diese Papiere spätestens in zwei Wochen an ihn abgeschickt werden.“

„Ich gebe dir mein Wort“, sagte sie seufzend und fuhr dann bittend fort: „Willst du nicht einige gute Worte für ihn hinzufügen?“

Der alte Herr starrte vor sich hin. Dann warf er mit einer abwehrenden Gebärde den Kopf zurück:

„Nein! Es wird an ihm sein, mir gute Worte zu geben. Aber nun noch etwas anderes. Ich habe geschworen, meinen Sohn zu enterben, wenn er diese Person heiratet. Ich hoffte, ihn damit von der Torheit abzuhalten, die er nun doch begangen hat. Schwur ist Schwur! Ich darf es um keinen Preis dazu kommen lassen, dass mein Sohn, falls er in seiner Verblendung von dieser Frau nicht loskommt, sie nach meinem Tod als Herrin in dieses Haus führt und zur Herrin meines Vermögens macht. Deshalb habe ich gleich heute meinen letzten Willen niedergeschrieben, und du sollst dieses Testament lesen, ehe ich es versiegle.“

Damit nahm der alte Herr aus seiner Brieftasche sein Testament und legte es vor Käte hin. Sie sah betroffen zu ihm auf und beugte sich dann auf das Papier herab, um zu lesen:

Mein letzter Wille!

Hierdurch bestimme ich letztwillig, dass nach meinem Tod mein Mündel, Fräulein Käte Harland, Tochter meines besten, treuesten Freundes, des Professors Klaus Harland, meine Universalerbin wird. Alles, was ich hinterlasse, die Firma Warneck, mein Wohnhaus, meine sonstigen Besitztümer, gehen in ihren Besitz über, auch mein Barvermögen, so weit es meinem Sohn Günter Warneck nicht als Pflichtteil zugesprochen wird. Ich setze meinen Sohn auf dieses Pflichtteil, weil er gegen meinen Willen eine Frau heiratete, die seiner und seiner Familie unwürdig ist. Sollte sich mein Sohn, wie ich hoffe, von diesen unwürdigen Banden befreien, so soll er wissen, dass ich keinen sehnlicheren Wunsch habe, als dass er sich mit meinem Mündel, Käte Harland, verheiratet. Mein Segen soll dann bei ihm sein, und dann soll ihm alles verziehen sein, was er mir angetan hat durch seine Verheiratung mit einer Unwürdigen.

Berlin, den 25. Januar 1927

Heinrich Warneck

Käte war abwechselnd blass und rot geworden. Nun starrte sie den alten Herrn mit großen Augen an.

„Onkel Heinrich, das hättest du nicht tun dürfen!“, stieß sie hervor.

„Was hätte ich nicht tun dürfen, mein liebes Kind?“

„Dass du mich zu deiner Erbin einsetzt“, sagte sie in schmerzlicher Erregung.

„Wer steht mir näher nach meinem Sohn als du?“

Sie krampfte die Hände zusammen und sah ihn flehend an.

„Zerreiße dieses Testament, Onkel Heinrich! Wenn Günter die Beweise über den Unwert seiner Frau erhält, wird er sich von ihr lösen.“

„Das erscheint mir nicht sicher. Ich weiß nicht, wie fest ihn diese unwürdigen Bande umschließen.“

„Wie soll ich aber Günter gegenüberstehen, wenn er einst dieses Testament zu lesen bekommt?“

Der alte Herr atmete tief auf.

„Kleine Käte, kannst du mich nicht verstehen? Ich lasse meines Sohnes Schicksal in deiner Hand, weil ich weiß, dass es da am besten aufgehoben ist.“

Er steckte das Testament in ein Kuvert und siegelte es. Dann verschloss er es in den neben seinem Schreibtisch befindlichen Safe.

Käte sah mit großen Augen zu.

***

Günter Warneck hatte mit seiner jungen Frau in Partenkirchen herrliche Tage verlebt.

Sie huldigten beide fleißig dem Wintersport, sausten auf Schlitten oder Skiern zu Tal und machten wundervolle Touren in die Umgebung.

Des Abends nahmen sie an der Geselligkeit im Hotel teil. Lori fand auch hier viele Verehrer, die sie umschwärmten. Aber wenn sie auch nicht mehr so streng zurückhaltend war wie in den ersten Tagen, so begnügte sie sich doch mit harmlosen Koketterien, an denen Günter keinen Anstoß nehmen konnte.

Eines Tages wurde beschlossen, dass die Hotelgäste einen gemeinsamen Ausflug im Schlitten nach Kloster Ettal und Schloss Linderhof machen wollten. Günter und seine Frau hatten ihre Zusage gegeben, obwohl für Günter eine solche Fahrt in großer Gesellschaft nichts Verlockendes hatte. Er wäre viel lieber mit Lori allein gefahren, denn eine Besichtigung von Kloster Ettal und Schloss Linderhof hatte er ihr schon versprochen.

Als er Lori sagte, dass er lieber allein mit ihr gefahren wäre, umarmte sie ihn lachend und sagte: „Ich fahre natürlich auch lieber mit dir allein, aber wir können uns doch nicht gut ausschließen.“

Er atmete tief auf und küsste sie leidenschaftlich.

Am nächsten Morgen um acht Uhr standen die gemieteten Schlitten vor dem Hotel zur Abfahrt bereit. Gegen zehn Uhr wollte man in Kloster Ettal sein und im dortigen Gasthof das Frühstück einnehmen. Um elf Uhr sollte es weitergehen nach Schloss Linderhof, dem ehemaligen Sommersitz des unglücklichen Bayernkönigs Ludwig. Dort würde man um zwölf Uhr etwa eintreffen, das Schloss besichtigen, danach im Schlossrestaurant das bestellte Diner einnehmen und dann um zwei Uhr die Rückfahrt antreten. So war alles gut vorbereitet. Hinter den Bergen leuchtete die aufsteigende Sonne in einem rotgoldenen Strahlenglanz. Noch lag Frühlichtgrau über dem verschneiten Tal, und nur die weißen Berghäupter schimmerten im rosigen Licht.

Günters Augen tranken dieses wunderbare Naturbild in sich ein, als er an Loris Seite davonfuhr. Er machte sie darauf aufmerksam, aber Lori hatte keinen Sinn für Naturschönheiten. „Sehr nett!“, sagte sie nur.

Das berührte Günter wie eine grelle Dissonanz. Es ist merkwürdig, dass zuweilen ein unbedachtes Wort eines Menschen Aufschlüsse über seine Denkungsart gibt. Jedenfalls war Günter durch dieses oberflächliche „Sehr nett“ aus seiner andächtigen Stimmung gerissen. Und er musste sich fragen, was Käte Harland wohl für strahlende Augen beim Anblick dieses Naturbildes gemacht haben würde.

Lori ließ ihm indes nicht viel Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen. Sie schmiegte sich, wohlig in ihren Pelzmantel gehüllt, an seine Seite. Ihre Hände steckten in einem großen Pelzmuff und die Füße in Pelzstiefeln.

Von Schlitten zu Schlitten tönte Lachen und Plaudern, und neckende Zurufe durchschnitten die Luft.

So war man bis an die berühmte Ettaler Straße gekommen. Langsam fuhren die Schlitten empor. Prächtige Ausblicke boten sich den Insassen. Drüben über einer tiefen Schlucht tauchte der Königsstand mit seinen schneebedeckten Tannen auf, jener herrliche Erdenfleck, auf dem König Ludwig so oft Rast gehalten und in sein Land geschaut hatte. Weiter aufwärts zur Höhe fuhren die Schlitten, und tiefer und steiler fielen die Schluchten ab. Und dann hatte man den höchsten Punkt erreicht. Ein neues, wundervolles Bergpanorama breitete sich aus, und drunten im Tal lag in seiner edlen imponierenden Schönheit Kloster Ettal.

„Sieh doch, Lori, ist das nicht ein einzigartiger Anblick, dieses friedliche Kloster in seiner schlichten Schönheit inmitten einer grandiosen Bergwelt“, sagte Günter, hingerissen von dem, was er da schaute.

Lori ließ ihre Augen gleichgültig umherschweifen. „Sehr nett“, sagte sie wieder verständnislos.

Günter zuckte wie unter einem körperlichen Schmerz zusammen.

Als sie später am Ettaler Gasthof den Schlitten verließen und in dem gut gewärmten Gastzimmer das Frühstück einnahmen, hatte er ein Gefühl grenzenloser Einsamkeit. Er beteiligte sich wenig an der Unterhaltung. Dieser banale Gesellschaftston berührte ihn wie eine Dissonanz; und als man hinüberging zum Kloster, um es zu besichtigen, hielt er sich absichtlich abseits von den anderen. Er überließ seine Frau der Gesellschaft einer Dame, mit der sie sich gerade in die Geheimnisse eines neuen Kleiderschnitts vertiefte, und wartete, bis er allein zurückblieb.

Die stillen Mönche huschten lautlos durch die weiten Räume. Einer von ihnen stand in einem der Gänge an einem Tisch und wusch in einer Schüssel sorgsam die kunstvollen kleinen Altardecken, die von den Händen frommer Frauen angefertigt waren.

Ein Novize führte die Schlittengesellschaft durch das Kloster. Günter aber trat an einen der Mönche heran und bat ihn um Auskunft über den Charakter einiger Holzschnitzereien.

Bruder Martin erkannte wohl in Günter einen der wenigen Klosterbesucher, die mit tieferem Interesse und Verständnis den wunderbaren Schönheiten seines Klosters gegenüberstanden. Es machte ihm Freude, den jungen Herrn ganz allein herumzuführen und auf alle Schönheiten aufmerksam zu machen.

Ein eigenartig friedliches Empfinden überkam Günter bei dieser Klosterwanderung, und als sie zu Ende war, bedankte er sich herzlich bei Bruder Martin.

Aufatmend trat er ins Freie und ließ seinen Blick über die Berglandschaft gleiten. Die Gesellschaft kaufte inzwischen von den Mönchen kleine, in Metall geprägte Heiligenbilder, Postkarten und Alben mit den Abbildungen aller Schönheiten, die das Kloster enthielt. Auch Günter kaufte ein solches Album – er wollte es gelegentlich Käte schicken. Sie würde sich daran freuen.

Eine Stunde später hatte man das Schloss Linderhof erreicht. Die Schlitten spannten im Schlossrestaurant aus, und die Gesellschaft ging zu Fuß nach dem Schloss hinüber. Man besichtigte die Prunkräume mit ihren Kostbarkeiten, und hier war Lori ehrlich entzückt von der Pracht, die sich vor ihren Augen auftat. Günter aber hatte das Empfinden, dass in all diesen Räumen des Guten zu viel getan sei. Sie machten einen überladenen Eindruck, und er sagte sich, dass sich in diesem ganzen Schloss nicht ein einziges Plätzchen befand, wo ein irrender Geist einen behaglichen Ruhepunkt finden konnte.

Mehr bedrückt als erhoben trat er mit den anderen wieder ins Freie.

Plaudernd und lachend schritt die Gesellschaft hinüber zum Schlossrestaurant. Hier wurde das Mittagessen in vergnügter Stimmung eingenommen. Auch Günter scherzte und lachte mit den anderen.

Punkt zwei Uhr, wie das Programm es vorsah, fuhr man wieder ab, zum Schlosspark hinaus und auf der Straße nach Ettal zurück.

Als Günter allein mit Lori im Schlitten saß, flaute seine vergnügte Stimmung wieder ab. Zum ersten Mal, seit er mit ihr vereint war, fühlte er sich an ihrer Seite gelangweilt. Es fiel ihm auf, dass sie nie eigenen Gedanken Ausdruck gab. Was sie sprach, waren abgelauschte Phrasen und Gemeinsätze. Und es wurde ihm zum ersten Mal bewusst, wie wenig gemeinsame Berührungspunkte es für sie gab. Der Rausch, der seine Sinne gefangen genommen hatte, begann langsam zu verfliegen. Er hatte heute Augenblicke, wo er sich seltsam ernüchtert fühlte.

„Günterlein, was machst du für ein böses, ernstes Gesicht? So mag ich dich nicht leiden“, sagte Lori mit schelmischem Schmollen.

Er fuhr auf aus seinen Grübeleien und sah in ihr reizendes Gesicht.

Ich muss versuchen, ihre Seele, ihren Geist zu wecken, muss sie zu mir heranziehen. Es wird sehr reizvoll sein, ihr Gebiete zu erschließen, die ihr bisher fremd geblieben sind, dachte er.

Und er lächelte und versuchte ein interessantes Gespräch mit ihr in Gang zu bringen. Sie hörte mit einem Lächeln zu, warf einige Phrasen ins Gespräch, und als er dringlicher wurde, nannte sie ihn neckend Schulmeisterlein.

Sie waren inzwischen wieder in Ettal angekommen, und nachdem die Gesellschaft hier heißen Kaffee und Tee, die Herren auch Grog und Punsch eingenommen hatte, ging es bei anbrechender Dunkelheit wieder die herrliche Ettaler Straße hinab.

Es war eine unvergleichliche Fahrt, und das mochten wohl die meisten dieser Schlitteninsassen fühlen. Das übermütige Lachen und Plaudern verstummte. Nur das Schellengeläut klang durch die kalte Luft. Am Himmel stieg langsam der Mond empor.

Günter nahm dieses Bild mit stiller Andacht in sich auf. Lori war an seiner Seite sanft entschlummert.

Sie erwachte erst, als die Schlitten vor dem Hotel hielten. Aber nun war sie gleich wieder ganz munter und betriebsam. Am Abend sollte noch eine Tanzfestlichkeit stattfinden, und man begab sich auf die Zimmer, um sich umzukleiden.

***

Seit der Schlittenfahrt betrachtete Günter seine junge Frau mit etwas kritischeren Blicken, und er gewahrte nun mancherlei an ihr, was ihm missfiel.

Und eines Abends machte er die Entdeckung, dass sie mit einem jungen Amerikaner, Mister Hamton, der am Tag vorher eingetroffen war, kokettierte. Er bemerkte, dass sie Blicke mit ihm wechselte und verführerisch zu ihm hinüberlächelte.

Seine Stirnadern schwollen an. Er erhob sich mit einem Ruck und sagte ziemlich schroff:

„Bitte, tausche den Platz mit mir, Lori, dieser Mister Hamton ist ein Flegel! Er starrt dich unausgesetzt an, und man könnte meinen, dein Lächeln sei für ihn bestimmt.“

Lori erschrak ein wenig, lachte aber dann leichtfertig auf.

„Aber, Schatz, du wirst doch nicht eifersüchtig sein?“

Sie wechselte jedoch den Platz, wie er es wünschte, allerdings nicht, ohne verstohlen ein viel sagendes Lächeln nach dem Nebentisch zu schicken, wo Mister Hamton saß.

Günter setzte sich so, dass der Amerikaner Lori nicht mehr sehen konnte. Dann sagte er ernst:

„Nein, Lori, ich bin nicht eifersüchtig. Wenn ich es sein müsste, so wäre das der Tod meiner Liebe. Aber du bist jetzt Frau Warneck und musst vergessen, dass du einst Lori Leixner warst und dir solche Aufdringlichkeiten gefallen lassen musstest.“ Sie zog ein Mäulchen.

„Puh, Schatz, was machst du für ein böses Gesicht! Mister Hamton ist mir völlig gleichgültig. Aber es freut einen doch, wenn man merkt, dass man noch immer begehrenswert ist. Freust du dich nicht, wenn man deine Frau bewundert?“

„Solange es in dezenter Weise geschieht, ist es mir wenigstens nicht unangenehm. Hier vermisste ich aber die nötige Zurückhaltung.“

Schmollend, aber mit schelmischer Lustigkeit sah sie ihn an.

„Böser Schatz, kannst dir doch denken, dass einer hübschen Frau Huldigungen das sind, was der Blume die Sonne ist.“

Mit einem gequälten Blick sah er sie an.

„Ich möchte es gern vergessen, Lori, dass du früher solchen Huldigungen wehrlos preisgegeben warst. Du sagtest mir doch, wie sehr dich das gemartert hat.“

„Nun ja, wenn man allein im Leben steht, ist das sehr unangenehm. Aber jetzt bist du zu meinem Schutz da.“

„So ist es, Lori, und deshalb habe ich dem Amerikaner durch mein Verhalten gezeigt, dass er seine Aufmerksamkeit auf einen anderen Gegenstand richten soll. Ich hoffe, er respektiert das, sonst müsste ich deutlicher werden. Übrigens, da wir gerade bei diesem leidigen Thema sind, möchte ich eine Frage an dich richten. Traust du einem deiner früheren Verehrer zu, dass er dich, wahrscheinlich aus Ärger über dein abweisendes Verhalten, hätte verleumden können?“

Sie sah ihn unsicher an.

„Was meinst du damit?“

Er sah sich erst um im Hotelsaal, in dem sie saßen, und stellte fest, dass sie weit genug von den anderen Tischen entfernt waren, um von niemand gehört zu werden.

„War meine Frage nicht deutlich? Ich möchte von dir hören, ob sich unter den Männern, die sich in deine Nähe drängten, einer befand, dem du zutrauen könntest, dass er dich verleumdete. Ich habe diese Frage länger als ich sollte hinausgeschoben, aber nun muss ich das wissen.“

Betroffen sah sie in sein Gesicht.

„Was willst du nur, Günter?“

Er strich sich über die Stirn. „Nein – hier ist nicht der Ort dazu, darüber zu sprechen. Komm, wir wollen unser Zimmer aufsuchen.“ Und sie erhoben sich und verließen den Saal. Auf ihrem Zimmer angekommen, warf sich Lori ziemlich misslaunig in einen Sessel.

„Gib mir bitte eine Zigarette!“ Er zündete ihr eine Zigarette an und steckte sie ihr in den Mund. Sie lehnte sich zurück.

„So, mein Schatz, nun sage mir endlich, was du auf dem Herzen hast. Du erscheinst mir seltsam tragisch heute Abend. Was ist denn?“

Er ließ sich ihr gegenüber in einem Sessel nieder und fasste ihre Hand.

„Ich wollte es dir in den ersten Tagen unserer Ehe nicht sagen, wie sehr ich mich mit meinem Vater überworfen habe. Er war außer sich, als er hörte, dass du meine Frau geworden bist, und er sprach so von dir, dass ich nur annehmen kann, dass dich einer deiner Verehrer verleumdet hat. Bitte, nenne mir die Namen dieser Männer. Ich muss ergründen, wer sich erfrecht hat, Schlimmes über dich zu reden, damit ich ihn zur Rechenschaft ziehen kann.“

Lori sah unbehaglich in sein blasses, ernstes Gesicht. Dann warf sie ärgerlich die Zigarette in eine Aschenschale und sagte verdrießlich:

„Wie du mir nur mit solchen Dingen die Laune verderben kannst, Günter! Abgewiesene Verehrer sind immer ärgerlich und schwatzen dann dummes Zeug. Man muss gar nicht darauf achten. Ich habe mich mit so viel derartigen Widerwärtigkeiten herumärgern müssen, dass ich nun wirklich meine Ruhe haben möchte. Was hat man nicht alles über mich geschwatzt, aus Neid und Missgunst und aus Arger über meine Zurückhaltung! Darüber muss man sich hinwegsetzen.“

Er schüttelte den Kopf.

„Nein, Lori, darüber kann ich mich nicht hinwegsetzen. Ich darf nicht dulden, dass über meine Frau verächtlich gesprochen wird. Ich muss diesen Verleumder finden und ihn zum Widerruf zwingen. Es gilt, meinem Vater zu beweisen, dass du des Namens, den du jetzt trägst, würdig bist.“

Sie richtete sich nun doch erregt auf.

„Muss ich mich vor deinem Vater verteidigen?“

„Nein, du nicht, aber ich muss das tun. Ich habe schwer wiegende Gründe, und damit du mich verstehst, muss ich dir offen sagen, was ich dir gern verheimlicht hätte, um dich nicht zu beunruhigen. Mein Vater hat mich verstoßen, er hat geschworen, mich zu enterben, weil ich eine Frau geheiratet habe, die seiner Meinung nach des Namens Warneck nicht würdig ist. Verzeih, dass ich das ausspreche, aber du musst jetzt klar sehen.“

Lori war erschrocken zusammengezuckt.

„Enterben will er dich? Kann er denn das? Du bist doch sein einziger Sohn.“

„Ja, das bin ich; aber mein Vater kann mich auf den gesetzlichen Pflichtteil setzen, wenn ich ihm Veranlassung dazu gebe. Diese Veranlassung sieht er in meiner Verbindung mit dir, weil er behauptet, du seiest meiner unwürdig.“

„Wahrscheinlich doch nur, weil ich eine Schauspielerin war.“

„Nein, nicht deshalb, sondern weil – nein, ich kann es nicht aussprechen, was meinem Vater ein Verleumder über dich gesagt hat. Und ich muss diesen Verleumder zwingen, dich in den Augen meines Vaters zu rehabilitieren. Mein Vater wollte mir den Namen dieses Mannes nicht nennen, deshalb musst du mir helfen, ihn zu finden.“

Hinter Loris Stirn hatten sich inzwischen die Gedanken gejagt. Ihr war nicht sehr wohl bei diesem Verhör. Aber so leicht ließ sie sich nicht einschüchtern. Sie wusste, dass sie sich jetzt nur durch eine geschickt gespielte Komödie retten konnte. Und sie sprang auf und setzte sich auf Günters Schoß. Wie in heißer Angst umschlang sie seinen Hals.

„Nein, ich sage dir diese Namen nicht, selbst wenn ich sie wüsste, ich habe zu viel Angst um dich. Du würdest diesen elenden Verleumder fordern, und er würde dir nach dem Leben trachten. Nein, Günter, lieber sterbe ich, als dass ich dich in Gefahr bringe.“ Und sie schmiegte sich wie in heißer Angst an ihn.

Sanft, aber bestimmt löste er ihre Arme von seinem Hals und sah sie mit großen, ernsten Augen an.

„Sei ruhig, Lori, rege dich nicht darüber auf! Sage mir vertrauensvoll alles, was mich auf die Spur dieses Mannes bringen kann. Ich darf, ihn nicht ungestraft lassen und muss vor allen Dingen meinem Vater den Beweis erbringen, dass du verleumdet wurdest.“

Sie schluchzte auf. Jetzt wurde ihr doch sehr bange, aber nicht, weil sie sich um ihren Gatten sorgte, sondern weil sie fürchtete, dass Günter in ihre Vergangenheit hineinsehen könnte.

Krampfhaft umschlang sie wieder seinen Hals.

„Du sollst mich nicht quälen, sollst dich nicht in Gefahr begeben – ich sterbe vor Angst um dich. Ich weiß nicht, was ich tun soll vor Angst um dein geliebtes Leben.“

Und sie weinte und schluchzte so fassungslos, dass Günter nichts anderes tun konnte, als sie zu beruhigen. Trotzdem weinte und schluchzte sie noch, als sie sich matt und müde zur Ruhe niederlegte. Günter sprach ihr beruhigend zu, bis sie eingeschlafen war. Wenigstens gab sie sich den Anschein, zu schlafen, denn sie wollte vor allen Dingen Zeit gewinnen, um sich überlegen zu können, wie sie sich aus dieser Situation retten konnte.

***

Günter hatte leise das Zimmer verlassen, als er Lori eingeschlafen wähnte. Es trieb ihn noch einmal hinaus in die schweigende Winternacht. Er wusste nicht, warum ein so dumpfer Druck auf seiner Brust lag, wusste nur, dass eine dunkle, unklare Angst in ihm erwacht war, die er nicht bannen konnte.

Lange lief er draußen umher, bis er sich wieder etwas beruhigt hatte. Er lehnte sich dann an einen Baum und schloss die Augen. Und da tauchte vor seinem Innern ein friedliches Bild auf. Er sah Käte Harland im Wohnzimmer seines Vaterhauses sitzen, an dem großen, runden Tisch, wo sie immer des Abends saß. Wie warm ihm dabei ums Herz wurde!

Und plötzlich kam ihm eine Eingebung. Käte musste ihm helfen, den Namen des Mannes zu ermitteln, der seine Frau verleumdet hatte.

Er riss sich empor aus seiner Versunkenheit. Der Gedanke, an Käte schreiben zu können, belebte ihn.

Eilig schritt er nach dem Hotel zurück. Leise trat er noch einmal ins Schlafzimmer. Er sah, dass Lori im tiefen Schlaf lag. Die weißen, Arme rundeten sich über dem Kopf, und die feinen Spitzen ihres Nachthemds zitterten leise unter ihren Atemzügen. Es war ein friedlicher Anblick. Aber es fiel ihm zum ersten Mal auf, dass um ihren Mund ein Zug lag, der ihm recht gewöhnlich erschien. Dieser Zug war ihm fremd, er hatte ihn in ihrem wachen Gesicht noch nie gesehen.

Leise ging er wieder hinaus und trat ins Lesezimmer. Dort befand sich jetzt außer ihm kein Mensch, und er konnte ungestört an Käte schreiben.

„Liebe Käte! Sie haben sicher schon auf ein Schreiben von mir gewartet, und ich weiß selbst nicht, warum ich nicht eher geschrieben habe. Vielleicht, weil meine Frau und ich hier in ein ziemlich lebhaftes Gesellschaftstreiben geraten sind. Obwohl man den ganzen Tag nichts zu tun hat, als Sport zu treiben und sich zu unterhalten, kommt man zu nichts Vernünftigem.

Aber heute Abend hat mich plötzlich die Sehnsucht gepackt, ein wenig mit Ihnen zu plaudern. So seltsam es klingen mag von einem jungen Ehemann, aber ich vermisse Sie überall, Käte. Ich bin mir erst jetzt so recht bewusst geworden, wie sehr Sie zu meinem Leben gehört haben. Ich komme soeben von einem einsamen Nachtspaziergang durch die schneebedeckte Bergwelt. Meine Frau schläft längst, aber ich finde noch keine Ruhe. Ich muss an zu Hause denken, an meinen Vater. Wie geht es ihm? Ist es Ihnen gelungen, seinen Groll gegen mich ein wenig zu besänftigen? Können Sie mir glauben, dass ich nie so große Sehnsucht nach meinem Vater hatte wie jetzt, da er mich von sich gestoßen hat?

Und nun habe ich eine besondere Bitte an Sie. Mein Vater hat mir bei unserem letzten Beisammensein ein böses Wort über meine Frau gesagt, ein Wort, das nur ein Verleumder ihm zugeflüstert haben kann. Ich muss den Namen dieses Verleumders kennen, und ich flehe Sie an, versuchen Sie, meinem Vater den Namen dieses Mannes abzufragen. Es quält mich namenlos, dass ich gegen diesen Menschen nicht vorgehen kann. Von dieser Qual bin ich schon so zermürbt, dass ich auf die fürchterlichsten Gedanken komme. Wie ist es nur möglich, dass mein Vater so verächtlich über meine Frau denkt? Darüber zermartere ich mir den Kopf, und es ist schon so weit mit mir gekommen, dass mich zuweilen Zweifel überfallen, ob mein Vater wirklich Veranlassung haben könnte, meiner Frau so gegenüberzustehen. Sie können mir glauben, Käte, dass dies ein furchtbarer Zustand ist und dass ich aus diesem Zustand heraus muss um jeden Preis. Helfen Sie mir dazu, liebe Käte! Sie haben sich in der letzten Zeit wie ein guter Engel um mich bemüht, helfen Sie mir auch in dieser Angelegenheit! Ich muss mit meinem Vater ins Reine kommen, und das kann ich nur, wenn ich jenen Verleumder zwingen kann, seine Verleumdung zurückzunehmen. Nicht wahr, Sie helfen mir?

Ich sende Ihnen anbei ein Album von Kloster Ettal und Ansichten von Schloss Linderhof. Hauptsächlich Kloster Ettal in seiner herrlichen Umgebung würde Sie entzücken. Wie würden Sie schwelgen in diesen Naturschönheiten und im Betrachten der Kunstschätze, die hier in Klöstern, Kirchen und Schlössern aufgespeichert sind!

Aber nun, will ich schließen. Ich bitte Sie nochmals herzlich, entlocken Sie meinem Vater den Namen jenes Mannes! Dann werde ich noch mehr als bisher Ihr Schuldner sein. Ich warte sehnlichst auf Antwort und begrüße Sie in herzlicher Freundschaft

Ihr Günter Warneck“

***

Käte Harland hatte mit bangem Herzen einen Tag um den anderen verstreichen lassen. Die Frist, die Onkel Heinrich ihr bis zum Abschicken der Papiere gegeben hatte, war bald vorüber.

Als sie sich eines Morgens erhob, sagte sie sich seufzend, dass sie am nächsten Tag die Papiere absenden müsse.

Sie hatte in all den Tagen an nichts anderes denken können als an das Kuvert, das die Beweise vom Unwert von Günters Frau enthielt, und an das Testament, das Onkel Heinrich gemacht hatte.

Als sie heute Morgen hinunterkam an den Frühstückstisch, lag ein Brief für sie auf ihrem Platz. Onkel Heinrich hatte ihn hingelegt, nachdem er die angekommene Post, wie jeden Morgen, selbst von dem großen, runden Tisch im Vestibül hereingeholt hatte. Käte erkannte sofort Günters Handschrift und öffnete das Kuvert mit zitternden Händen.

Es war der Brief, den Günter in der Nacht nach der Szene mit seiner Frau geschrieben hatte. Mit brennenden Augen las sie die Zeilen, und als sie zu Ende war, ließ sie den Brief sinken und sah zu dem alten Herrn hinüber.

„Nun, Käte?“, fragte er.

Sie reichte ihm den Brief hinüber. „Ein Brief von Günter, Onkel Heinrich. Du musst mir die Liebe antun und ihn lesen.“

Er wehrte ab. „Nein, ich mag nicht.“

„Bitte, tue es doch!“

Und sie drängte ihm den Brief auf. Er las ihn endlich, und sie sah, dass es in seinem Gesicht seltsam zuckte.

Als er zu Ende war, fasste sie seine Hand.

„Darf ich ihm schreiben, dass du ihm nicht mehr zürnst?“

Er wehrte hastig ab. „Das ist nicht das Nötigste. Es erscheint mir viel wichtiger, dass du endlich die Papiere abschickst, die ich dir gab“, sagte er heiser.

Sie nickte aufatmend. „Das will ich tun, heute noch, denn siehst du, Onkel Heinrich, jetzt habe ich Mut dazu. Denn Günter ist nicht glücklich an der Seite seiner Frau, nicht so, wie ich es glaubte. Jetzt muss er die Wahrheit über sie wissen.“

Der alte Herr nickte. „Es freut mich, dass du zu der Einsicht gekommen bist. Und ich habe nun wieder einige Hoffnung, dass mein Sohn sich aus diesem Netz löst. Er verlangt, den Namen eines Verleumders zu wissen – aber er wird die Wahrheit hören. Und wie er sie trägt, das soll mir ein Prüfstein sein für seinen Charakter.“

Sie nahmen nun zusammen das Frühstück ein, und dabei fiel es Käte auf, dass der alte Herr sehr bleich aussah und wenig Appetit hatte.

„Bist du nicht wohl, Onkel Heinrich? Du siehst gar nicht gut aus und isst fast gar nichts.“

Er strich sich über die Stirn.

„Ich fühle mich auch nicht gut, weiß jedoch nicht, was mir eigentlich fehlt.“

„Willst du nicht den Arzt fragen?“

„Habe ich schon getan. Er spricht von Arterienverkalkung und hat mir allerlei verboten. Was mir helfen kann, scheint auch er nicht zu wissen. Es wird sich schon wieder geben, wenn ich erst die Depression überwunden habe. Man ist ja nicht der Jüngste mehr, kleine Käte – nächstens werde ich siebzig Jahre alt.“

„Das sieht dir kein Mensch an, Onkel Heinrich, du kannst gut für sechzig gelten.“

„Na, bisher habe ich auch von Gebrechen des Alters noch nicht viel gemerkt, die Warnecks sind ein guter Schlag, waren alle frisch bis ins hohe Alter und hatten einen schnellen, leichten Tod. So wünsche ich es mir auch. Aber nun guten Morgen, Käte, ich werde jetzt in die Fabrik hinausfahren.“

Als Käte allein war, setzte sie sich an ihren Schreibtisch und schrieb:

„Lieber Günter! Ihr Schreiben habe ich erhalten, und Sie müssen mir verzeihen, dass ich es Ihrem Vater zu lesen gab. Als er mich vorhin verließ, sagte er mir, er wird die Wahrheit hören. Und wie er sie trägt, das soll mir ein Prüfstein sein für seinen Charakter.

Damit will ich Sie vorbereiten, Günter. Sie müssen noch viel Schlimmes und Quälendes erleben, ehe Sie zur Ruhe kommen. Und es ist mir sehr schmerzlich, dass ich es sein muss, die Ihnen eine Binde von den Augen nimmt. Aber Sie haben mich selbst gebeten, Ihnen zur Klarheit zu verhelfen, und ich würde Ihnen eine schlechte Freundin sein, wenn ich jetzt den Mut nicht finden würde, beifolgende Schriftstücke an Sie abzusenden. Ihr Vater übergab sie mir am Abend des Tages Ihrer Abreise. Ich erflehte von Ihrem Vater eine Frist, ehe er Ihnen diesen Schlag versetzte. Denn wie ein Schlag wird Sie das treffen, was Ihnen die beiliegenden Papiere verraten. Es erschien mir grausam, Sie damit in der Fülle Ihres Glücks zu treffen. Morgen ist jedoch die Frist abgelaufen, die Ihr Vater mir bewilligte, und ich will nun nicht einmal mehr bis morgen warten – weil Sie mir diesen Brief geschrieben haben. Ich glaube, Klarheit ist Ihnen jetzt nötiger als Schonung. Wenn Sie irgendwie meiner Hilfe bedürfen, lassen Sie es mich wissen. In treuer Freundschaft

Ihre Käte Harland“

Sie las den Brief nochmals durch, machte ihn postfertig, nachdem sie das Kuvert, das sie von Heinrich Warneck erhalten hatte, dazugesteckt hatte, und schickte ihn als Einschreibesendung zur Post.

***

Günter war Lori gegenüber nicht wieder auf das Thema zurückgekommen, das sie scheinbar so sehr erregt hatte. Er hoffte, durch Kätes Vermittlung eher zum Ziel zu kommen. Lori würde in ihrer Angst um ihn die Namen doch nicht preisgeben, und selbst wenn sie es tat, wusste er noch nicht, hinter welchem dieser Namen er den Verleumder suchen musste. Aber obwohl er überzeugt war, dass nur die Angst um ihn Lori am Sprechen hinderte, konnte er sich nicht verhehlen, dass zwischen seiner Frau und ihm eine seltsame Entfremdung aufkeimte. Er erkannte sehr wohl, dass sie es absichtlich vermied, auf das Thema zurückzukommen. Sie zeigte sich ganz besonders freundlich und liebevoll; aber in ihren Zärtlichkeiten erblickte er eine Absichtlichkeit, und was ihn sonst hochbeglückt hätte, erkaltete ihn seltsamerweise. Irgendetwas, dem er keinen Namen geben konnte, trieb ihn voll Unruhe umher.

Und auch Lori suchte nach Ablenkung. Sie stürzte sich von neuem in den Strudel der Vergnügungen und merkte kaum, dass Günter immer stiller und bedrückter erschien und sich, so oft er konnte, von der lauten Gesellschaft absonderte. Er unternahm jetzt fast täglich große Skitouren, auf denen ihn Lori nicht begleitete, weil sie vorgab, sie seien ihr zu anstrengend. Sie blieb lieber auf den Sportplätzen, beteiligte sich an Schlittenfahrten und anderen Veranstaltungen und sorgte dafür, dass sie dabei recht oft mit Mister Hamton in Berührung kam. Mit großer Vorsicht, aber sehr intensiv, kokettierte sie mit ihm und wusste es geschickt so einzurichten, dass sie den Flirt mit ihm abbrach, sobald Günter in die Nähe kam. Mister Hamton ging begeistert auf diesen Flirt ein, denn er hatte sich kopflos in die schöne Frau verliebt. Sie bemerkte sehr wohl, dass er das Geld mit vollen Händen ausstreute, und so etwas wirkte wiederum auf Frauen wie Lori sehr verführerisch. Es war schon so weit, dass Lori bedauerte, verheiratet zu sein. Wenn sie sich Mister Hamton als Gatten hätte einfangen können, das wäre viel verlockender gewesen. Günter hatte jedenfalls an Wert für sie verloren, seit sie wusste, dass er von seinem Vater enterbt werden sollte.

So vergingen einige Tage.

Und eines Morgens erhielt Günter einen dicken Einschreibebrief von Käte. Er steckte ihn vorläufig zu sich, weil er ihn erst lesen wollte, wenn er allein war.

Lori saß ihm am Frühstückstisch gegenüber und sah zum Fenster hinaus. Sie beobachtete Mister Hamton, der draußen die Skibahn herabsauste. Sie überlegte, wie sie sich zu ihm gesellen könnte. Ein junges Ehepaar kam ihr zu Hilfe. Es gehörte derselben Bobmannschaft an wie Lori und fragte sie, ob sie mit hinauskäme zum Start.

Lori sah ihren Gatten fragend an.

„Was tust du, Günter? Kommst du mit?“

Er verneinte. „Ich möchte erst meine Post erledigen. Vielleicht komme ich später nach.“

„Unternimmst du heute keine Skitour?“, fragte Lori vorsichtig.

„Vielleicht doch, wenn ich zeitig genug fertig werde, dass es sich noch lohnt. Andernfalls komme ich zur Bahn hinüber.“

Lori erhob sich und ging mit dem jungen Ehepaar davon.

Günter nahm Kätes Brief aus der Brusttasche und öffnete das dicke Kuvert. Er zog Kätes Schreiben und das Kuvert heraus, auf dem in seines Vaters Handschrift sein Name stand. Ehe er das öffnete, las er Kätes Brief und seine Augen wurden starrer und brennender, je weiter er kam. Ein seltsames Gefühl kroch ihm den Rücken entlang. Kätes Worte berührten ihn wie die angstvolle Vorbereitung auf etwas Furchtbares.

Als er den Brief zu Ende gelesen hatte, ließ er ihn sinken und tastete mit unsichtbaren Händen über das noch geschlossene Kuvert. Was mochte es enthalten? „Denn wie ein Schlag wird Sie das treffen, was Ihnen die beiliegenden Papiere verraten.“ So stand es in Kätes Brief.

Er blickte mit brennenden Augen zum Fenster hinaus. Dort drüben stand die schlanke, weiß gekleidete Gestalt seiner Frau. Sie stand inmitten einer Gesellschaft von Herren und Damen. Scherzen und Lachen klang durch die klare Luft herüber.

Gewaltsam riss er sich von diesem Anblick los. Mit einem Ruck öffnete er das Kuvert.

Er zog die Papiere heraus – die beiden Rechnungen, den Brief Walter Körners an seinen Vater, den Brief Loris an Walter Körner und den Bericht des Auskunftsbüros über das Vorleben Lori Leixners. Eines dieser Papiere nach dem anderen entfaltete er und las es. Erst starrte er ziemlich verständnislos darauf nieder. Die beiden Rechnungen allein enthüllten ihm so Furchtbares, dass er es kaum zu fassen vermochte. Aber dann zuckte er zusammen wie unter einem Peitschenhieb und wurde fahl im Gesicht. Der Pelzmantel seiner Frau und die Lederjacke – das waren Geschenke fremder Männer für seine Frau? Und sie hatte ihm das Märchen erzählt, dass sie diese beiden Kleidungsstücke zur Reklame für eine Firma trüge und sie dann billig erstanden habe!

Vor seinen Augen tanzte alles einen tollen Reigen. Er biss die Zähne zusammen, dass sie knirschten. Wie ein Riss ging es durch sein ganzes Wesen. Er hätte aufschreien mögen und brachte doch nur ein dumpfes Stöhnen über die Lippen.

Und dann ermannte er sich und las noch einmal den Brief, den Lori an Herrn Körner geschrieben hatte. Also ihre Schmucksachen, die angeblich Erbstücke waren, stammten auch von ihren Liebhabern! Es war wohl dieser Herr Körner gewesen, der seinem Vater gesagt hatte: „Um Gottes willen! So etwas heiratet man doch nicht!“ Diesen Mann hatte er einen Verleumder genannt und ihn zur Rechenschaft ziehen wollen!

Wie Recht hatte dieser Mann! So etwas heiratet man wirklich nicht – wenn man nicht wie ein dummer Junge einer Dirne ins Netz läuft.

Und erstickend stieg ihm der Ekel im Hals empor. Er hatte sich einfangen lassen wie ein Gimpel, hatte an die Mätzchen und koketten Manöver dieser Frau geglaubt, hatte sich vorreden lassen, dass sie nie einem anderen Mann gehört habe, und er hatte ihr seinen ehrlichen Namen gegeben!

Deshalb also wollte sie ihm die Namen ihrer Verehrer nicht nennen! Auch ihre Angst um ihn war nur Komödie gewesen. Es schüttelte ihn wie Fieber, und er sprang mit einem Ruck empor, so dass neben ihm ein Stuhl umfiel.

Am liebsten wäre er gleich hinübergestürmt nach dem Sportplatz, hätte seine Frau aus dem Kreis der sie Umringenden gerissen und ihr seine Verachtung ins Gesicht geschrien. Aber zu einem Skandal wollte er es nicht kommen lassen, nicht hier, wo man sich neugierig an seinem Schmerz, an seiner Schmach weiden würde. Und deshalb musste er erst ruhig werden, ehe er seiner Frau wieder gegenübertrat.

Seiner Frau?

Ein dumpfer und bohrender Schmerz rang mit dem Ekel, der ihn erfüllte. Wie vertrauensvoll, wie innig hatte er diese Frau geliebt, die ihn betrog mit jedem Wort, mit jedem Blick, mit jedem Atemzug! Und um ihretwillen hatte er sich mit seinem Vater überworfen, hatte ihn gekränkt bis ins Herz!

Es ging viel in Stücke in ihm in diesen Stunden – der Glaube an die Frau ging ihm verloren, und Bitterkeit erfüllte seine Seele. Er verachtete sich selbst, dass er ein so blinder Tor gewesen war, der so hoch von den Frauen gedacht hatte, dass er eine so verächtliche Komödie, wie Lori sie ihm vorspielte, nicht durchschaut hatte.

Das sollte ihm eine Lehre sein für alle Zeit! Keiner Frau würde er wieder glauben können – keiner. Sie waren alle berechnende Geschöpfe. Hatten Loris kindlich unschuldige Augen gelogen – wem sollte er da noch trauen können?

Es waren furchtbare Stunden, die er durchlebte. Bitterkeit und Ekel schüttelten ihn und rangen mit den Resten einer Liebe, die er für ewig gehalten hatte.

Und er fragte sich, was nun zu geschehen habe, wie er sich von Lori lösen konnte. Dass es geschehen müsse, und zwar ohne Säumen, stand fest bei ihm.

Auch an Käte dachte er. Ihre Worte wollten sich wie ein Trost in seine Seele drängen, aber die Verbitterung war so stark in ihm, dass sich auch über Kätes klares Bild ein hässlicher grauer Schatten legte. Auch gegen Käte kroch ein hässliches Misstrauen an ihn heran. Konnte er wissen, ob nicht auch sie unwahr und verlogen war, ob nicht auch sie in berechnender Absicht in sein Leben eingriff? Vielleicht trachtete sie danach, die Stelle einzunehmen, von der Lori vertrieben wurde? Vielleicht wollte sie das auf schlauere Weise erreichen als sein Vater? Sie nahm ihm die Binde von den Augen, damit er Lori in ihrem ganzen hässlichen Licht sah, und hoffte wohl, dass ihn die Dankbarkeit und die Zerrissenheit seiner Seele in ihre Arme führen würde. Aber da sollte sie sich irren! Sie liebte ihn ebenso wenig wie Lori ihn geliebt hatte; auch ihr lag nur daran, die Schwiegertochter des reichen Heinrich Warneck zu werden.

Es hielt ihn nicht im Hotel. Wie er war, stürmte er hinaus in den schweigenden Winterwald.

Erst nach langer Wanderung wandte er seine Schritte wieder nach dem Hotel zurück. Er wollte anwesend sein, wenn die Wintersportler heimkehrten, um Toilette für die Mittagstafel zu machen. Dann würde er auch Lori in ihrem Zimmer finden.

Je näher er dem Hotel kam, desto finsterer und entschlossener wurde sein Gesicht. Jetzt vernahm er schon einzelne vom Sportplatz herüberdringende Laute. Leise verhallende Menschenstimmen, ein Lachen, ein Aufschrei und dann der schrille Ton einer Pfeife – das alles drang an Günters Ohr, als käme es aus einer anderen Welt. Er konnte noch nichts sehen von den Sportplätzen. Der Wald war zu dicht. So kam er, lautlos auf den schneebedeckten Wegen dahingleitend, an eine Wegkreuzung. Hier musste er abbiegen, um das Hotel zu erreichen. Aber wie erstarrt blieb er plötzlich stehen. Nur wenige Schritte von sich entfernt sah er seine Frau und Mister Hamton stehen. Er sah, dass der Amerikaner seinen Arm vertraulich um Loris Schulter legte und sie dicht an sich heranzog. Sie lachte kokett zu ihm auf und sah ihm tief und verführerisch in die Augen.

Mister Hamton neigte sich zu ihr, und gerade wollte er mit seinen Lippen Loris Mund berühren, der sich ihm bereitwillig entgegenbot, als ein hartes, schneidendes Lachen an ihre Ohren klang.

Günter stand mit einem Sprung dicht neben dem in sich versunkenen Paar und riss Mister Hamton mit einem kraftvollen Ruck zurück, ehe er Lori küssen konnte.

„Warten Sie noch eine kurze Zeit, Mister Hamton, dann können Sie das ersehnte Vergnügen haben, ohne dass ich Sie dafür zu Boden schlage“, stieß Günter hervor.

Lori maß er nur mit einem kalten, verächtlichen Blick und sagte schroff:

„Ich habe mit dir zu reden – komm!“

Lori war so erschrocken über das plötzliche Auftauchen ihres Mannes, dass sie eine Weile sprachlos blieb. Willenlos ging sie an seiner Seite dahin und sah unsicher in sein hartes, unbewegtes Gesicht. Aber sie fasste sich schnell und sagte mit einem tiefen Aufatmen:

„Gottlob, dass du mir zu Hilfe kamst, Günter. Der Amerikaner wollte frech werden.“

Damit wollte sie sich in seinen Arm einhängen. Er streifte mit kalter Ruhe ihren Arm von dem seinen herab.

„Gib dir keine Mühe, ein neues Märchen zu ersinnen! Meine Augen sind noch gut – und jetzt wieder ganz klar geworden. Ich sah sehr genau, dass du dich mit innigem Behagen von Mister Hamton küssen lassen wolltest. Ich hätte dich auch nicht in diesem Vergnügen gestört, wenn du nicht den Namen Warneck trügst, den du bald ablegen wirst.“

„Was soll das heißen, Günter?“, fragte sie halb trotzig, halb ängstlich.

„Das wirst du gleich erfahren. Gedulde dich, bis wir in unserem Zimmer sind.“

Stumm schritten sie nun dem Hotel zu. Loris Gedanken irrten hin und her. Was war geschehen? Weshalb sprach Günter in diesem Ton mit ihr? Nur weil er gesehen hatte, dass Mister Hamton sie küssen wollte? Das war doch nur ein harmloser Flirt, deswegen brauchte er doch kein solches Aufhebens zu machen!

Sie sah verstohlen nach Mister Hamton zurück. Er stand etwas benommen an einen Baum gelehnt, machte ihr nun aber ein Zeichen. Er hob die eine Hand, vier Finger ausspreizend, und deutete mit der anderen auf die Stelle, wo er stand. Lori verstand sogleich – sie sollte um vier Uhr wieder an derselben Stelle sein. Und sie nickte ihm verstohlen zu, zum Zeichen des Einverständnisses. Trotz der eben erlebten peinlichen Szene schien sie nicht gewillt, den Flirt mit Mister Hamton abzubrechen.

Sie überlegte nun, was sie tun sollte, um Günters Groll zu besänftigen. Die Kussangelegenheit wollte sie auf einen Scherz hinausspielen. Wenn sie nur erst wüsste, weshalb Günter so eiskalt zu ihr war – wirklich nur wegen der kleinen Szene mit Mister Hamton?

Schließlich zuckte sie die Achseln. Wozu sich aufregen? Sie würde ihn doch wieder um den Finger wickeln.

***

Aber Lori sollte sich täuschen.

Kaum hatte Günter mit ihr das Zimmer betreten, als er vor sie hintrat und sie mit kalten Blicken ansah.

„Du hast mich durch lügnerische Angaben dazu gebracht, dass ich dich zu meiner Frau machte. Ich habe heute Morgen den Vorsatz gefasst, mich von dir scheiden zu lassen.“

Lori erbleichte nun doch, fasste sich aber schnell. „Was fällt dir ein? Was führst du für Reden? Was soll ich für lügnerische Angaben gemacht haben?“

Er sah mit einem Mal, wie gewöhnlich Loris Züge wirkten, da nicht mehr der lieblich kokette Ausdruck darauf ruhte, den sie sonst immer zeigte. „Ich weiß natürlich nicht, wie oft du mich belogen hast. Für mich kommen nur einige prägnante Fälle in Betracht. Du sagtest mir, dass du deine Schmucksachen geerbt, dass du dir den Pelzmantel und die Lederjacke selbst gekauft hast, nachdem du beides zur Reklame trugst. Ich weiß jetzt, dass dies alles erlogen ist.“

Sie warf trotzig den Kopf zurück.

„Wie kommst du darauf? Wie willst du das beweisen?“

Er sah sie verächtlich an und wunderte sich, dass die Liebe zu dieser Frau so schnell in seinem Herzen sterben konnte. Sie stand ihm gegenüber wie eine Fremde, und er empfand nichts als Verachtung für sie.

„Ich habe die Beweise, dass du den Pelzmantel von Herrn Walter Körner, die Lederjacke von Doktor Arndt erhalten hast zum Geschenk oder vielmehr als Gegenleistung für deine Huld. Du warst zu gleicher Zeit die Geliebte dieser beiden Herren – zu einer Zeit, da du auch mir Liebe heucheltest.“

Sie zeigte ein verstocktes Gesicht, obwohl sie bleich geworden war.

„Du hast mir nachspioniert“, zischte sie.

Er machte eine Bewegung, als schiebe er sie weit von sich. „Beurteile mich nicht nach dir. Es kommt nicht darauf an, wie ich die Beweise von deiner Schuld und zugleich die Wahrheit über dein Vorleben, das du mir ebenfalls in lügnerischer Weise entstellt hast, erhielt. Genug, ich besitze diese Beweise und werde sie meinem Rechtsanwalt vorlegen. Nie wäre es mir eingefallen, dich zu meiner Frau zu machen, wenn ich die Wahrheit über dich gewusst hätte. Dazu wäre mir mein ehrlicher Name zu gut gewesen. Das wusstest du. Du hast dich unter falschen Angaben in eine Ehe mit mir geschlichen. Auch ohne diese Beweise hätte es heute zwischen uns einen unheilbaren Riss gegeben. Eine Frau, die sich willig in die Arme eines anderen Mannes schmiegt und sich von ihm küssen lässt, kann ich nicht an meiner Seite dulden.“

„Es ist gar nicht zu einem Kuss gekommen“, trotzte sie.

„Weil ich es verhinderte, ganz recht. Wir wollen nicht länger als nötig miteinander reden, ich will dir nur noch mitteilen, dass ich noch heute abreise und sofort bei meinem Rechtsanwalt die Scheidungsklage einreiche. Ich überlasse es dir, ob du hier bleiben oder ebenfalls abreisen willst.“

Unsicher sah sie ihn an. Und dann legte sie die Hände kindlich flehend zusammen und sah ihn bittend an.

„Günter, kannst du mir nicht verzeihen? Du weißt doch, dass ich allein und schutzlos in der Welt stand. Die Männer haben mir keine Ruhe gelassen; was sollte ich tun in meiner Lage? Da du nun einmal dahinter gekommen bist, will ich nicht leugnen, dass ich Geschenke annahm. Ich war doch so arm. Und ich wagte es nicht, dir die Wahrheit zu gestehen.“

Er wehrte hastig ab.

„Bitte, keine Erörterungen! Mit einem Betrug hast du dich in eine Ehe mit mir geschlichen, und deshalb musst du es dir jetzt gefallen lassen, dass ich dich aus meinem Leben streiche.“

„Wenn ich mir das aber nicht gefallen lasse?“, trumpfte sie auf. „Wovon soll ich leben? Du hast mich aus meinem Engagement gerissen.“

Er vermochte sie nicht mehr anzusehen, ihr Gesicht wirkte so gewöhnlich, dass es ihm ein unerträglicher Anblick war.

„Dein Engagement war zu Ende, noch vor unserer Hochzeit, aber ich werde dir selbstverständlich einen Betrag anweisen. Du kannst dir monatlich so viel abheben, wie ich bestimme, bis die Beziehungen zwischen uns geklärt sind. Alles weitere wird der Rechtsanwalt zwischen uns erledigen. Ich packe jetzt meine Sachen. Wenn du bleiben willst – Zimmer und Pension sind auf mehrere Wochen noch bezahlt. Der Gesellschaft magst du erzählen, was dir nötig erscheint. Ich ersuche dich nur, nicht zu vergessen, was du dem Namen Warneck schuldig bist, sonst müsste ich meine Hand von dir abziehen.“

Während dieser Worte hatte Lori darüber nachgedacht, welche Vorteile sie aus dieser Situation ziehen könne. Sie war nicht gewillt, sich eine Chance entgehen zu lassen, und schlau zog sie in Berechnung, dass sie Mister Hamton die Schuld an dem Zerwürfnis mit ihrem Mann zuschieben konnte. Er hatte sie kompromittiert, also musste er sie durch eine Heirat rehabilitieren, sobald sie geschieden war. Diese Lesart musste sie Mister Hamton beibringen. Im Grunde war es also ein Glücksfall, dass Günter sie in Mister Hamtons Armen überrascht hatte. Diese Betrachtung gab Lori ihre Ruhe zurück.

„Gut, wenn du mich genügend mit Geld versiehst, gehe ich auf die Scheidung ein.“

Er zuckte verächtlich die Achseln.

„Du wirst auf jeden Fall darauf eingehen müssen! Und jetzt verlasse ich dieses Zimmer, bis du dich für die Mittagstafel umgekleidet hast. Ich werde nicht daran teilnehmen. Ich werde inzwischen meine Sachen packen.“

Sie erhob sich.

„Es ist gut.“

Er verneigte sich formell und wollte das Zimmer verlassen. Da vertrat sie ihm den Weg. „Willst du mir nicht zum Abschied die Hand reichen, Günter – wir können doch als Freunde scheiden“, sagte sie mit einem Blick, der ihn bezaubern sollte.

Er maß sie mit großen Augen, in denen ein harter, kalter Ausdruck lag. Wortlos schritt er an ihr vorüber und ging hinaus.

***

Käte Harland wartete in fieberhafter Unruhe auf eine Nachricht von Günter. Sie befand sich in einem Zustand krankhafter Aufregung. Ihre Unruhe hatte den Höhepunkt erreicht, als endlich eines Morgens ein Brief Günters an seinen Vater eintraf.

Der alte Herr verfärbte sich, als er ihn in den Händen hielt. Er sah Käte an, die ihm mit blassem, gespanntem Gesicht gegenübersaß.

„Ich bin wahrhaftig schwach wie ein schreckhaftes Weib und wage das Schreiben nicht zu öffnen. Diese Tage des Wartens haben mich ganz zermürbt“, sagte er heiser.

Käte faltete die Hände über der Brust.

„Es kann nur eine gute Nachricht sein, Onkel Heinrich. Sei getrost und öffne das Schreiben!“

Er lächelte schwach. „Und dabei leuchtet dir selbst die Verzagtheit aus den Augen“, sagte er leise.

Aber dann richtete er sich entschlossen auf und entfaltete den Brief.

Und nun las er.

„Mein lieber Vater!

Gedemütigt und erniedrigt stehe ich vor dir du hast Recht gehabt, als du mir deine Einwilligung zu dieser Ehe nicht geben wolltest, und ich bin hart bestraft worden für meinen Eigenwillen. Nachdem ich die Beweise vom Unwert dieser Frau erhielt, habe ich mich sofort von ihr getrennt und befinde mich augenblicklich in München. Hier lebe ich seit einigen Tagen in einem sehr qualvollen Zustand. Ich möchte heimkehren zu dir, aber – ich schäme mich so namenlos und fühle mich nicht imstande, vor dein Angesicht zu treten. Lass mir einige Zeit der Ruhe, damit ich das verwinde, was ich mir selbst zugefügt habe! Ich werde nach der Schweiz reisen und versuchen, für die Firma Warneck Abschlüsse zu machen. Denn nur in angestrengter Arbeit werde ich mein Gleichgewicht wiederfinden können.

Zu deiner Orientierung will ich dir noch mitteilen, dass ich meine Scheidungsklage eingereicht habe und dass der Rechtsanwalt mir Hoffnung gibt auf eine schnelle Erledigung, da der Fall klar liegt. Ich habe die Bedingung gestellt, dass diese Frau meinen Namen ablegt – das ist die einzige Genugtuung, die ich dir geben kann.

Und nun, mein lieber Vater, bitte ich dich um Verzeihung, dass ich dir diesen Schmerz zugefügt habe. Ich weiß erst jetzt, wie weh ich dir getan haben muss. Bitte schreibe mir wenigstens einige Worte, dass du mir verzeihen willst und dass du verstehen kannst, dass ich jetzt nicht heimkehren kann. Gib mir Zeit, mich wiederzufinden und mit all dem Hässlichen, Niederdrückenden fertig zu werden, das ich erlebte. Meine einzige Entschuldigung ist, dass ich zu hoch von den Frauen gedacht habe. Von diesem Fehler bin ich jedenfalls gründlich geheilt.

Lebe wohl für heute, lieber Vater, und bitte, schreibe mir umgehend, ich erwarte deinen Brief hier in München, ehe ich nach der Schweiz gehe.

Mit herzlichem Gruß in tiefster

Verehrung dein Sohn Günter“

Der alte Herr atmete tief auf. In seinem Gesicht kam und ging die Farbe in beängstigender Weise.

Käte fasste erschrocken seinen Arm.

„Onkel Heinrich, was ist dir? Hast du schlimme Nachricht von Günter?“, fragte sie, kaum fähig, ihre Angst zu beherrschen.

Er schüttelte den Kopf.

„Nein, nein, beruhige dich – die beste, die ich noch bekommen konnte. Aber es greift mir ans Herz, was mein Sohn mir schreibt. Hier, lies es selbst, kleine Käte!“

Er reichte ihr den Brief. Käte las ihn mit brennenden Augen, aber ihr Atem wurde freier und leichter, schon nach den ersten Worten. Nur zum Schluss des Briefes trübte sich ihr Blick, als sie die Worte las: „Meine einzige Entschuldigung ist, dass ich zu hoch von den Frauen gedacht habe. Von diesem Fehler bin ich jedenfalls gründlich geheilt.“

Das Herz tat ihr weh, als sie das las. Sollte es Lori Leixner gelungen sein, aus dem Idealisten einen Frauenverächter zu machen?

Und noch etwas berührte sie schmerzlich: Kein Wort für sie hatte er hinzugefügt, keinen Gruß. War auch sie mit inbegriffen in die Verachtung, die er jetzt den Frauen zollte?

Der alte Herr hatte Käte eine Weile beobachtet.

„Nun, Käte, was sagst du zu dem Brief?“

Käte zwang sich zu einem Lächeln. „Gottlob, dass er die Kraft gefunden hat, sich freizumachen.“

Er nickte.

„Ja, gottlob! Und nun will ich ihm schnell einige Zeilen schreiben. Er wird schmerzlich darauf warten.“

Und Heinrich Warneck ging in sein Arbeitszimmer und schrieb an seinen Sohn:

„Mein lieber Günter!

Gottlob, dass du dich frei gemacht hast von unwürdigen Fesseln. Nun wird alles wieder gut, oder vielmehr, nun soll alles noch besser zwischen uns werden. Heute nur so viel, dass ich dir von ganzem Herzen verzeihe und dass ich dich verstehen kann, wenn du jetzt noch nicht heimkommen willst. Deinen Vorsatz, nach der Schweiz zu gehen, billige ich vollkommen. Es ist ganz gut, wenn du dort unsere geschäftlichen Beziehungen ein wenig stärken willst. Gib mir deine jeweiligen Adressen an, dann schreibe ich dir mehr. Bis dahin Gott befohlen, mein Sohn. Kopf hoch – man kommt über vieles hinweg im Leben! Meines Herzens Segen ist bei dir!

Dein Vater“

Als Heinrich Warneck diesen Brief beendet hatte, schloss er das Schreiben seines Sohnes in den Safe.

Dicht neben seinem Testament legte er es hin. Und dabei flog ein Lächeln über seine Züge. Heute Abend, wenn er Zeit hatte, wollte er das Testament vernichten.

Schnell schloss er den Safe wieder, steckte den Schlüssel zu sich und ging hinaus. Er beauftragte einen Diener, den Brief sogleich zum Münchner Zug nach dem Bahnhof zu tragen. Dann verabschiedete er sich von Käte. Sie begleitete ihn bis zum Portal, wo das Auto auf ihn wartete.

„Auf Wiedersehen, lieber Onkel Heinrich!“

Der alte Herr nickte ihr noch einmal zu und bestieg das Auto, das ihn zur Fabrik bringen sollte. Der Chauffeur schloss den Wagenschlag und warf noch einen Blick auf seinen Herrn. Es fiel ihm heute nicht zum ersten Mal auf, dass er nicht wohl aussah.

Käte sah dem Wagen nach. Dann begab sie sich an ihre häuslichen Geschäfte und versuchte der bangen, unklaren Stimmung, die ganz plötzlich über sie gekommen war, Herr zu werden; aber es gelang ihr nicht. Und nach einiger Zeit stand sie, wie in trübe Gedanken versunken, am Fenster und starrte hinaus in den verschneiten Garten.

Jetzt sah sie das Auto zurückkommen, das den Vormund in die Fabrik gebracht hatte. Aber dann stutzte sie. Weshalb fuhr das Auto nicht in die Garage, sondern wieder am Portal vor? Wahrscheinlich hatte Onkel Heinrich dem Chauffeur eine Bestellung an sie aufgetragen, die er gleich ausrichten wollte.

Sie ging schnell hinaus, aber als sie das Vestibül betrat, sah sie zu ihrem Erstaunen den Hausarzt auf sich zukommen, der dem Auto entstiegen war.

„Herr Doktor, was führt sie zu uns?“

Er fasste ihre Hand.

„Leider bringe ich Ihnen keine gute Botschaft, Fräulein Harland. Bitte lassen Sie schnell das Lager für Herrn Warneck richten! Wir tragen ihn gleich in sein Schlafzimmer. Er hat einen kleinen Unfall gehabt.“

Sie sah ihn erbleichend an.

„Um Gottes willen! Was ist geschehen, Herr Doktor?“

„Ihr Vormund ist auf dem Weg zur Fabrik von einem Unwohlsein befallen worden. Als der Wagen an einer Straßenkreuzung halten musste, sah sich der Chauffeur zufällig nach seinem Herrn um und bemerkte, dass der alte Herr wie ohnmächtig im Wagen lag. Kurz entschlossen fuhr der Chauffeur bei mir vorüber, um mich gleich mitzunehmen. Aber bitte, schnell, richten Sie sein Lager!“

Käte zitterten die Knie, aber sie nahm ihr Herz tapfer in die Hände und eilte davon, um alles vorzubereiten. Sie brachte selbst das Lager ihres Vormunds in Ordnung, und kaum war das geschehen, als man schon die starre, leblose Gestalt des alten Herrn herbeitrug.

Der Arzt schritt neben ihm und machte sich sofort, nachdem man ihn gebettet hatte, mit ihm zu schaffen. Den Pelz hatte man ihm schon abgestreift – nun zog ihm der Arzt mit Kätes Hilfe auch den Rock aus und öffnete das Hemd über der Brust.

Angstvoll stand Käte dabei. Der Arzt löste von der Weste die Schlüsselkette mit dem Schlüsselbund des alten Herrn, weil sie ihn behinderte, und er reichte sie Käte, die sie auf den Nachttisch legte.

Endlich richtete sich der Arzt auf und sah sich nach Käte um.

„Was ist mit Onkel Heinrich, Herr Doktor? Er sieht so seltsam aus. Kann ich etwas helfen?“

Der Arzt schüttelte den Kopf.

„Da ist nichts mehr zu helfen, Fräulein Harland, Ihr Herr Vormund ist tot.“

Käte war zurückgetaumelt.

„Das kann doch nicht sein – es ist doch keine Stunde her, dass er aufrecht vor mir stand und mit mir sprach“, flüsterte sie mit blassen Lippen.

„Ein Schlaganfall hat seinem Leben ein jähes Ende gesetzt. Ein schöner Tod, ohne langes Krankenlager. Man möchte ihn beneiden“, sagte der Arzt.

Käte war zumute, als verliere sie den Boden unter den Füßen. Sie sank neben dem Toten in die Knie und sah weinend in das Antlitz ihres Wohltäters. Liebevoll streichelte sie über seine gefalteten Hände. Dabei blieb sie mit einem schlichten goldenen Ring, den sie am kleinen Finger trug, an seinem Daumen hängen. Der Ring glitt herab, als habe der Tote ihn ihr abgestreift. Käte griff nach dem Ring und steckte ihn achtlos wieder an.

„Wo befindet sich Herr Günter Warneck, Fräulein Harland? Ist er in der Fabrik?“, fragte der Arzt.

Käte hob das tränenüberströmte Gesicht zu ihm empor. „Nein, er ist verreist, er befindet sich in München.“

„Dann muss er sofort benachrichtigt werden. Haben Sie seine Adresse?“

Käte erhob sich und dachte nach. Sie konnte sich nicht entsinnen, wie das Hotel hieß, in dem Günter wohnte. Aber die Adresse hatte in seinem Brief gestanden.

Sie strich das Haar aus der Stirn und sagte das dem Arzt. „Vielleicht hat Onkel Heinrich den Brief noch bei sich.“

Der Arzt nickte. Sie suchte in der Brusttasche des Rocks nach der Brieftasche und sah darin nach.

Aber der Brief war nicht darin.

Käte legte beide Hände an die Schläfen und überlegte. Onkel Heinrich war mit Günters Brief in sein Arbeitszimmer gegangen, um ihn zu beantworten. Wenn er den Brief nicht bei sich hatte, musste er sich in seinem Schreibtisch befinden, denn offen ließ er diesen Brief seines Sohnes nicht herumliegen.

Kurz entschlossen nahm Käte den Schlüsselbund ihres Vormunds vom Nachttisch; damit eilte sie ins Arbeitszimmer und schloss verschiedene Fächer des Schreibtischs auf, ohne den Brief zu finden. Schließlich öffnete sie auch den Safe. Und da sah sie den Brief liegen, dicht neben dem Testament des alten Herrn. Ihre Augen wurden starr. Das Testament! Es würde Gültigkeit haben, auch wenn der Wille des Testators sich vor seinem Tod geändert hatte.

Käte stand zitternd an den Schreibtisch gelehnt und starrte das Testament an. Sie fror vor Erregung bis ins Herz hinein. Und plötzlich wurde es ganz klar in ihrer Seele. Dieses unselige Testament durfte Günter nicht finden – niemand durfte es finden. Sie musste es verschwinden lassen, jetzt gleich. Vielleicht kam nicht noch einmal eine so günstige Gelegenheit; vielleicht wurde jetzt gerichtlich alles verschlossen und versiegelt, bis Günter nach Hause kam, und dann würde es ihr nicht mehr möglich sein, das Testament verschwinden zu lassen.

Ihre Augen brannten, ihre Hände zitterten. Tat sie denn ein Unrecht, wenn sie das Dokument entwendete? Nein, sie machte ein Unrecht gut, nichts weiter. Und sich ängstlich umsehend, fasste sie mit vor Aufregung eiskalt gewordenen Händen in den Safe und ergriff das Dokument.

„Vater im Himmel, verzeihe mir die Sünde, wenn es eine ist“, betete sie und steckte das Dokument in den Ausschnitt ihres Kleides.

Und dann fasste sie nach dem Brief und fand auf dem Umschlag den Namen des Hotels. Sie prägte sich ihn ein und legte den Brief in den Safe zurück. Hastig schloss sie ab und verließ, wie auf der Flucht vor sich selbst, das Zimmer. Sie kehrte ins Schlafzimmer ihres Vormunds zurück. Mit leichenblassem Gesicht nannte sie dem Arzt das Münchner Hotel, wo Günter wohnte.

„Bitte, setzen Sie das Telegramm auf, Herr Doktor, ich bin dazu außerstande! Und bitte, fassen Sie es recht schonungsvoll ab!“, stammelte sie und sank an der Leiche des Vormunds zusammen.

Während der Arzt hinausging, presste sie ihre Lippen auf die Hände des Toten.

„Nicht wahr, Onkel Heinrich, es war in deinem Sinn – ich habe recht getan?“, flüsterte sie.

Und als sie dann in sein Gesicht sah, kam ein stiller Friede über sie. Ja, sie hatte recht getan.

Wie getröstet erhob sie sich und legte die Schlüssel wieder auf den Nachttisch. Als der Arzt zurückkam, sah sie ihm ruhig und gefasst entgegen.

Sie konnte nun alles Nötige mit ihm besprechen. Sie telefonierte an die Prokuristen der Fabrik und meldete ihnen, was geschehen war. Die beiden Herren kamen schnell herbei und nahmen Käte alle in solchen Fällen nötigen Besorgungen ab. Käte händigte dem einen dieser Herren, der schon seit langen Jahren in der Firma Warneck angestellt war, die Schlüssel ihres Vormunds aus.

„Bitte verwahren Sie sie für Herrn Günter Warneck“, sagte sie.

Den ganzen Tag kam Käte nicht zur Ruhe. Es stürmte zu viel auf sie ein, und erst am späten Abend konnte sie eine Weile in ihr Zimmer gehen.

Als sie endlich allein war, zog sie das lange, schmale Kuvert mit dem Testament aus ihrem Kleid hervor. Was sollte sie nun mit diesem Dokument beginnen? Sollte sie es verbrennen?

Aber ratlos sah sie sich um. Im ganzen Haus gab es Zentralheizung, keinen Kamin, wo sie dieses feste, steife Papier verbrennen konnte. Sie musste eine Gelegenheit abpassen, wo sie es vielleicht im Küchenherd verbrennen konnte. Vorläufig war es in ihrem Besitz gut aufgehoben.

Sie öffnete ihren Schreibtisch und legte das Testament in eine Kassette, in der sie ihre Schmucksachen und kleinen Andenken aufbewahrte. Sie schloss Kassette und Schreibtisch zu und hing den Schlüssel an eine Kette, die sie um den Hals trug. Dann ging sie wieder hinunter, um an Onkel Heinrichs Lager die Totenwache zu halten.

***

Günter Warneck hatte nach seiner Trennung von Lori schlimme Tage verlebt. Es war doch nicht so leicht, sich von einem Menschen zu trennen, dem man alles hatte sein wollen. Es erschien ihm alles öde und leer, und er lebte tagelang in trostloser Stumpfheit dahin, ehe er sich endlich entschließen konnte, an seinen Vater zu schreiben. Und nun wartete er auf dessen Antwort. Sobald sie eintraf, wollte er nach der Schweiz reisen.

Um sich abzulenken, ging er am Nachmittag ins Kino. Aber der Film sagte ihm nicht zu, und so verließ er das Lichtspielhaus bald wieder. Langsam schlenderte er zum Hotel zurück.

Dort fand er ein Telegramm vor:

Sofortige Heimkehr notwendig. Vater schwer erkrankt. Doktor Albers.

Der Arzt hatte ihm die Todesnachricht nicht senden wollen. Es war Zeit genug, wenn der Sohn bei seiner Heimkehr vom Tod des Vaters erfuhr.

Aber auch diese Nachricht erfüllte Günter mit lähmendem Entsetzen. Der Vater erkrankt? Und er musste ernstlich krank sein, sonst hätte Doktor Albers, den er als besonnenen Mann kannte, nicht depeschiert.

Er sprang auf und trat an den Hotelportier heran.

„Wann geht der nächste Zug nach Berlin?“

„In zwei Stunden, Herr Warneck.“

„Gut. Machen Sie mir die Rechnung zurecht, ich reise ab“, sagte Günter. Dann begab er sich in sein Zimmer, um zu packen. Er war noch nicht ganz fertig, als ein Page erschien und ihm einen Eilbotenbrief brachte, den Brief seines Vaters.

Er hatte jetzt keine Zeit, ihn zu lesen, denn er hatte es eilig, zum Bahnhof zu kommen. Aber sobald er im Zug saß, zog er den Brief hervor und las.

Ein tiefer, erlöster Seufzer hob seine Brust. Gottlob, er hielt die Verzeihung seines Vaters in den Händen! Und er musste gestern noch gesund und wohlauf gewesen sein. Die Unruhe seines Herzens legte sich ein wenig. Wieder und wieder las er das kurze Schreiben seines Vaters durch. Tiefe Bewegung ergriff ihn. Der Segen seines Vaters war wieder bei ihm. Und er fühlte wieder einmal in tiefstem Herzen, wie fest trotz allem die Bande waren, die ihn an seinen Vater knüpften.

Als er zu Hause ankam, flog sein Blick hinauf zu seines Vaters Schlafzimmer, und da erschrak er bis ins Herz hinein. Die Fenster dieses Zimmers standen weit offen.

Von einer unbeschreiblichen Unruhe erfüllt, sprang er aus dem Mietauto aus, das er sich am Bahnhof genommen hatte, und zog die Glocke.

Käte hatte den Wagen vorfahren hören und war schnell ins Vestibül getreten. Auch ein Diener war zur Stelle. Er öffnete das Portal. Und nun stand Günter blass und erschrocken vor Käte. Er sah, dass sie ein schwarzes Kleid trug.

„Käte?“

Eine bange, unruhige Frage lag in diesem einen Wort.

Käte trat auf ihn zu, und ihre Augen bekamen einen feuchten Glanz.

„Günter, etwas Schlimmes wartet hier auf Sie!“, stieß sie hervor.

Günter war zumute, als setze sein Herzschlag aus. „Mein Vater, Käte? Was ist mit meinem Vater?“, fragte er halb erstickt.

Er sah Tränen lautlos über ihre Wangen rollen, und dieses lautlose Weinen wirkte so erschütternd, dass er erbebte.

„Sagen Sie mir wenigstens, dass mein Vater lebt“, stieß er heiser, in tiefster Erregung hervor.

Sie fasste seine Hand. „Sie müssen stark sein, Günter, es tut mir bitter weh, dass ich Ihnen sagen muss, was geschehen ist. Alles, was Ihnen weh tut, muss ich Ihnen mitteilen, es ist wie ein Verhängnis, Günter – Sie finden Ihren Vater nicht mehr am Leben.“

Er stand wie betäubt und starrte sie an.

„Tot?“, rang es sich über seine – Lippen.

Sie neigte das Haupt.

Eine Weile herrschte tiefes, beklommenes Schweigen. Dann raffte sich Günter auf.

„Wo finde ich meinen Vater?“, fragte er mit versagender Stimme.

Käte richtete sich empor. „Kommen Sie, ich führe Sie zu ihm!“

Sie schritt auf eine Tür zu, hinter der man Heinrich Warneck aufgebahrt hatte. Hier hatte Käte in der Nacht mit dem alten Prokuristen des Hauses Warneck die Totenwache gehalten.

Sie ließ Günter eintreten.

„Ich lasse Sie allein mit Ihrem Vater, Günter. Wenn Sie meiner bedürfen, lassen Sie mich rufen.“

Er nickte ihr zu. „Ich danke Ihnen, Käte.“

***

Käte hatte Günter an diesem Tag nicht mehr gesehen. Er war vom Totenlager seines Vaters sofort in sein Zimmer gegangen.

Am nächsten Morgen wartete sie nun am Frühstückstisch auf ihn. Es gab allerlei mit ihm zu besprechen.

Als er erschien, begrüßten sie einander mit stummem Handschlag. Dann füllte Käte Günters Tasse und legte ihm vor, wie sie es auch sonst getan hatte. Alles war wie sonst – nur dass der Vater fehlte und dass Günters schmerzliche Enttäuschung wie eine Mauer zwischen ihnen stand. Mit trüben Augen sah sie in sein finsteres Gesicht, das ihr so seltsam fremd erschien.

Eine ganze Weile saßen sie so einander gegenüber in beklommenem Schweigen. Dann richtete sich Günter mit einem Seufzer empor und ließ seine Augen auf Käte ruhen. Sie sah sehr blass und müde aus, aber trotzdem erschien es Günter, als habe er sie nie so schön und lieblich gesehen. Etwas Warmes, Gutes wollte in ihm aufsteigen, aber er wehrte sich dagegen. Nur nicht wieder schwach werden einer Frau gegenüber – es kam doch nichts dabei heraus als eine große Enttäuschung!

Und so sagte er ruhig und beherrscht: „Wollen Sie mir erzählen, Käte, wie mein Vater starb und was seinem Tod vorausging?“

Sie atmete zitternd auf.

Und dann berichtete sie ihm, dass der Vater schon seit Wochen nicht sehr wohl gewesen sei und dass er in der letzten Zeit oft geklagt habe, dass sein altes Leiden sich bemerkbar machte. Auch sonst erstattete sie ihm Bericht über alles Wissenswerte, schilderte ihm, welchen Eindruck sein Brief auf ihn gemacht und wie er dabei von Günter gesprochen hatte.

Er hörte ihr zu und warf zuweilen eine Frage dazwischen, aber das Herz wurde Käte dabei immer schwerer. Das war nicht mehr der Günter, der, gutmütig über ihre Bescheidenheit zankend, ihr so oft gegenübergesessen hatte. Von seinem Vater sprach er mit einer warmen Innerlichkeit, aber für sie hatte er nichts als eine starre, formelle Höflichkeit. Sie atmete wie erlöst auf, als er sich vom Frühstückstisch erhob.

„Ich fahre jetzt hinaus in die Fabrik, um dort nach dem Rechten zu sehen. Ist noch irgendetwas anzuordnen für die Beisetzung meines Vaters?“

Sie erhob sich ebenfalls und schüttelte den Kopf.

„Der Prokurist Durlach hat alles Nötige erledigt. Morgen Nachmittag um drei Uhr findet die Einäscherung Onkel Heinrichs statt.“

„Sie hatten viel Mühe und Unruhe, Käte“, sagte er höflich. „Franz sagte mir, dass Sie die erste Nacht mit Herrn Durlach an der Leiche meines Vaters gewacht haben.“

Sie hätte aufschreien mögen vor Schmerz über diesen kalten, formellen Ton. Aber sie sah ihn nur mit einem müden Blick an.

„Was liegt daran. Ich habe so wenig tun können für meinen Wohltäter, als er noch lebte. Sollte ich ihm diesen Liebesdienst nicht erweisen?“

Es fiel ihm auf, wie schlicht sie das sagte, und er musste daran denken, dass ihr ganzes Leben in seines Vaters Haus im Grunde nichts anderes gewesen als eine einzige Aufopferung. Für alle Mühe und Arbeit hatte sie nichts gehabt als ihren Unterhalt.

Wieder wollte es warm in ihm aufsteigen, aber auch jetzt zwang er es nieder und dachte verbittert: Sie hat das alles wohl nur aus Berechnung getan, um meinen Vater zu bestimmen, in ihr seine künftige Schwiegertochter zu sehen.

Und mit einem kurzen Neigen des Kopfes sagte er gemessen: „Auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen“, erwiderte sie leise. Und sie sah ihm mit trüben Augen nach und dachte, die Hände auf das Herz pressend: Gottlob, dass er das unselige Testament nicht zu sehen bekommt! Wie hätte es bei seiner jetzigen Gemütsfassung auf ihn wirken müssen!

Es quälte sie namenlos, dass Günter in seinem ganzen Wesen so verändert war. Würde das immer so bleiben? Würde er nie wieder der impulsive, warmherzige Mensch werden, der er vor seiner Verheiratung gewesen war?

Als sie nun allein in dem behaglich eingerichteten Wohnzimmer saß, dachte sie zum ersten Mal an sich selbst. Was würde nun aus ihr werden? Dass sie hier im Haus blieb, auch wenn es Günter gestatten würde, war ausgeschlossen. Ganz abgesehen davon, dass ihr nur die Güte ihres Vormunds hier eine Daseinsberechtigung gegeben hatte, war Günter noch zu jung, als dass sie mit ihm allein in diesem Haus leben konnte.

Es gab nur einen Ausweg – sie musste sich eine Stellung suchen, musste auf irgendeine Weise ihren Lebensunterhalt verdienen. Zum Glück besaß sie einen allerdings sehr bescheidenen Notpfennig. Den Erlös aus der Hinterlassenschaft ihrer Eltern hatte Onkel Heinrich damals gut für sie angelegt. Sie ging also nicht mit ganz leeren Händen aus dem Haus und konnte in bescheidenen Verhältnissen leben, bis sie eine Stellung finden würde. Sie war überzeugt, dass Günter jederzeit bereit sein würde, sie vor Not zu schützen, aber um keinen Preis hätte sie von ihm eine Unterstützung angenommen.

Zum Glück besaß sie auch ihre Schmucksachen noch. Es waren teilweise Erbstücke von ihrer Mutter und teilweise Geschenke von Onkel Heinrich. Von diesen Schmuckstücken würde sie sich freilich nur schweren Herzens trennen, aber immer noch lieber, als von Günter Wohltaten annehmen zu müssen.

Sie nahm sich vor, gleich nach der Beisetzung ihres Vormunds mit Günter über diese Angelegenheit zu sprechen.

Leicht war ihr der Gedanke, dass sie dieses Haus verlassen müsse, wahrlich nicht. Aber was nicht zu ändern war, hatte die tapfere kleine Käte immer klaglos auf ihre Schultern genommen.

Sie erhob sich und gab in der Küche Anweisung bezüglich des Mittagessens. Dann ging sie hinauf in ihr Zimmer und entnahm dem Schreibtisch ihre Schmuckkassette. Das Testament ihres Vormunds lag obenauf. Mit einem blassen Lächeln legte sie es neben die Kassette. Und nun betrachtete sie ihre Schmucksachen, ein Stück ums andere, und fragte sich, welchen Wert wohl jedes einzelne haben mochte. Bei dieser Gelegenheit fiel ihr plötzlich auf, dass der Ring, den sie von ihren Eltern zur Konfirmation erhalten hatte, verschwunden war. Es war nur ein schlichter Reif mit zwei winzigen Saphiren und einem noch winzigeren Perlchen in der Mitte. Sie hatte ihn täglich getragen, erst am Goldfinger der rechten Hand und dann in letzter Zeit, weil er ihr dafür etwas zu eng geworden war, auf dem kleinen Finger. Für diesen war er nun wiederum etwas zu weit, und wenn sie kalte Hände bekam, rutschte er hin und her. Es fiel ihr ein, dass dieser Ring am Todestag Onkel Heinrichs von ihrem Finger geglitten und über des Vormunds tote Hände gerollt war. Dass sie ihn wieder angesteckt hatte, wusste sie genau, aber seither hatte sie nicht mehr darauf geachtet. Und nun war er verschwunden. Sie konnte sich nicht entsinnen, wo er geblieben sein könnte. Sicherlich war er ihr irgendwie unbemerkt vom Finger geglitten, und in der unruhevollen Zeit nach Onkel Heinrichs Tod hatte sie den Verlust nicht bemerkt.

Sie sagte sich jedoch, dass er ihr nur im Haus verloren gegangen sein könne. Seit man Onkel Heinrich tot heimgebracht hatte, hatte sie das Haus noch nicht verlassen. Der Ring war zwar kein großes Wertobjekt, aber es hingen für sie lieb gewordene Erinnerungen daran. Sie wollte es der Dienerschaft sagen, dass der Ring im Haus verloren gegangen war, damit man danach suchte.

Sie legte nun alle ihre kleinen Schätze wieder in die Schmuckkassette. Das Testament legte sie obenauf.

Als sie das Gemach verließ, wurde sie ans Telefon gerufen. Günter rief von der Fabrik aus an:

„Bitte, Käte, sorgen Sie dafür, dass heute Mittag die beiden Prokuristen mit uns speisen können. Ich habe so viel mit ihnen zu besprechen, und wir wollen nach Tisch meines Vaters Schreibtisch zusammen nach wichtigen Papieren durchsehen“, sagte er.

Es war gut, dass Günter nicht sehen konnte, wie Käte die Farbe wechselte. Aber sie antwortete ruhig:

„Es ist gut, Günter, ich lasse zwei Gedecke mehr auflegen. Umstände sind ja wohl nicht erforderlich – oder wünschen Sie ein besonders festliches Mahl?“

„Nein, nein. Also um zwei Uhr.“

Käte hing den Hörer hin, und ein weher Zug zuckte um ihren Mund. Auch dieses Telefongespräch trug den Stempel eisiger Förmlichkeit.

***

Günter traf einige Minuten vor zwei Uhr ein. Die Prokuristen hatten unterwegs noch eine Besorgung zu machen und sollten ihm in wenigen Minuten folgen.

Das sagte er Käte.

„Sie können aber schon die Suppe auftragen lassen, Käte“, fügte er hinzu.

Käte neigte zustimmend den Kopf und klingelte. Als der Diener eintrat, sagte sie: „Bitte, Franz, bestellen Sie in der Küche, dass aufgetragen wird. Und ehe ich es wieder vergesse – ich habe in diesen Tagen, und zwar nach dem Tod von Herrn Warneck, hier im Haus einen Ring verloren. Es ist ein schmaler, glatter Goldreif mit zwei kleinen Saphiren und einer Perle. Er hat mir zu locker am Finger gesessen und muss mir unbemerkt entfallen sein. Bitte, sagen Sie es der Dienerschaft, man soll beim Säubern der Zimmer darauf achten.“

„Sehr wohl, gnädiges Fräulein“, erwiderte Franz und ging hinaus.

Günter wandte sich höflich an Käte. „Sie haben einen Ring verloren?“

„Ja.“

„War er sehr kostbar?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Nein, nein, es war ein ganz schlichter Reif, den ich von meinen Eltern zur Konfirmation erhielt.“

„Hoffentlich wird er wiedergefunden.“

Gleich darauf trafen die beiden Prokuristen ein, und man ging zu Tisch.

Die Herren sprachen erst von Geschäften, und dann sagte Günter im Lauf des Gesprächs:

„Da wir im Geschäft kein Testament meines Vaters gefunden haben und auch bei seinem Notar keins hinterlegt worden ist, müssen wir es, wenn überhaupt eins vorhanden ist, hier zu Hause finden. Vater hat sich ja einen Safe einbauen lassen, wo er Geld und wichtige Papiere aufbewahrte.“

Käte war bei diesen Worten rot und blass geworden, und Günter, der das bemerkte, dachte: Das arme Ding – sie ist gewiss in Sorge, ob mein Vater für ihre Zukunft gesorgt hat!

Und dann wandte er sich direkt an Käte: „Wissen Sie vielleicht, ob Vater ein Testament gemacht hat? Vielleicht hat er einmal mit Ihnen darüber gesprochen?“

Sie schrak leicht zusammen. „Ich kann mich nicht entsinnen“, erwiderte sie mit leiser Stimme.

Günter sah sie nachdenklich an. Dann fuhr er fort: „Das Vorhandensein eines Testaments interessiert mich nicht in der Hauptsache meinetwegen. Es wäre mir nur sehr erwünscht, wenn ich wenigstens darüber eine letztwillige Verfügung finden würde, wie sich mein Vater Ihre Zukunft gedacht hat, Käte.“

Sie zwang sich zu einem Lächeln.

„Darüber brauchen Sie sich keine Kopfschmerzen zu machen. Sobald Onkel Heinrich zur letzten Ruhe bestattet ist, möchte ich mit Ihnen über diese Angelegenheit sprechen.“

Er nickte. „Das liegt mir auch am Herzen.“

Nach Tisch erhoben sich die Herren, um ins Arbeitszimmer des Verstorbenen zu gehen. Herr Durlach hatte Günter die Schlüssel seines Vaters ausgeliefert und dabei gesagt:

„Fräulein Harland wollte die Schlüssel nicht im Haus behalten, solange Sie nicht anwesend waren.“

Nun zog Günter das Schlüsselbund hervor und setzte sich an den Schreibtisch seines Vaters. Die beiden Prokuristen standen neben ihm. Zuerst schloss Günter den Aufsatz des altmodischen Schreibtischs auf, weil er wichtige Papiere hier vermuten konnte, und dann den Safe.

In dem Safe fand er, vornan liegend, seinen Brief, den er von München aus an den Vater geschrieben hatte. Als er ihn herausnahm, fiel klingend ein kleiner goldener Gegenstand aus dem Safe. Er fasste danach und erkannte erstaunt einen Ring mit zwei Saphiren und einer Perle, so, wie ihn Käte beschrieben hatte.

Und nun erinnerte er sich auch, diesen Ring früher an Kätes Hand gesehen zu haben. Er stutzte ein wenig. Käte hatte behauptet, dass sie den Ring nach dem Tod seines Vaters verlor. Also musste sie auch nach seines Vaters Tod den Safe geöffnet haben. Dabei war ihr, ohne dass sie es merkte, der Ring entglitten.

Es fiel ihm zunächst dabei gar nichts auf. Er dachte auch jetzt nicht weiter darüber nach, sondern steckte den Ring in seine Westentasche, um ihn später Käte zurückzugeben. Dann suchte er weiter nach dem Testament. Aber er fand keins.

Im Safe fand sich noch eine ziemlich hohe Geldsumme für den Verbrauch im Haus und ein Ausgabenbuch für den Haushalt. Alles war in tadelloser Ordnung.

„Also demnach hat mein Vater kein Testament hinterlassen, sonst hätten wir es finden müssen.“

„Unbedingt“, erwiderte Herr Durlach. „Es ist gut, dass keine verzwickten Erbschaftsregulierungen vorliegen. Da Sie der einzige Nachkomme Ihres Herrn Vaters sind, ist im Grunde ein Testament überflüssig.“

„In gewissem Sinn, ja – ich hätte nur Fräulein Harlands wegen gern gesehen, dass mein Vater eine Bestimmung hinterlassen hätte. Sie wissen, dass mein Vater die junge Dame wie eine Tochter liebte, und dass er ihre Zukunft sicherstellen wollte, erscheint mir zweifellos. Für mich bedarf es natürlich keiner letztwilligen Bestimmung, ich würde auch ohnedies für die junge Dame sorgen, aber – es erscheint mir fraglich, ob sie das von mir annehmen wird. Ich muss also irgendeinen Modus finden, der ihr Zartgefühl respektiert.“

Die beiden Herren nickten verständnisvoll.

„Es wird sich schon ein Modus finden lassen, Herr Warneck“, sagte Durlach.

„Ich werde mir die Sache durch den Kopf gehen lassen und bitte Sie, meine Herren, auch ein wenig darüber nachzudenken.“

Die beiden Herren nickten. Und dann verabschiedeten sie sich.

Günter räumte nun die Papiere wieder weg. Den Brief, den er von München aus an seinen Vater sandte, nahm er an sich.

Plötzlich fiel ihm Kätes Ring wieder ein. Wie mochte er in den Safe gekommen sein? Was hatte Käte nach seines Vaters Tod in dem Safe gesucht? Und – warum hatte sie die Schlüssel dem Prokuristen übergeben? Es hätte doch niemand etwas dabei gefunden, wenn sie selbst die Schlüssel verwahrt hätte.

Und – der Ring hatte entweder dicht neben seinem Brief oder auf diesem gelegen!

Es blitzte plötzlich in seinen Augen auf. Jetzt kam ihm eine Erklärung.

Käte hatte wohl seinen Brief bei dem Toten gefunden und hatte nicht gewollt, dass fremde Augen ihn lesen sollten. Deshalb hatte sie ihn wohl in den Safe geschlossen und dann in übertriebener Gewissenhaftigkeit die Schlüssel an Durlach ausgeliefert. Sie war, das wusste er, ein kleiner Pflichtenmensch. Und taktvoll war sie – ungemein taktvoll. Eigentlich war er ein Tor, dass er sich so förmlich ihr gegenüber benahm; schließlich hatte sie sich doch stets famos ihm gegenüber benommen. Und sie mit einer Lori zusammen abzutun, war wirklich ungerecht von ihm.

Als er zum Abendessen ins Speisezimmer trat, erwartete ihn Käte schon.

Er ließ sich ihr gegenüber am Tisch nieder.

„Weshalb haben Sie eigentlich Vaters Schlüssel nicht behalten, sondern sie Herrn Durlach übergeben, Käte?“, fragte Günter, nachdem sie ziemlich schweigend die Mahlzeit beendet hatte.

Sie errötete jäh und wich seinen Blicken aus. „Ich, ich hatte keinen besonderen Grund, nur – ich meinte, bei Herrn Durlach seien sie am sichersten aufgehoben.“

Er hatte ihre Verlegenheit bemerkt und wurde nun noch begieriger, den Grund dazu zu entdecken.

„Ich fand meinen Brief an meinen Vater in dem Safe und nahm an, dass Sie ihn dahin gelegt haben, damit er nicht in fremde Hände fiele.“

Käte war völlig kopflos bei diesem Verhör. Sie hatte alle Selbstbeherrschung nötig, um ruhig zu scheinen.

„Nein, Günter, diesen Brief hat Onkel Heinrich wohl selbst in den Safe geschlossen, nachdem er ihn beantwortet hatte.“

„Ich glaubte, Sie hätten es getan. Sie hatten doch Vaters Schlüssel.“

Käte saß wie auf Kohlen. Ihr war zumute, als habe sie ein schweres Verbrechen begangen, das sie um jeden Preis verheimlichen müsse. Und dabei hatte sie eine tödliche. Angst, dass Günter ihr alles, was sie verbergen wollte, vom Gesicht ablesen könnte.

„Ich habe die Schlüssel gleich an Herrn Durlach gegeben, Günter.“

Er sah sie forschend an. „Soll das heißen, Käte, dass Sie überhaupt nicht den Safe geöffnet haben nach meines Vaters Tod?“, fragte er seltsam gespannt.

Sie wurde totenblass. „Das soll es selbstverständlich heißen“, stieß sie hervor.

Ein bitterer, verächtlicher Zug erschien um seinen Mund.

Die Weiber lügen doch alle, die eine mehr, die andere weniger, dachte er. Das junge Geschöpf kann es noch nicht so perfekt wie jene andere, man sieht ihr noch an, dass sie lügt. Aber eines Tages wird sie es besser können und sich nicht mehr verraten.

Und ein wütender Schmerz befiel ihn. Er wusste nicht, warum es ihm so weh tat, dass auch Käte ihn belogen hatte, Käte, auf deren Treue und Rechtlichkeit er Häuser gebaut hätte.

In seinem zornigen Schmerz fasste er in seine Westentasche und zog den Ring hervor.

„Sie müssen sich irren, Sie haben ganz bestimmt den Safe geöffnet, denn ich fand diesen von Ihnen vermissten Ring darin.“

Damit legte er den Ring vor sie hin.

Käte saß da wie erschlagen, mit fahlem, todblassem Gesicht und erloschenen Augen. Sie hätte aufschreien mögen in namenloser Qual, denn sie las Verachtung in seinem Gesicht. Barmherziger Gott, er wusste, dass sie ihn belogen hatte, und er glaubte nun zweifelsohne etwas sehr Schlimmes von ihr, hielt sie für unehrlich – vielleicht für eine Diebin.

Günter sah ihr Entsetzen und nun wurde ihm klar, dass sie etwas Verbotenes an den Safe geführt hatte.

Er erinnerte sich, dass sich stets eine größere Summe Geld in dem Safe befunden hatte. Käte hatte das gewusst, da sein Vater ihr immer das Haushaltsgeld aus diesem Safe zahlte. Hatte sie vielleicht Geld aus dem Safe genommen – vielleicht in der Angst vor einer ungewissen Zukunft?

Eine andere Erklärung konnte er nicht finden.

Lange Zeit saßen sie sich schweigend gegenüber. Käte saß reglos da, als sei sie gestorben, und vermochte keinen Bissen mehr anzurühren. Es war alles tot und leer in ihr.

Nun kann mich nichts mehr treffen, dachte sie, nun verachtet er mich, vielleicht mehr, als er jene Frau verachtet, die ihn betrogen hat. Und ich muss es tragen, darf mich nicht verteidigen, darf ihm nicht sagen, was mich zu dieser Lüge gezwungen hat.

Sie zuckte schreckhaft zusammen, als Günter sich mit einem Ruck erhob und mit einer stummen Verbeugung das Zimmer verließ. Er konnte den Anblick des der Lüge überführten Geschöpfs nicht länger ertragen. Es riss schmerzhaft an seinem Herzen, und die Bitterkeit drohte ihn zu ersticken.

Käte saß noch eine ganze Weile wie gelähmt und starrte ins Leere.

Endlich erhob sie sich mit schweren, müden Gliedern und wankte hinauf in ihr Zimmer.

Mit leeren Augen sah sie um sich, während sie in einen Sessel sank. Was sollte sie tun? Günter noch einmal vor die Augen treten, sich noch einmal seinem verächtlichen Blick aussetzen? Nein, nein, das konnte sie nicht – lieber sterben! Es half ihr nichts als eine schnelle Flucht. Wohin sie gehen, was aus ihr werden sollte, war ihr gleichgültig. Nur ihm nicht noch einmal in die Augen sehen müssen – in diese Augen, die sie so sehr liebte. Er verachtete sie, musste sie verachten, musste sie für eine Lügnerin oder Betrügerin, vielleicht gar für eine Diebin halten. War das zu ertragen? Musste sie auch das auf sich nehmen?

Es würde sie doch nur ein Wort kosten, sich in seinen Augen zu rehabilitieren. Sie brauchte nur zu ihm zu gehen, ihm das Testament zu zeigen und zu sagen: Das habe ich aus dem Safe geholt, um dir dein Erbe zu retten.

Einen Augenblick lang stieg dieser Gedanke lockend in ihr auf; aber dann schob sie ihn von sich. Nein, um diesen Preis rettete sie sich nicht vor seiner Verachtung.

Aber ertragen konnte sie sie auch nicht. Sie musste fort – noch heute Nacht.

In fieberhafter Erregung packte sie einige notwendige Dinge in einen kleinen Handkoffer. Auch ihr Geld und ihre Schmuckkassette nahm sie mit. Obendrauf legte sie das Testament. Dann drückte sie das Schloss des Handkoffers zu.

Nun war sie fertig. Aber einige Zeilen wollte sie an Günter schreiben, damit er sich nicht über ihr Verbleiben beunruhigte. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und schrieb:

„Lieber Günter, ja, ich habe Sie belogen, aber bei Gott, ich konnte nicht anders. Die Scham treibt mich noch heute aus Ihrem Haus, ich kann es nicht ertragen, noch einmal in Ihr Antlitz zu sehen, in dem ich die Verachtung las. Aber es gibt Dinge, die uns schuldig erscheinen lassen, ohne dass wir es sind. Bitte, glauben Sie mir wenigstens, dass ich nicht zur Diebin geworden bin – ich las diesen Verdacht in Ihren Augen. So wahr mir Gott helfen möge – ich nehme nichts mit aus Ihrem Haus, das ich nicht als mir zu Recht gehörig betrachten kann. Leben Sie wohl, Günter – und Gott mit Ihnen.

Käte Harland“

Sie steckte diesen Brief in ein Kuvert und schrieb Günters Namen darauf. Dann ergriff sie den Handkoffer. Auch den Brief an Günter nahm sie an sich, sie wollte ihn unten im Vestibül auf den Tisch legen.

Leise öffnete sie die Tür und ging hinaus.

Atemlos lauschte sie. Es war alles still im Haus. Nichts regte sich.

Vorsichtig, jedes Geräusch vermeidend, schritt sie die Treppe hinab.

Am Fuß der Treppe zögerte sie und sah sehnsüchtig nach dem Zimmer hinüber, in dem Onkel Heinrich aufgebahrt lag. Wie gern wäre sie noch einmal an das Totenlager ihres Wohltäters getreten, aber sie wagte es nicht, weil sie jedes Geräusch vermeiden musste.

Leise ging sie nun an das Schlüsselbrett heran, wo stets der Schlüssel zum Portal hing. In dem Augenblick, als sie danach fassen wollte, öffnete sich plötzlich die Tür zu dem Zimmer, in dem der Verstorbene aufgebahrt lag, und – auf der Schwelle erschien Günter.

Betroffen sah er, dass Käte zum Ausgehen fertig war und einen Reisekoffer in der Hand hielt.

Ihre Zähne schlugen wie im Frost aufeinander. Sie konnte kein Wort reden, deutete nur hilflos auf die Tür.

„Sie wollen fort? Jetzt in der Nacht?“, fragte er.

Sie nickte nur.

Eine Weile blickte er sie schweigend an. Etwas in ihrer Haltung, in dem qualvollen Ausdruck ihres Gesichts griff ihm ans Herz.

„Was haben Sie vor? Weshalb wollen Sie fort?“

„Ich muss“, stieß sie heiser hervor. „Bitte lassen Sie mich gehen!“

Und sie wollte zur Tür. Aber ihr Schritt war wankend und kraftlos. Er sah sie taumeln und fing sie gerade noch in seinen Armen auf, ehe sie stürzen konnte.

Ohne Umstände hob er sie empor, trug sie ins Wohnzimmer und ließ sie in einen Sessel gleiten.

„Mir scheint, Käte, dass Sie eine Dummheit vorhaben. Ich muss und will Sie daran hindern, wie mein Vater Sie daran gehindert haben würde. An seiner Statt stehe ich jetzt vor Ihnen. Weshalb wollen Sie fort, jetzt, mitten in der Nacht?“

Sie lehnte müde das Haupt zurück und biss die Zähne fest aufeinander.

Er atmete tief auf.

„Sie wollen nicht sprechen? Nun wohl, dieser Brief trägt, wie ich sehe, meinen Namen, vielleicht gibt er mir Aufschluss über Ihr rätselhaftes Benehmen. Ich bin so frei, ihn zu lesen.“

Bei diesen Worten hatte er ihr den Brief schnell aus der Hand gerissen.

Dicht vor ihr stehen bleibend las er, was sie an ihn geschrieben hatte. Und diese von der tiefsten Herzensnot erpressten Worte blieben nicht ohne Wirkung auf ihn.

Wieder sah er sie forschend an.

„Das alles ist mir ein Rätsel, Käte. Wollen Sie nicht Vertrauen zu mir haben und mir alles sagen? Warum haben Sie mich belogen? Warum leugneten Sie, den Safe geöffnet zu haben? Mir scheint jetzt, Sie hatten einen geheimen Grund dazu.“

Sie schauerte zusammen. „Fragen Sie mich nicht – lassen Sie mich gehen!“, stieß sie heiser hervor.

Heftig schüttelte er den Kopf.

„Sie bleiben hier, Käte. Glauben Sie, ich lasse Sie allein in der Nacht aus dem Haus gehen?“

Und mit einem fast rauen Griff riss er ihr den Handkoffer aus der Hand, den sie noch immer krampfhaft festhielt.

Auch jetzt wollte sie ihn nicht loslassen und hielt ihn angstvoll fest. Dabei öffnete sich das Schloss, und der Koffer sprang auf. Günter wollte ihn wieder schließen und sagte:

„Seien Sie doch nicht kindisch, Käte, lassen Sie den Koffer los!“

„Lassen Sie mich – gehen Sie – ich will nicht – ich …“

Sie konnte vor Entsetzen nicht weiterreden. Er hatte mit einem raschen Griff ihre Hand beiseitegeschoben und sah in den Koffer hinein, weil er hoffte, hier des Rätsels Lösung zu finden. Und da sah er obenauf das lange, schmale Kuvert liegen, auf dem in seines Vaters steiler, charakteristischer Handschrift zu lesen war:

Mein letzter Wille!

Ohne auf ihre entsetzte Abwehr zu achten, nahm er das Kuvert heraus. Sie sprang auf und wollte es ihm entreißen. Mit einer ruhigen Bewegung schob er sie zurück.

„Das ist doch seltsam, Käte! Ein Testament meines Vaters in Ihrem Besitz?“

Sie versuchte nochmals, es ihm zu entreißen, ohne dass es ihr gelang.

„Nicht lesen – nicht lesen!“, stieß sie angstvoll hervor und brach dann plötzlich ohnmächtig neben ihm zusammen. Die furchtbare Erregung der letzten Stunden und die körperliche Ermattung hatten sie der letzten Kraft beraubt.

Er hob sie erschrocken empor und legte sie auf den Diwan. Mit einer zarten Bewegung nahm er den Hut von ihrem Haar, öffnete ihren Mantel und legte ihr ein Kissen unter den Kopf.

Das Testament seines Vaters hatte er vorläufig auf den Tisch gelegt. Er bemühte sich jetzt erst, Käte zum Bewusstsein zu bringen. Ganz seltsam berührte es ihn, dass sie so blass und hilflos vor ihm lag, sie, die sonst immer so tatkräftig auf ihrem Posten war.

Was war es nur, das sie in die Flucht getrieben hatte? Er glaubte jetzt zu wissen, dass es mit dem Testament seines Vaters zusammenhing. Sicherlich kannte sie den Inhalt, und es war zweifellos, dass sie es aus dem Safe entwendet hatte. Warum?

Endlich schlug Käte die Augen wieder auf und sah mit umflorten Augen um sich. Günter beugte sich über sie.

„Was machen Sie für Torheiten, Käte?“

Sie barg das Gesicht in beiden Händen.

Er strich sanft über ihr Haar. „Ruhen Sie jetzt erst eine Weile, Sie sind ja vollkommen erschöpft! Ich werde inzwischen das Testament meines Vaters lesen.“

Da richtete sie sich mit einem wilden Ruck empor und sah ihn flehend an.

„Tun Sie es nicht, bitte, tun Sie es nicht! Es ist nicht der letzte Wille Ihres Vaters, das schwöre ich Ihnen! Er hatte es nur im ersten Zorn verfasst, aber er hätte es selbst vernichtet, wenn er nicht so plötzlich aus dem Leben geschieden wäre. Glauben Sie mir! Ach, glauben Sie mir doch!“

Er sah sie gespannt an.

„Sie kennen den Inhalt des Testaments, Käte?“

„Ja, ja – Ihr Vater legte es mir vor. Ich bat ihn gleich, es zu vernichten, aber er wollte es damals nicht, weil er einen Schwur getan hatte und weil er – ach, mein Gott!“

Seine Augen leuchteten seltsam auf.

„So glauben Sie, Käte, dass mir das Testament Schaden bringen könnte?“

Sie nickte und hob flehend die Hände.

„Ja, ja, bitte – vernichten Sie es, es ist ungültig, ganz bestimmt ungültig, ich beschwöre es beim Andenken Ihres Vaters. Bitte, vernichten Sie es doch!“

Und sie sprang auf, um ihm das Testament aus den Händen zu reißen.

Er drängte sie sanft in einen Sessel.

„Jetzt verhalten Sie sich ganz ruhig, kleine Käte. Und dann sagen Sie mir noch eines: Enthält das Testament auch etwas, das Sie betrifft, Käte?“

„Ja, es enthält eine namenlose Demütigung für mich, von der ich Onkel Heinrich nicht zurückhalten konnte. Er meinte es gut, aber es erniedrigt mich“, stammelte sie außer sich.

Leise strich er über ihr Haar.

„Ich muss es trotzdem lesen, Käte, ich kann keine Unklarheit ertragen.“

Und schnell öffnete Günter das Kuvert und las das Testament durch. Seine Augen weiteten sich, und in seinem Gesicht zuckte eine starke Erregung. Nun war ihm alles klar! Nun wusste er, dass Käte das Testament nur entwendet hatte, um ihm sein Erbe zu erhalten. Wie ein helles, blendendes Licht fiel es in seine Seele.

Aufatmend legte er das Testament beiseite und fasste mit beiden Händen Kätes Kopf. Sanft hob er ihr Gesicht zu sich empor. Sie hielt die Augen geschlossen, und ihr glühendes Gesicht zuckte in tiefster Erregung.

„Käte!“ Es klang unbeschreiblich weich und zärtlich, wie er diesen Namen jetzt aussprach.

Sie erzitterte unter diesem Klang.

„Käte, sehen Sie mich doch an!“, bat er leise. „Sie haben wahrlich keine Veranlassung, die Augen niederzuschlagen. Kleine, tapfere Käte – kleines Veilchen, das sich achtlos zertreten lassen wollte von meinem blinden Unverstand. So viel Heldenmut lebt in einem so schwachen Geschöpf, dass es den stärksten Mann beschämt. Und ich wollte alle Frauen verächtlich abtun, weil eine mich betrogen hatte, wollte an der ganzen Welt irre werden, weil ich einen wertlosen Glasscherben für einen Diamanten gehalten hatte. Und der richtige Diamant leuchtete neben mir so hell und klar, so rein und schön – aber ich merkte es nicht. Käte, werden Sie nach allem, was geschehen ist, noch willens sein, meines Vaters Wunsch zu erfüllen?“

Errötend und erzitternd hatte sie ihm zugehört. Nun schlug sie die Augen zu ihm auf und sah ihn mit einem Blick an, der ihn bis ins Innerste ergriff.

„Ich will alles tun, was zu Ihrem Glück nötig ist, Günter“, sagte sie leise.

Er bedeckte ihre Hände mit Küssen. „Käte, kleine Käte, tapfere kleine Käte – so viel Kraft ist in Ihrer Seele. Ich bin es gar nicht wert, dass Sie ein so großes Opfer für mich bringen wollten.“

Und er sank neben ihr nieder, von seinem Gefühl überwältigt, und barg sein Gesicht in ihrem Schoß.

Sie streichelte mit einem süßen Lächeln sein Haupt.

So verharrten sie beide lange in einem Schweigen, das von tausend heiligen Beteuerungen erfüllt war. Sie verstanden einander ohne Worte.

Endlich erhob sich Günter und sah Käte mit leuchtenden Augen an. In seinem Gesicht zuckte es vor tiefer Erregung.

Er zog sie an den Händen zu sich empor.

„Komm mit hinüber zu unserem Vater, Käte, er soll uns segnen, ehe er uns ganz genommen wird!“ Und sie schritten Hand in Hand hinüber an das Totenlager Heinrich Warnecks.

Günter legte Kätes und seine Hand auf die gefalteten Hände des Toten und sagte bewegt:

„Mir ist, Käte, als habe meines Vaters kraftvolle Persönlichkeit noch den Tod besiegt. Als ich, tief bedrückt, weil ich dich für unwert halten musste, in meinem Zimmer saß, war es mir, als rufe mich mein Vater an sein Totenlager. Ich musste zu ihm gehen. Gottlob, dass ich es tat! Sonst wäre mir meine törichte kleine Heldin mit ihrem Raub entflohen. Gott sei Dank, dass ich es verhindern konnte! Ich weiß es jetzt – ich hätte es nie verwunden, dass du mir verloren gegangen wärst.“

Sie seufzte tief auf.

„Und ich – ich hätte sterben müssen draußen in der Welt, mit deiner Verachtung beladen“, sagte sie erzitternd.

Er schlang den Arm um sie und hielt sie fest. Ihre Lippen wagte er jetzt nicht zu berühren – noch war er nicht frei. Aber seine Augen senkten sich tief in die ihren.

„Eine Frau hat mir den Glauben an die Frau zerstört; du hast ihn mir wiedergegeben. Ich danke dir, Käte!“

Leise traten sie wieder aus dem Totenzimmer hinaus. Günter entfernte alle Spuren von Kätes beabsichtigter Flucht. Ihren Brief und das Testament seines Vaters nahm er an sich.

Und zärtlich über Kätes Haar streichelnd, sagte er weich:

„Jetzt gehst du zur Ruhe und schläfst noch einige Stunden. Du darfst mir nicht krank werden. Wir haben noch einen schweren Tag vor uns. Aber wenn Vater zur letzten Ruhe bestattet ist, wollen wir gemeinsam überlegen, was geschehen soll. Schlafe gut, Käte!“

Sie sahen sich noch einmal tief in die Augen, und dann stieg Käte langsam die Treppe empor. Sie trug auch jetzt den kleinen Handkoffer – aber mit veränderten Gefühlen!

***

Monate waren vergangen, seit Heinrich Warneck zur letzten Ruhe bestattet war. Käte Harland hatte gleich danach im Haus des Prokuristen Durlach Aufnahme gefunden, der mit seiner Frau in kinderloser Ehe lebte.

So war es Käte möglich, so oft es nötig war, im Haus Warneck nach dem Rechten zu sehen, damit alles dort seinen ruhigen Gang ginge.

Herr und Frau Durlach waren die einzigen Personen, die Günter und Käte ins Vertrauen gezogen hatten. Sie wussten, dass Käte Frau Warneck werde würde, sobald Günters erste Ehe geschieden war.

Käte und Günter sahen sich täglich. Zumeist kam Günter abends nach Fabrikschluss in die nahe gelegene Wohnung seines Prokuristen.

Sie hielten sich beide zurück, solange Günter noch nicht frei war, und vermieden es, über eine gemeinsame Zukunft zu sprechen. Aber sie hatten beide im tiefsten Herzen das köstliche Gefühl der Zusammengehörigkeit und des unbedingten Vertrauens.

Eines Tages erhielt Günter die Nachricht, dass seine Ehe mit Lori geschieden sei. Zugleich teilte ihm sein Rechtsanwalt mit, dass Lori ihren Mädchennamen wieder angenommen und ein Engagement für New York abgeschlossen habe. Sie sei in Begleitung Mister Hamtons bereits abgereist und verzichte auf jede materielle Beihilfe Günters, da sie demnächst die Gattin Mister Hamtons werde.

Lori hatte also ein neues Opfer gefunden!

Günters Brust hob sich mit einem tiefen Atemzug. Er war frei!

Und es trieb ihn sehnsuchtsvoll zu Käte. Heute vermochte er nicht bis zum Abend zu warten, sondern fuhr sofort zur Durlachschen Wohnung.

Die alte Dienerin des Durlachschen Ehepaares öffnete ihm die Tür und sagte ihm, Frau Durlach sei nach der Stadt gefahren, um Besorgungen zu machen. Dass Käte daheim sei, hörte Günter, denn sie musizierte. Lächelnd bedeutete er der alten Dienerin, sie möge das gnädige Fräulein nicht stören, er werde warten, bis sie mit ihrem Musikstück zu Ende sei.

Die Alte nickte lächelnd und verschwand. Günter trat leise in das Zimmer, das neben dem lag, in dem Käte am Flügel saß.

Sie spielte, wie in Träumerei versunken, einige Passagen und dann das Vorspiel von Mozarts „Veilchen“. Leise und verträumt setzte ihr süße klare Stimme ein:

„Ein Veilchen auf der Wiese stand,

Gebückt in sich, und unbekannt,

Es war ein herzig’s Veilchen.“

Günter hielt es nicht länger. Schnell trat er ein.

„Käte!“

Sie schrak empor und ließ die Hände von den Tasten gleiten. Ein tiefes Rot trat in ihr Gesicht, und sie sah ihn mit ihren lieben Augen an, dass ihm das Herz warm wurde.

„Du, Günter? Zu so ungewohnter Zeit?“

Da zog er sie ohne ein Wort zu sich empor und umfasste sie mit beiden Armen. Sie sah unruhig fragend in seine leuchtenden Augen hinein. Und da presste er seine Lippen auf die ihren im ersten heißen Kuss der Liebe.

„Du bist frei, Günter?“, fragte sie leise, als er endlich ihre Lippen frei gab.

Er sah ihr zärtlich in die Augen. „Ja, meine Käte, endlich bin ich frei und darf dir sagen, dass ich dich liebe mit aller Inbrunst meines Herzens. Willst du mein eigen sein, für alle Ewigkeit?“

Sie atmete zitternd auf. „Du weißt, dass dir mein Herz gehört – es war dein vom ersten Augenblick an, da ich dich sah. Unter tausend Schmerzen gehörte es dir, als du mit jener anderen davonzogst, und in jauchzender Glückseligkeit gehört es dir, nun, da du im Herzen zu mir gefunden hast.“

Er presste ihre beiden Handflächen an sein Gesicht.

„Liebste, ich habe mein eigenes Herz nicht verstanden. Als ich dich damals das erste Mal singen hörte – du weißt, ich belauschte dich eines Abends, als du dasselbe Lied sangst, da hat mich etwas Unerklärliches zu dir hingezogen. Es drang mir bis ins tiefste Herz, dieses süße Lied von dem armen Veilchen, das an seiner Liebe stirbt. Ich ging an jenem Abend mit seltsam schwerem Herzen zur Ruhe – jetzt weiß ich, schon damals begann ich dich zu lieben. Und an der Seite jener anderen Frau, zu der sich meine Sinne verirrten, hatte ich eine heimliche, uneingestandene Sehnsucht nach dir. Du warst bei mir, wenn ich in der gigantischen Bergwelt allein war, und ich sah dich im Geist im Wohnzimmer bei der Lampe sitzen. Ach, Käte, das Menschenherz ist doch ein seltsames Ding! Oft läuft der Mensch lange in der Irre, bis er die rechte Heimat findet. Aber nun bin ich daheim. Und mein Herz ist voll Glück und Dankbarkeit.“

Und wieder küsste er ihre Lippen mit inbrünstiger Andacht.

Sie hatten einander noch viel zu sagen, nun, da sie endlich sprechen konnten von allem, was ihnen das Herz bewegte.

Als Frau Durlach heimkam, stellte Günter ihr Käte als seine Braut vor.

Aus dem Durlachschen Hause holte sich Günter einige Monate später seine junge Frau und führte sie in sein Vaterhaus zurück.

Und diese zweite Ehe Günter Warnecks wurde eine wahrhaft glückliche, so, wie er sich einst eine Ehe erträumt hatte.

Oft sang Käte Warneck ihrem Gatten ihre süßen Lieder, und auch „Das Veilchen“ von Mozart verlangte er immer wieder zu hören.

„Es war ein herzig’s Veilchen.“

Wenn mit diesen Worten das Lied verklang, nahm Günter Warneck sein junges Weib in seine Arme und küsste es in inniger Liebe.

200 Liebesromane von Hedwig Courths-Mahler:  Band 1

Подняться наверх