Читать книгу Der Kriegsfreiwillige - Hedwig von Mühlenfels - Страница 4

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Leise und zögernd zog der Abend nach dem langen, heißen Sommertag ins Zimmer. Die Umrisse der Möbel wurden unbestimmt, die Bilder an den Wänden zerflossen in Schatten, auf dem Teppich schlich noch ein Stückchen Tageslicht hin wie eine wellig gekrümmte, fast farblose Schlange. Alles war weich und mild und lind geworden, und die Großmutter sagte mit ungewohnt sanftem Ton: „Komm einmal her zu mir, Maria.“ Und Maria, die, ganz in sich zusammengesunken, in einem riesengroßen, altväterischen Sessel gesessen hatte, erhob sich leise und ging zur Großmutter hin.

Sie sagte ‚Großmutter‘ zu der alten Frau, obwohl sie ihre Schwiegermutter war. Maria war am frühen Morgen von Berlin abgefahren; erst sechs Stunden mit der Bahn, dann, vom Großvater abgeholt, noch zwei Stunden Wagenfahrt. Sie war müde angekommen, und die Großmutter hatte ihr ein paar Stunden Ruhe gegönnt und sie erst gegen fünf Uhr zum Tee rufen lassen.

Die Großmutter wohnte in einem kleinen, hübschen Villenort; sie hatte mit Großvater den unteren Stock eines netten Landhauses inne und sah gesund und zufrieden aus. Großvater war nicht zu Hause; er stand freiwillig auf Brunnenwache, denn irgend jemand im Orte hatte erzählt, daß die Russen durchziehen und die Brunnen vergiften würden. Da hatte Großmutter zu ihrem Manne gesagt: „Selbstverständlich wachst du mit“, und Großvater hatte sich auch freiwillig zur Verfügung gestellt und erfüllte trotz seiner zweiundsiebzig Jahre aufs gewissenhafteste die übernommene Pflicht.

Die Großmutter zog Maria zu sich aufs Sofa nieder und legte den Arm um ihre Schultern. „So, nun erzähl’ vom Jungen!“

Auf dem runden Tisch vor ihnen lag ein Stoß Zeitungen, und die Großmutter war damit beschäftigt gewesen, einige Artikel auszuschneiden.

„Für den Jungen!“ sagte sie. „Der wird jetzt keine Zeit zum Zeitunglesen haben; aber später wird er froh sein, daß Großmutter an ihn gedacht hat.“

„Ich habe auch schon für ihn gesammelt!“ sagte Maria, nicht ohne leisen Trotz in der Stimme.

Die Großmutter faltete plötzlich ihre Hände und rief laut: „Lieber, lieber Gott, warum hast du dieses namenlose Leid über uns gesandt? Siehst du, Maria, du weißt, daß ich fromm bin und ohne meinen Gott nicht leben konnte! Aber seit er all dies Furchtbare geschehen läßt, ist es mir jeden Morgen von neuem, als ob ich mit ihm hadern müßte. Ich kann nicht ruhig mehr sagen: Vater unser, der du bist im Himmel. Geheiligt werde dein Name! Nein, das kommt mir nicht mehr glatt von den Lippen, und das ist für eine alte Frau, die eigentlich keinen andern Halt mehr hat, sehr hart, wenn sie an ihrem Lebensende mit ihrem Gott in Zwietracht geraten muß!“

„Du hast doch Großvater,“ antwortete Maria, und die alte Frau nickte.

„Ja, und er ist ein guter Mann und hat mich nicht enttäuscht.“ Das bestätigte die Großmutter sehr kräftig, fast herausfordernd; denn es war ihr im Laufe der Zeit allerlei zu Ohren gekommen, was man über ihre späte Heirat gesagt hatte. „Ich halte es mit dem alten Fritz: Jeder nach seiner Fasson! Es mag alte Frauen in Fülle geben, die das Alleinsein nicht empfinden, oder die in Kaffeeklatschen Befriedigung suchen oder irgendwo bei Verwandten unterkriechen. Das genügte mir nicht. Ich muß jemanden haben, für den ich sorgen kann. Wärest du nach Alfreds Tod mit dem Jungen zu mir gekommen, oder hättest du wieder geheiratet und mir den Jungen überlassen, dann hätte ich eben Großvater nicht genommen. Da dir aber nicht beizukommen war, handelte ich, wie ich es für gut hielt.“

„Du sagst das immer so, als ob ich etwas gegen deine Heirat gehabt hätte, Großmutter,“ meinte Maria.

„Das würde dir auch wenig genutzt haben,“ rief die Großmutter und sah einen Augenblick triumphierend aus, aber dann wurde ihr Gesicht wieder weich.

„Ich hatte einmal in einem Buch gelesen, Maria, daß eine Ehe zwischen alten Leuten, die des Lebens Stürme hinter sich haben, unendlich gut und schön sein müßte. Das ist mir nicht aus dem Sinn gegangen, und als ob es so hätte sein sollen, mußte der Großvater, der sich ebensosehr vor der Einsamkeit wie ich fürchtete, mir in den Weg laufen. Schickung! Und ich muß gestehen, nachdem er seine großen Eigenheiten, die er anfänglich durchsetzen wollte, abgelegt hat, sind wir recht glücklich zusammen. Er tut, was ich will, und hat keinerlei Launen mehr. Das ist eine große Kunst für eine Frau, sich den Mann so zu ziehen, wie sie ihn haben will, eine Kunst, von der du nicht viel verstehst, Maria. Du würdest dich in den ersten zwei Wochen unterkriegen lassen.“

„Darum habe ich ja auch nicht wieder geheiratet, Großmutter.“

„Schlimm genug für dich und den Jungen, der ohne Vater aufwachsen mußte.“

„Ist denn der Junge nicht sehr gut groß geworden? Du tust mir wirklich oft Unrecht, Großmutter.“ Aber dann kam der wilde Schmerz all dieser Tage wieder in ihr auf; sie warf den Kopf in die Arme und weinte.

„Vielleicht ist alles zwecklos gewesen, alles umsonst!“ Großmutter ließ sie eine Weile so liegen, dann hob sie ihr den Kopf in die Höhe.

„Das Weinen hat gar keinen Zweck, Maria. Damit änderst du absolut nichts und machst nur dich selbst elend.“

Sie war sehr gut und weich in diesen Augenblicken und zog den Kopf der Schwiegertochter an ihre Brust.

„Wir sind sehr verschieden, Maria,“ sagte sie, „und werden wohl nie ganz zueinander hinkönnen; aber wenn du um das Jungchen weinst, habe ich dich lieb, denn dann fühle ich, daß du doch zu uns gehörst.“

Es war nun ganz dunkel im Zimmer geworden, und die Großmutter sprach leise, aber nicht ohne Heftigkeit:

„Siehst du nun ein, daß es eine Dummheit ist, wenn eine Frau, die noch jung ist, den Wahn hat, allein bleiben zu müssen. Man kann sich den Mann nicht malen, ganz besonders nicht, wenn man so wenig Mittel hat wie du. Aber, da hat man, wenn ein braver, solider Mann mit reellen Absichten kommt, gleich große Schlagreden bei der Hand: ‚Ich muß verstanden sein, muß seelische Gemeinschaft, gleiche Interessen haben!‘ Der lautere Blödsinn, Maria, den sich meinethalben eine Millionärin erlauben kann. Aber für dich paßte sich das absolut nicht! Nun, wo Gott dies furchtbare Strafgericht in die Welt geschickt hat, stehst du gottverlassen da und wärest vielleicht froh, wenn einer käme und dir Sicherheit böte.“

„Nein, das wäre ich auch heute noch nicht, wenn ich ihn nicht lieben könnte!“ Der Kopf hob sich von der Brust der Großmutter, und die alte Kluft war wieder da.

„Dann weine auch nicht! Der Hochmütige darf nicht weich werden.“

Der Großvater trat ins Zimmer. „Warum denn so im Dunkeln?“ fragte er und ließ den Kronleuchter aufblitzen.

Die Großmutter ward ärgerlich. „Du weißt, daß ich diese plötzliche Beleuchtung nicht vertrage!“ Und der alte Herr schaltete, mit einem feinen Lächeln um den Mund, die Krone aus und drehte eine kleine, gelbverschleierte Lampe an. Er hielt Zeitungen in der Hand und machte ein bedeutendes Gesicht. „Kann ich noch eine Tasse Tee haben?“ fragte er; aber als Maria aufspringen wollte, hielt Großmutter sie fest.

„Geh, Alterchen, und klingle der Müller! Sie wird dir schon irgendwas Trinkbares bringen.“

Die Müller, eine ältliche Frau, die bei den zwei alten Leuten wohnte und sie bediente, kam schon von selbst mit einer Tasse Tee, und der Großvater richtete ein paar freundlich scherzende Worte an sie.

„Was Neues?“ fragte die Großmutter; und er las den Hauptartikel aus der Zeitung vor.

„Also mit Belgien werden sie bald durch sein. Rat Mertens behauptet, in drei Wochen wären sie in Paris.“

„Rat Mertens soll besser seinen Mund halten,“ schalt die Großmutter. „In drei Wochen sind wir nicht in Paris, das sagt mir mein klarer Verstand. Die Franzosen, wenn sie nur einigermaßen ihre fünf Sinne beisammen haben, werden ihr Paris diesmal zu verschanzen wissen!“

Großvater lenkte ab und wandte sich an die Schwiegertochter: „Nun, hast du den ersehnten Brief vom Jungen vorgefunden?“

Und Großmutter bat: „Nun erzähl’ endlich, Maria! Aber ein bißchen folgerichtig, nicht so sprunghaft, Maria. Aus euren paar Briefen und Karten konnte man so gut wie nichts entnehmen. Also fang’ nur gleich mit eurer Abreise von Norderney an! Nein, wie ich Gott gedankt habe, daß ihr die verrückte Idee, in ein belgisches Seebad zu fahren, nicht ausgeführt habt. Wenn schon einer so viel übrig hat, daß er in ein Bad fahren kann, dann soll er sein Geld doch lieber im Lande lassen, statt es den Ausländern in den Rachen zu werfen. Man sieht ja nun, wie sie es mit uns meinen. ‚Bleib’ im Lande und nähre dich redlich.‘ Dieser Spruch wird von jetzt an mit Gottes Hilfe wieder zur Geltung kommen.“

Großvater sagte: „Ich meine, Maria sollte erzählen.“ Großmutter ließ sich nicht gern maßregeln und blickte ärgerlich auf.

„Notabene,“ nahm Großvater wieder das Wort, „Mertens und Hieronymus wollen heute abend wieder kommen, und vielleicht spricht auch Hauptmann Prell vor.“

„Aber hoffentlich nicht zum Essen,“ rief Großmutter auffahrend.

„Nein, ganz solide zum Glas Wein nach Tisch.“

Großmutter sagte zu Maria: „Wenn du doch noch je einmal heiraten solltest, Kind, so mache es deinem Manne gleich zu Anfang klar, daß er dir nicht ungefragt Leute ins Haus bringt, die auf ein warmes Abendbrot warten. Du weißt nicht, in welch eine Verlegenheit eine Hausfrau bei solchen Veranlassungen kommen kann.“

„Ich würde Maria gleich ein ganzes Erziehungssystem für den Fall ihrer Wiederverheiratung aufschreiben,“ schmunzelte der alte Herr. Und Großmutter fuhr ärgerlich dazwischen: „Du und Maria, ihr seid immer eins. Aber nun erzähl’, Kind! Wenn die Herren nach Tisch kommen, müssen wir zeitig essen. Also in Norderney erfuhret ihr das erste vom Krieg und packtet eure Koffer. Die Reise dauerte eine Ewigkeit, das weiß ich aus euren Karten, und dann fuhret ihr nach Berlin. Aber was kam dann? Vor allem interessiert mich’s, zu wissen, wie der Junge die ganze Sache aufnahm. Hat er gleich von Anfang an mitgewollt?“

„Erst freute er sich mal, daß es ein Notabitur gab,“ begann Maria.

„Ja ja, das Notabitur. Das kann ich mir denken. Da hat er uns gleich am nächsten Morgen telegraphiert: ‚Glänzend bestanden‘, weil ich ihm fünfhundert Mark für den Fall des Bestehens ausgesetzt hatte.“

„Die du dem armen Kerl aber nicht in bar, sondern in einem jetzt unverkäuflichen Papier ausgezahlt hast,“ fügte Großvater ein.

„Was soll der Junge jetzt mit so viel barem Geld?“ erwiderte die alte Frau gereizt. „Übrigens laß Maria endlich zu Worte kommen!“ Draußen klingelte es, und irgendjemand begehrte mit Großvater zu sprechen.

„Wenn er denn gar keine Ruhe hat, dann erzähl’ mir nur allein, Maria! Also Montags früh bekam er die Nachricht aus der Schule, daß er sich am Abend einzufinden habe! Was hat er da wohl für ein Gesicht gemacht? Das hätte ich sehen mögen.“

„Erstmal traf er sich mit drei Freunden, und da erzählte er mir, daß sie vor allem die Kleiderfrage erörtert hätten. Sie hatten sich doch einen Gesellschaftsrock zum Abitur bauen lassen wollen. Nun waren bei uns nicht mal die Koffer zur Stelle, und er mußte im grauen Sommeranzug gehen.“

„Glaubst du, daß ihm das hart war?“

„Vielleicht für einen Augenblick, aber das verflog doch schnell neben allem andern. Den ganzen Tag gab es Extrablätter; um Mittag waren wir Unter den Linden, da hatten sie gerade zwei Spione aufgefangen. Er wäre gern mit mir in ein Café gegangen, aber natürlich war nirgendwo ein Platz. So stand man denn und wartete und sah und hörte. Du machst dir keinen Begriff, wie das in diesen Tagen in Berlin zuging.“

„Das kann ich mir denken und, Maria, so sehr ich mich gräme, daß in unseren vorgeschrittenen Zeiten solche Barbarei noch gut möglich ist, ich mußte mir doch immer sagen, daß es für einen jungen Menschen mit gesunden Gliedern und hellem Verstand gar nichts Wundervolleres geben kann, als in solch einer Zeit miteingreifen zu dürfen. War er denn sehr begeistert?“

„Du weißt, daß er sich wenig über alles, was in ihm vorgeht, äußert, Großmutter.“

„Leider Gottes, und sein Lehrer, der ihn schon jetzt ‚Professor‘ nannte, hat eigentlich recht. Da hatte sein Vater einen ganz anderen Schneid.“ In Marias Gesicht kam ein ablehnender Zug.

„Also weiter, dann ging’s zur Schule?“

„Ja, und da soll es dann sehr feierlich gewesen sein, der Direktor begeistert und bis zu Tränen gerührt, und die Lehrer hätten sich wie die Kameraden gegeben.“

„Das kann man sich denken.“

„Erst bekamen sie ein Sextanerthema zu ihrem Aufsatz: ‚Begeisterung ist die Quelle zu großen Taten‘, und da hätten sie dann einen heillosen Blödsinn zusammengeschrieben.“

„Du hast doch hoffentlich seinen Aufsatz aufgehoben? Ich würde jetzt alles von ihm aufheben, Maria. Du kannst nicht wissen, wie es kommt, und nachher hast du dann doch wenigstens ein paar Andenken an seine letzte Zeit.“

„So sollst du nicht sprechen, Großmutter. Ich will nicht denken, daß ihm etwas passiert.“

„Besser, man macht sich mit so etwas vertraut, Maria, als wenn es einen ganz unerwartet trifft. Das war ja das Entsetzliche für mich bei Alfreds Tod, daß die Nachricht wie der Blitz aus heiterem Himmel kam.“

„Du wußtest aber doch, daß er herzleidend war, Großmutter.“

„Aber ich wußte auch, daß die Ärzte zu mir gesagt hatten, er könne sechzig Jahre alt werden trotz seines Leidens. Laß gut sein, Kind, wir wollen nicht die alten Geschichten aufrühren! Nur das eine kann ich dir sagen, Maria: Über den Tod eines Mannes kommt man hinweg, denn selbst wenn man einem Manne sehr gut ist, so kann man ihn doch nie mit solcher Liebe lieben wie das Kind, das man unter dem Herzen getragen hat.“

Maria war bleich geworden.

„Aber nun erzähle weiter! Also der Aufsatz war Blödsinn und wurde doch für gut befunden. Gott, und gerade vor dem Aufsatz hatte er die größte Angst gehabt, weil sie da oft so verrückte Themata geben. Da sieht man mal wieder, daß der Mensch sich keine Sorge um das, was die Zukunft bringt, machen soll. Es kommt immer alles anders als man denkt, im Großen wie im Kleinen. Wurden sie denn in den andern Fächern überhaupt geprüft?“

„Ja, er sagte mir, in allem seien sie geprüft worden, aber, weißt du, so, daß die Lehrer selbst die Antwort gaben oder sie ihnen doch in den Mund legten. In der Geschichte fragte man ihn: ‚Wann starb die Königin Luise?‘ und gleich danach: ‚Sie wissen doch, vor zwei Jahren feierte man ihren hundertsten Todestag?‘“

„Großvater, das mußt du hören!“ rief Großmutter zum wiedereintretenden alten Herrn, „wie sie den Jungen in Geschichte geprüft haben!“

Großvater hörte liebenswürdig zu, entschuldigte sich aber gleich wieder. Er hatte von einem Extrablatt, das ausgegeben sein sollte, gehört und wollte es sich verschaffen, damit die Herren am Abend nicht den Triumph haben sollten, ihm mit Neuigkeiten zuvorzukommen. Großmutter war ärgerlich.

„Du kannst mir glauben, Maria, seit diesem unseligen Krieg ist unser ganzes Zusammenleben zerstört. Großvater ist rein aus dem Häuschen und schert sich um keine Zeiteinteilung mehr. Es ist zum Verzweifeln.“

Großvater sagte ernst: „Wie kannst du klagen, da wir hier in unserer behaglichen Sicherheit leben!“ Und die alte Frau nickte: „Ist schon gut, Alterchen. Jetzt kommt er mit seinen Ostpreußen. Geh’ nur, aber sieh’, daß du zum Essen zeitig da bist!“ und dann wieder zu Maria gewandt: „Ja, stell’ dir vor, Maria, wenn ich ihm den Gefallen getan hätte und mit ihm in seine Heimat nach Ostpreußen gezogen wäre. Ich war nahe genug daran, aber ich weiß nicht, warum: ich hatte immer ein Grauen davor, so nahe an der Grenze zu wohnen. Nun denkt aber Großvater, er hätte ein Recht, mir bei jeder kleinsten Gelegenheit das Schicksal seiner armen Landsleute vorzuwerfen, statt daß er sich freut, hier in Ruhe zu sitzen.“

Maria sagte nachdenklich: „Es geht mir manchmal wie Großvater, ich schäme mich des Wohlergehens! Es klingt frivol, aber oft wünsche ich, man litte mehr unter dem Krieg, ich meine es jetzt rein äußerlich.“

Das verstand Großmutter nicht.

„Du warst ja immer ein bißchen anders als andere Leute, Maria; aber nun erzähl’ weiter. Also die Lehrer legten ihm die Antwort beim Examen in den Mund! Das finde ich famos! Wie ging es denn mit der Mathematik?“

„Die haben sie ihm geschenkt, weil er darin immer besonders gut war. Übrigens hat er mir das gar nicht so ausführlich erzählt. Was ihnen allen imponierte, war, daß die Töchter des Schuldirektors ihnen Tee und Kuchen servierten, und daß alle Lehrer sich mit ihnen unterhielten, als seien sie völlig gleichgestellt. Zu Ernst hat einer gesagt: ‚Mensch, wenn Sie nicht trotz allem und allem das werden, was ich von Ihnen erwarte, dann pfeife ich auf alle meine Menschenkenntnis.‘“

„So, was erwartet er denn von ihm?“ fragte die Großmutter.

„Du weißt doch, sie nannten ihn den Philosophen, weil er so gerne über alles mögliche nachgrübelt!“

„Ja, das muß ich gestehen, das ist’s, Maria, was mir am allermeisten mißfallen hat. Kein Schneid! Nenne mir einen Philosophen in der Welt, der das ergründet hat, was uns nun einmal verborgen bleiben soll! Gibt’s nicht! Und ich will dir sagen: Zwei- oder dreimal in meinem Leben habe ich in solche Bücher hereingeschaut und hab’ sie mit Abscheu wieder zugeschlagen. ‚Esel sind diese Kerle‘ habe ich mir gesagt. Wollen anderen Menschen weismachen, daß sie mehr wissen als sie, und führen einen nur irre und nehmen einem die Freude am Dasein. Nein, ich sehe es als eine Fügung Gottes an, daß der Junge nun doch Soldat werden muß. Wenn er dann nebenbei das Philosophieren nicht lassen kann, à la bonne heure — aber nicht als Beruf, nicht als Broterwerb!“

„Man kann über so etwas nicht verfügen, Großmutter. Ich glaube, jeder Mensch muß doch einmal das werden, was in seiner Natur begründet liegt.“

Die Großmutter zuckte die Achseln. „Das sind die heutigen Ansichten. Am besten, man steckt einen Buben mit elf Jahren ins Kadettenkorps, dann lernt er nichts anderes kennen. Wie lange hat denn nun diese Abitursache an jenem Abend gedauert?“

„Um zehn Uhr kam er zurück — gleich mit der Bescheinigung in der Tasche. Er hatte sich großartig ein Auto genommen und blieb nur eine Viertelstunde. Sie hatten sich zu einem Kneipabend verabredet.“

„So so!“ antwortete die Großmutter, und Maria würgte an irgend etwas.

„Denk mal, Großmutter,“ sagte sie dann und stockte gleich wieder.

„Nun, was denn?“

„Um halb ein Uhr kam er zurück; ich lag schon zu Bett, konnte aber natürlich nicht schlafen. Er war ganz blaß und aufgeregt, und dann erzählte er, sie seien da in eine Kneipe gegangen, und plötzlich habe einer von ihnen ein Mädchen an den Tisch gebracht, — und dann seien immer mehr gekommen, und auf einmal hätte auch eine neben ihm gesessen.“

Die Großmutter blickte auf, und ein seltsamer Zug lag um ihren Mund: „Na — und?“

„Ja, ich weiß nicht — — sie hat gesagt: ‚Sag’ doch ‚Hannchen‘ zu mir und hat ihn gefragt, ob er immer so ledern wäre, und ist ihm ganz nahegerückt.“

Nun lächelte die Großmutter: „Und weiter?“

„Ich weiß nicht,“ und Maria senkte den Kopf.

„Er tat mir schrecklich leid an jenem Abend; ich glaube, er fühlte sich unglücklich!“

„Das ist Blödsinn, Maria. Ein Junge muß mal was erleben. Sieh mal, Alfred war doch schon mit siebzehneinhalb Jahren Leutnant, da konnte ich ihn doch auch nicht mehr am Rockzipfel haben!“

„Das ist es auch nicht; ich hatte nur das Gefühl, daß der Junge sich um etwas grämte, daß ein großer Zwiespalt in ihm war.“

„Laß gut sein, Kind, so was mußte einmal kommen, und vielleicht ist es ein Glück, daß ihm gerade jetzt noch die Augen geöffnet wurden. Wer weiß, was sie in den nächsten Monaten zu sehen bekommen.“

„Er ist noch so ein Kind, Großmutter. Du weißt gar nicht, wie sehr er noch Kind ist, trotz seiner Grübeleien.“

„Dann war es die höchste Zeit, daß er aus seiner Kindheit herausgerissen wurde!“

„Es tat mir aber weh. Ich hatte plötzlich das Gefühl, als sei er wieder mein ganz kleines Kind, das ich gegen die Welt schützen müßte. Überhaupt, Großmutter — immer in dieser schrecklichen Zeit, jetzt lebe ich wieder alles von früher durch — wie er noch ganz mein war — ganz hilflos — ich kann dir das nicht so sagen — aber es tut alles so entsetzlich weh — so als ob einem scharfe Messer im Herzen wühlten.“

Großmutter streichelte Marias Haar.

„Da mußt du dich nun drüber hinwegsetzen, Kind. Du darfst nicht egoistisch sein. Eine Mutter hat die Pflicht, ihr Kind unter Schmerzen und Wonne zu gebären, es großzuziehen und dann wieder herzugeben. So will es die Natur und alles Auflehnen hilft nichts!“

Großvater kam mit seinem Extrablatt. „Die Russen in Tilsit!“ Er war ganz bleich.

Großmutter lenkte ab: „Laß eben Maria fertig erzählen! Also das Abitur hatte er, und dann?“

„Dann liefen sie von Kaserne zu Kaserne, um sich zu stellen. Zu Tausenden standen sie da herum, und er kam an den ersten beiden Tagen enttäuscht nach Hause. Am dritten aber mittags strahlte er und hatte einen Fahrschein nach der Altmark — da sollten sie sich beim Husarenregiment melden!“

Herr Hieronymus war ein schlankes, kleines Männchen mit eisgrauem Bart. Er kam als erster, und der Tisch war noch nicht abgeräumt. „Das nenne ich pünktlich!“ sagte die Großmutter und stellte ihre Schwiegertochter vor.

„Große Freude, gnädige Frau! Hab’ schon oft von Ihnen gehört, die Frau Schwiegermutter spricht mit Vorliebe von Ihnen und dem famosen Jungen. War leider zwei Jahre abwesend, sonst würde ich wohl schon früher das Vergnügen gehabt haben, Sie zu sehen!“

Er hielt Marias Hand fest und sah ihr in die Augen.

„Nun erzählen Sie aber auch gleich, teurer Herr Hieronymus, daß ich immer nur das Beste von meiner Maria rede!“

„Es wäre eine Kränkung, das besonders zu versichern,“ sagte das kleine Männlein, und bevor die Müller noch mit dem Abräumen fertig war, tat sich die Tür zum zweitenmale auf, und der behäbige Herr Rat Mertens trat ein. Den kannte Maria schon und gab ihm die Hand, die der Rat an seine Lippen zog.

„Im Frühjahr sahen Sie blühender aus, liebe Frau Maria. Da sehen Sie geradezu beneidenswert gut aus. Jetzt sieht man Ihnen an, daß Sie gelitten haben! Schwere Zeiten, furchtbare Zeiten, die Gott uns gesandt hat. Heute reichen wir uns noch in Geborgenheit die Hand; wer aber weiß, wie nahe die Stunde bevorsteht, in der es auch für uns heißt: Verlaßt eure Heimat, flieht oder sterbt!“

„Na, na,“ sagte die Großmutter ärgerlich; und dann ließ die Müller den dritten Gast eintreten, den Hauptmann Prell, den Maria noch nicht im Hause ihrer Schwiegereltern gesehen hatte. Er kam langsam näher und schleppte den linken Fuß nach. Fein und leidend waren die Züge seines Gesichtes, die Augen in die Ferne blickend, so wie Menschen, die viel denken und grübeln, zu blicken pflegen. Ihm kam die Großmutter liebenswürdiger als den anderen Gästen entgegen. Sie hielt die Schwiegertochter im Arm und begann herzlich: „Hier ist meine Maria, Herr Hauptmann; wir haben ja neulich einen geschlagenen Nachmittag von ihr und ihrem Jungen gesprochen!“

Der Hauptmann beugte sich über die dargereichte Hand. „Ich bin sehr glücklich, gnädige Frau, Sie zu sehen. Ich bin wirklich sehr erfreut!“ wiederholte er, als die Großmutter sich zu den anderen Gästen wandte, und zog nun auch die andere Hand an die Lippen.

„Sie haben Ihren Jungen hergegeben — Ihren Einzigen?“ fragte er, „aber Sie haben es gern getan, nicht wahr?“

„Das ist eine schwer zu beantwortende Frage. Man will und will nicht; es ist ein schreckliches Chaos im Kopf und Herzen.“

„Also wo wünschen die Herren zu sitzen?“ rief die Großmutter. „Hier im Eßzimmer haben wir den Vorteil, alle zusammen am Tisch sitzen zu können. Gehen wir ins sogenannte Herrenzimmer, müssen sich die Parteien teilen.“

Der Großvater aber stimmte fürs Herrenzimmer, und die Müller erhielt einen Wink, Gläser und Flaschen dahin zu bringen.

Hieronymus reichte der Großmutter den Arm, Rat Mertens sprach mit lauter Stimme auf Großvater ein und Prell ging neben Maria her.

Der behäbige Rat blieb unter dem Kronleuchter stehen und sprach nun nicht mehr zu Großvater allein, sondern so, als habe er irgendein unbekanntes Publikum vor sich.

„Unsagbar schwere Zeiten hat Gott über unser armes, tapferes Vaterland verhängt!“ rief er aus. „Gott ist allmächtig und allgütig und vor allem: Gott ist gerecht! Das muß man sich in dieser Zeit immer wieder sagen, denn sonst könnte man der Verzweiflung, die einem beim Lesen der furchtbaren Geschehnisse ergreift, nicht Herr werden! Ich nehme an, Gott will den Frevel und den Hochmut derer, die uns hassen, strafen. Wir sind das Werkzeug dazu, und wir dürfen nicht murren. Ja, wir müssen uns zum Gottesglauben zwingen! Das ist nicht ganz leicht in diesen Zeiten, in denen der, der über uns allen waltet, so Grauenhaftes geschehen läßt. Jammer, Jammer, Jammer! Wo ist ein Herz, das nicht von Gram verzehrt wurde? Wo ist der Mann, die Frau, die nicht täglich von neuem um ihr bißchen Lebensmut kämpfen muß? Wäre es uns nicht allen wohler, wenn wir uns jetzt zu einem Schlaf niederlegen könnten, aus dem es kein Erwachen mehr gibt?“

„Oho,“ sagte Großmutter, „das wäre ja wirklich sehr deutsch gehandelt. Nein, lieber Rat, nun erst recht nicht! Und wenn der Krieg zehn Jahre dauern würde, und wenn ich mit Krankheit geschlagen würde, ich möchte das Ende abwarten! Jetzt einschlafen, nein, das paßte mir nicht!“

„Sie haben diese wundervoll starken Nerven, gnädige Frau,“ entgegnete der Rat. „Aber nicht ein jeder hat die Kraft, so zu denken wie Sie. Unsere lieben Damen verfügen ja auch im allgemeinen über mehr Optimismus und Naivität als der denkende Mann.“

Großmutter räusperte sich.

„Das sind schöne weibliche Eigenschaften!“ fuhr der Rat fort, „und kraft dieser Eigenschaften bleibt es ihnen erspart, den grauenhaften Ernst der gegenwärtigen Zeit in seinem vollsten Umfang zu erfassen.“

„Auch dagegen protestiere ich, Herr Rat!“

„Mit Ihnen ist nicht gut verhandeln,“ lachte Mertens etwas gereizt, „Frau Maria aber wird mir recht geben. Sagen Sie, gnädige Frau, haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie es sein wird, wenn wir nicht siegreich sein sollten? Wenn diese siebenfache Meute uns doch so zu packen kriegt, daß wir am Boden liegen — daß das edle Blut unserer Söhne, Gatten, Väter und Brüder umsonst geflossen ist?“

Maria war bleich geworden: „Ich will mir das nicht vorstellen.“

„Sehen Sie, sagt’ ich es nicht? Sie will sich nicht vorstellen, sie macht die Augen zu. Das ist schön, das ist frauenhaft.“

„Blödsinn!“ rief die Großmutter. „Das ist gar nicht nur frauenhaft! Ein jeder, ob Mann oder Frau, sollte so denken: Siegen oder Untergehen! An Untergehen denkt man nicht gern, also weiß man, daß man siegen muß. Aber nun nehmen Sie Platz, meine Herren, und lassen Sie uns so fröhlich sein, wie man es in dieser Zeit sein kann!“

Mertens hob als erster sein Glas: „Ein Pereat auf das Land der Perfidie!“

Hieronymus zögerte ein wenig, bevor er sein Glas an das der anderen klingen ließ: „Das ist mir ein wenig zu pathetisch.“

„Pathetisch?“ ereiferte sich Mertens. „Ist diese Zeit denn nicht ganz und gar aufs Pathetische gestimmt, und verdienen es diese neidplatzenden Halunken nicht, daß man ihnen zu jeder Stunde des Tages einen Fluch nachschleudert?“

„Das nützt uns nur verdammt wenig, lieber Rat.“

„Aber es tut uns wenigstens wohl!“

Über das Gesicht des invaliden Hauptmanns flog ein sarkastisches Lächeln.

„Man muß nicht alles so allgemein nehmen; man muß auch bei seinem Feinde die Motive suchen.“

„Teufel, ja,“ sagte der Rat, „die liegen doch bei England klar genug.“

Großmutter warf ein: „Nicht wieder die alten Sachen durchkauen, meine Herren! Jedes Kind weiß, daß England gemein an uns handelt; jedes Kind sagt ‚Pfui!‘, wenn es von England spricht. Ich sage auch ‚Pfui!‘ und habe gern in das Pereat auf das edle Britenreich miteingestimmt, aber damit wollen wir es auch für heute bewenden lassen. Sind Sie einverstanden, Rat?“

„Mir war es nur, als habe unser Hauptmann Prell etwas andere Ansichten über unsere englischen Feinde!“ meinte Mertens gereizt. „Wie meinen Sie das, Herr Hauptmann, wenn Sie sagten, man müsse über die Beweggründe jedes Landes nachdenken? Frankreich und Rußland verstehe ich — ganz besonders Frankreich — aber England hatte keinen Grund zu diesem namenlosen Haß. Bei England ist die Triebfeder zu diesem Krieg nichts als kalte, gemeine Habgier!“

„Das ist in diesen Tagen tausend- und abertausendmal bestätigt worden,“ sagte Prell kühl.

„Nun also, warum betonten Sie denn, man müsse über Englands Beweggründe nachdenken?“

„Ich habe nicht behauptet: über Englands Beweggründe, sondern über jedes einzelnen Landes Beweggründe. Stellen Sie sich mal vor, es wären zehn Jahre vergangen, und man verlangte von Ihnen, daß Sie die Geschichte dieses Krieges schrieben. Würden Sie da auch nur so einfach von Englands Perfidie sprechen? Man muß sich doch auch fragen, was England von uns zu fürchten hätte, wenn unsere Industrie und unser Handel weiter in dem Maße aufblühen, wie sie es bisher getan. Heute noch ist England der Großkaufmann und der Bankier der ganzen Welt. Aber es fühlt, daß Deutschland ihm zu mächtig wird. Es fürchtet ganz einfach Deutschlands immer weiteres Emporsteigen.“

Der Großvater sagte bedächtig: „Nein, meine Herren, das ist es nicht. Es ist einzig unser Militarismus, den sie mit scheelen Augen ansehen.“

Die Großmutter warf ein: „Meine Herren, das sind doch alles Gemeinplätze, über die eine Debatte nicht lohnt! Reden wir doch lieber von dem, was der Tag gebracht hat. Also die Russen sind einmal wieder im Land!“

„Im Anmarsch auf Berlin!“ sagte der Rat Mertens schwer.

Maria wandte sich etwas ängstlich an den Hauptmann Prell: „Ist das wahr, sind die Russen wirklich im Anmarsch auf Berlin?“

Der Hauptmann lächelte: „Wenn es nach dem dicken Rat Mertens ginge, stände unsere Hauptstadt längst in Flammen. Sind Sie sehr ängstlich, gnädige Frau?“

„Nicht für mich, aber all der Jammer, der jetzt in der ganzen Welt ist, macht so schwach und elend.“

„Und es wird doch gerade jetzt so viel von der starken deutschen Frau gesprochen und gesungen.“

„Dazu gehöre ich nicht,“ sagte Maria und neigte den Kopf.

„Das ist schön, das ist gut, daß Sie das eingestehen. Wenn Sie stark sein müssen, dann können Sie es auch sein und Sie sind es doch schon im hohen Maße gewesen, ich habe einen Beweis dafür!“

„So?“

„Nun, zum Beispiel, daß Sie sich in all den Jahren dem Willen der Frau Schwiegermutter nicht untergeordnet haben. Das heißt doch was, gegen den Willen einer so praktischen, energischen Frau anzukämpfen. Sie hat mir vieles von Ihnen erzählt und kann es Ihnen heute noch nicht verzeihen, daß Sie nicht mit dem Jungen zu ihr gezogen sind, und daß Sie nicht wieder heirateten. Das nenne ich doch Stärke, denn solch ein Widerstand bedeutet doch alles andere als Schwäche!“

„Aber jetzt bin ich sehr müde und verzagt, und wenn Großmutter mir jetzt in dieser Stimmung sagte: ‚Du bleibst!‘ — ich glaube, dann bliebe ich.“

„Sie fühlen sich verlassen, weil Sie den Jungen hergegeben haben, das ist natürlich furchtbar hart für Sie. Aber augenblicklich ist er doch noch in Sicherheit!“

Der Hauptmann sah Maria mit guten Augen an, während er sprach, und sie fühlte sich wohl in seiner Nähe.

„Ist das wahr, Hauptmann,“ rief die Großmutter, „daß Sie sich noch gemeldet haben? Und wozu, wenn man fragen darf?“

„Wozu sie so einen Krüppel noch brauchen können,“ sagte er lächelnd, „aber ich fürchte, es ist wenig Aussicht vorhanden!“

„Und ich sage Ihnen, daß sie den letzten Mann im Deutschen Reich gebrauchen werden. Und reichen die Männer nicht mehr, dann kommen die Greise und Frauen daran!“

„Sie sind toll, Rat!“ rief die Großmutter.

Der Rat stürzte ein Glas Wein hinunter. „Ist das in Belgien nicht auch der Fall?“ fragte er.

„Teufel, ja, aber eine deutsche Frau schüttet keinem Soldaten heißes Wasser auf den Kopf. Dafür möchte ich mein Leben einsetzen!“

„Die Leidenschaft, die Wut erzeugt Bestien!“ schrie der erregte Mann, dessen Gesicht stark gerötet war. „Und ich sage und prophezeie Ihnen: In einem Jahr wird es nur noch Greise und Kinder im deutschen Vaterland geben. Wozu durch die rosige Brille sehen? Wozu sich selbst belügen? Und jene jungen Bürschchen, die jetzt in dieser wunderschönen Begeisterung als Kriegsfreiwillige in die Kasernen gezogen sind, ihr Blut wird in Strömen fließen.“

Maria deckte die Hand über die Augen, und der Hauptmann rief zu Mertens hin: „Nun möchte ich doch ernstlich mahnen — —“

Aber wenn so ein Mann wie der Rat einmal im Zug war, gab es kein Bremsen mehr.

„Schenk’ ihm doch nicht immer wieder ein,“ flüsterte die Großmutter zu ihrem Mann und legte die Hand um die Flasche. Der Hauptmann hatte Marias Hand ergriffen: „Er redet Blödsinn, er kann keinen Wein vertragen.“

Sie versuchte zu lächeln, aber es mißlang.

„Nein und tausendmal nein, wir sollen uns nicht selbst betrügen. Wir müssen wissen, was uns bevorsteht. Der Zar soll geschworen haben: ‚Ich ruhe nicht, bis die Straßen Berlins mit Frauenköpfen gepflastert sind!‘ Und glaubt einer, daß die Kosaken, wenn sie in unsere Hauptstadt ziehen, dieses Wort nicht wahr machen?“

„Teufel noch mal,“ rief jetzt die Großmutter außer sich. „Sind Sie dazu hergekommen, Herr Rat, um uns so die Stimmung zu verderben? Ein Schwarzseher sind Sie, ein ganz trauriger Schwarzseher. Ich danke für alles Weitere. Komm, meine Maria! Du bist müde und siehst blaß aus. Die Herren werden uns entschuldigen. Gute Nacht!“

Sie legte ihren Arm um Marias Schulter und führte sie hinaus. Der Großvater lenkte die Sache ein, so gut wie es möglich war. Aber nach einer Viertelstunde hörte man die Türe klinken, und er schloß seinen Gästen die Gartenpforte auf.

Die Großmutter hatte Maria in das kleine Fremdenstübchen geführt. „Es tut mir leid, Kind, daß die Müller die dunklen Vorhänge noch nicht angemacht hat. Aber da du müde bist, wirst du auch schlafen, wenn der Mond ein wenig hereinscheint.“

Das kleine Zimmer war ganz überflutet von weißem Mondlicht. Auf dem Teppich zitterte ein weißer, breiter Streifen und zog sich die Wand hinauf, an der ein fast lebensgroßes Porträt hing. Es war das Bild von Großmutters einzigem Sohn, Marias verstorbenem Manne. Gespensterhaft leuchtete es auf die beiden Frauen nieder.

Die Großmutter wurde elegisch. „Daß er diese gewaltige Zeit nicht miterleben durfte!“ seufzte sie. Aber dann war sie mit ihren Gedanken gleich wieder im praktischen Leben.

„Ich will eben noch einen Augenblick zu Großvater hinüber, denn wenn er sich nicht gleich legt, bekomme ich ihn vor Mitternacht nicht zu Bett. Leg’ du dich nur ruhig schon hin, Maria. Ich komme noch, dir ‚Gute Nacht‘ sagen.“

Im kleinen Zimmer war eine schwere Luft; die Müller hatte das Fenster zu früh geschlossen, und die kleinen weißen Ersatzgardinen waren so angebracht, daß sich auch nicht ein Spalt öffnen ließ.

‚Schrecklich,‘ dachte Maria und wußte, daß eine schlimme Nacht ihrer harrte. Schwere Luft und das große, helle Bild des Mannes! Das war zu viel für sie. Und dazu eines von Großmutters massiven Federbetten. Eine leise Verzweiflung begann in ihr wach zu werden.

Während sie sich entkleidete, hörte sie Großmutter sagen: „Eine Unverschämtheit vom Rat, sich als Gast anzumelden und dann so loszulegen. Den brauchst du in der nächsten Zeit nicht mehr mitzubringen, Alterchen.“ Und er entgegnete liebenswürdig: „Wie du willst!“

Dann gab es noch einen kleinen Kampf zwischen den beiden, weil Großvater sich weigerte, sogleich zu Bett zu gehen; aber fünf Minuten später war er doch im Schlafzimmer, und eine kleine Weile darauf klopfte Großmutter bei Maria an und setzte sich zu ihr auf den Bettrand. Sie hielt etwas in der Hand und schien einen Augenblick lang um ein paar einleitende Worte verlegen zu sein.

„Ich habe Großvater das Versprechen abgenommen, diesen Mertens nicht mehr ins Haus zu bringen! Das ist doch geradezu eine bodenlose Unverfrorenheit, einen so in Angst jagen zu wollen. Die Zeiten sind ohnehin grauenvoll genug, und ich hatte auf einen netten, behaglichen Abend gehofft. Und doch, Maria, trotzdem es eine Taktlosigkeit vom Rat war, solche Dinge auszusprechen — das muß ich dir sagen, daß auch mir schon ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen sind. Kann denn ein Mensch wissen, was Gott in seinem unerforschlichen Ratschluß bestimmt hat? Und wenn er das Furchtbare geschehen läßt, wenn die russische Meute bis zu unserer Hauptstadt dringt, dann bleibt auch vielleicht das nicht aus, was der Zar gesagt haben soll. Auf jeden Fall ist dann über uns Frauen das Urteil gefällt! Ich glaube nicht daran und will nicht daran glauben, aber sollte es so kommen — dann, Maria, heißt es für uns: Schnell ein Ende machen, ehe wir uns auf bestialische Weise abschlachten lassen! Einen Revolver aber hat man nicht immer zur Hand oder ist vielleicht zu nervös, ihn im rechten Augenblick abzudrücken. Aber ein kleines Pulver in der höchsten Not herunterschlucken, das kann jeder! Sieh mal, was ich hier habe, das soll im selben Augenblick, wo man es nimmt, wirken. Herzschlag und aus! Woher ich’s habe, verrate ich nicht. Aber es reicht für dich und mich. Ich hab’s für dich in dieses kleine Medaillon, das ich dir längst schon geben wollte, gefüllt. Am besten tust du, du hängst es um den Hals, dann hast du es immer zur Hand.“

Maria sah erstaunt zur Großmutter auf. Sprach sie im Ernst? Aber das alte, frische Gesicht war wirklich bekümmert; sie hob Marias Kopf empor und hing ihr das kleine Amulett um.

„Nun wollen wir zu beten versuchen, Maria!“

Und sie schlang ihre Hände um die der Schwiegertochter und begann: „Herrgott, himmlischer Vater, der du alle Macht in Händen hast — —“, schluchzte dann auf und rief: „Nein, nein, ich finde keinen Weg mehr zu dem da droben. Mein Herz will sich auflehnen. Sieh du, Maria, ob du noch zum Glauben zurückfindest!“ und küßte ihr Stirn und Augen, zog ihr die Decke über die Schultern und ging hinaus.

Marias Augen irrten im Zimmer umher und blieben auf dem hellen Bild ihres Mannes hängen. Der war nun schon fünfzehn Jahre tot, und es war doch noch nichts vergessen von all dem, was sich in den paar kurzen Ehejahren ereignet hatte. Ein armer, herzkranker Mensch war er gewesen, der sich als junger Offizier sein Leiden geholt und keine Genesung mehr gefunden hatte. Nein, nicht die Vergangenheit heraufbeschwören, nicht daran rühren! Sie warf sich zur Seite, so daß sie zur Wand blickte. Aber an dieser Wand hingen unzählige kleine, ovale Bildchen im schwarzen Rahmen, so wie man sie in großmütterlichen Einrichtungen noch findet. Es waren zumeist Kinderbilder von dem Mann da oben an der Wand; liebe, gute, kluge Gesichtchen — dunkle, träumerische Augen, so wie auch der Junge, der jetzt in der Altmark in der Kaserne lag, sie hatte.

Sie nahm eines von den Bildchen in die Hand und küßte es. Da klapperte es an dem Amulett, das Großmutter ihr umgehängt hatte, und die Gedanken kehrten zur Gegenwart zurück.

Die Kosaken nach Berlin! Aber das wollte ihr Verstand nicht aufnehmen; dagegen lehnte sich irgend etwas in ihr auf.

Wenn sie doch schlafen könnte! Sie hing das kleine Bild wieder an die Wand und zog die Decke übers Gesicht. Aber das ging nicht, es herrschte ohnehin eine unerträgliche Hitze im Zimmer. Auf dem Teppich tanzte der Mondstreif immer heller, immer quälender. Sie schloß die Augen. Da sah sie das häßliche, braunrote Gesicht des Rates Mertens vor sich. ‚Und all die jungen Kriegsfreiwilligen in den Kasernen — ihr Blut wird in Strömen fließen!‘

Entsetzlich, entsetzlich!

Sie setzte sich aufrecht hin. Die Müller hatte vergessen, ihr Streichhölzchen hinzulegen, und beim Mondlicht konnte man nicht lesen.

Wieder zog das große, weiße Bild an der Wand ihre Blicke an, und wieder kamen traurige, quälende Erinnerungen.

Nein, so mit dem Bilde an der Wand konnte sie kein Auge zutun in dieser Nacht. Ihre Gedanken arbeiteten schon jetzt fieberhaft; die Schläfen schmerzten, der Puls raste — das Herz schlug zum Zerspringen.

„Jungchen — mein Jungchen!“ und sie dachte an das Kind, an den zarten, blutjungen Kerl, den sie hergegeben hatte — der so froh, so selbstverständlich von ihr gegangen war. Der lag nun mit fünfunddreißig anderen in irgendeinem öden Raum auf einem Strohsack. Der war vielleicht krank und sie wußte es nicht, der hatte Heimweh und war zu stolz, davon zu schreiben.

Wo hatten diese jungen, verwöhnten Kerle nur plötzlich die Entschlossenheit und Größe hergenommen? All diese Jungchen, die zu Hause so gern gemäkelt hatten, denen nichts gut und bequem genug gewesen war!

Ihre Hände spielten mit dem Medaillon, das die Großmutter ihr umgehängt hatte — und die Gedanken, die sich ihrem Willen schon nicht mehr unterordneten, flogen wieder zu dem, was draußen in der Welt vor sich ging.

Sie dachte an all das Grauenerregende, was sie vor zwei Jahren vom serbisch-bulgarischen Krieg gelesen hatte. All diese greulichen Metzeleien von Frauen und Kindern.

War es möglich, daß Gott auch vielleicht das zuließ?

Ihre Blicke flogen wieder zu dem Bilde ihres Mannes empor!

Das Chaos in ihrem Kopf war riesengroß geworden. Ein Gedanke jagte den anderen — ein Gedanke raste über den nächsten hinweg.

„Ich kann es nicht mehr sehen!“ stöhnte sie, und suchte nach irgendeinem Gegenstand, um es zu verdecken. Auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers lag eine dunkle Plüschdecke. — — — Die nahm sie, aber ihre Hände zitterten. Sie stieg auf einen Stuhl und versuchte, die Enden der Decke an den Bilderhaken zu befestigen — — die Bilderhaken rutschten aus der Wand, das Bild glitt hinab, lag am Boden, und irgend jemand in der Wohnung schrie auf. Das war die Großmutter, und einen Augenblick später klopfte sie an und starrte entsetzt auf das Bild.

„Das bedeutet nichts Gutes, wenn ein Bild von der Wand herunterfällt!“ sagte sie tonlos. „Komm’, wir lehnen es an die Wand. Armes Ding, hast dich erschrocken, was? Warum hab’ ich auch erlaubt, daß Großvater so ein großes Bild allein aufhing?“

Maria vermochte nicht zu sprechen; die Nerven zitterten in ihr.

„So leg’ dich hin, mein Schäfchen!“ Und die Großmutter streichelte sie. „Du machst dir Sorgen wegen der dummen Prophezeiungen des Mertens, ja? Das ist natürlich Blödsinn! So, ich bleib’ ein wenig bei dir, ich kann auch nicht schlafen!“ Und Großmutter, in einen ganz hellen Morgenrock gehüllt, saß jetzt auf dem Sofa und sah wie mit Silber übergossen aus.

„Weißt du, Maria, wenn ich so im Mondschein sitze, muß ich an frühere Zeiten denken. Da hatten wir zu Haus eine alte Magd, die uns im Mondschein die Karten legte. Mit Gott finde ich mich jetzt doch nicht zurecht, und da die Welt doch einmal auf dem Kopf steht, werd’ ich mal ein Spiel holen und probieren, ob’s noch geht. Dazu mußt du aber aufstehen und dich zu mir in den Mondschein setzen.“

Die Großmutter lief hinaus, und Maria stand in weißem, langem Nachthemd mitten im glitzernden Lichtstreifen.

Müd’ war sie, daß der Körper sich kaum aufrecht halten konnte — aber die Nerven waren zugespitzt, als hätte jeder tausend Leben in sich.

Dann kam die Großmutter mit ihrem Spiel, und die Karten flogen. Die Großmutter zählte, schob, legte über- und untereinander und sah mit dem herabhängenden weißen Haar, dem hellen Gewand und den flink fliegenden Fingern wie ein Wesen aus einer anderen Welt aus.

„Also dem Jungchen passiert nichts. Das Kind soll dir erhalten bleiben!“ sagte sie, „aber für dich selbst finde ich nichts Gutes, Maria. Da ist wohl der Herzenskönig, der zu dir hin will, aber dazwischen liegt die schwarze Karte, und wie ich’s auch mische und schiebe, sie kommt immer wieder!“

Und plötzlich sah die Großmutter grade zu Maria auf: „Du hältst es doch nicht mit einem, der dich nicht heiraten will, Maria? Daß du deshalb vielleicht an keinen anderen denkst? Das wäre ein furchtbares Unglück!“

„Blödsinn, Großmutter!“ sagte Maria ärgerlich, „und ich kann so etwas wie dies Kartenlegen nicht vertragen!“

„Du zitterst ja!“ rief Großmutter. „Was fehlt dir denn?“

„Es ist so entsetzlich schwül im Zimmer und so hell.“

„Dann machen wir eben das Fenster auf; es geht ja zum Garten, und niemand kann hineinsehen. Warte, ich hole noch den großen Wandschirm, den rücken wir vors Bett! Nun meinst du — — Herrgott, Kind, es ist ja auch zum Weinen und Jammern. Der Mann tot, der Junge in der Kaserne und die ganze Welt voll Greuel. Ich bringe dir noch den Baldrian, der macht ruhig!“

Und wieder glitt sie über den hellen Lichtstreif hinweg zur Tür hinaus, kam mit ihrer Baldrianflasche wieder und ruhte nicht, bis Maria ein getränktes Stück Zucker geschluckt hatte. „So, nun schlaf’!“ Sie rückte den Wandschirm dicht vors Bett.

„Du kannst morgen so lange liegen, wie du Lust hast. — Gute Nacht, mein Kind!“

Durchs offene Fenster strömte die milde Sommerluft, ein Raunen und Weben ging durchs stille Zimmer. Eine Weile noch quälte sich der arme Kopf, eine Weile noch hüpften und irrlichterten die Gedanken, dann aber war es still. Marias Hände hatten das goldene Medaillon umschlossen — und es war, als ob Ruhe und Friede aus diesem kleinen Amulett ausströmten.

Der Rat Mertens, die Kosaken, die Großmutter, das Jungchen in der Kaserne flogen immer matter durch ihre Gedanken.

‚Dem Jungchen passiert nichts; das Kind soll dir erhalten bleiben!‘ hörte sie die Großmutter noch sagen, und dann kam der Schlaf doch noch — ein tiefer, guter, traumloser, langer Schlaf.

Großmutter meinte am späten Morgen zur Müller: „Nein, nicht wecken!“ und wartete geduldig, bis der Mittag nahe war.

Einen Tag später fragte Maria mit etwas ängstlichem Herzen: „Erlaubst du, daß ich abreise, Großmutter?“ Und Großmutter sagte kurz: „Ich halte niemanden, der nicht gerne bei mir ist!“

„Nein, so sollst du nicht sprechen!“ bat Maria. „Du weißt nicht, welche Unruhe in mir ist. Heute habe ich wieder keinen Brief von Ernst bekommen.“

„Das kannst du auch nicht verlangen, daß er dir täglich schreibt!“

„Läßt du mich reisen, Großmutter? Ich meine, läßt du mich reisen, ohne böse zu sein?“

Da küßte die Großmutter sie herzlich. „Ich halte dich nicht, Maria, aber wenn es dich einmal zu mir drängt, so weißt du, daß dir bei niemand weiter die Türen offen stehen als bei Großvater und mir.“

„Du bist sehr lieb, Großmutter.“ Sie schmiegte sich ganz eng an sie an und ließ sich streicheln.

„So für zwei oder drei Tage geht es immer ganz gut mit uns beiden,“ scherzte die alte Frau, „und es ist eigentlich das Vernünftigste, daß wir uns zu keinem längeren Zusammensein zwingen. Also dann sprich nun mit Großvater; der wird dir wahrscheinlich sagen können, ob und wann Züge gehen.“

Der Großvater wußte in der Tat genau Bescheid, aber er riet, wieder einen Wagen zu nehmen und zur nächsten Station, von der aus ein Schnellzug ging, zu fahren. Die Großmutter protestierte ein wenig wegen der Kosten und weil man schon um fünf Uhr in der Frühe abfahren mußte, aber schließlich fügte sie sich.

„Aber nicht den Jungen besuchen und ihm das Herz schwer machen, Maria. Der führt jetzt sein Leben für sich und hat fürs erste mit der Mutter nichts mehr zu tun. Schicke ihm jede Woche ein vernünftiges Paket, das wird ihm lieber sein als alles andere.“

Am nächsten Morgen, als der Großvater mit Maria durch den Vorgarten schritt, hatte er ein ganz jungenhaft vergnügtes Gesicht. Die alte Frau winkte ihnen vom Fenster aus zu und rief: „Das Medaillon hast du doch um den Hals hängen, ja?“ „Natürlich, Großmutter.“ Maria setzte sich auf den hohen Sitz neben Großvater; der nahm die Peitsche zur Hand, grüßte noch einmal zur Großmutter hin und schnalzte mit der Zunge. —

„Hast du eigentlich Sinn für Natur, Kind?“ fragte er, sowie sie aus der kleinen Stadt heraus waren, und ließ die Pferde in langsamerer Gangart fahren. „Du siehst manchmal so ins Weite, daß man gar nicht weiß, wo deine Gedanken eigentlich sind. Aber wenn du die Natur liebst, dann muß dieser frühe Sommermorgen ein Genuß für dich sein. Draußen in der Welt toben die Schlachten, Grauen und Entsetzen, und hier dieser stille Friede! Sieh mal, ich habe jeden Morgen, wenn Großmutter noch schläft, meine schwache Stunde. Wer selbst im Krieg gestanden hat, nur der kann sich ein klares Bild von dem, was jetzt in der Welt vorgeht, machen. Und dann bin ich auch zu alt, um mich ganz und gar der frohen Zuversicht: Wir werden und wir müssen siegen! hinzugeben. Es ist eine zu gewaltige Übermacht, gegen die wir kämpfen. Aber angenommen, wir siegen doch, selbst dann kann man nicht mehr froh und glücklich werden. Ein Mensch, der wie ich am Ende seiner Tage steht, der glaubt, selbst ein wenn auch noch so winziges Teil zur Kultur beigetragen zu haben, möchte die Augen schließen bei dem Gedanken, daß so etwas noch möglich war. Wir sind um fünf Jahrzehnte zurückgeworfen, Maria; wir Alten können ruhig von uns sagen: wir haben umsonst gelebt!“

„Ich glaube es dir, Großvater,“ sagte Maria. „Aber es ist jetzt für niemand schön in der Welt. Die, die schon gelebt haben, sehen ihre Arbeit vernichtet, und die, vor denen noch ein Stück Wegs liegt, haben die Lust verloren, ihn weiter zu gehen. Beneidenswert sind vielleicht nur die ganz Jungen, die sich besinnungslos hineinstürzen und gar nicht zum Denken kommen.“

Großvater wies mit dem Peitschenstiel in die Ferne: „Sieh mal, wie schön dort drüben.“ Da war der junge Himmel wunderbar zartblau, und eine leise Wellenlinie von Hügeln hob sich leicht davon ab. Dunkel ragte ein Stück Wald auf, und grüne Wiesen dehnten sich bis zum Fahrweg hin.

„Diesen Weg ging ich so manchesmal in diesen letzten Wochen genau zur selben Stunde wie jetzt. Großmutter ist ärgerlich darüber, weil sie denkt, das sei zwar ganz nett, wenn junge Leute Frühaufsteher wären; den alten Mann aber möchte sie in den weichen Kissen halten. So gut sie es aber auch meint, grade in dieser Morgenstunde ertrag ich’s nicht, daß ein Mensch neben mir so behaglich und gesund schläft, und dann nehme ich Reißaus und komme froh und stark genug zurück, um meine Strafrede in Empfang zu nehmen!“

„Warum hast du eigentlich noch einmal geheiratet, Großvater?“ fragte Maria.

Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er: „Weil sie so wundervoll gesund ist, Kind! Nichts ist wohltuender und erfrischender für einen Menschen, der zeitlebens im Kampf mit tausend Erwägungen, Grübeleien und Zweifeln gelegen hat, als neben solch robuster und dabei liebevoller Gesundheit zu leben. Sie ist wirklich eine gute, vernünftige Frau, Maria! Hat vielleicht ein bißchen was von der Frau aus dem Volke an sich, aber das schadet nichts. Ich habe mich an sie gewöhnen müssen, aber jetzt möchte ich sie nicht mehr entbehren. Je älter man wird, um so mehr lernt man das Einfach-Gute im Menschen schätzen. Ich habe zwanzig Jahre allein gelebt und während der ganzen Zeit immer auf die sogenannte verstehende Seele gewartet; die wollte mir aber nicht begegnen. Dafür kam dann Großmutter und ließ mich nicht mehr locker. Heut weiß ich, daß es vielleicht ein größeres Glück ist, wenn der stark innerlich lebende Mensch sich an den, der praktisch und gesund ist, bindet, als wenn zwei grübelnde, ewig-suchende, selbstquälerische Menschen sich paaren. Das muß ich dir, grade dir klar zu machen suchen, Maria, da ich immer mehr sehe und fühle, daß auch du so eine arme, grübelnde Seele bist. Damit kommst du nicht weiter. Es bleibt immer beim alten, man verlernt das Lachen und bohrt sich tiefer und tiefer in seine fruchtlosen Betrachtungen hinein. Du solltest es machen, wie ich’s gemacht habe: einfach mit einem gewaltigen Ruck alles abstreifen und einen gesunden Menschen suchen, der dich täglich von neuem in die Wirklichkeit zurückzwingt!“

„Nun kommst auch du mit Heiratsprojekten, Großvater!“

Er lächelte. „Weil du mir leid tust, Kind. Vielleicht aber bringt es diese Zeit zustande, die Menschen einfacher und gesünder zu machen. Wenn man aus der überverfeinerten Kultur so mit Gewalt ins Urwesen der Menschheit zurückgeschleudert wird, kann natürlich die Rückwirkung auf die Denk- und Anschauungsweise des einzelnen nicht ausbleiben.“

Sie kamen durch ein Dorf, durch das ein silbernes Bächlein floß. Frauen mit aufgeschürzten Röcken standen am Wasser und spülten Wäsche aus; barfüßige Kinder liefen umher oder saßen in den niederen Türen der Häuschen und Hütten. Gänse schnatterten und Hühner gackerten.

„Magst du das leiden?“ fragte Großvater.

„Ja, sehr, ich möchte auch so ein Weib sein, das am Brunnen seine Wäsche wäscht und nichts dabei denkt. Ist es nicht eigentlich lächerlich, daß man immer den Wunsch hat, zum Primitiven, Ursprünglichen zurückzukehren? Wozu ist der ganze Ballast von Wissenschaft, Kunst und allem, was nicht zur einfachen, reinen Natur gehört, überhaupt da?“

„Ich weiß es nicht,“ antwortete Großvater. „Und wenn du so alt bist wie ich, wirst du es auch nicht wissen. Sieh nur zu, daß du deinen Jungen von seinem grüblerischen Wesen abbringst! Laß ihn ruhig Soldat bleiben, wenn er gesund aus dem Kriege herauskommt. Er ist jetzt schon so ein blasser Denkermensch, und Großmutter hat nicht Unrecht, wenn sie sich Sorgen um ihn macht.“

„Ich kann ja jetzt gar nichts mehr an ihm tun,“ sagte Maria beklommen und ließ den Kopf hängen. Aber wie sie dann zwischen schwerbehangenen Obstbäumen dahinfuhren, war der alte Mann fast kindlich froh.

„Sieh diesen Reichtum rund um uns, das tut so wohl, solche Fruchtbarkeit zu sehen. Ein jeder Baum scheint zuzurufen: Überfluß ist im Lande und aushungern können sie uns nicht. Der verfluchte Brite!“

Großvater hatte ein feingeschnittenes Gesicht, das ein bißchen weichlich wirkte. Aber wie er nun dreimal hintereinander ausrief: „Der verfluchte Brite!“, da wuchs er aus sich selbst heraus.

„Wenn man nur noch mittun könnte,“ seufzte er. „Der Kopf ist noch so klar und nur der Körper wird gebrechlich. Besser sind heute jene daran, bei denen der Körper blüht und die Gedanken nachlassen.“

Maria schmiegte sich an ihn an, weil er so bekümmert aussah. „Großväterchen,“ sagte sie zärtlich, und er strich ihr mit der freien Hand übers Gesicht.

In der Stadt, von der aus der Schnellzug gehen sollte, fuhr Großvater vor einem netten kleinen Hotel vor und ließ ausspannen.

„Hier wollen wir frühstücken, und dann bringe ich dich zum Bahnhof. Nachher habe ich noch eine Menge Besorgungen für Großmutter zu erledigen und fahre am Nachmittag heim.“

Maria trug einen Brief in der Tasche, den sie am letzten Abend erhalten und wohl hundert Male schon gelesen hatte: „Ich bin wider Erwarten schon jetzt in mein altes Regiment eingezogen worden; muß am Freitag früh zur Stelle sein. Ist ein Wiedersehen möglich?“

Der Brief war mit Verspätung angekommen. Heute war schon Donnerstag, und die Züge fuhren immer noch völlig unregelmäßig und mit stundenlanger Verspätung. Sie war in großer Unruhe; sie wußte nicht, ob sie dem alten Großvater trauen durfte, ob er ganz richtig beraten war. Sie wollte bitten: „Bleib du hier und laß mich allein zum Bahnhof gehen!“ Aber als sie zögernd ihr Anliegen vorbrachte, lachte der alte Mann sie aus.

„So alt bin ich noch nicht, Kind, daß man sich nicht auf mich verlassen kann. Soweit überhaupt mit Bestimmtheit Züge gehen, soll der deine um neun Uhr abfahren. Jetzt ist es also noch nicht acht; was willst du also während all dieser Zeit am Bahnhof?“

Er ließ Tee und allerlei kleine Delikatessen kommen. „Iß, Maria, denn kein Mensch kann wissen, wann du in Berlin ankommst.“

Der Wirt des Hotels trat zu ihnen und begrüßte den Großvater herzlich.

„Haben Sie schon von den neuen Greueln in Ostpreußen gelesen?“ Und als Großvater erschrocken verneinte, begann er zu berichten, entpuppte sich als ähnlicher Schwarzseher wie Rat Mertens und erzählte und prophezeite so lange, bis der alte Herr Messer und Gabel fallen ließ und dann unglücklich sagte: „Und unsereins sitzt hier und läßt sich ein üppiges Frühstück schmecken!“ Worauf der Wirt freundlichere Zukunftsaussichten eröffnete, aber den Druck, den er auf die Seele seiner Gäste gewälzt hatte, nicht mehr wegnehmen konnte.

„Komm, Kind, wir gehen zur Bahn.“ Dem Wirt winkte er zu: „Ich komme zu Mittag wieder,“ schob seinen Arm in den der Schwiegertochter und schritt langsam mit ihr die Straße hinab. Er war zerknirscht; das Schicksal seiner Landsleute in Ostpreußen krampfte ihm das Herz zusammen.

„Es ist scheußlich, Maria, solange man nicht mit brutaler Gewalt aus seinem Behagen herausgerissen wird, nimmt man die Sache immer noch auf die leichte Achsel, feiert Feste und verschafft sich Leckerbissen. Nachher kommen zwar Selbstvorwürfe, aber bei nächster Gelegenheit macht man es wieder genau so. Scheußlich!“

Sie sagte ihm etwas Liebes, Herzliches, aber seine Stimmung blieb düster.

„Wenn man pathetisch wäre, müßte man von sich selbst sagen: Du bist nicht wert, in dieser großen, gewaltigen Zeit zu leben!“

„Wir wollen aber nicht pathetisch sein, Großväterchen!“ Da er ziemlich willenlos an ihrem Arm hing, gab sie der großen Unruhe, die in ihr wogte, nach und beschleunigte die Schritte.

Ein heißer Tag zog herauf. Schon jetzt glühte die Sonne auf dem Asphalt. Großvater nahm den Hut ab und trocknete sich die Stirn. Am Bahnhofsplatz waren Truppen aufmarschiert. Große Menschenmengen standen um sie herum. „Die sollen alle über Berlin nach dem Westen,“ hörten sie erzählen, und irgend jemand sagte: „Zivilpersonen werden heute überhaupt nicht befördert.“

„So?“ fragte Großvater aufgeregt, erhielt aber keine Antwort mehr. Maria war bleich geworden. „Das kann nicht sein,“ rief sie außer sich.

„Es scheint aber doch so zu sein, Kind, und du hättest wirklich besser getan, während dieser aufgeregten Zeit ruhig bei uns zu bleiben. Es ist ein Glück, daß wir den Wagen haben, und wenn es auch eine kleine Gardinenpredigt von Großmutter setzt, so kommen wir doch wenigstens sicher zurück!“

„Nein, nein, Großvater, ich muß fahren, komm mit!“ Und sie drängte in die Bahnhofshalle hinein und hörte, daß der Neunuhrzug in der Tat keine Zivilpersonen beförderte. Sie war wie betäubt, so, als habe sie einen Schlag vor den Kopf erhalten, und lehnte an einer Wand. Großvater redete auf sie ein.

„Sei doch vernünftig, Kind. Du siehst doch, es ist keine Möglichkeit, mitzukommen,“ und sprach gut und eindringlich weiter zu tauben Ohren.

„Es hängt doch bei dir auch nichts davon ab, ob du einen Tag früher oder später kommst. Dein Junge ist in der Kaserne, und sonst wartet niemand auf dich.“

„Großvater, — es wartet doch einer auf mich! Großvater, du verstehst mich doch, du bist doch von meiner Art! Ich bitte dich, Großvater, hilf mir, daß ich fahren kann. Ich weiß, daß Ausnahmen gemacht werden, wenn man sagt, daß man zu Angehörigen fährt, die man noch sprechen muß. Und ich muß nach Berlin, Großvater, ich muß!“

Der Kriegsfreiwillige

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