Читать книгу Silvaplana Blue - Heide Marie Ms. Dr. phil. Herstad - Страница 16
III.
ОглавлениеWo war mein Vater geblieben? Seine eigenen Aussagen sind widersprüchlich und zweifelhaft. Mein Vater sagte, er wäre in die russische Kriegsgefangenschaft geraten. Danach muss er in Frankfurt an der Oder zurückgeblieben sein, um Hitlers Wunsch gemäß die Festung bis zum letzten Mann zu verteidigen. War mein Vater Hitlers letzter Mann?
Bereits 1946 hatte er wieder eine Anstellung als Verwalter eines Gutes in Norddeutschland. 1947 besuchte er meine Großeltern in Bochum. Ich flüchtete erschreckt vor dem fremden Mann unters Bett. 1948 wurde mein Vater von meiner Mutter geschieden. 1949 war er wieder verheiratet.
Bremen 1992. Nach einem schweren Schlaganfall war mein Vater linksseitig gelähmt. Er brauchte Hilfe zum Laufen und zum Essen. Er brauchte Hilfe, um sich überhaupt bewegen zu können. Sprechen konnte er nur wortweise, Fetzen. Mein Vater hatte sein ganzes Leben lang niemals über den Krieg gesprochen. Typisch waren seine Handbewegungen, mit denen er alles von sich wies. Gefürchtet waren seine Zornausbrüche. Jetzt versank er langsam in die Nacht des ewigen Schweigens. Nur einzelne Bilder tauchten ab und zu wieder auf. Auf gezielte Fragen antwortete er selten. Trotzdem wagte ich mich vorsichtig vor.
„Als du in die russische Gefangenschaft kamst, hast du den ganzen Marsch bis Sibirien mitgemacht?“ Schweigen.
„Wie ist es aber möglich, dass du schon 1946 oder 1947 wieder in der englischen und amerikanischen Zone zurück sein konntest?“
Hierauf reagierte mein Vater:
„Wir waren eine ganze Gruppe. Ich hatte ein paar gute Kameraden. Die gaben mir Ratschläge, wie ich glaubwürdig seuchenverdächtig werden konnte. Die Russen hatten einen Horror vor der Seuchengefahr. Wir wurden entlassen.“
Die Russen? Die Russen kannten das Wort „entlassen“ nicht. Sie haben ihre Toten an den Straßenrändern liegen gelassen. Wer umfiel, bekam einen Tritt, wenn er Glück hatte, bekam er eine Kugel in den Kopf. Um Seuchen, Typhus und Ungeziefer kümmerte sich keiner. Täglich starben Tausende daran. Die hygienischen Verhältnisse waren schlimmer als in den dreckigsten Viehställen. Ärztliche Versorgung und Behandlung gab es überhaupt nicht. Seuchenverdächtig? Glaubwürdig?
Die letzten Erzählungen meines Vaters lassen eher vermuten, dass er mit den Generälen Wenck und Busse über die Elbe kam und in die amerikanische Gefangenschaft marschiert war.
Hier hatte man allerdings Angst vor der Seuchengefahr. Millionen von Soldaten gaben sich in Deutschland auf engstem Raum ein Stelldichein. Hinzu kamen zwölf bis fünfzehn Millionen Flüchtlinge, Millionen von Kriegsgefangenen, von Häftlingen der Konzentrationslager, von befreiten Strafgefangenen und Zuchthausinsassen. Das alles vagabundierte ohne Unterkunft in Kleindeutschland herum. Alle hungerten. Alle waren verdreckt und voll von Ungeziefer. Alle waren von Diphtherie und Typhus verseucht.
Die Amerikaner und Engländer versuchten so gut es ging, ihre Soldaten zu isolieren. Nahkontakte mit Deutschen mussten vermieden werden. Fraternisieren war verboten. Umgang zwischen Deutschen und Alliierten war nicht erlaubt.
Das galt auch für die Millionenheere von Kriegsgefangenen. Kranke und Seuchenverdächtige wurden ausgesondert und entlassen. Man entledigte sich ihrer. Das wussten die Gefangenen auch. Aller Wahrscheinlichkeit nach war mein Vater in die amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten.
Warum hielt er bis zu seinem Tode daran fest, er wäre in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen? Wollte er noch siebenundvierzig Jahre nach dem Krieg den letzten Vaterlandsverteidiger spielen? War die russische Gefangenschaft ehrenhafter?
Er hat die Wahrheit mit ins Grab genommen.