Читать книгу Sterano auf Artesa - Heidi Büttner - Страница 4
Sterano auf Artesa
ОглавлениеI.
„Achtung, Lebewesen, Stufe 4 und 5!“, stand auf den Transportbehältern.
Es waren drei Behälter, jeweils zwei Meter lang, einen Meter breit und achtzig Zentimeter hoch. Sie sahen aus wie überdimensionale Särge und ihre Ummantelung bestand aus schwarzem Titanstahl mit zwei Zentimetern Wandstärke. Sie waren nach Sicherheitsstufe A 4 verriegelt, sie standen jetzt auf den institutseigenen Rollwagen und sie waren sehr schwer.
Nonoon prüfte kurz die Übergabeprotokolle, er klemmte sein Tablet unter den Arm und trat beiseite, während die Behälter langsam wie große Bomben auf das Tor des Institutes zu rollten. Der Pilot des blauweißen Flyers, der eben die drei Behälter ausgeladen hatte, grüßte und im nächsten Moment war er in seiner Pilotenkabine verschwunden. Der Flyer hob ab und glitt leise rauschend in den Abendhimmel. Nonoon war mit den Behältern allein. In diesem Moment kam die Sonne hervor und ein langer goldfarbener Lichtstrahl fiel auf die Transportbehälter. Das Metall der Behälter begann matt zu glänzen und während der Schatten der Nacht wie ein schwarzes Netz von der Stadt her sich dem Institut näherte, hatte Nonoon das Gefühl, als würde sich irgendetwas verändern in diesen letzten Sekunden, er wusste nur nicht, was das war und wie er es hätte beschreiben sollen. Ein warmer Windhauch traf seine Stirn und ließ ihn für drei Sekunden aufschauen. Die Wolken über der Stadt leuchteten tiefrot, als hätte jemand die Brandung des Innenmeeres an den Himmel gespiegelt und mit dem Feuer von heißem Stahl durchglüht.
Nonoon warf einen weiteren regelwidrigen sehnsüchtigen Blick zum Himmel und redete leise zu sich selbst: „Schön rot ist das! Warm. Lieblich! Romantisch. Da drinnen in unserem Institut ist das anders. Nicht warm. Immer nur eisig. Immer eiskalt! Immer zehn Grad unter dem Gefrierpunkt! Und die Luft ist mit Desinfektionsmitteln versetzt. Ohne Schutzanzug kommst du keine hundert Meter weit! Es ist in Ordnung so! Es ist richtig so! Es muss so sein!“ Er brummelte einen Ton heftiger, als er das sonst tat. „Das muss immer so sein!“ Der Nachtschatten hatte das Institut erreicht. Das Metall hörte auf zu glänzen, aber Nonoon hatte das Gefühl, als hätte dieser Strahl etwas Besonderes berührt, etwas, das hungrig war nach Licht und das bereit war, sich in dieses Licht zu erheben.
Er hatte er das Gefühl, als würde ihm jemand zuhören. Jemand, den er nicht sah und dem er das Zuhören auch nicht verbieten konnte. Aber er vertraute auf die Sicherheitsstufe A4 und die Festigkeit von zwei Zentimetern Titanstahl. Er setzte die Schutzmaske auf, verriegelte sie und dirigierte die Rollwagen mit den Behältern in die Schleuse. „Wir müssen durch diese Schleuse“, brummelte er weiter. „Die Schleuse schützt uns! Vor der Neugier der Artesa und vor allem die Artesa vor der Neugier unserer Insassen. Sie ist sicher! Was einmal hier durchgegangen ist, das halten wir unter Verschluss!“ Er sah auf und suchte den oder die unbekannten Zuhörer, deren Aufmerksamkeit so nahe schien, dass er unmittelbar darauf gefasst war, im nächsten Moment einen heißen Atem im Nacken registrieren zu müssen.
Es war Samstagabend. Das farbenprächtige und beeindruckende Samstagabendrot schmückte den Westhimmel so wie jeden Samstag, und Rotam Vargun verfolgte mit den Augen den blauweißen Flyer, der mit seinem Triebwerk eine graue Schneise durch den Sonnenuntergang über Simapi schnitt. Es war Samstag und Rotam Vargun hatte eine ganze Sporthalle für sich allein.
Das ist heute nicht mein Tag, dachte Nonoon. Irgendwas stimmt mit den Rollwagen etwas nicht. Anstelle sauber in die Schleuse einzufahren, standen die Rollwagen mit den Transportbehältern plötzlich quer. Er rammte seine Fußspitze energisch gegen eines der Geräte, und schob die Rollwagen mit seiner ganzen Körperkraft in die Schleuse. Er drückte den Auslöser für das Quarantäneprogramm und kalter Dampf umfing die Behälter und den Techniker. Nach vier Atemzügen war die Atmosphäre ausgetauscht. Jetzt hatte sie die Qualität, die im Institut für Außerartesianische Biologie in Simapi Standard war.
Hinter der Schleuse begannen die Räume des Institutes. Während er hinter den Rollwagen durch die langen Flure lief, las er die Begleitmaterialien, die Lieferformulare und die Untersuchungsaufträge. Es war Samstagabend. Aber seit die Behälter da waren, war es kein normaler Samstagabend mehr. Irgendeine Unruhe ging von ihnen aus. Er wusste nicht, was es war, jedenfalls war der dritte Rollwagen schon wiederholt an irgendwelchen Hindernissen angestoßen. Beim vierten Mal fauchte Nonoon völlig unsinnigerweise den Automaten an, der zwar sehen, aber nicht hören konnte, und sich im Normalfall nicht mal von einer Knallgasexplosion aufhalten ließ.
Nonoon sollte laut Lieferschein die Behälter zur Quarantänestation eins bringen. Zum wiederholten Mal las er mit Kopfschütteln die Untersuchungsaufträge. Da hier gab es was, das einfach nicht richtig war. Quarantänestation eins. Am Samstagabend! Plötzlich war ihm als müsse er sich umzuschauen, ihm war, als ob in dieser Festung irgendetwas Helles hinter ihm schwebte, und ihm beim Lesen zusah, aber es war nichts da, und Nonoon zog die Verschlüsse seines Schutzanzuges nach.
Rotam konzentrierte sich wieder auf die Programmierung des gelben Trainers, denn der blauweiße Flyer flog jeden Abend über den Himmel, von Ost nach West, und einen dünnen Schatten durch die Wolken ziehend. Rotam sah auf die Uhr und konzentrierte sich wieder auf sein Training. Er musste seine Zeit nutzen. Er hatte nur am Samstagabend die Halle für sich allein.
Es gibt auf Artesa etwa 21 Artesianer, die den Dreifachsalto mit vier Schritten Anlauf springen, aber es wäre ein Novum, etwas, das noch nie jemand geschafft hat, ihn mit drei oder gar zwei Schritt Anlauf zu schaffen. Dann ist es nicht mehr weit, ihn aus dem Stand zu springen. Derart grübelnd ging er zurück zum Anlaufpunkt und tippte die Nummer 109 ein. Aber der Trainer verweigerte ihm den Dienst, er verordnete ihm Pause und die Aufnahme von Wasser und Konzentrat.
Es war nicht die erste ungewöhnliche Lieferung, die Nonoon an Samstagabenden in Empfang genommen hatte. Irgendwie waren die Samstagabende immer etwas Besonderes. Als ob die Leute versuchten, am Samstagabend etwas zu regeln, wozu sie an gewöhnlichen Wochentagen nicht den Mumm hatten. Wie zum Beispiel dieser Alte mit den Graslaonen. Im letzten Modur stand er, ein pensionierter Raumbiologe, mit einem ganzen Glaskasten voller grüner falkidischer Graslaonen vor der Tür, mit der Bitte um artgerechte Unterbringung. Der Besucher fühle sich zu alt für die Graslaonen.
Der Techniker hatte den Alten ausgefragt.
„Was atmen die Graslaonen?“
„Stickstoff und Schwefel, und sie legen Schwefeleier“, hatte der Pensionär mit Nachdruck erklärt. Als die beiden das nächste Mal hinsahen, hatten die Graslaonen in ihrem Glaskasten einen Männerpopo gebildet, der Biologe fuhr sie an: „Pfui!“, und redete weiter. „Sie brauchen jeden Tag zwei Stunden Zuwendung, sonst werden sie unartig. Sie sehen ja selbst!“ Er hatte sogar den ausgestreckten Zeigefinger gegen die Graslaonen erhoben, als ob sie dumme kleine Kinder wären, und die gehorchten, sie drehten sich rhythmisch und elegant, als wollten sie sich damit bei dem Techniker einschmeicheln.
Er hätte die Graslaonen ja gerne behalten, sie gaben erstens einen guten Wecker ab und zweitens hörten sie jedes Rascheln im Institut. Vielleicht hätte er sie jetzt sogar sehr gut gebrauchen können. Sie hätten in ihrem Glaskasten getobt und die irrwitzigsten Figuren gebildet.
Aber er hatte sie nicht mehr, denn die Institutsleitung hatte ihn auf Nachfrage angewiesen, die Graslaonen bei der nächsten Gelegenheit in Quarantänestation eins zu bringen. Nonoon hatte sich mit ihnen angefreundet und eine ganze Zeit lang diesen Gang hinaus gezögert. Aber jetzt standen die Graslaonen tiefgefroren im Eiskeller und seitdem wusste Nonoon, dass die Quarantänestation eins alles höhere Leben zum Stillstand brachte, hier wurde die Reinheit der Artesa geschützt.
Wir befassen uns mit Mikrobiologie, nicht mit Intelligenz!, hatte der Direktor gesagt. Das mochte ja so sein, aber in den heute neu angekommenen Truhen lagen drei Lebewesen der Stufen 4 und 5, die waren definitiv um einiges größer und komplexer als jeder Einzeller, den Nonoon in seinem Leben jemals gesehen hatte. Er studierte die Bilder der im Tiefschlaf befindlichen Individuen und dachte an sein Missgeschick oben an der Schleuse, und dann, dass hier irgendwas wirklich schief lief und im geringsten Fall jemand die Untersuchungsaufträge oder die Empfängeradressen vertauscht hätte. Oder die Begleitpapiere. Er ging auf den Transportbehälter Nummer drei zu, der ihm schon auf dem Weg hierher so viele Probleme verursacht hatte, und starrte nachdenklich auf den schwarzen Kasten, dessen Inhalt von wirklich starkem Titanstahl umschlossen war. Er starrte wieder auf die Begleitpapiere, auf das Bild mit dem blassen Gesicht und den kurios geflochtenen Haaren. Ihr Gesicht war flach und ohne besondere Merkmale. Sie ist im Tiefschlaf, dachte er. Sie kann gar nicht wissen, was hier abläuft. Sie träumt hinter dem Stahl vielleicht gerade von einem kühlen Wintertag. Natürlich träumt sie. Sie ist schließlich ein Lebewesen Stufe 5. Sie kann aus dem Kasten heraus keine Rollwagenhirne durcheinander bringen. Sie ist zugedröhnt mit Drogen und unterkühlt und überlebt das bis hierher nur deshalb, weil die Atmosphäre im Behälter weniger als ein Prozent Sauerstoff enthält.
Der blauweiße Flyer draußen war lange schon vorübergerauscht und Rotam hatte ihn bereits vergessen. Vor der Halle rannte eine Gruppe Kinder vorbei, alle mindestens fünf Jahre jünger als Rotam, hinten auf den Jacken hatten sie alle große „N“ aufgeklebt, zwei Pädagogen folgten ihnen in mäßigem Schritt.
„Niemandskinder aus dem Niemandsland“, dachte Rotam, holte aus seiner Tasche einen Früchteriegel und biss ab. „Wenn wir uns nicht um die dort kümmern würden, dann würden sie als Erwachsene noch mit den Fingern essen. Sie kommen her, haben alle lange Haare, schwarze Ränder unter den Fingernägeln und lutschen andauernd am Daumen. Im Endeffekt erkennst du sie immer wieder an ihren krummen Zähnen.“ Rotam hatte den Traubenzuckerriegel artig runtergekaut, aber er bekam immer noch keine Starterlaubnis, er sollte noch 50 Milliliter Calcium einnehmen. Die Gruppe Niemandskinder nahm jetzt Aufstellung und händchenhaltend liefen sie langsam auf den Glasweg zu, der silberblau beleuchtet wie eine Brücke durch den Wald führte. Rotam verlor sein Interesse an ihnen, denn eben gab der Trainer den nächsten Sprung frei. Aber zuerst meldete sich sein Tele und Rotam musste wieder anhalten. Sell wollte ihn sprechen.
„Hallo Rotam!“, sagte sie.
„Hallo Sell, was gibt’s?“
„Rotam, ich muss meine Trainingsstunde heute ausfallen lassen, mein Blutbild ist völlig durcheinander.“
„Und?“
„Also, ich komme heute nicht. Kannst ja meine Trainingsstunde übernehmen. Falls Taisieh dir zusagt.“
„Taisieh ist Klasse.“
„Oder du kommst bei mir vorbei. Ablenkung soll gut sein bei Blutbildchaos.“
Rotam hätte gehen sollen. Er hätte nicht seine Zeit mit Taisieh vertrödeln sollen. Dann wäre sein Leben genauso geworden, wie das seine Mutter, seine Ärzte und seine Sportlehrer für ihn geplant hatten. Aber Rotam ging nicht. Er hatte heute die Sporthalle für sich allein. Und dieses Privileg würde er nicht für einen ganzen Liter Sen weggeben.
Der Roboter der Quarantänestation eins schob nun die kritische Truhe Nummer drei an die zentrale Stromversorgung. Bei den anderen zwei Behältern war alles gut gegangen. Keine Zwischenfälle. Der Greifarm zückte die Anschlusskontakte. Jetzt berührten sie sich. In diesem Moment gingen die Lampen aus, blaue Funken tanzten um die Kontakte, der Transportbehälter hatte begonnen, Unmengen von Energie aus dem Hausnetz zu ziehen, und Nonoon wurde es eiskalt unter seinem Klimaanzug. Er warf das Tablet in eine Ecke, rannte zu dem Roboter und trennte die Verbindung mit einem kurzen heftigen Fußtritt. Gleichzeitig alarmierte er den Notruf. Ihm wurde heiß und dann wieder kalt. Er hob das Tablet wieder auf. Ruhig bleiben, ruhig bleiben! Du bist hier Profi, sagte er zu sich selbst. Wenn du hier versagst, bist du morgen ein Niemand! Alles, nur das nicht!
Als erstes hangelte er sich vom Wandbord einen Brandschutzoverall. Der schloss sich auf Knopfdruck um seinen Körper. Damit abgesichert, ging er langsam auf die defekte Truhe zu. Die Temperatur innerhalb des Behälters war inzwischen weit über die von siedendem Wasser angestiegen. Nonoon hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Da drin wurde gerade jemand gekocht. Was für ein Anblick, wenn die morgen den Deckel abnehmen werden.
Die Temperatur stieg weiter an. Das Zischen nahm zu. Fieberhaft studierte er zum hundertsten Mal die Begleitinformationen. „Hier ist was ganz gewaltig danebengegangen“, dachte er und las laut, als könne er durch das laute Lesen den Widersinn des Inhaltes doch noch verstehen. „Unterbringung unter artgerechten Bedingungen! Und das im IAB in Simapi?“ Es gibt keine artgerechte Unterbringung im IAB in Simapi! Das IAB tötet immer zuallererst alle eingehenden Materialien, dann fertigt es Kopien an und untersucht diese Kopien auf die Kompatibilität mit der heimischen Biosphäre oder Verwertbarkeit außerhalb derer. Alles andere landet auf Eis, da wo die Graslaonen liegen? „Kleine, hast du ein Glück, dass dich der Transportbehälter vor dem Aufwachen gegrillt hat!“
Von der Notrufzentrale kam endlich ein Rückruf. Soll der Krisenstab aktiviert werden? Besser wäre es. Am besten sofort! Nonoon hastete zum Eingang der Quarantänestation zurück und löste die Biosphärenisolation aus. Aber die Schranken waren lange nicht mehr in Betrieb gewesen. Eine klemmte. Und der Behälter begann zu rücken, zu rumpeln, dann flog der Deckel auf und ein übernatürlich helles Licht strahlte aus der Truhe. In dem Licht erhob sich etwas und das Leuchten ließ langsam nach, aber das Fremde bewegte sich nicht auf ihn zu, es verhielt einen Moment im Raum, als wolle es sich orientieren, dann bewegte es sich auf das nicht funktionierende Außenwandschott zu, hinter dem sich ein Fenster befand, und dort marschierte es hindurch, als wäre das Fensterglas aus Folie. Die Schranke fiel hinter ihm zu und hinterließ einen völlig geschockten Techniker, eine um Hilfe schreiende Alarmanlage und orangefarbene, blutige Fußspuren auf dem Fensterboard.
II.
„Na, das mit dem Taisieh ist schon ein gutes Angebot“, brummte Rotam. „Danke Sell! Melde dich mal, wenn ich was für dich tun kann.“ Er legte eilig auf, sprang noch zweimal, dann signalisierte ihm der Trainer das Ende seiner Hallenstunde und stellte sich auf das Konzentrations-Bewegungsprogramm Taisieh um.
„Wollen doch mal sehen, ob es bei Taisieh nicht auch ein paar Sprünge gibt?“, sagte Rotam er zu sich selbst und machte sich daran, den Rechner neu zu programmieren. Er begann mit den ersten Übungen für Taisieh. Dann gab es ein Geräusch, als wäre von draußen etwas sehr Großes, Weiches, gegen die Scheibe geprallt. Die Scheibe bebte über die ganze Fläche.
Es war dämmrig geworden, aber seit dem Geräusch war die Halle verändert. Rotam sah sich um, er suchte nach der Ursache dieser Veränderung und konnte sich seine Unruhe nicht erklären. Er wusste, dass er durch die großen Glasscheiben von außen gut zu sehen war, und manchmal, vor allem an den ersten Abenden hatte er lange gebraucht, um sich einzureden, dass niemand ihn beobachten würde, wenn er abends hier allein in der Halle trainierte. Er war zur Sicherheit selbst einmal um die Halle gelaufen und hatte festgestellt, dass direkt vor der Halle eine Wasserfläche war, deren Grund man nicht sehen konnte, und dass man schon eine Flugmaschine herholen müsste, um trockenen Fußes bis an die Scheibe heran zu kommen. Rotam glaubte nicht, dass jemand extra mit einem Kleinflugzeug anrücken würde, nur um ihm abends beim Trainieren zuzuschauen. Aber ein mulmiges Gefühl hatte er immer, wenn er nach der großen Glasscheibe sah. Besonders jetzt, seit dem eigenartigen Geräusch.
„Sell, bist du das?“, fragte er in die Leere der Halle hinein. Er blieb stehen und sah sich um. Ein Lichtschimmer war lautlos vorbei geglitten und wieder verschwunden. Rotam hatte ihn nur im Augenwinkel wahr genommen und deshalb mehr als einen Irrtum seiner Sinne registriert.
Die letzte Dämmerung war verloschen, in wenigen Minuten würden die drei Raumstationen im Orbit aufleuchten, goldrot und prächtig. Lerasische Raumstationen, dachte Rotam. Lerasia ist eine starke Nation. Die stärkste Nation auf Artesa. Wir haben einen Herrscher, der wirklich in der Lage ist, die Kraft eines ganzen Volkes zu bündeln und zur universellen Vormacht zu führen. Und der dafür sorgt, dass wir vor unliebsamen Gästen von da draußen sicher sind.
Es raschelte am anderen Hallenende.
„Sell?“
Keine Antwort. Rotam konzentrierte sich wieder auf sein Training. Er hatte bei Taisieh weiche, fließende Konzentrationsübungen gefunden und fand langsam Spaß daran. Das Gleiten, Gehen, Drehen und der Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung könnte helfen, die fehlenden fünf Prozent der verfügbaren Sprungenergie zu aktivieren. Wieder spähte er in die dunkle Ecke der langgestreckten Sporthalle, aus der er die Geräusche vernommen hatte. Bewegte sich dort etwas?
Rotam beendete den Übungsteil. Er senkte die Arme und atmete dabei langsam und deutlich aus, dann rief er dem Trainer ein Pausenzeichen zu und lief zügig durch die ganze Halle. Die eigentlich überall hell erleuchtet sein sollte, aber an der Tür zum Schiedsrichterquartier stand heute ein senkrechter Schatten, viel dunkler, als er ihn sonst dort gesehen hatte.
Rotam konnte sich nicht erinnern, dort überhaupt jemals einen Schatten gesehen zu haben.
„Sell! Das ist überhaupt nicht lustig. Warum rufst du nicht vorher an, wenn du doch noch zum Taisieh kommen willst?“
Wieder keine Reaktion.
Im Schatten stand nicht Sell. Sell war wie Rotam hoch gewachsen, schlank, langbeinig und mit einem auffällig schönen Tattoo auf der Kopfhaut, das sich vom Stirnansatz bis zum Nacken hinzog, deshalb hielt sie ihren Kopf seit einiger Zeit von Haaren frei, bis auf einen einzigen dünnen Zopf an der rechten Schläfenseite. Die Gestalt im Schatten war nicht Sell. Sie war einen ganzen Kopf kleiner, sie hatte lange, sehr lange helle Haare, schmutzige Fingernägel und keine Schuhe an. Am rechten Zehenballen klebte getrocknetes Blut, vielleicht war es mit Sand vermischt, denn es war nicht dunkelrot, sondern orangefarben. Sie ist ein Niemandskind, dachte Rotam. Was hat sie hier zu suchen? Trotzdem wollte er vorsichtig sein. Selbst unter den Niemandskindern gab es solche, die später zu Macht und Ansehen kamen, auch wenn sie nie eine Statur vorweisen konnten wie Sell oder gar Rotam, der seit frühester Kindheit an dieser Statur arbeitete.
„Suchst du jemanden?“, fragte er kurz.
Als Antwort imitierte sie mit den Händen ein paar der Gesten, die Rotam sich vorhin im Taisieh-Training angeeignet hatte. Schöne Gesten. Der Trainer hätte seine Freude gehabt.
„Kannst du nicht reden?“, fragte er eine Spur freundlicher, weil ihn die Gesten beeindruckt hatten. Sie trat einen Schritt vor, nur halb aus dem Schatten heraus, aus dem sie wie ein Relief herausragte, dahinter verbarg der Schatten etwas, das glitzerte und schimmerte schwach wie eine Silberfolie im Wind.
„Du kannst nicht hier bleiben!“, sagte er betont deutlich und versuchte, einen Blickkontakt herzustellen. „Erkläre mir, wer du bist, und ich helfe dir, nach Hause zu kommen.“
Rotam sah in Augen, die schwarz waren wie die Tiefe des Universums, aber er blieb ernst und seine Haltung fordernd. Statt einer Antwort reichte sie ihm ihre Hände aus der Tiefe, die waren auch zerschrammt. Und plötzlich spürte Rotam, dass es noch etwas gab, was dieses fremde Wesen von Sell unterschied, Sell, die von einer Laune in die andere fallen konnte, die an manchen Tagen an ihren Freunden vorbeiging, ohne dass diese etwas von ihr merkten, Sell, der man ihre ganze Schulausrüstung wegnehmen konnte, ohne dass Sell sich dagegen gewehrt hätte, Sell war eine falsch programmierte Zeile im Programm Lerasia, aber diese Fremde war die Aufgabe, an der das Programm scheitern konnte. Ihre Aura war so stark, dass Rotam ohnmächtig ihrer stummen Aufforderung folgte, er legte seine Hände auf die ihren, er stürzte in ein Meer aus Emotionen, Angst und Erinnerungen, seinen eigenen, ihren und fremden, die er nicht einzusortieren vermochte. Er schloss die Augen, fühlte sich in einer heißen, glitzernden Umgebung und hörte den Satz: „Sei froh, dass der Apparat dich vor dem Aufwachen gegrillt hat!“
Rotam wollte mehr wissen, er hielt ihre zarten, zerschrammten Hände fest, er schwirrte weiter durch diese fremde Welt, die ihr Zuhause war, wollte aufklären, beruhigen, sie und sich selbst, doch plötzlich krachten Maschinengeräusche draußen, die große Glasscheibe brach klirrend in die Halle, er riss die Augen auf, aber da war die Fremde weg, verschwunden wie ein großer Irrtum, wie ein Alptraum, wie ein Geist. Uniformierte kamen hereingestürmt, sie leuchteten die Ecke aus, sie hielten überall Strahlungsmessgeräte hin und sie hielten sie auch an Rotams Hände. Jemand sprach von Dekontamination und versuchte, mit Rotam zu reden, aber der starrte nur in die Ecke und dachte an diesen letzten Satz. Immer wieder und immer aufs neue und er war nicht in der Lage, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen, weder einen davor, jenseits oder darüber hinaus.
III.
Lakolar Annselarmo war mit einem Schlag hellwach geworden. Sein Puls begann zu rasen und er hatte das Gefühl, dass jetzt in diesem Moment etwas ganz Großes, Außergewöhnliches auf ihn zukam. Lakolar vertraute seinen inneren Sinnen, wenn sie ihn einmal verlassen würden, dann wäre das das Ende seiner Herrschaft über diese Welt.
Als Lakolar ein Kind war, hatte er eine seltsame Krankheit.
Sie ließ ihn Arme schlenkern, Füße werfen, Schaum auswürgen und grelle Schreie ausstoßen. Seine Eltern hofften erst, das würde sich geben mit Medikamenten und besonderer Zuwendung, aber es gab sich nicht. Lakolar durfte nicht mit anderen Kindern zusammenkommen, er durfte nicht allein aus dem Haus und durfte nicht schwimmen und laufen gehen. Lakolar saß stundenlang am hellen Fenster und schaute der weißen Sonne nach, wie sie von Ost nach West über den Himmel wanderte, und wartete auf den nächsten Anfall. Er wollte zu keinem Arzt, er wollte keine Medikamente und er wollte auch keine Zuwendung. Wenn das Kribbeln im Genick begann, begann für Lakolar eine Reise in eine andere Welt. Er kämpfte mit schwarzen Ungeheuern, er rang mit giftigen Insekten und er kämpfte um die Existenz seines Planeten. Erst wenn er die Ungeheuer nieder gerungen, eingesperrt und angebunden hatte, konnte er zurück in seine reale Welt mit dem Fenster und der Sonne, und dann war ihm wieder gut. Niemand würde seine kleine Welt kaputtmachen, wenn er, Lakolar, stärker war als die Geister der Finsternis.
Schließlich sollte er in die Schule gehen, deshalb brachten ihn seine Eltern zu einem Spezialarzt, der die Anfälle behandeln sollte. Auch der riet davon ab. Diese Anfälle haben eine bestimmte Funktion für das Kind. Wenn wir sie abstellen, wird ihr Kind sehr krank werden!
Aber Lakolar sollte ein normales und erfolgreiches Kind werden, sie bestanden auf der Behandlung. Lakolar wurde auf einen großen Tisch gelegt, er solle schlafen, sagte der Arzt, schlafe, und Lakolar wehrte sich gegen den Schlaf, aber die Medikamente waren stärker als sein kleiner Körper. Lakolar schlief ein, träumte ein letztes Mal von den Ungeheuern, die aber verwandelten sich von großen, greifbaren Einzellebewesen in viele kleine giftig gelbe Seifenblasen, die ihn umschwirrten. Als Lakolar aufwachte, waren sie immer noch da. Als er die Augen öffnete, nicht mehr. Aber er spürte ihre Anwesenheit mit einem unguten Gefühl im Bauch. Nur die Ungeheuer fand er nicht mehr. In der Schule schwirrten die gelben Seifenblasen besonders dicht um einen Lehrer, der die Schüler ungerecht behandelte. Eines Tages kam ein Besucher zu den Eltern und wollte sie zu einem Umzug bewegen. Lakolar sah ihn giftig gelb leuchten, und markierte einen Rückfall in die Tiefe der Epilepsie, um den Besucher zu vertreiben. Er hatte Erfolg damit, musste aber wieder zu dem Arzt. Nun konnte er die giftigen Blasen nur noch wahrnehmen, wenn er fest die Augen schloss, und sich auf die Männer, Frauen, Häuser, Straßen, Flugboote und Raumschiffe konzentrierte, die er erkennen wollte. Diese Fähigkeit, mithilfe von purer Intuition zwischen gut und böse unterscheiden zu können, zwischen schlecht und vollkommen, diese Eigenschaft ließ ihn groß werden im Lande Lerasia. Und als Lakolar endlich die Spitze der Hierarchie erklommen hatte, entschloss er sich, die Augen nie wieder zu öffnen, weil er ohne das Tageslicht besser sah, tiefer empfand und präziser denken konnte. Vierzig Jahre war das nun schon her. Seinen Sehnerv hatte er mit einem Anschluss an die Computersysteme von Lerasia koppeln lassen, er sah mit dem inneren Auge und er las direkt aus den Systemen heraus.
Jetzt, in diesem Moment wurde ihm mitgeteilt, dass ein unbestimmter VORFALL im Institut für Außerartesianische Biologie geschehen war, er studierte die Bilder und Informationen und fühlte sich 70 Jahre in die Vergangenheit zurückgeschossen. Ein Ungeheuer war ausgebrochen und versetzte die Verantwortlichen auf Artesa in Angst und Schrecken. Lakolar konnte nicht genug sehen. Er war zurück in den Träumen seiner Kindertage und die Jagdlust in ihm erwacht. Er wollte es besitzen. Unterwerfen. Erkennen. Seine zerstörerische Potenz zähmen. Sich zu eigen machen.
Er richtete sich auf, und fühlte seine müden Glieder brennen. Bist du nicht schon ein wenig alt, für eine solche Jagd in der realen Welt, fragte er sich plötzlich. Alter ist kein Kriterium für Kompetenz!, fauchte er selbst zurück. Schau dir diesen Nachrichtenwust an! Es geht alles drunter und drüber. Sie sind unfähig. Perfekte Bewacher eines ewigen Friedens. Ohne diesen Frieden agieren sie wie die Idioten.
IV.
Vier Männer der Bereitschaft der Bodensicherheit von Artesa knieten um Rotam und versuchten, ihn aus der Bewusstlosigkeit zurückzuholen. Sie hatten seine Ausweise studiert und seine Mutter angerufen. Clarissa Vargun war Minuten später eingetroffen und starrte mit entsetzten Augen in das Chaos der Turnhalle. Dann hatte sie nur noch Augen für ihren Sohn.
„Geben Sie ihm noch einen Schub Adrenalin!“, sagt einer der Männer und reichte eine kleine Ampulle herüber.
„Mann, du bist Sportler, so ein kleiner Schubser kann dich doch nicht so aus der Bahn werfen!“, murmelte er.
„Ich sagte Ihnen, er muss in ein Krankenhaus!“, fauchte Clarissa.
„Und was erzählen Sie den Notärzten? Dass sein Kreislauf bei der dritten Drehfigur von Taisieh kollabiert ist?“
„Das sieht hier nicht aus wie das Ergebnis von Taisieh-Training!“, gab sie erregt zurück.
„Ma!“
„Rotam! Rotam, siehst du mich?“
„Sie hatte Flügel, verstehst du das?“
„Wovon redest du?“, fragte Clarissa zurück.
„Ma, sie ist einfach verdunstet, wie ein Licht, das ausgeht.“
„Er phantasiert!“, warf einer der Männer dazwischen.
„Sag doch endlich, was passiert ist?“
„Sie ist sehr stark.“
„Oh, Mann, auch das noch!“ Einer der Männer richtete sich auf und griff nach einem besonderen Medikamentenkoffer.
„Rotam, wovon redest du?“
„Bleib liegen, schön ruhig, wir werden dich ganz schnell von diesem Alptraum befreien.“ Während er redete, hatte er den Koffer geöffnet, einen Rechner und zwei weitere Ampullen mit blaugrüner Flüssigkeit entnommen. Clarissa warf einen Blick darauf und wurde kreideweiß.
„Nichts werden Sie verabreichen, keine Psychopharmaka, keine Schlafdrogen!“
„Er kann nicht sein ganzes Leben herumlaufen und von geflügelten Fremdwesen phantasieren!“, fuhr der Mann auf und tippte Rotams Körpergewicht in den Rechner.
„So! Und wer ist daran schuld? Er doch nicht! Und ich auch nicht!“
„Hören Sie, wir haben hier ein Präparat. Das wirkt ganz sanft. Es löscht nur das Kurzzeitgedächtnis. Nicht mehr als eine Stunde. Wenn wir jetzt noch länger warten, dann müssen wir höher dosieren.“
„Sie lassen die Finger davon! Erstens sind Sie kein promovierter Pharmakologe. Zweitens irren sich sogar promovierte Pharmakologen in der Dosierung dieses so sanften Präparates. Ich habe darüber eine Reportage gemacht.“
„Sie arbeiten für Thraxon?“
„Ja, ich bin die Lokalkorrespondentin für Simapi West“, sagte Clarissa und richtete sich auf.
„Auch das noch! Welcher Eierkopf hat diese Vorschrift geschrieben, dass die Familie zu verständigen ist? Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber wir müssten jetzt eine Meldung machen. Wir würden einen maximalen Makel in seine Biografie schreiben. Lassen Sie mich diese eine Stunde aus seinem Gedächtnis löschen und wir können alle so tun, als wäre nichts geschehen.“
„Jetzt mal langsam! Sollten Sie versuchen, dieses Präparat anzuwenden, dann sende ich das, was mein Kind eben gesagt hat, als unkommentierten Mitschnitt auf das Lokalfernsehen. Die Abzeichen auf Ihren Uniformen sprechen dann den Rest. Ist Ihnen das lieber?“ Clarissa hielt ihr Phone hoch. Die Betriebsanzeige leuchtete und der Datenstrom war schon unterwegs zu irgendeinem Empfänger, den der Beamte nicht kannte. Es war genauso gut möglich, dass ihnen jetzt schon tausend Neugierige auf ihren Bildschirmen zu Hause zusahen. Er musste die Journalistin dazu bringen, das verdammte Ding auszuschalten.
Sagen Sie endlich, was Sie wollen?“, knurrte er.
„Wir sollten miteinander reden wie Erwachsene. Wenn Sie jetzt dieses Präparat anwenden, dann löschen Sie vielleicht wichtige Detailinformationen aus seiner Erinnerung. Und auf die dürfen Sie nicht verzichten, wenn Sie die Fremde finden wollen. Danach vergessen wir das alles. Rotam ist doch nicht blöd. Er kann schweigen und er wird auch schweigen. Genau wie ich!“ Clarissa Vargun hielt ein. Sie wendete ihren Kopf Rotam zu und löste die Härte aus ihren Gesichtsmuskeln.
„Gut. Aber stecken Sie endlich das verdammte Phone weg!“, fauchte der Sicherheitsmann zurück.
Sie tat es wirklich.
„Hat sie dir weh getan?“, fragte sie leise den großen Jungen. Sie streckte die rechte Hand aus und hob damit vorsichtig seinen Kopf an. Er hat so wirklich richtig dichtes schwarzes Haar. Clarissa lächelte. Und klare Augen. Ich lasse mir mein Kind nicht von diesen Leuten kaputt machen.
„Hat sie dir irgendwie weh getan?“, fragte sie ein zweites Mal, immer noch leise, aber sehr eindringlich.
„Nein. Wieso?“
„Und? Versuch dich zu erinnern! Wie hat sie ausgesehen?“
Aber Rotam sagte nichts. Er lächelte. Seine Augen lächelten. Kleine strahlende Sterne standen in seinen Augen. Silber strahlende Sterne, glänzend wie Wassertropfen im Scheinwerferlicht. Sie lächelten, so wie Clarissa es noch nie bei ihrem Kind gesehen hatte und so, wie sie es niemals mehr von ihm vermissen wollte.
Plötzlich wurde er ernst „Sie darf nicht hier bleiben“, sagte er leise, sodass nur sie es verstehen konnte. „Sie muss zurück in ihre Heimat. Zu ihren Leuten. Ich habe gesagt, dass sie sicher dorthin kommt, wo sie zu Hause war. Und ich halte, was ich sage!“
Clarissa wurde noch weißer im Gesicht. „Du verwechselst da bestimmt irgendetwas, Rotam. Du stehst unter Schock!“ Aber dann riss sie sich zusammen, arrangierte sich mit den Männern des Bodensicherheitskommandos und ließ sich und ihren Sohn nach Hause bringen. Eine ganze Ampulle von diesem blaugrünen Zeugs hätte sie ihm in den Hals drücken mögen. Aber dazu war es jetzt spät.
V.
Lakolar Annselarmo hatte alle Beteiligten DES VOFALLES zusammengerufen, er musste sich ein Bild machen, darüber, wie DIESER VORFALL zur Artesa gekommen war.
Am großen runden Beratungstisch in Lakolars ewig dunklen Arbeitsräumen saßen die Kommandantin der PRAMOS Martia Kooh, die die drei Hibernationskammern aus der Tiefe des Alls mitgebracht hatte, Hauke Vollams, der Direktor des IAB in Simapi, Tarumor Tass, der als Blue Frog der lerasischen Raumsicherheit eigentlich das Eindringen jeglicher Fremdwesen auf Artesa verhindern sollte, und Sermon Larka, der Red Spin der örtlichen Bodensicherheit in Simapi.
Lakolar Annselarmo hörte das Atmen der Kommandantin der PRAMOS, das war flach und unregelmäßig, und Lakolar witterte in ungünstigen Momenten das mild süße Parfüm des IAB-Leiters, den man von einem Kongressbankett abgeholt hatte. Und er hatte mit Unwillen die massige kalte Luft wahrgenommen, die Sermon Larka bei seinem Kommen mit herein geweht hatte.
Lakolar begegnete Sermon Larka heute zum ersten Mal. Die Larka-Familie ist ein bedeutender Machtfaktor in der lerasischen Hauptstadt Simapi, dachte er. Ich muss ihrer Arbeit mehr Aufmerksamkeit widmen.
Zur Zeit sollte Larka zusammen mit Tarumor Tass die Verfolgung DES VORFALLES organisieren. Er begann zu berichten.
DER VORFALL sei nach seiner Flucht aus Simapi von einer Energietrasse zur anderen geflogen und hätte sie alle außer Betrieb gesetzt. Das sei ein Verhalten, das könnten die Regierungsgewalten der Artesa nicht tolerieren. Man beobachte die Bewegung DES VORFALLES und berechne die Menge an akkumulierter Energie. Gegenmaßnahmen seien seiner Meinung nach das Stellen einer geeigneten Falle, das Verfolgen mit energieabsorbierenden Gasen oder Flüssigkeiten, oder als letzter Ausweg, eine Destruktion von einer der Raumstationen aus. Dazu müsse man DEN VORFALL allerdings in unbewohntes Land locken, am besten außerhalb der strukturierten Artesa, und dann vernichten.
Genau das wollte Lakolar nicht. Ihn begann die Art und Weise der Fortbewegung und der Akkumulation von beachtlichen Energiemengen durch DEN VORFALL zu faszinieren. Zumal DER VORFALL kein Kraftfeld ausbildete, wie es den gestohlenen Energiemengen angemessen wäre, sondern sie verschluckte, oder umwandelte, oder sonst was; eine Herausforderung für die Wissenschaft. Und dann hatte DER VORFALL offensichtlich noch eine andere Komponente.
Lakolar wandte sich an die Kommandantin der PRAMOS. Ihr Bericht war rudimentär und widersprüchlich gewesen. Lakolar wollte mehr wissen.
„Sie haben also auf diesem Boden-Planeten vier höhere Lebewesen dazu gebracht, freiwillig an Bord der PRAMOS zu gehen?“
„Nicht ganz. Meine Besatzung bestand darauf, dass wir sie mitnehmen. Sie sollten unseren Fundus ergänzen. Boden gilt nicht als intelligent besiedelter Planet, ich verweise auf einschlägige Vergleiche in den interplanetaren Forschungsrichtlinien. Wir haben die Definitionsprozeduren nach Vorschrift durchgeführt, die Protokolle befinden sich an Bord der PRAMOS zur öffentlichen Einsicht.“
„Sie haben Ihre Passagiere vor der Aufnahme untersucht!“
Die Kommandantin legte die Untersuchungsberichte eines riesigen schwarzen Warmblüters, eines als Kindermädchen benannten Individuums und eines Hauslehrers vor. Eines Hauslehrers, dachte Lakolar. Ganz so ohne Intelligenz scheint dieser Boden-Planet, den die PRAMOS dort im unbekannten Territorium untersucht hat, gar nicht zu sein. Lakolar legte die Berichte in seinen persönlichen Scanner und zog sie sich auf den Schirm seines inneren Auges.
„Sie hatten vier Individuen an Bord!“, sagte er mit einigem Erstaunen. „Vier Individuen in den bordeigenen Hibernationskammern. Es fehlen eine Kammer und ein Individuum!“
„Ja. Ich habe entschieden, dass wir die vierte entfernen, da wir bei der betroffenen Person eine für uns gefährliche Krankheit befürchteten. Wir haben die Kammer ins All abgestoßen, nachdem wir wieder einen bekannten Nachrichtenhorizont aufgefunden haben.“
„Kann es sein, dass Sie die falsche Kammer rausgeworfen haben und die Krankheit, in Anführungsstrichen -Krankheit-, mitgebracht haben“, sagte Sermon Larka plötzlich.
„Das wäre eine Theorie!“, fuhr Lakolar dazwischen. „Muss aber nicht. Es kann auch eine andere Täuschung vorgefallen sein. Aber wenn ein solcher Tausch vorgenommen wurde, dann stellen sich mir sofort jede Menge unbequemer Fragen. Alle Mitglieder Ihrer Crew wissen, dass jegliche Täuschung gleichgesetzt wird mit Sabotage und die sofortige Entfernung aus dem Dienst zur Folge hat. Ich erkenne in Ihrem Bericht nichts, was ein solches Verhalten rechtfertigen sollte.“
Martia war vorbereitet. „Wir waren in einem uns fremden Teil des Universums gestrandet, wir haben ein halbes Jahr im Orbit von Boden verbracht, ohne eine Chance auf Rückkehr. Wir haben diese vier Individuen aufgenommen, um ihre Anpassungsstrategien zu untersuchen und uns selbst anzupassen. Sozusagen als Alternative zum langsamen Sterben an Bord der PRAMOS. Dann zufällig finden wir doch wieder dieses Tor, durch das wir dorthin versetzt wurde, und können zurückkehren.“
„Es gibt keine Zufälle im All!“, sagte Tarumor Tass mit dem Brustton der Überzeugung.
„Vielleicht doch?“
„Nein, es gibt keine Zufälle im All. Zumindest nicht in solchen Dimensionen. Wer hat die Aufnahme der vier Passagiere organisiert?“
„Sal Karpi, unser Planetologe. Zusammen mit seinem Bruder Pet. Fragen Sie die beiden!“, stieß die Kommandantin ungewohnt heftig aus.
Lakolar wollte eine Fahndung nach den beiden Brüdern auslösen, musste zu seinem Erstaunen feststellen, dass diese bereits lief und seit zehn Stunden ohne Erfolg war. Wo bleiben diese Karpi-Brüder? Warum finden wir sie nicht? Sie müssen doch irgendwo gegessen, geschlafen oder geduscht haben! Ihre Cheenports sind aktiv! Warum hat niemand ihre Signale aufgenommen, fragte sich Lakolar mit einiger Verwunderung.
„Wir haben die restliche Besatzung der PRAMOS in den letzten Stunden ausführlich verhört“, fügte Tarumor Tass jetzt ein, und seine Stimme hatte plötzlich was von Zweifel.
Tarumor Tass, mein ältester Freund, was führst du im Schilde? Lakolar lächelte in sich hinein. Wollen wir doch mal hören, was du zu sagen hast.
„Nach deren Aussage“, fuhr Tass fort, „gab es sehr intensive Kontakte zu den Bodenbewohnern!“ Jetzt begann er die Kommandantin anzufauchen. „Wesentlich intensivere, als Sie uns weis machen wollen!“
„Hat das jetzt irgend eine Bedeutung für unser aktuelles Problem?“, fragte diese zurück, mit Eis in der Stimme und staubtrocken.
„Die meisten der Befragten sagen uns, dass sie dort freundschaftlich aufgenommen worden seien und mit dem Gedanken gespielt haben, dort zu bleiben. Was ist auf diesem Boden-Planeten passiert?“, zischte er drohend.
„Ich musste handeln“, fauchte Kommandantin zurück. „Meine Crew begann sich von der PRAMOS abzusetzen. Ich brauchte die vier Kreaturen vom Boden als Geiseln, um meine Crew zurückzuholen!“ Sie holte tief Luft. „Ich vermisse Boden keinen Moment lang.“
Sie hat Geiseln genommen!, dachte Lakolar verwundert. Langsam kommen wir den Tatsachen etwas näher. Sie verheimlicht uns aber immer noch was, dachte Lakolar. Im normalen Verfahren gibt man dann die Geiseln eigentlich zurück. Es sei denn, sie hätte einen besonderen Handel mit ihrer Crew abgeschlossen, der diese zur Rückkehr zur PRAMOS veranlasste. Oder sie ist von etwas anderem getäuscht worden.
„Sie müssen diese vierte, diese kranke Person doch auch analysiert haben! Wo ist der Bericht dazu?“
„Er wird in unseren Rückspeicherungssystemen liegen. Ich kann eine Suche danach veranlassen.“
In ihren Rückspeicherungssystemen, dachte Lakolar entsetzt. Diese Frau hatte gar nicht vor, uns diesen Bericht vorzulegen. Lakolar war am Ende seiner Geduld. Er sah hellgelbe und giftgrüne Punkte vor seinem inneren Auge, er musste jetzt diese Situation beenden.
„Egal wie, in der nächsten halben Stunde will ich diesen Bericht haben!“ Die Kommandantin sagte zu, holte ihr Com heraus und wollte eben an Bord der PRAMOS anrufen.
„Draußen!“, fauchte jetzt Lakolar, der in seinen Beratungen keine Coms gestattete.
„Die Verfolgung DES VORFALLES“, sagte er, „übernimmst ab jetzt du, Tarumor mit dem Personal der Raumsicherheit. Du bekommst alle Mandate, um diese Mission auf Artesa durchzusetzen. Ich übermittle das auch an den Antragsprüfer der Thraxonischen Nation und der Primesorischen Königin mit der Bitte um Unterstützung. Sorge dafür, dass die Zivilbevölkerung so wenig wie möglich damit konfrontiert wird.
Sie, Sermon Larka, werden alles daran setzen, die Karpi-Brüder aufzufinden. Spätestens morgen Vormittag will ich sie zur Vernehmung hier haben.“
Irgendwie stimmte jetzt die Aura wieder. Die drei verbliebenen Herren standen auf, und verließen im Stechschritt den Raum. Lakolar fiel auf, dass Hauke Vollams, der Direktor des IAB, noch nichts zu den Ereignissen gesagt hatte. Er war schließlich der erste Geschädigte gewesen, und eigentlich ein Spezialist für außerirdisches Leben. Aber Vollams hatte geschwiegen wie eine Schabe, die sich in einer Ritze verkriecht, um dann im unbemerkten Moment hervorzukommen und Lebensmittel zu stehlen.
VI.
Der Regisseur für Spezialeffekte Joa Rosenn lag in seinem Hängestuhl im Garten und konnte die Augen nicht schließen. Wir sind alle Monster, dachte er. Ich muss das am besten wissen. Wer, wenn nicht ich.
Joa Rosenn erfand pro Dekade zwei neue und gefährliche Ungeheuer, die zur Hauptfernsehzeit von einer mutigen und klugen Verfolgercrew eingeholt, umkreist, betäubt, erschossen und vernichtet werden konnte. Joa besaß ausreichend Phantasie und Informationskanäle zu echten Monsterkennern, um auf diesem Gebiet immer neue Ideen zu produzieren, aber langsam ging ihm der Stoff aus, nachdem alle schnellen, dicken, großen und winzig kleinen Monster aus dem All, die man sich denken konnte, bereits betäubt, erschossen und vernichtet waren, und die Serie eigentlich vom Sendeplatz gehen müsste. Über seinem Kopf glitten das Orbitarium, der Raumhafen und die Energiestation hell leuchtend genau nach Flugplan abwechselnd über den Nachthimmel und alle vierzehn Minuten zog eine Puderwolke vorüber und warf einen dünnen Schatten zwischen die Wohnhäuser. Eine Reihe feuchter Wolken mit Regen hatte vor einer Stunde den Puderwolkenintervall für kurze Zeit unterbrochen, die Luft roch immer noch mild und würzig und die Sonne würde erst morgen früh wieder den Boden versengen.
Joa Rosenn hatte allen seinen Monstern Charakter verliehen, sie mit Haut, Haaren, Flügeln und Augen versehen und sie dann an die Drehbuchschreiber weiter gegeben, in der Hoffnung, einer dieser Drehbuchschreiber würde einem davon eine Chance geben, die aktuelle Abendfolge zu überleben. Die Hoffnung war vergebens und Joa wünschte sich ein einziges echtes Monster auf die Artesa, das alle Drehbuchschreiber und Seriendarsteller das echte Fürchten lehren konnte. Aber das müsste dann ein großes, ein sehr intelligentes und vor allem cleveres Monster sein. Er selbst konnte sich nicht vorstellen, dass es für ein Wesen von außerhalb überhaupt eine Überlebenschance auf Artesa geben könnte. Wir sind geübt aufs Abschießen, das kannst du glauben!
Und dann: Ich könnte ein paar gute Nachrichten von meinen Freunden gebrauchen. Schließlich muss ich meinen Haushalt finanzieren und dazu brauche ich eine Idee und vier bis zwölf prickelnde Monster, für die es einen Zuwachs auf meinem Konto gibt und vielleicht das Versprechen, dass Joa Rosenn irgendwann auch mal etwas einbringen könne, was fein, elegant, weniger monströs und vielleicht sogar heldenhaft sein durfte.
Weiter kam er nicht in seinen Überlegungen. Das Orbitarium war gerade untergegangen und der Raumhafen stand noch unterm Horizont. Über dem Garten stand eines dieser zarten Wattewölkchen. In genau diesem Moment hechteten zwei dunkle Gestalten über seinen Gartenzaun, zerrten eine große dunkle Folie von einem der Obststräucher, die Joa Rosenn mühsam vor den Augen der Primesorischen Lebensmittelkontrolle bewahrte, krochen darunter und zogen die Folie glatt. Rosenn war von einem Moment zum anderen hellwach.
„Pet, bist du das?“
Ein Teil der Plane nickte zustimmend.
„Und wer ist der andere?“
„Ich bin’s, Sal!“, zischte es unter dem anderen Teil. „Psst!“
„Was soll der Unsinn? Nett, dass ihr euch endlich hier sehen lasst! Ein halbes Jahr wart ihr mit dieser PRAMOS fort. Gibt es wenigstens was zu berichten, was dieses seltsame Versteckspiel rechtfertigt?“
„Joa, du wirst begeistert sein!“
„Ihr könnt ruhig rauskommen! Bei mir seid ihr immer zu Hause.“
„Du musst uns helfen!“, zischte es unter der Plane hervor.
„Erst wenn ich weiß, warum ihr euch unter meiner Plane verkriecht?“
„Eine Abschirmfolie, Joa, bring uns eine Abschirmfolie, sonst ist der Besuch in fünf Minuten zu Ende und du hast nichts davon!“
Joa Rosenn stand auf. In der Stille der Nacht wurde das Dröhnen schwerer Flugmaschinen hörbar. Der zarte Wolkenschatten würde gleich vorüber sein, der Raumflughafen mit seinen großen fernen Augen blickte dann schräg über dem Horizont und betrachtete jede Bewegung auf der Artesa. Rosenn ging zur Schuppentür, öffnete sie, und zog die beiden Besucher in den Schuppen. Dann strich er die Folie wieder ordentlich über die Sträucher. Die Beeren waren fast reif. Ein paar Tage noch, dann würde er sie pflücken, in siedendes Wasser werfen, und einzeln schlürfen, heiß und herbsüß.
Der Schuppen war Joas Labor. Von innen mit Metallfolie ausgekleidet, strahlengeschützt und abhörsicher. Er schaltete das Licht ein und besah seine beiden Besucher.
Sie waren braungebrannt und Joa registrierte, dass Pet rote Beerenflecke an den Fingern hatte.
„Du hast sie doch nicht etwa roh gegessen?“, fuhr er Pet an.
Der grinste. „Sie sind lecker! Noch ein bisschen unreif vielleicht!“
„Du kriegst einen schweren Darminfekt, wenn du die roh isst!“
„Das war mal! Ich kann alles essen, und wenn es frische Algen sind! Ich habe einen Zaubertrank in mir!“
Sal nickte dazu und Joa Rosenn fiel auf, dass die beiden von innen heraus strahlten, als hätten sie pures Gold getrunken, sie hatten schwielige Hände, sonnengebleichtes Haar und das Strahlen von Filmgöttern um die Augen.
„Aber deshalb seid ihr nicht auf der Flucht?“, fragte Joa Rosenn, der die Brüder Sal und Pet Karpi aus der Schule kannte, aus ihren Reiseberichten die Hälfte seiner Filmmonster entwickelt hatte, und den Gewinn aus diesen Erfindungen regelmäßig mit ihnen teilte.
„Nein, es ist was schief gelaufen“, sagte Sal.
„Es ist alles deine Schuld!“, warf Pet dazwischen.
„Du hast keinen Mumm in den Knochen, Pet! Vergiss es! Joa, hier ist Pets Kamera. Er hat alles gefilmt. Du musst es veröffentlichen! Schnell! Das ist diesmal nicht für deine Fernsehserie. Das ist echt! Aber die Kommandantin der PRAMOS hat unsere Fracht ins Institut für Außerartesianische Biologie umgeleitet. Sie sabotiert die Ergebnisse unserer ganzen Expedition! Sie ist ein feiges Miststück! Joa, wir haben einen Himmel gesehen! Joa, du glaubst gar nicht, was für eine wunderbare Welt das war! Und wir bringen ein Stück davon mit! Eine wirklich intelligente und sehenswerte Spezies. Die sehen so aus wie wir. Aber sie können mehr! Viel mehr. Aber die da wirft es ins IAB und dort wird es nie wieder rauskommen!“ Sal schnappte nach Luft und versuchte, langsamer weiter zu reden. „Wir haben versucht, den Transport zu verhindern, und nun hängt die Raumsicherheit an unseren Fersen, wegen Befehlsverweigerung. Wir müssen erst mal abtauchen, bis sich das Ganze beruhigt hat. Hast du was zum Anziehen für uns?“
Joa Rosenn nahm die Kamera an sich, versteckte sie in einem Schrankfach, holte zwei ausgemusterte Strahlenschutzanzüge aus einem Spind, und reichte sie den Besuchern. „Das kostet was“, sagte er.
Pet spie in die Handflächen, verrieb die Spucke und strich sie zusammen mit braunem Sand aus dem Garten breit auf Joa Rosenns Wangen.
„Jetzt kannst du deine Beeren auch roh essen! Lass’ es eine Stunde einziehen! Aber dann musst du unbedingt die Filme veröffentlichen! Es ist wichtig! Vergiss es nicht!“
Die beiden Raumfahrer hatten die Overalls übergestreift, warteten noch einen Moment, bis der nächste Schatten über das Wohngebiet strich, und waren Minuten später verschwunden. Zwei Wolken später rauschte eine Fahndergruppe der Bodensicherheit von Simapi bei Joa Rosenn herein, ruinierte den gemütlichen Garten, sein Labor, das Wohnhaus und die Beerensträucher. Rosenn gab ihnen wortlos die Kamera, die er vorher ein paar Mal im Sand gewälzt und gegen die Wand geworfen hatte. Als die Hausdurchsuchung beendet war, kniete er neben den Überresten seiner Beerensträucher nieder und klaubte im Schein einer winzigen Handlampe eine der glutroten Früchte aus dem Sandboden.
Er wischte sie am Ärmel ab, widerstand der Versuchung, sie jetzt in diesem Moment so zu essen, wie Pet das getan hatte, denn er glaubte noch nicht so sehr an die Versprechen des großen Karpi-Bruders, aber irgendwann würde er es versuchen. Joa hatte im Schnelldurchlauf die Aufnahmen von Pet Karpi angesehen, sie kopiert und dafür gesorgt, dass niemand den Kopiervorgang nachvollziehen konnte. Joa Rosenn musste sich keine Monsterfiguren mehr ausdenken. Er hatte jetzt eine ganze Reihe davon auf Band. Sie waren schön und schrecklich zugleich. Wenn er diese Bilder veröffentlichen würde, wäre er morgen sein Gedächtnis los. Wenn das Material geheim blieb, würde er damit seine eigene Welt einrichten, in der Monsterjäger und Gedächtnisdiebe keinen Platz bekommen würden.
VII.
Das Markthaus am Dreieck lag direkt auf der Grenze zwischen vier Welten. Hier stießen die Hoheitsgebiete von Thraxon, Lerasia und Primesora zusammen und ein langer Streifen des Niemandslandes endete knapp 40 Meter innerhalb der Halle. Wass Mato war der Manager des Markthauses am Dreieck. Er war heute Morgen schlecht gelaunt aufgestanden und irgendwas sagte ihm, dass heute kein guter Tag sein würde. Aber Wass Mato hatte schon viele schlechte Tage gut hinter sich gebracht, er wollte doppelt aufmerksam sein und doppelt vorsichtig. Dann bekam auch der schlechteste Tag einen lichten Augenblick.
In der Markthalle am Dreieck trafen sich alle, die blassen Primesorer, chaotische Individualisten von Thraxon und die aristokratischen Lerasier, die das ganze restliche Volk immer um Haupteslänge überragten, nicht weil sie besonders groß waren, sondern weil jeder von ihnen einen Besenstiel geschluckt zu haben schien. Wenn ihnen ein Krümel auf den Schuh fällt, so lästerte Wass Mato manchmal, dann brauchen sie eine Fernbedienung, um ihn abzuwischen.
Die Niemandsleute stellten fast die Hälfte aller Marktbesucher. Sie waren chaotisch, blass, aristokratisch, je nach Herkunft, immer ohne ausreichende Geldmittel, immer etwas übergewichtig und immer irgendwie auf der Suche.
„Das kann jedem passieren, dass er ein Niemand wird“, sagte Wass Mato seinen Kritikern, die ihn ständig bedrängten, er solle doch das ärmere Volk nach draußen abschieben. Aber irgendwie hatte Wass Mato das seltsame Gefühl, dass gerade die notorisch zahlungsunfähigen Niemandsleute Flair in die Halle brachten und unter ihren langen Mänteln Produkte hereintrugen, die es weder in Thraxon, Primesora oder Lerasia zu kaufen gab.
Von seinem gläsernen Büro in der Dachkuppel aus überblickte Wass Mato das gesamte Hallengeschehen. Unter seinen Füßen handelten die Leute, aßen, tranken, fuhren Achterbahn und stellten sich dar. Wass Mato war der unumschränkte Herrscher des Marktes. Er sammelte entflohene Niemandskinder ein, er schlichtete Handelsstreitigkeiten, er kaufte und verkaufte Informationen und er herrschte. Wass Mato war groß wie ein Lerasier, blass wie ein Primesorer, er war 40 Kilo zu schwer und seine stofflichen Hüllen ließ er alle ausnahmslos in Thraxon nach Individualmaß herstellen.
Wass Mato war schon vier Mal angeschossen worden, er hatte schon ein ganzes Heer Primesorer vor der Halle warten lassen, bis alle Niemandsschwarzhändler durch dunkle Tunnel entwichen waren, und wenn ihm jemand eine besondere Information zukommen ließ, dann verkaufte er die auch schon mal an Thraxonische Lokalkorrespondenten. Die Thraxonischen Korrespondenten selbst hatten keinen Zutritt zur Markthalle. Auch ihre Filmteams nicht und ihre Bildreporter und ihre Marktforscher.
Aber gerade so eine Horde Analysten sah Wass Mato durch die Halle drängeln. Sie verhielten sich zumindest ungefähr so, als ob sie niemanden an sich vorbeilassen wollten, ehe sie nicht ihre Fragen und Vermutungen losgeworden waren. Sie waren zwei Köpfe größer als normale Artesianer und angezogen, als hätten sie ihre Oberbekleidung aus einem Kostümverleih geholt. „Raumsicherheit!“, dachte Wass Mato verblüfft und zerbiss das Koffeindragee, das er sich für den ganzen Tag heute hatte einteilen wollte.
Der Suchtrupp unten in der Halle indes kreiste einen Bereich ein, ließ die Leute nur nach genauer Kontrolle aus dem Kreis wieder heraus, dann lösten die Mitglieder ihre Formation aus unerklärlichen Gründen wieder auf und begannen das Spiel an einem anderen Platz aufs neue. Sie waren bewaffnet. Wass Mato runzelte die Stirn.
In das Marktgeschehen kam Bewegung. Bestimmte Leute, die seltene Ware unter ihren Mänteln mitbrachten, flüchteten verschreckt. Wass Mato sah dem Treiben des Suchtrupps zu. Drei, vier, fünf Mal bauten sie ihren Kreis. Dann hatte er genug gesehen.
„Hol’ mir den Hirnie her, der diese Horde befehligt!“, knurrte er einen seiner Mitarbeiter an. „Mach es erst mal auf die artige Tour! Verstanden! Damit hier nicht noch mehr Unruhe reinkommt!“
Eine halbe Stunde später standen zwei besonders steife Lerasier in seinem Büro. Sie waren steifer, als Lerasier im allgemeinen sein sollten, und ihre Arme hatten eher was von Spinnengliedern als von richtigem Fleisch und Blut.
„Ah, die Dame und der Herr von der Lerasischen Raumfahrtsicherheit!“, Wass Mato erhob sich aus seinem Sessel und ließ seine 130 Kilo wirken.
„Womit kann ich Ihnen helfen? Wonach suchen Sie? Vielleicht hätten Sie vorher mal bei mir anfragen sollen, bevor Sie eine solche Unruhe in den Betrieb bringen!“
Die beiden verständigten sich mit den Augen, dann nahm die Frau eine Scanner aus ihrer Tasche, richtete ihn durch den gläsernen Fußboden auf die Menge in der Halle, tastete damit den gesamten Raum unter ihnen ab und steckte das Gerät enttäuscht wieder ein.
„Sie haben Recht“, sagte sie. „Wir hätten Sie bitten sollen, uns dieses Büro als Hauptquartier zu überlassen. Das tun wir hiermit. Ich fordere Sie auf, uns Ihren Kommandostand als Hauptquartier zu überlassen!“
Wass Mato bohrte mit den Augen zwei Löcher in die blassen Wangen der Lerasierin. Die Blicke von 15 anwesenden Mitarbeitern versammelten sich auf seiner Person. Trotzdem wurde hier nie etwas so heiß gegessen, wie es aus der Mikrowelle kam.
„Tut mir leid“, sagte er. „Das ist mein Büro, und kein Kommandostand. Hier wird kein Krieg geführt. Hier drin ist nur einer weisungsberechtigt, und das bin ich. Da, wo Sie stehen, ist vielleicht Lerasia, aber da, wo mein Stuhl steht, da ist Primesora und in Primesora gilt Ihre Lerasische Befehlsgewalt einen Schabenfurz.“ Er wies mit höflicher Geste auf die drei roten Striche, die sich im Boden des Büros vereinigten, diese drei Striche markierten die Grenzen, und in einer Ecke kicherte jemand.
„Dann werden wir kraft unserer Befehlsgewalt den gesamten Lerasischen Teil der Halle räumen lassen.“
„Wieso nur?“, fuhr Wass Mato auf. „Warum wollen Sie unsere Arbeit ruinieren?“
„Das wäre ein angenehmer Nebeneffekt. Wie regeln Sie das überhaupt mit der allgemeinen und der speziellen Hygiene? Ich vermute, indem Sie den zuständigen Inspektor regelmäßig mit Sen vergiften.“ Sie lächelte mehrdeutig. Dann wurde sie wieder ernst. „Nein, wir suchen jemanden.“
Wass Mato fuhr auf: „Warum sagen Sie das nicht gleich? Wie sieht er aus, wie heißt er, wo kommt er her? In einer Stunde liefere ich Ihnen das Objekt Ihrer Begierde schlüsselfertig am Lerasischen Tor ab. Und Sie verschwinden dann! Verstanden!“
Die Frau lächelte wehmütig.
„Es ist offensichtlich eine Sie. Sie hat keinen Namen. Jedenfalls wissen wir noch keinen. Sie verändert ihr Aussehen schneller, als es unsere Spezialisten wahr haben wollen. Das einzige Mittel, um sie definitiv zu lokalisieren, ist dieser Scanner. Aber wenn Sie den Scanner bei sich tragen, dann lokalisiert Sie sie sofort als einen Verfolger und verdunstet im wahrsten Sinne des Wortes. Aber sie verlässt die Halle nicht. Wir haben sie von Simapi bis hierher verfolgt, und wollten sie in unbewohntes Gebiet abdrängen, aber sie lässt sich nicht abdrängen. Wir müssen sie aber isolieren und festsetzen. Wir müssen die Halle räumen. Wir sollten sofort beginnen.“
Wass Mato maß mit den Augen die beiden langarmigen Lerasier. In ihren dunkelblauen Uniformen, in ihren harten Augen steckte die personifizierte Jagdlust. Einkreisen und festnehmen, das war das Einzige, was diese Leute offenbar konnten. Sie steckten in den Kinderschuhen und führten sich auf, als würden ihre Waffen und Uniformen sie zu erwachsenen Leuten machen. Mato begann umherzulaufen, er massierte seine Nasenwurzel, sah auf den Monitor, der in Vergrößerung einen weiteren Einkreisungsversuch abbildete; von diesen Idioten, dachte er, würde ich mich auch nicht anfassen lassen.
„Schauen Sie“, sagte er, „das Markthaus hat seine eigenen Gesetze. Schon seit Jahren. Eines davon ist unsere Unabhängigkeit. Wenn Straftäter sich im Markthaus verstecken wollen, dann finden wir sie. Lassen Sie mir eine Stunde Zeit, ich suche ihr Problemkind und bringe es ihnen.“
„Sie wissen nicht, mit wem Sie es zu tun haben!“
„Sie können mir ja freundlicherweise Ihren Scanner zur Verfügung stellen. Wir sehen uns dann am Lerasischen Tor. Wenn ich nicht da bin, können Sie sofort Ihren Räumversuch starten.“
Der Spinnenmann nickte kurz, und seine Begleiterin gab den Scanner heraus. Sie hatten kaum den Raum verlassen, da brach hektischer Betrieb aus.
„Informiert die Tabakhändler!“, zischte Wass Mato, „und die Leute vom Suchdienst. Und wer euch sonst noch einfällt. Mit dem Objekt der Begierde befasse ich mich persönlich. Wir machen es so, wie wir es schon immer gemacht haben.“
Er warf sich eine bunte Flickenjacke um, steckte den Scanner ein, den er vorher abgeschaltet hatte, und jagte den Lift nach unten. Er betrat das Gewimmel durch eine Geheimtür an der Primesorischen Seite, er drängelte durch die Massen, fast brutal schnell; die, die ihn kannte, rückten fluchtartig zur Seite und Wass Mato wusste genau, wo er hingehen musste, dort, wo noch keine Kreise gebildet worden waren, dorthin, wo sich trotzdem die Massen drängten, und er brauchte keinen Scanner, um einen Fremden oder eine Fremde aus der Masse herauszufiltern, dazu machte er diesen Job einfach zu lange.
Als er sie dann doch sah, blieb ihm erst einmal kurz die Luft weg. Er schüttelte sich, atmete tief durch, blickte zum Hallendach und dann in die Artesianermassen, die durch die Halle fluteten.
Sie sah aus wie ein großes Kind, das mit seinem Kostüm aus irgendeinem dieser Fernsehfilme entsprungen war und ein lebendiges Gesicht bekommen hatte. Sie war zierlich, ein ungeordneter Schwall von hellen Haaren flutete über ihre Schultern, ihre dunklen, fast schwarzen Augen hielt sie bedeckt, sie wirkte, als hätte sie ein krankhaftes Rauschen in den Ohren, und träumte mehr, als dass sie wirklich ihre Umgebung wahr nahm. Mato sah sie im Strom der Leute mitschwimmen, der sich auf das Thraxonische Tor zu bewegte, dann, kurz vor dem Tor nach draußen sah sie kurz auf, ging vier Schritte zur Seite und schwamm jetzt in dem Strom, der vom Tor kommend in die Halle hineinflutete. Ihre Augen waren überall und nirgends, und wieder dachte Wass Mato an den Scanner, er widerstand der Versuchung, ihn einzuschalten und er betete inständig, dass sie wenigstens ein paar Worte artesianisch verstand. Er ließ sie ein zweites Mal an sich vorbeischwimmen, sah ihr nach und atmete noch mal tief durch. Das, was jetzt kam, war schon hundert Mal erfolgreich inszeniert. Warum sollte es jetzt nicht wieder funktionieren.
„Nobis!“, rief er in die Massen herein. „Nobis!“
Hundert Augenpaare warfen sich auf Wass Mato. Nur ihre nicht.
„Nobis!“, sagte er noch mal und ging durch die Leute hindurch. Er berührte sie mehr flüchtig an der Schulter und plötzlich war ihm, als hätte er einen offenen Energiefluss gegriffen. Er blieb fast eine Sekunde daran kleben, bevor der Fluss versiegte. Er schüttelte sich, fasste sich aber wieder und sagte leise:
„Nobis!“
Der Stoff ihres Kleides war rau, eine Kante unregelmäßig gestickter Blumen umrahmte Halsausschnitt und Ärmelsäume. Sie war stehen geblieben, und während die Thraxoner, die in die Halle wollten, weitergingen, drehte sie sich um. Wass Mato spürte schon wieder das Gemisch aus Enttäuschung, Angst und schlechtem Gewissen heraufsteigen, das ihn jedes Mal bei diesen Inszenierungen befiel, und das er noch nie ernsthaft bekämpft hatte, denn alleine diese ehrliche Enttäuschung und der bunte abgerissene Mantel schützten ihn vor der Reaktion seiner Opfer.
„Entschuldigung“, sagte er.
„Wofür entschuldigt Ihr Euch?“ Ein Blick aus diesen dunkel glühenden Augen traf Mato. Dem Himmel sei Dank, dachte er, sie versteht wenigstens, was ich sage.
„Ich suche meine Tochter.“
„Ich bin nicht Eure Tochter!“ Eine Stimme wie aus Samt. Als hätte man den Nachthimmel in Schall umgewandelt und einen Hauch Morgenrot dazu gegeben. Mato hatte den Eindruck, als ob diese Stimme nicht von ihr kam, sondern tief aus seinem eigenen Hinterkopf. Die Worte waren von ihr.
„Nein, bist du nicht“, stammelte er. „Du sahst nur so aus, von hinten. Und du gingst so durch die Halle, wie jemand, der etwas sucht.“
Sie schüttelte mit dem Kopf.
„Weißt du, sie hat genauso lange helle Haare. Sie ist jetzt fünfzehn. Sie könnte so groß sein wie du.“
„Deine Tochter? Du hast eine Tochter. Und sie heißt Nobis? Du hast sie gewiss sehr lange nicht mehr gesehen!“
Sie redet, als käme sie von einem anderen Stern. Sie weiß nicht, was hier gespielt wird, dachte Mato.
„Seit zehn Jahren. Ich bin ein Niemand. Wer einmal ein Niemand ist, muss seine Kinder fortlassen, wenn er möchte, dass sie was Richtiges lernen und sich später selbst ernähren können.“
„Und du glaubst, ich könnte ein Kind sein, das früher Nobis genannt wurde?“
„Geh ein wenig mit mir! Wenn wir weiter hier stehen bleiben, dann rennt uns noch jemand um.“
Es funktionierte. Es funktionierte, so wie es immer funktioniert hatte, wenn Wass Mato entlaufene Niemandskinder stellen musste, die hier an der Schnittstelle zwischen den Zivilisationen zurück zu ihren Eltern wollten, die manchmal eine dekadenlange Fluchtkarriere hinter sich hatten, Waffen oder Gift bei sich trugen und mit den Nerven am Ende waren.
„Weißt du, Nobis war schon als kleines Kind irgendwie besser als alle anderen. Sie konnte mit vier das Taston spielen. So kleine Lieder, die man hier nicht hört. Du kannst nicht etwa ein Instrument spielen?“
„Nein.“
„Schade. Weißt du, in diesem Haus sind ständig Leute unterwegs, die sich gegenseitig suchen. Manche finden sich auch. Ist das nicht schön? Aber die meisten Niemandskinder wachsen in den Internaten in Thraxon, Primesora oder Lerasia auf, und im Flimmer der großen schönen Welt vergessen sie ihre Herkunft und werden erfolgreich. Oder heiraten und bringen neue Kinder in die Welt, die nie erfahren, dass ihre Ursprünge hier sind. Wie redet man dich jetzt an?“
Sie schüttelte mit dem Kopf.
„Und was willst du jetzt machen?“
„Ich suche einen Platz.“
„Aber nicht hier, in diesem Markthaus?“
„Nein. Das Haus ist gut für die Artesianer, aber für mich ist es nicht groß genug. In diesem Haus gehen viele Leute herum, die etwas tun, was ihnen Spaß macht, und es gibt auch solche, die sind für andere da. Sie freuen sich an den hellen Gesichtern der anderen. Aber seit einiger Zeit kommen immer wieder welche auf mich zu, die etwas Böses, Gefährliches und Giftiges suchen, das muss hier irgendwo in der Nähe sein, und ich gehe weg, um eine Stunde später wieder von den gleichen Wellen aus Wut und Zorn und Angst eingekreist zu werden.“
Diese Idioten, dachte Wass Mato, hoffentlich halten sie sich an die Absprache und bleiben am Lerasischen Tor.
„Und was denkst du von mir?“, fragte er sie.
Sie blieb stehen.
„Du suchst dein Kind, Wass Mato. Es ist kein Mädchen, sondern ein Junge. Er heißt Sameon und du suchst ihn seit 25 Jahren. Jedes Mal, wenn du ein Niemandskind aufgreifst, glaubst du, es ist Sameon. Er ist es nie gewesen, und du bist verbittert und wütend, weil so viele andere sich finden, nur du findest nichts, du, der dieses Haus gebaut hat.“
„Du liest Gedanken, kleines Mädchen!“
„Ja, ich lese Gedanken. Aber ich verstehe nicht, warum ich deshalb böse, gefährlich und giftig sein soll!“
Wass Mato begann zu zittern. Wie wenig Zeit ist doch eine Stunde. Sie redeten jetzt miteinander. Sie müssten jetzt ganz viel miteinander reden. Wass Mato müsste ihr sagen, dass sie jetzt schön artig sein soll und ihre Händchen der Spinnenfrau von der Raumsicherheit rüberreichen soll. Dass sie ihre Versteckspiele aufgeben und dem Großen Lakolar huldigen müsse. Verdammt, warum muss ausgerechnet ich immer wieder so was durchsetzen? Wass Mato presste die Lippen zusammen. Beim Aufgreifen von Niemandskindern hatte er noch nie große Bauchschmerzen gehabt. Meist ließ er sie erst eine Stunde selber suchen, fanden sie in der Stunde keine Verwandten, wurden sie zur Gefahr für das Haus, den Markt. Dann griff er sie auf und übergab sie an freundliche, gut geschulte Pädagogen, die mit Ausreißern umgehen konnten, und sie nicht mit versteckten Waffen bedrohten. Am Lerasischen Tor aber sammelte sich jetzt eine geballte Streitmacht, die ratlos und wütend war, weil sie jetzt so viele Male genarrt wurde, und nun bereit stand, einen Teil der Halle zu räumen und ihm auf Jahre hinaus das Geschäft zu verderben.
„Geh weg“, sagte er leise. „Geh weg, kleines Mädchen! Hier hast du einen Scanner für Alpha-Strahlen. Damit suchen dich die Leute von der Raumsicherheit. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund sendest du so was aus. Such’ einen Platz, an dem das Gerät ganz stark ausschlägt, verstecke dich dort, da fällst du mit der Energie, die du selbst aussendest, nicht mehr auf. Und bleibst da, bis sich die Lage beruhigt hat.
Und bitte: Bitte komm’ nie wieder hierher!“
VIII.
Sterano floh. Sie dankte Wass Mato und floh. Sie floh vor den Verfolgern, die sie schon mehrfach beschossen hatten, vor dem lauten Geschwätz, dass in ihrem Kopf hochschwoll, wenn sie die Augen schloss, Sterano floh vor ihrer Schwäche und sie floh vor ihrer Orientierungslosigkeit. Das also ist die Heimat der Artesianer. Es wäre so wie hier auf ihrer Insel, hatte Sal Karpi gesagt. Aber es war nicht so. Es war feindlich, dann wieder bot es ihr Wärme und Kraft, direkt aus dem Boden. Dazu kam dieses Geschwätz, diese Bilderflut und diese Musik, die in Wellen stärker und schwächer ihr tieferes Bewusstsein überflutete, und ihr den Zugang zu den schwachen Signalen ihrer eigenen gedanklichen Umwelt versperrten. Die Artesianer hörten das nur, wenn sie spezielle Empfänger dafür einsetzten, aber Sterano hörte und sah es in ihrem Inneren, und war taub, wenn sie in die Tiefe der Traumwelt hinabtauchen wollte, um dort ein Zeichen zu finden. Es gab kein Zeichen. Kein Hinweis, kein Schutz. Nur Einsamkeit und großes Rauschen. Sterano musste weg von diesem Rauschen. Sie wollte leben. Überleben. Sich entwickeln.
Gedeckt von einer hellblauen Rauchsäule flog sie an der Grenze zwischen Thraxon und Lerasia entlang, hier gab es weniger Häuser und Verkehrswege, hier war auch das Geschwätz leiser, nicht so aufdringlich. Auf der lerasischen Seite der Grenze, an der sie entlang flog, hatte das Gras eine gelblich-grüne Farbe, es war blass-grün-gelb und dazwischen gab es weder Blüten noch Sträucher noch Wildkräuter. Auf der thraxonischen Seite aber war das Gras blaugrün, rotgrün und grüngrün, in Bögen, Linien und geheimnisvollen Kreisen arrangiert und nach einhundert Flügelschlägen kam ein Schild, dass der Thraxoner Tripli Triers diesen Wiesensaum verwirklicht hätte und dass jegliche Abbildung, Vervielfältigung und Veröffentlichung des Musters nur mit Genehmigung des preisgekrönten Künstlers möglich wäre. Inmitten der verwirklichten Kreise ließ sie sich für Minuten nieder, legte sich lang in das kurze Gras, atmete den Geruch der Erde, sie wollte ihn atmen, aber das kurze Gras wurzelte in roten Steinchen. Dicht an dicht, es zitterte ein wenig unter ihrem Atem und es neigte sich, wenn sie darüber strich. Es war unglaublich weiches Gras, aber so ohne Widerstandskraft, es war so voller Angst und als sie sich erhob, wusste sie, warum. Hände und Knie waren voller blaugrüner Flecken und die weichen Grashalme Matsch.
Ihr könnt nichts dafür, ihr Grashalme. Ich kannte euch vorher auch nicht. Verzeiht mir, ich bin so unwissend. Wo ist der Platz, an dem ich zur Ruhe kommen kann!
Sie ging müde durch das weiche Gras zurück zur Grenze, schlenderte an dem Saum entlang und versuchte, sich den Scanner gefügig zu machen. Aber der Scanner gehorchte ihr nicht. Zum ersten Mal erkannte Sterano, dass sie hier mit der ererbten Macht ihrer Spezies nicht weiter kam. Sie konnte andere Gestalten annehmen, in fremde Gedanken hinein sehen und sie konnte einfache Dinge dazu bringen, dass sie sich ihrem Willen unterwarfen. Aber sie hatte keinen Begriff für den Scanner.
Sie flog weiter und ließ sich am Rande eines großen Eisengitters nieder, das voller gefingerter Blätter hing und das die Artesianer Wald nannten. Sie begann, die vielen Gedanken, die sie in den letzten Stunden gestohlen hatte, nach dem Befehl durchsuchen, der den Scanner aktivieren würde. Es waren zu viele Informationen. Es würde Tage dauern, das alles zu durchsuchen und zu verstehen. Sie suchte nach einer Erklärung für den Scanner.
Er zeigte Eigenschaften des Unteilbaren, des Atoms. Hier auf Artesa hatte man das Unteilbare gespalten und neu zusammengesetzt, es war nicht mehr natürlich, so wie dort, von wo sie hergekommen war. Es war anders, aggressiver, voller Spannung und entlud seine Aggression in unheimlichen Strahlen. Die Artesianer respektierten diese Strahlen, aber sie nutzten sie auch für ihre Interessen. Die Orte, von denen die aggressiven Strahlen ausgingen, die zeigte der Scanner an. Aber am meisten zeigte er an, wenn sie ihn neben sich ins Gras legte. Bin ich aggressiv?, fragte sie sich. Sie hätte den Scanner nehmen und ihn in einen grauen Stein verwandeln mögen. Ich bin anders als die Bodenbewohner und ich bin anders als die Artesianer. Ich komme aus einem großen Netz und dunklem Rauch.
Von dort bin ich zum Boden gekommen. Wir waren auf unserer Insel im Meer unter dem klaren Himmel nur Gäste, geduldet, weil man unsere wirklichen Gesichter nicht kannte und weil wir uns angepasst haben. Sterano hatte sich angepasst. Sie war fast schon so wie die dort. Sie hatte gelernt, so zu atmen wie die dort, so zu sprechen und so zu denken. Das, wo sie vorher gelebt hatte, war ein Dunkel gewesen, eine Welt, in der sie zugrunde gegangen wäre. Jetzt hatte sie das eingeholt.
Auf Boden hatte Sterano gelernt, wie man leben konnte, ohne Netz und ohne schwarzen Rauch. Sie war lebendig geworden und wollte mehr sein, als nur eine Besucherin auf einem ruhenden Planeten. Jetzt war sie mehr, sie war herausgerissen aus ihrer Traumwelt und ihr eigener Körper hatte ihr deutlich gemacht, dass der wunderbare wasserklare Planet Boden zwar alles leisten konnte, was sie für das Überleben brauchte, aber nicht das, was eine Spezies wie die Ihre für die Weiterentwicklung benötigte. Sterano musste zurück zu dem Netz und dem schwarzen Rauch. Aber wenn man einmal so gelebt hat, so wie sie auf Boden, geht man nicht gerne zurück in den schwarzen Rauch. Und das Netz akzeptiert dich auch nicht mehr, wenn du mit leeren Händen kommst.
Dann plötzlich gab es einen Ausweg und Sterano nahm ihn an, ohne nachzufragen. Dieser Ausweg, den Sal Karpi ihr anbot, wirkte so einfach, so unkompliziert. Fast so, als hätte man ihn nur für sie gemacht.
Artesa ist dem ziemlich nahe, wo ich herkomme. Ich habe bislang alles gefunden, was ich zur Fortentwicklung brauche. Aber Artesa hat den schwarzen Rauch nicht. Es ist eine Welt, die ohne den schwarzen Rauch funktioniert, und in der ich mich trotzdem weiter entwickeln kann. Es ist eine seltsame Welt. Wenn ich nicht so viel Zeit auf Boden gelebt hätte, würde ich überhaupt nicht verstehen, wie eine Welt ohne den schwarzen Rauch so gut funktionieren kann. Ich trage den Rauch jetzt in mir. Ich will lernen, was diese Welt zusammen hält, dann kann ich immer noch entscheiden, ob ich ihn freilasse oder nicht. Es soll meine Entscheidung sein, meine ganz allein.
Sterano musste zuerst einmal lernen, wie der Scanner funktionierte. Sie musste die Spinnenfrau erkennen. Die hatte den Scanner mitgebracht.
Jetzt funktionierte der Scanner. Sterano drehte sich einmal um sich selbst. Sie bekam einen Impuls und ließ sich wenige Atemzüge später direkt in einem von dicken Mauern und hohen Zäunen gesicherten Materiallager nieder.
Das Materiallager gehörte dem Raumfahrtunternehmen KAPTOS, und darin lagerte das Unternehmen knapp einhundert fertige Sprungsonden. Jede dieser Sprungsonden enthielt in ihrem Reaktor fünfzehn Kilogramm hochradioaktiven Treibstoffes. Die Luft in diesem Spezialbunker war so giftig, dass mitgebrachte Grashalme an ihren Füßen sofort braun wurden, kein Artesianer, dem sein Leben lieb war, ging in dieses Lager. Nur uralte Roboter, die unempfindlich gegen die hohe Strahlung waren, die rollten von Zeit zu Zeit durch das Lager und holten Sonden ab oder stellten neue hin. Sterano hatte das Gefühl, dass dieser todbringende Platz für sie ein besonders guter Platz war. Sie hatte ihn schon von fern gespürt, seine Wärme, seine Spannung.
Der eine, der ursprüngliche Teil von ihr fühlte sich wohl und begann seine lange nieder gehaltene Fortentwicklung, aber der andere Teil, der viele Sommer auf Boden gesehen hatte, in Licht und Wind gelebt und Tage voller Farben und Blütenduft genossen hatte, der fror entsetzlich in dem kargen, schmucklosen und grauen Betonkasten.
IX.
Im Regierungspalast von Lerasia rauschte die nächste Meldung herein. Tarumor Tass bemühte sich, ruhig zu sprechen.
„Nachdem sie die Markthalle am Dreieck verlassen hat, mit dem Scanner, mit dem wir sie eigentlich suchen wollten, hat sie sich an der Grenze zwischen Thraxon und Lerasia entlang bewegt. Und dann ist sie plötzlich von einem Moment auf den anderen verschwunden. Wie in Luft aufgelöst. Wir sondieren die gesamte Oberfläche von Artesa quadratzentimeterweise von Satelliten aus, aber wir haben seitdem keine Spur mehr von ihr.“ Er hatte eine halbe Stunde lang geredet, das waren seine letzten vier Sätze. Er sah aus, als ob er langsam begann, die Geduld zu verlieren, Lakolar registrierte, dass Tarumor Tass ein paar Mal mit den Zähnen geknirscht hatte und dass die Sätze aus seinem Mund mehr und mehr zu Geschützsalven wurden, die weniger gegen das fremde Wesen gerichtet waren, als gegen den großen Diktator selbst. Lakolar registrierte mit einer Mischung aus Abscheu und Widerwillen diese Änderung der Schussrichtung. Auch du, Tarumor Tass, beginnst dann, wenn du mit deinem Gegner nicht fertig wirst, mit deinen Verbündeten zu hadern. Schnell einen Schuldigen suchen! Schnell aus der Schusslinie verschwinden! Aber nicht mit mir! Die Jagd beginnt doch erst! Jetzt beginnt die wirkliche Verfolgung.
Lakolar Annselarmo hatte einen Begriff von DEM VORFALL bekommen. Und sein Stichwort. Er spürte die Kraft alter Tage zurückkommen. Ihm war, als hätte er einen wunden Punkt bei DIESEM VORFALL entdeckt, und den durfte er jetzt nicht aus seiner Aufmerksamkeit entlassen.
„Details, Details, mein Freund, du müssen nach den richtigen Details suchen“, hauchte er Tarumor Tass ironisch an.
Der fauchte zurück. „Ich finde hier keine wesentlichen Details mehr!“
„Die richtigen Details du müssen finden!“
Tarumor Tass knirschte wieder mit den Zähnen. Er konnte es nicht ausstehen, wenn Lakolar anfing, Kindergrammatik zu zitieren. Lakolar wusste das auch. Aber er machte es immer wieder, vor allem dann, wenn Tarumor Tass kurz davor war, den ganzen Kram mit dem Einsatz von großen Waffen ganz schnell zu bereinigen. Er konnte das spitzfindige Lavieren des großen Diktators noch nie nachvollziehen. Es war eine Laune der Evolution, die sie das alles bislang hat überleben lassen.
Lakolar grinste leise. „Nicht so schnell! Nicht gleich mit den großen Raketen! Auch wenn man Angst hat. Erst denken, dann schießen. Und beim Denken muss man die Emotionen zurück halten. Zuviel Emotionen machen den Denkprozess kaputt. Man belügt sich und merkt es nicht einmal.
Warum“, fuhr Lakolar den Blue Frog ihn leise an, „haben Wass Mato und die Fremde miteinander geredet? Artesianisch geredet, wohlgemerkt. Und Wass Mato, der wirklich nicht so eine feinfühlige Ader hat, gibt ihr den Scanner und schickt sie fort. Ohne festes Ziel wohlgemerkt, aber irgendwohin, wo sie mit dem Scanner etwas anfangen kann.“ Lakolar richtete sich auf, obwohl er von seiner Körpergröße her nie wirklich groß sein würde.
„Sie ist nicht dumm“, fuhr er fort. „Hast du dich schon mal mit dem Gedanken befasst, dass sie zielgerichtet vorgeht. Was hat sie zu Wass Mato gesagt: Bitte noch mal wörtlich, mein Freund!“
„Sie sucht einen Platz!“
„Richtig, einen ganz besonderen Platz, einen, den es dort, wo sie herkommt, nicht gibt. Jetzt verstanden, wovon ich rede?“
Noch war es nicht so weit.
„Du hast selbst gesagt, es gibt keine Zufälle im All. Alles ist vorbestimmt, alles hat eine Ursache. UNSER VORFALL zeigt ein großes Interesse an Energie. Die gab es so auf Boden nicht. Aber sie braucht offensichtlich besondere Energieformen. Dort müssen wir sie suchen und dort werden wir sie finden. Und dann brauchen wir jemanden, der weiter mit ihr redet. Wir brauchen Wass Mato! Holen wir Wass Mato her!“
„Das wird nicht viel bringen, wir haben ihn gelöscht!“, knurrte Tarumor Tass.
„Wie viel?“
„Drei Stunden.“
Das war etwas gewesen, was auch Lakolar Annselarmo gespürt hatte. Ein Aufschwappen von gelbem Schaum. Weit draußen, in dem Meer von weichen lindgelben Wolken war diese eine giftig leuchtend aufgeschossen und hatte ein großes Loch hinterlassen. Seltsamerweise nahm er mit seinen weitreichenden Sinnen die Fremde nicht wahr. Es war, als hätte sie sich gleich in den ersten Stunden unter seinen Schutz begeben, und nur ihre Verfolger störten das Gleichgewicht seiner Macht. Sie waren verunsichert, und auf die besondere Situation nicht wirklich vorbereitet. Sie hatten Befehl, die Zivilbevölkerung aus dem Geschehen rauszuhalten, und sie löschten ängstlich jeden Zeugen, der DEM VORFALL zu nahe kam. Schade um Wass Mato! Man konnte von ihm halten was man wollte, aber er diente dem großen Lakolar. Nur auf seine Art und Weise. Nach dieser Löschung würde er nicht mehr zu den wirklich guten Dienern seiner Regierung gehören. Es würde Jahre dauern, das hier zerschlagene Vertrauen wieder herzustellen.
„Was ist mit dem Techniker, ist der etwa auch gelöscht?“
„Nein. Er hat ein Verfahren wegen Vernachlässigung seiner Arbeitspflichten hinter sich. Nach Angaben des IAB ist er bereits ins Niemandsland entlassen.“
Sie sind alle Idioten, dachte Annselarmo. So fleißig, so dienstbeflissen! So kommen wir nie an die Fremde heran. Sie muss ein Gespür für diese Dummheit haben. Warum nur, kann ich sie nicht wahr nehmen? Wir müssen dringend diese Karpi-Brüder finden. Sie sind Bezugspersonen und könnten sich dem Phänomen nähern, ohne dass es in Aggression übergeht.
X.
Sal Karpi und seinen Bruder Pet Karpi wurden von der Bodensicherheit an der Grenze zwischen Thraxon und dem Primesorischen Meer aufgespürt, sie hatten dort eine Hütte aufgestellt und sich ohne jeglichen Kontakt mit der Außenwelt niedergelassen. Sie hatten sogar eine provisorische Feuerstelle eingerichtet und verbrannten zwecks Wärmegewinnung vom Meer angeschwemmten und getrockneten Tang, ungeachtet der Rauchentwicklung und des Gestanks. Vor ihrer Hütte lag das umgedrehte ausgeschlachtete Oberteil einer Flugbootkarosserie, daneben Seile und Netze und ausgediente Sportpaddel. Die Feuerstelle war noch nicht richtig fertig, und das Haus hatte auch nur drei vollständige Wände. Sal und Pet Karpi trugen zerrissene Reste von Strahlungsschutzanzügen, mit denen sie eine ganze Zeit lang die Signale ihrer Cheenports hatten wegdämpfen können. Aber die Anzüge waren abgelagert gewesen und brüchig, Joa Rosenn hatte sie sicher nur als Vorlage für irgendeine Filmproduktion erworben, und jetzt versagten sie langsam ihren Dienst.
Die Brüder hatten sich nicht beim zuständigen Ortsmeldeamt vorgestellt, sie hatten keine Anträge auf Verpflegung gestellt und müssten von Rechts wegen knapp am Verhungern sein. Sermon Larka fand sie vor, an ihrem rauchigen Feuer sitzend und rohe Fleischalgen aus den naheliegenden primesorischen Kulturanlagen bratend. Sie hatten beide rote, von der Sonne verbrannte Gesichter und es ging ihnen den Umständen entsprechend richtig gut. Seine Jäger glichen ihre Sucher mit den implantierten Cheenports der beiden Männer ab, von denen einer der Navigator der PRAMOS gewesen war und der andere ihr Planethologe.
„Ich hätte echte Außenbordmonturen aus dem Raumhafen mitnehmen sollen!“, brummte Sal resigniert und fragte, ob er wenigstens die mühevoll abgefischten und gebratenen Algen noch aufessen dürfe. Larka verzog angewidert sein Gesicht und Sal grinste. „Ihr seid alle verwöhnt von dem Kulturfraß, den ihr jeden Tag in euch reinschaufelt. Wenn eine einzelne Bakterie vorbeigeflogen kommt, dann bringt sie euch alle um. Ich habe einen Zaubertrank bekommen, ich kann alles essen, was ich kauen kann, mich bringt nichts mehr aus dem Gleichgewicht.“
„Da gibt es jemanden, der will das mit dem Zaubertrank genauer erklärt haben, also brechen Sie Ihre Tätigkeit hier sofort ab und folgen Sie uns!“, knurrte Sermon Larka, seinerseits ebenfalls angewidert.
Sal hatte noch den Geruch seiner gebratenen Algen in der Jacke, als er sich mit seinem Bruder in einem völlig dunklen Raum wiederfand und die Stimme ihres Gegenübers ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Der Red Spin hatte die beiden Flüchtlinge direkt zum Großen Lakolar gebracht. Der Herrscher persönlich!
Aber Sal wollte sich nicht fürchten. Für Sal war es eine Ehre, Lakolar Annselarmo zu dienen. Trotzdem hätte sich Sal Karpi andere Umstände für diese Begegnung gewünscht. Er wusste, dass Joa Rosenn die Filme nicht veröffentlicht hatte, er war genauso ein Feigling wie die Kommandantin, aber Sal wollte die Hoffnung nicht aufgeben, dass er doch noch etwas für sein Expeditionsmitbringsel tun konnte. Er würde es hier tun, jetzt und an der höchsten, für ihn erreichbaren Stelle. Er wollte Gnade erbitten und Fürsorge für sein empfindliches und wertvolles Geschenk der PRAMOS von Boden.
„Glaubst du, dass wir was falsch gemacht haben, Sal“, flüsterte der Bruder.
„Nein“, sagte Sal. Ich habe ein reines Gewissen, dachte er. Vor mir selbst. Und auch vor meinen Freunden. Aber die Kommandantin der PRAMOS ist feige und wortbrüchig und vielleicht sogar eine Mörderin. Sie war vom letzten Bodenflug allein zurückgekommen und Sal hatte den Wiederschein eines großen Feuers auf Boden von der PRAMOS aus gesehen. Er vermisste plötzlich eine besondere Freundschaft, er vermisste die gelassene Art, das Leben hinzunehmen, und die Wärme eines Händedrucks, der heute noch in seiner Hand brannte wie ein stilles, starkes Feuer. Und Sal trauerte um den erstklassigen Wein von Boden. Sen war dagegen nur ein billiger Rachenputzer. Dann wurde es still um sie. Sal hörte eine Tür zischen und einen fremden Atem im Raum. Der fremde Atem war leise und gleichmäßig. Die Schritte dazu waren so leise, dass Sal ein Schauer über den Rücken lief. Dann war der Atem ganz nah, und der Geruch dazu und die Eingebung, dass er jetzt dem obersten aller Lerasier gegenüber stand.
Lakolar stellte sich vor und forderte die Karpi-Brüder auf, ein paar Worte zu ihrer eigenen Identität zu sagen. Pet sagte auch was, aber nach den dritten Satz würgte Lakolar den beginnenden Redefluss ab.
„Wie nannten Sie doch gleich den Planeten, den Sie während der Reise der PRAMOS untersucht haben?“, fragte er. Sal wusste nicht, wer sich außer ihnen drei noch im Raum befand. Er wusste nicht mal, wo der große Lakolar stand. Verdammt, warum muss das hier nur so dunkel sein!
„In das Bordverzeichnis wurde er mit 76/X/15/3 aufgenommen. Aber wir haben einfach ‚Boden’ gesagt“, antwortete Sal anstelle seines Bruders.
„Gut. Dann reden wir ab jetzt einfach von Boden. Als Planethologe sind Sie Ihrer Pflicht nachgekommen und haben ihn sorgsam untersucht. Warum ist eigentlich Ihr Bruder Pet mit zu diesen Boden-Expeditionen gegangen. Als Navigator hätte er eigentlich die Aufgabe gehabt, sich um den Rückweg zu kümmern.“
„Da gab es nichts mehr zu kümmern“, warf Pet ein. „Wir saßen in einer völlig fremden Umgebung fest. Wir hatten keine Signale von Sprungsonden, im Subraum war völlige Funkstille. Das Einzige, was vom Kommandostand der PRAMOS aus getan werden musste, das war der Schutz vor umherfliegenden Kometen, und dafür bin ich nicht Navigator geworden, um Zielschießen auf Eisbrocken zu veranstalten.“
„Sie haben auch dieses Tor nicht mehr lokalisieren können, von dem Ihre Kommandantin gesprochen hat?“
„Es war für uns nicht mehr auffindbar“, sagte Pet. „Und ich habe 40 Tage lang den gesamten intelligenten Nachrichtenhorizont abgehorcht, sogar den natürlichen, aber außer ein paar Pulsarsignalen war da auch nichts drin. Und das Navigieren nach Pulsarsignalen hat von uns keiner in der Schule gelernt.“
„Ich mache Ihnen deswegen auch keine Vorwürfe. Kommen wir zurück zum Boden. Ein schöner Planet, Ihren Bildern und Dokumentationen zufolge.“
„Ja“, sagte Sal.
„Und Sie, Pet, Sie waren doch auch dort, ist der Boden nicht einfach paradiesisch.“
„Gewiss!“
„Das klingt mir nicht so überzeugend. Techniker, zeigen Sie den Zeugen bitte die Bilder aus dem IAB!“
Die beiden Brüder sahen im Widerschein des hellen Films ihre Gesichter, jedes in einem anderen Erstaunen, während die Aufnahme von der Flucht des fremden Wesens aus dem IAB ablief, und Pet sagte: „Wir haben aber doch gleich hinter dem Tor die vierte Truhe aus dem Schiff entfernt.“
„Und ich habe versprochen“, sagte Sal Karpi leise, „dass ich sie auf dem Heimweg beschützen werde. Und ich halte mein Wort. Sonst wären wir vielleicht noch dort!“ Sal dachte an den Händedruck und würde Füße, Augen und Mund hergeben, wenn er nur diesen Händedruck behalten könnte.
„Das ist ja sehr aufschlussreich, Sal. Sie werden sich detaillierter erinnern müssen. Denken Sie an Boden und denken Sie daran, dass in Ihrer provisorischen Feuerstelle noch eine chemisch-physikalische Reaktion im Gange ist. Wenn Sie schnell und präzise sind, können Sie zurück sein, bevor die Hütte ebenfalls in den Oxydationszustand übergeht.“
Sal ging mit gemischten Gefühlen in den Verstärker. Einerseits würde er tief in seine Erinnerungen eintauchen und viele wichtige Dinge noch mal erleben können, andererseits würden alle diese Informationen komplett auf den Großen Lakolar übergehen, auf ihn und auf eine unbekannte Menge von hohen Verantwortlichen auf Artesa. Sal traute keinem von ihnen. Aber der große Lakolar hatte ihm Freiheit und Amnestie versprochen. Und woran durfte man denn noch glauben, wenn nicht an das Wort des Großen Lakolar? Dazu kam, dass die Bilder aus dem IAB ihn wirklich erschreckt hatten. Aber es war die Idee der Kommandantin gewesen, die drei Lebewesen im IAB von Simapi unterzubringen. Sie tönte, dass das IAB von Simapi der sicherste Ort für außerartesianische Lebensformen sei, und dass man dort ein Verfahren entwickelt hatte, diese Lebensformen dauerhaft unterzubringen. Die Wissenschaftler würden das schon richtig machen, behauptete sie, und Sal verkniff sich seinen letzten Einwand, er hätte sich Fragen gefallen lassen müssen, die er nicht beantworten wollte.
Trotzdem hatte Sal sich nichts vorzuwerfen. Er hatte nach seinem Verstand gehandelt und nach seinem guten Gefühl. Das mussten doch Maßstäbe sein, auf die ein ehrlicher Artesianer vertrauen durfte. Er dachte an das gemauert Feuerstellenprovisorium in seiner Hütte und daran, dass er jetzt achtzehn mal zehn Tage auf Boden viel zu kurz fassen musste.
XI.
Sermon Larka wurde vom Blue Frog gerufen. Er hatte draußen gestanden und auf eine neue Anweisung von Lakolar Annselarmo gewartet. Jetzt sollte er sich umgehend im Besprechungszimmer der Raumsicherheit einfinden. Der Blue Frog hat mir gar nichts zu sagen, dachte Larka und entschloss sich trotzdem zu gehen, schließlich stand der Blue Frog Tarumor Tass dem Großen Lakolar mindestens zwei Stufen näher und konnte die Stellung des Red Spin Sermon Larka von Simapi untergraben, bevor der überhaupt wusste, was mit ihm geschah.
Das Besprechungszimmer von Tarumor Tass war in dunklem Grau gehalten, gedämpftes Licht und eine schwarze Glasdecke unterstrichen den düsteren Eindruck. Der grinste, als er das Unbehagen in Larkas Gesicht sah, er lächelte sparsam, stand auf, ging auf den Gast zu und reichte ihm die Hand.
„Das ist so, wenn man lange mit dem Alten zusammenarbeitet. Das färbt ab. Wenn ich normale Farben sehen will, muss ich vier Dekaden Urlaub machen, vorher akzeptieren meine Augen das nicht!“
Sermon Larka zog die Augenbrauen hoch. So viel Vertraulichkeit mit einem Mal! Er entschied sich zur Vorsicht.
Tarumor Tass führte Larka zu einem Bildschirm und ließ ihn einen Moment lang den Film beobachten.
„Der Alte zieht sich gerade das Verstärkerbild von diesem Sal Karpi rein. Er will Karpi dazu bringen, DEN VORFALL hier auf Artesa zu kontaktieren. Ich bin dagegen.“
Sermon Larka war von dieser offensichtlich präsentierten Meinungsverschiedenheit zwischen Lakolar Annselarmo und seinem engsten Vertrauten überrascht. Seine Fußsohlen begannen zu brennen.
„Sal Karpi hat schon auf der PRAMOS gegen die Kommandantin gemeutert. Ich glaube nicht an seine Loyalität.“
Larka fühlte den Boden unter seinen Füßen schwanken. Tarumor Tass war der älteste Vertraute von Lakolar Annselarmo, er hatte mindestens genauso viel Einfluss wie der Alte selbst. Und jetzt sollte er, Sermon Larka entscheiden, welcher von beiden die richtige Strategie im Umgang mit DEM VORFALL besaß.
„Was haben Sie vor?“, fragte er mit Eisesstimme.
„Schnell zu handeln. Die Karpi-Brüder könnten irgendwas Ungesundes mit ihrem Algenfutter gegessen haben. Wer will das hinterher noch unterscheiden. Ich will mit diesen Leuten nicht arbeiten. Ich brauche bei dieser Jagd absolut zuverlässiges Personal. Keine Pannen mehr! Wenn dieser Wass Mato nicht dazwischen gefunkt hätte, wäre der ganze VORFALL schon vor Stunden in kosmischen Staub zerlegt. Ich kann keine weitere Verzögerung verantworten!“
Sermon Larka teilte die Bedenken des Blue Frog. Aber Lakolar Annselarmo war der Oberste aller Lerasier, und Sermon Larka entschied für sich, dass Lakolar auch jetzt noch der Stärkere war in diesem Haus und diesem Land.
„Ich denke, Sal Karpi wird seinen Bruder Pet nicht gegen irgend ein Phänomen von sonst woher eintauschen wollen. Sichern wir uns über diese Beziehung die Loyalität von Sal Karpi!“
Tarumor Tass wich zurück. So viel Einwand hatte er nicht erwartet. Der Plan, die Karpi-Brüder auszuschalten, lief bereits. Er wollte nur verhindern, dass Sermon Larka ihm in den Rücken fiel. Das war jetzt nicht mehr sicher. Tarumor Tass nickte Sermon Larka zu. Ich akzeptiere, sagte er, drückte einen Knopf und gab mehrere Befehle über seine Tastatur nach draußen ab.
Dann wurden die beiden unterbrochen. Lakolar Annselarmo rief. Er hatte sich aus dem Verstärker gelöst und Sal Karpi fürs erste entlassen.
Er wirkte müde und seine Stimme hatte einen schleppenden Unterton.
„Wir können die Karpi-Brüder nicht für den Erstkontakt gebrauchen. Sal hat die Hibernationskammern ausgetauscht, sodass die Person mit dem problematischen Gesundheitszustand an Bord geblieben ist. Dafür wurde das Kindermädchen ins All abgestoßen. Sal Karpi ist von den Bodenbewohnern verdorben und Pet ist einfach zu primitiv, um unsere Vorhaben zu vermitteln. Sorgen Sie dafür, dass die beiden zu ihren Algen zurück können, ich habe eine Amnestie zugesagt. Aber sie sollten sanft in einen ruhigeren Zustand übergeführt werden! Einen Zustand, in dem sie sich nicht mehr daran erinnern, dass sie jemals woanders waren als in dieser Hütte und an diesem öden Stück Wasserrand. Sanft bitte“, fauchte Lakolar. „Sehr sanft! DER VORFALL könnte immer noch Kontakt zu den Karpi-Brüdern halten und würde aufhorchen, wenn wir seine Helfer beseitigen!“
Tarumor Tass fuhr zusammen. Für einen Moment war er sprachlos. Sermon Larka hatte ihn eben vor einer großen Dummheit bewahrt. Und wenn Tarumor Tass etwas nicht leiden konnte, dann war das Dankbarkeit und irgend eine Verpflichtung gegenüber Untergebenen oder Halbfreunden.
XII.
Drei mal zehn Tage später. Rotam hatte es zuerst gar nicht glauben wollen, aber der Handel, den seine Mutter mit den Männern der Bodensicherheit ausgehandelt hatte, der war aufgegangen. Niemand verlor ein Wort über die bizarre Begegnung, nirgendwo erschien irgendjemand und stellte irgendwelche eigenartige Fragen. Äußerlich schien alles in Ordnung. Aber Rotam hatte die Augen im Licht gehabt. Er war nicht mehr der Rotam von vorher.
Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn die IAB-Beamten ihn gelöscht hätten. Aber Clarissa war bei ihrer ersten Entscheidung geblieben. Sie hatte nasse Augen gehabt an diesem Abend und dann ihm die Wirkungsweise des Medikamentes erklärt. „Du hättest nach einer solchen Behandlung nicht einmal mehr einen Zweifachen springen können. Das ist das Verheerende an diesem Medikament. Es wird grundsätzlich zu hoch dosiert, und dann löscht es nicht nur das Kurzzeitgedächtnis, sondern schädigt genau die Bereiche, die am höchsten trainiert sind, die am meisten präsent sind. Das kann bei jemandem, der im Allgemeinen schwimmt, glimpflich ausgehen, aber Spezialisten schwimmen hinterher nur noch im Allgemeinen. Und das kannst du nicht wollen, oder?“
Die Frage, die er ihr gestellt hatte, zielte eigentlich in eine ganz andere Richtung, aber nach diesem Vortrag hatte er abgebrochen und seit Tagen überlegte er krampfhaft, wie er ihr das beibringen sollte, was ihm an diesem Abend passiert war. Sie musste das auch irgendwie schon wissen, sie hatten in den letzten Tagen viel geredet, waren aber in Oberflächlichkeiten geendet, und das Thema stand immer offen, stand wie eine Wand zwischen jedem Satz, jeder Anrede, jeder stummen Geste.
Sie ließ sich nichts vormachen. Das war auch das Schwierige an Rotams Mutter. Eigentlich war sie auch noch gar nicht so alt. Sie hatte sich nur die Frisur verdorben, weil sie in den Thraxonischen Studios ständig andere Arten von Kunsthaaren aufsetzten. Sogar in den Redaktionsräumen. Es könnte doch mal einer auf die Idee kommen und ein Aufnahmegerät hinter die Kulissen halten. Aber ohne die bunte Maskerade erkannte niemand in seiner Mutter die Lokalkorrespondentin für Simapi-West.
Privat war sie immer noch seine Mutter. Zierlich. Rotam konnte sich immer noch nicht so recht daran gewöhnen, dass er ihr seit einem Jahr direkt über den Scheitel drüber weg schauen konnte. Wenn er auf ihre Augenebene herunter wollte, holte er sich eine Abreibung. Steh’ gerade, du bist Lerasier, kein heimatloses Fragezeichen! Das Bedürfnis nach Nähe war an solchen Ermahnungen viel zu oft abgeprallt. Trotzdem war diese Nähe immer da. Lag in der sorgsam vorbereiteten Schuluniform. In dem kleinen Appartement, in dem immer Spiel- und Arbeitsgerät nebeneinander seinen Platz hatte. In der stillen Fürsorge. Trotzdem wünschte sich Rotam, seine Mutter wäre weniger spröde.
Sie waren zusammen in die Sporthalle gegangen, Clarissa hatte sich eine Sportuniform übergestreift und war ihm voraus in die große Halle getreten. Sie drehte sich um, bewunderte die Stille des Samstagabends und jetzt lächelte sie sogar ein wenig.
„Weißt du, Rotam, das ist ja wirklich nett, dass du mich schon das dritte Mal mit in die Sporthalle schleppst.“
„Ich dachte, dass es dir Spaß machen würde. Und außerdem bringt es Abwechslung.“
„Na gut, besser als das, was meine Kollegen manchmal in das Abendprogramm stellen, ist Taisieh immer. Aber wir müssten mehr sein. Eine Gruppe von acht Leuten oder so.“
„Warum nicht? Achtung, der Trainingscomputer startet jetzt. Heute bietet er uns zum ersten Mal eine dreiteilige Übung an.“
„Und du denkst, ich kann das?“
„Klar. Notfalls stellst du dich einfach in die Trainingsfigur hinein und lässt dich führen.“
„Ich lerne besser durch Zuschauen.“
„Wichtig ist die Kombination der Hüftdrehung und der Armbewegung.“
„Bei dir sieht das alles so elegant aus, Rotam. Warum hast du überhaupt deine Leichtathletikstunden halbiert? Der Sportpädagoge war bei mir und hat sich beschwert. So würdest du den Dreifachsalto aus dem Stand nie schaffen.“
„Glaubst du nicht, dass es Wichtigeres gibt, als diesen Salto?“
„Etwa Taisieh?“
„Nein, Ma. Anderes. Denk an die Hüftdrehung!“
„Entschuldigung. Eigentlich sollte man ja beim Training nicht quatschen, sondern sich konzentrieren. Dafür ist Taisieh doch konzipiert.“
„Das sieht schon richtig gut aus. Taisieh wirkt zwar sehr ruhig, aber du musst wirklich Kraft investieren. Sonst wird es nie elegant.“
„Danke Herr Lehrer! Trotzdem beschäftigt es mich maximal, wenn mein halberwachsener Sohn sich plötzlich so viel Zeit für seine gedankenlose Mutter nimmt.“
„Du kannst Taisieh als Entspannungsübung zum Beispiel zwischen zwei Reportagen in deiner Redaktion machen.“
„Das wäre es! Dann bringen mich meine Kollegen ins Frühstücksfernsehen. Als Unterhaltungseinlage! Wenn ich Abstand zu meiner Arbeit brauche, dann hab’ ich doch dich. Das reicht wohl. Oder nicht?“
„Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Lass uns noch eine Doppelstrecke laufen.“
„Was willst du mir sagen?“
„Eine Doppelstrecke, quer durch die Halle.“
„Erfasst das der Trainer noch?“
„Bis zur gelben Linie, in Ordnung?“
„Sag bloß, du willst ein Mädchen mit nach Hause bringen!“
„Nein!“
„Wenn du Probleme mit der Schule hast, dann raus damit!“
„Nein, nicht mit der Schule. Ich will meine Sportlaufbahn abbrechen. Ich werde nach der Schule fort gehen. Ich habe mich bei der Raumfahrtakademie beworben.“
„Rotam!“
„Es ist so.“
„Du wirst genauso ein spinnenbeiniges Individuum werden wie alle diese Verrückten, die dem Ruf des Großen Lakolar folgen.“
„Nicht unbedingt. Ich war beim Orthopäden und hab’ mir das Phänomen erklären lassen.“
„Ja, natürlich! Sie gehen alle zum Orthopäden und fragen, wie es kommt, dass sie plötzlich mit den Händen an der Zimmerdecke entlang tasten können. Das ist die verminderte Schwerkraft im Orbitarium. Ihr geht alle dorthin, wenn das Längenwachstum noch nicht abgeschlossen ist und dann spielen die Drüsen verrückt und geben noch mal einen Impuls für das Längenwachstum heraus. Genau das ist es. Da machst du nichts dran. Und wenn du was dran machst, bist du immer der Kleine vom Dienst. Also, mach’ dir nichts vor!“
„Ma, du bist unbarmherzig!“
Clarissa blieb stehen. „Ist es wegen dieser Begegnung?“, fragte sie plötzlich.
Rotam war auch stehen geblieben. Der Trainer protestierte mit Pfeiftönen, aber weder Clarissa noch Rotam störten sich daran. „Ja, es ist deswegen“, sagte Rotam.
„Aber du hast sie nur sekundenlang gesehen. Du weißt überhaupt nicht, wo sie herkommt, wo sie jetzt ist!“
„Ich habe ihre Welt gesehen. Ich habe gesehen, dass sie hier nicht bleiben kann. Sie muss weg von Artesa. Zurück in ihre Heimat. Auch wenn sie momentan in Sicherheit ist.“
„Siehst du, Rotam, sie ist in Sicherheit. Erfahrene und geprüfte Wissenschaftler, die wissen, was sie tun, die werden sich mit ihr befassen und das Problem regeln. Deswegen musst du nicht dein Leben umschmeißen.“
„Genau das ist der Haken an der Sache. Erstens befindet sie sich nicht in der Obhut von irgendwem, sondern ist auf der Flucht, zweitens bezweifle ich, dass die Leute, die sich mit ihr befassen, wissen was sie tun, und drittens halte ich es für ein Verbrechen, von fremden Planeten höhere Lebewesen zu entführen, nur um ihre Widerstandskraft auszuforschen. Es geht bei diesen Experimenten um nichts weniger als die Vorbereitung von Landnahme.“
„Rotam, ich kenne dich nicht wieder!“
„Ich mich auch nicht, Ma. Es ist, als hätte ich eine rosa Brille abgestreift.
Pause!“, fauchte er den Trainer an, der reagierte sofort und stellte seinen Pfeifton ab.
„Weißt du, Ma, ich sehe plötzlich Dinge, die waren mir früher egal. Warum sind die Blätter an den Ranken alle gleich geformt. Alle gleich gezahnt.“
„Weil das eine optimale Form für ihre Funktion ist.“
„Wer legt das fest? Wer legt fest, dass Blätter nicht auch herzförmig, gelappt oder nadelförmig sein dürfen. Wer legt fest, dass niemand den Glasweg verlassen darf?“
„Deine Erkenntnis in alle Ehren, mein Sohn, aber dafür habe ich dich nicht in die Welt getragen, dass du irgendwann in einer einsamen Galaxie an Sauerstoffmangel oder Schizophrenie eingehst.“
„Ich kann es nicht ändern, Ma. Es ist einfach so. Und außerdem bin ich doch nicht gleich aus der Welt. Lass uns weitermachen! Wer weiß, wie oft wir noch dazu Gelegenheit bekommen.“
„Theater spielen! Du bist schlimmer als dein Vater. Hast du mal ein Taschentuch?“
„Nein. Leider.“
„Ach es geht schon. Die Ärmel machen es auch.“
„Ich glaube, wir bekommen Besuch. Ma, bitte!“
Rotam sah seine Mutter schnauben, sie konzentrierte sich nur mühsam auf das Trainingsbild, sie lief eckig, unsauber und nur noch halb so konzentriert wie am Anfang.
Er hatte gewusst, dass es schlimm werden würde, und er wusste, es war noch nicht ganz vorbei. Sie würde versuchen, einen Berg von Argumenten vor ihm aufzuhäufen, denn sie hatte schon seinen Vater an den Großen Lakolar verloren, nicht draußen, im endlosen Raum, sondern drinnen im Orbit, auf einer Reparaturwerft, als eine große Spiralfeder, ein Gerät von vier Metern Durchmessern, ihren durchrosteten Rahmen gesprengt und die Hälfte seines Vaters durch die Lagerhalle geschleudert hatte, während die andere Hälfte noch eine ganze Minute fassungslos in ihren Schuhen stand, und dann zusammenfiel wie ein loser Stoffsack voller Tennisbälle. Rotam war drei Jahre alt gewesen und erst in der allerletzten Zeit hatte er sich darüber Gedanken gemacht, wie seine Mutter es geschafft hatte, die folgenden drei Jahre bis zur Einschulung ihres Kindes zu überbrücken, ohne von diesem Unglück ins Niemandsland geschleudert zu werden. Aber er konnte es nicht ändern. Es war sein Leben. Dieses Leben hatte zum ersten Mal einen klaren Sinn. Ein Licht bekommen. Ein Neuanfang war möglich. Wenn er ihn jetzt verpasste, dann wäre der Rest dieses Lebens nur noch Pfusch.
Wie gut, dass die Halle so groß war. Vorn ging jetzt die Tür auf, seine Mutter sah auf. „Das sind Quodon und Sell“, sagte sie. „Ich mag den Kerl nicht.“
„Ma, bitte, das sind Vorurteile!“
Clarissa schwang ihre kleine Faust zornig gegen Rotam, dann fügte sie sich wieder in den Trainingslauf ein.
Quodon und Sell schlenderten barfuß quer durch die Halle, vorbei an der Ecke, in der die Fremde gestanden hatte. An deren Namen würde Rotam sich irgendwann auch erinnern, wenn er nur zu dieser tiefen Ruhe finden würde, die er manchmal im Taisieh erfuhr. In dieser Ruhe kamen die Bilder hoch, die er empfangen hatte, als Dank dafür, dass er ihr seine Sprache und seine Mathematik und seinen guten Glauben an die Weisheit des Großen Lakolar überlassen hatte. Unter diesem Schutz hatte Rotam sich bisher immer geborgen gefühlt, und es war ihm ein Bedürfnis gewesen, diesen Schutz auch an die Besucherin zu vermitteln.
Aber seit er selbst diese Bilder von der anderen Welt empfangen hatte, war ihm, als wäre seine eigene nur noch rosa-hellblau, und eine andere, eine richtige Welt wäre wegen ihrer Ecken, Kanten, Spitzen, Schlangen, Wölfen und hungrigen Räubern einfach wegrasiert worden.
In der Welt der Fremden gab es licht- und musikdurchflutete Räume, zarte Männer und Frauen, die Dinge aßen, von denen Rotam nicht einmal wusste, ob sie überhaupt essbar waren. Dann wieder ein wildes Meer, sturmaufgewühlt, Wolken, die hoch unter Spannung standen, sich planlos mit Blitzen, Donner und unglaublichen Wassermassen entluden, Gewitter hieß das Wort dazu, und Rotam konnte sich nicht vorstellen, wie man so planlos und entspannt in den Tag hinein leben konnte, wenn man nirgendwo sicher war vor einer Erscheinung, die Gewitter hieß.
„Jetzt bist du es aber, der aus dem Rhythmus gekommen ist“, sagte Clarissa Vargun, und sie zeigte auf das Blinken der Trainingskontrolle.
„Hallo Rotam, Hallo Ma Vargun!”, zwitscherte Sell.
„Hallo, was treibt euch hierher?“
„Schön könnt ihr das. Darf ich mitmachen?“
„Natürlich darfst du das, Sell. Du solltest auch. Schließlich ist es deine Stunde, hat mir Rotam gesagt, die wir hier missbrauchen.“
Sell blieb stehen. „Ich krieg’ das nie so gut hin wie ihr. Ich blamiere mich höchstens. Ich hab’ was viel Besseres gefunden, stimmt das, Quodon?“
„So! Und da willst du jetzt wohl dein Samstagsabendsporthallenabo ganz abmelden?“
„Vielleicht. Ich muss erst mit meinen Eltern da drüber reden.“
„Das solltest du tun. Das Abo ist nämlich nicht ganz billig. Was hast du denn gefunden, dass es so ein Abo aufwiegt?“
„Darf ich es sagen, Quodon?“
„Besser nicht“, gab Quodon brummig zurück.
„Aber du hast selber gesagt, dass es null Bedeutung hat. Ich bin seit letzter Dekade Mitglied bei den Jüngern des Neuen Hauses.“
„Du, Sell!“, Clarissa horchte auf.
„Warum nicht! Ich habe eine ellenlange Nummer bekommen, mit der soll ich mich ausweisen. Und ich musste meine Hand blau malen und auf Papier drücken! Ist das nicht niedlich!“
„Und wer hat dich auf die Idee gebracht, bei den Jüngern des Neuen Hauses einzutreten?“
„Quodon. Ich bin doch nur als Schläfer eingetragen, dafür helfen mir die Jünger des Neuen Hauses durch die Aufnahmeprüfung für das Studium.“
Clarissa baute sich auf und begann Quodon zu fixieren. „Quodon Larka, bist du dir darüber im Klaren, was du Sell eingeredet hast?“
„Sie ist doch nur als Schläfer eingetragen. Also hat es wirklich keine Bedeutung. Sie erfährt alles, was vorgeht, kann die Netzwerke nutzen und muss eigentlich gar nichts machen. Aber hab’ ich das richtig verstanden, dass du Trainingsstunden an Rotam abgegeben hast, Sell?“, fragte Quodon mit einem lauernden Unterton.
„Ja, vielleicht drei oder vier Mal!“
„Heißt das, dass Rotam hier war, als die Jäger der Bodensicherheit die Sporthallenfenster in den Saal geballert haben?“
Clarissa wünschte sich einen Ballon voll Schlamm, um ihn Quodon an den Kopf zu werfen.
„Quodon, ich bin noch nicht fertig mit dir. Du müsstest wissen, dass die Jünger des Neuen Hauses eine verbotene Organisation darstellen. Sie werden von der Lerasischen Bodensicherheit beobachtet. Gerade du müsstest es wissen, dein Vater ist Red Spin der Bodensicherheit in Simapi.“
„Mein Alter sagt mir nie, was er während seiner Arbeit macht.“
„Gewiss! Es ist ja auch alles so streng geheim, was dort passiert. Aber wenn Sell weiter so in der Gegend rumposaunt, dass sie sich bei den Jüngern des Neuen Hauses hat einschreiben lassen, wird sie niemals einen Studienplatz in Thraxon bekommen.“
„Aber die haben mir versprochen, dass sie das über ihre Verbindungen absichern.“
„Sell, die Jünger des Neuen Hauses können dich aber nicht davor schützen, im Niemandsland zu verschwinden. Dort gibt es genug von deiner Sorte. Geh wieder hin, sag ihnen, dass deine Blutwerte ständig aus den Normalen herauspendeln, dass du andauernd Schlaftabletten nehmen musst, dann lassen sie dich vielleicht wieder raus.“
„Sie kennen sich aber verdammt gut aus, Vargun Ma!“
„Ja, Quodon, es ist mein Beruf, mich gut auszukennen.“
„Aber wenn Sie sich gut auskennen, dann müssten Sie doch wissen, warum die Bodensicherheit am Samstagabend vor drei Dekaden diese Sporthalle überfallen hat. Vor allen, weil Rotam hier war. Allein hier war! Fehlt dir vielleicht ein Stück Film von damals?“
„Irrtum, Quodon. Der Trainer hat mich verdonnert, noch eine Einheit Basisnahrung aufzunehmen, bevor ich mit Taisieh anfangen kann, und die hatte ich nicht. Er hat gestreikt und da bin ich heim gegangen. Außerdem kam’s doch im Fernsehen. Übung. Sie haben einen Diebstahl von grünen falkidischen Graslaonen verfolgt. Mit den Leuten von der Bodensicherheit will ich nichts zu tun haben.“
Clarissa drehte sich um, es passte sogar in die Übung, und sie gestattete sich eine Andeutung eines Lachkrampfs. Der Bericht war wirklich im Fernsehen so gelaufen. Als Zielobjekt hatten die Jäger der Bodensicherheit und die Institutsverantwortlichen den Kameras einen frustrierten Techniker präsentiert, der mit einem Kasten voller erfrorener Graslaonen oben am Glasweg eingekreist worden war.
„Hey, wenn’s aber keine Übung gewesen wäre? Dann hättest du wegen zwei Früchteriegeln vielleicht die erste und einzige Begegnung mit Außerirdischen verpasst. Aber als Leichtathlet verpasst man sowieso die Hälfte aller interessanten Dinge im Leben.“
„Rotam will zur Raumflotte“, warf Clarissa ein.
„Ist das jetzt Ihr Ernst, Vargun Ma?“
„Ja. Hat er mir eben gerade gesagt.“ Sie warf Rotam einen Blick zu, in dem alles steckte, was sie von dem Vorhaben hielt.
„Ich werde nicht wieder! Mann, endlich hast du es kapiert. Solche Leute wie dich brauchen wir im Orbitarium. Ich bin richtig stolz auf dich.“
„Es tut mir leid. Kinder, ich hör’ jetzt auf. Ich geh’ heim. Bei so viel Stolz vergeht mir die Lust am Sport.“ Clarissa warf das Handtuch.
„Rotam, das mit den Früchteriegeln versteh’ ich nicht!“, fragte Sell.
„Brauchst du auch nicht“, antwortete Clarissa, ehe jemand anders was sagen konnte. „Komm, geh mit! Ich will sehen, was ich für dich tun kann. Lass die beiden ihren Stolz alleine feiern. Dazu brauchen sie uns ja jetzt nicht mehr!“
XIII.
DER VORFALL begann sich zur Staatskrise auszuweiten. Die Feldjäger der Raumsicherheit hatten ihn in den weitläufigen Fabrikationshallen von KAPTOS aufgespürt, weniger wegen ihrer eigenen gründlichen Suche, sondern deswegen, weil KAPTOS in die Kritik seiner Abnehmer geraten war. Die letzten drei ausgelieferten Sprungsonden waren technisch einwandfrei, aber ihre Energievorräte lagen bei nahe Null, als hätte jemand die Sprungsonden schon vor 200 Jahren in die Halle eingelagert und dann vergessen. Sie waren wie ausgesaugt. Nachlieferungen brachten keine Besserung, und die Geschäftsleitung stand kurz vor dem Kollaps. Einer aus dem inzwischen eingetroffenen Raumsicherheitskommando ließ ungeschickterweise gegenüber einem Betriebsangestellten eine erklärende Bemerkung fallen, und jetzt lag auf dem Tisch vor Lakolar Annselarmo ein gesprochener Brief von KAPTOS, der Schadensersatz und eine öffentliche Entschuldigung forderte. Und der Große Lakolar hatte immer noch keine richtige Vorstellung von DIESEM VORFALL. Er bewegte sich anders als auf Boden und er reagierte anders, als Sal Karpi ihn in Erinnerung hatte.
Eine faszinierende Erinnerung! Lakolar hätte dabei sein mögen bei dieser Expedition. Aber Sal Karpi war womöglich getäuscht worden. Auch er hatte nicht alles überblickt. Vor diesem Hintergrund musste Lakolar entscheiden, wie er jetzt weiter vorgehen sollte. Wenn es ein intelligentes, biologisch organisiertes Phänomen ist, so wie Sal es erlebt hatte, dann mussten die Artesianer es nur lange und gründlich genug isolieren, bis es von selbst aufgab und sich unterwarf. Wenn sich hinter dem biologischen Bild allerdings eine Art Maschinenwesen verbarg, dann war diese Strategie nutzlos und sogar schädlich. Es ist keines von beiden, entschied sich der Souverän. Es ist reine Energie, es sucht nach reiner Energie und es wird größer. Alles, was wir von ihm sehen, ist das Bild, das es uns vorgaukelt. Und dann durchforstete Lakolar noch einmal gründlich die Bilder von Boden. Warum sollte jemand, der so hoch entwickelt ist, sich in so einer rückständigen Welt aufhalten, wie es Boden war?
Jede Maschinenzivilisation, die ihm bekannt war, hätte so einen wehrlosen Planeten in Wochen ausgehöhlt und alle hochwertigen Rohstoffe fortgetragen. Haben sie nicht. Was anderes war ihnen wichtig. Leben. Gut leben. Sicherlich eine recht archaische Art zu leben, aber wenn ich mit einem Kopfnicken meinen Standort und mein Aussehen verändern kann, dann können mir Steinewerfer und Bogenschützen vollständig egal sein. Dann aber muss irgendwas passiert sein, was so nicht mit ihrem normalen Lebenszyklus zusammenpasst, sie müssen Boden verlassen, versuchen zu diesem Zweck, meine PRAMOS zu entern und zur Artesa zu kommen. Das verhindert Martia Kooh zum großen Teil, indem sie ein Feuerinferno auf Boden anrichtet. Sie weiß zwar, dass eines der Energiewesen bereits an Bord ist, aber sie übersieht, dass dieses Wesen sich nicht so einfach in das All rausschießen lässt. Jetzt ist es da.
Ich denke, es ist lebendig. Aber vermutlich auf eine viel höhere Art, als wir das bislang für möglich gehalten haben. Wir sollten es auch so behandeln. Auch ein solches Energiewesen ist nicht unsterblich. Auch das kann nicht alles erkennen. Was wäre, wenn wir ihm die Möglichkeit gäben, alles über uns zu lernen? Würde es dann so werden wie wir?
Lakolar verwarf diesen revolutionären Gedanken. Sal hatte ihm das vorgeschlagen. Es wäre ein logisch nachvollziehbares und wissenschaftlich anerkanntes Verfahren gewesen. Assimilation durch Informationsübermacht! Nein, auf so ein Risiko wollte sich Lakolar nicht einlassen. Das Wesen las Gedanken, ohne dass es dazu einen Verstärker benutzen musste. Es gibt bestimmte Dinge, die durfte ein solches Wesen nicht lesen. Die durften nicht mal seine engsten Vertrauten erfahren. Wir werden anders vorgehen. Wir werden es mit seiner eigenen Natur schlagen.
Dazu müssen wir zuerst unsere eigene Natur in die Schranken weisen. Wir müssen unsere Angst loswerden. Wir müssen ihr einen Namen geben. Etwas, was ich benennen kann, dem ich eine Registriernummer geben kann, das kann sich nicht mehr einfach unserer Vorstellungskraft entziehen.
Die Fremde ist wie ein Sturmwind. Einer von den Sturmwinden, die sich immer wieder an den Polkappen des Planeten auszubilden drohten. Sie wurden vom Orbit aus mit mathematisch dosierten Mengen heißer Energie bestrahlt und fielen dann in sich zusammen. Hätten wir diese Strahler nicht, könnten wir nicht so leben, wie wir heute leben. Die Fremde ist der Testfall für die Stabilität unserer Lebensform. Sturm, Testfall, das sind alles zu starke Namen für sie. Sie würden sie aufwerten in den Augen seiner Verfolger. Sie sollte einen ganz einfachen, einen niederen Namen bekommen, und damit würde er sie bezwingen.
Welches ist das kleinste, abwertende Wort in der artesianischen Sprache neben den Schimpfwörtern und den Flüchen? Die Null. Das Nichts. Nies. Nies Boden. In Anlehnung an ihre Herkunft. Viel zu gut. Namen ließen sich töten, indem man sie rückwärts buchstabierte. Nies Nedob. Zuviel N. Nies Edo. Gut so. Jetzt konnte Lakolar Annselarmo damit hantieren.
In den gesprochenen Brief der Geschäftsleitung von KAPTOS war eine kurze Datei eingespielt, die die Menge der den Sonden entzogene Energie umriss. Damit ließ sich bereits jetzt ein größerer Satellitenstart realisieren. Lakolar Annselarmo gab einen Auftrag an die Raumsicherheit heraus, dass alle Tätigkeiten aufgelistet werden sollten, die eine solche Energiemenge benötigten. Was will sie damit? Den Einkreisungsversuchen war sie bisher geschickt ausgewichen. Bei KAPTOS war man inzwischen dazu übergegangen, das Sprungsondenlager zu räumen. Wir lassen sie nicht zur Ruhe kommen. Sie muss sich einen neuen Platz suchen. Wir bereiten einen solchen Platz vor. Es dauert nur noch einen kleinen Moment. Es dauert nur noch zehn Tage. Zehn Tage! Lasst euch Zeit, hatte Lakolar Annselarmo dem Blue Frog befohlen, lasst euch Zeit. Aber er hatte ihm nicht gesagt, weshalb, eben, weil die Fremde sich laut Aussage von Wass Mato bei den Gedanken ihrer Verfolger bediente, und schnell die Falle wahrnehmen könnte. Die Liste kam herein, die er angefordert hatte. Abschuss einer Raumstation, Zerstörung eines lebenswichtigen Kraftwerks, der Sondenstart, über den er selber schon gegrübelt hatte. Und die Möglichkeit, Subraumnachrichten zu versenden. Das könnte eine Möglichkeit sein. Lakolar Annselarmo gab den Befehl heraus, dass alle entsprechenden Objekte entsprechend zu sichern waren. Dazwischen kam die Nachricht von einem Blutbad in der Markthalle am Dreieck. Wass Mato hatte versucht, einen entlaufenen Häftling zu stellen. Es war misslungen. Wass Mato war tot und dreißig Marktbesucher ebenfalls, die in der Nähe gestanden hatten, als der ertappte Flüchtling eine Bombe zündete. Wass Mato war nicht mehr der Alte gewesen, seit ihn die Fremde berührt hatte und seit der Behandlung durch die Pharmakologen der Raumsicherheit. Sie sind alle Idioten! Lakolar hätte Wass Mato gebraucht. Einen Wass Mato mit genau der Rüpelhaftigkeit und Obrigkeitsignoranz, die auf Artesa selten geworden war. Die Markthalle am Dreieck würde jetzt endgültig in die Hände der thraxonischen Händlerkartelle fallen. Und Lakolar Annselarmo hatte nichts, womit er diesen Machtverlust verhindern konnte.
Wenn diese Sache vorbei war, dann würde er sein Kabinett umbilden. Er musste für frisches Blut sorgen. Und er musste sich auch um seine eigene Nachfolge sorgen. Die Jagd zerrte an seinen Nerven und Lakolar fürchtete den Moment, an dem er seinen ersten Fehler machen würde, der in einer solchen Situation schnell sein letzter sein konnte. Sein letzter Fehler könnte aber auch für Artesa schnell der letzte sein. Lakolar verbot sich, an einen solchen Fall zu denken. Es gab keinen würdigen Ersatz und keine wirklich kompetente Stellvertretung für ihn. Noch nicht! Deshalb konnte er auch nicht mitten im laufenden Verfahren die beteiligten Akteure auswechseln. Er musste es noch mit den alten Leuten durchziehen. Und er wusste noch nicht, wo er wirklich gute neue herbekam. Irgendwas stimmt nicht mit unserem System.
Hoffentlich beeilte sich der Blue Frog nicht so sehr mit seinen Aufräumarbeiten, damit wir DEN VORFALL nicht ein zweites Mal woanders einkreisen müssen.
Und was den gesprochenen Beschwerdebrief von KAPTOS betrifft, Annselarmo hielt es für richtig, hier den Schritt nach vorn zu wagen. Die Betriebsanlagen von KAPTOS werden nach der Räumung der Lager demnächst in den Orbit verlegt, die Verarbeitung von hochenergetischem Material auf der Planetenoberfläche ist seit Jahrzehnten nicht mehr der Stand der Technik.
Und dann begann Lakolar Annselarmo darüber nachzudenken, wie er den Erstkontakt mit dem Fremdwesen einleiten konnte. Er dachte ein paar Mal darüber nach, selbst in die erste Position zu gehen, verwarf das aber sofort. Dann suchte er in seinen Informationen nach weiteren Personen, die über ausreichende Fähigkeiten dafür verfügen könnten. Es muss eine Person sein, die sich einen Atemzug lang in die Nähe von Nies Edo begeben kann, ohne von ihr vernichtet zu werden. Ein Atemzug reicht aus, für Analyse und Schwachstellendefinition. Dann können wir entscheiden, ob wir diese Schwachstellen nutzen, um sie zu vernichten, oder ob wir ihre Fähigkeiten den unseren zuordnen können. Diese Person muss ich finden. Ich werde sie persönlich steuern und niemanden dazwischen reden lassen. Wenn ich diese nicht finde, fällt Nies Edo ohne Analyse sofort dem Vernichtungsfeldzug meiner Raumsicherheit zum Opfer. Ich weiß nicht, ob das so gut ist.
XII.
Das große Tor des Gefängnisses öffnete sich zischend. Draußen standen diejenigen, die dieses Tor jetzt überschreiten mussten. Zwischen den Wachtruppen stand Sameon Rauka, vor sich eine Liste mit Namen, kurzen Biografien, die alle mit einem Urteilsspruch endeten. Verurteilt wegen unsittlichen Lebenswandels, wegen Vortäuschung falscher Tatsachen, wegen Aneignung fremden Eigentums, wegen tätlicher Auseinandersetzung mit Krankheits- oder Todesfolge. Die meisten von ihnen trugen noch ihre guten Bekleidungsstücke, mit denen sie vor dem Richter gestanden hatten. Sie hätten besser stabile Arbeitsanzüge anziehen sollen. Aber es kam selten vor, dass jemand seine Erfahrung mit dem Gefängnis nach draußen trug. Die Gesellschaft wollte es so. Wer sich auf Artesa bei einem Gesetzesbruch erwischen ließ, riskierte alles. Nicht selten Gesundheit und Lebenserwartung.
„Nicht so langsam, werte Gäste. Bleiben Sie nicht so lange im Tor stehen, Sie holen sich einen Schnupfen!“ Das war das Signal an die Wachtruppen, die Neuankömmlinge herein zu holen. Draußen stand der Bus und es gab kein Zurück. Der Blick nach vorn war für die meisten, die hierher kamen, ein Schock. Ein riesiger, unüberschaubarer Maschinensaal. Viel zu wenig Maschinen für viel zu viele Häftlinge. Hinter dem Maschinensaal öffnete sich das Gefängnis zu einer weiten trockenen Wüste. Die Wüste war am Tag unbarmherzig heiß und in der Nacht bitter kalt. Das Gefängnis lag an einem Ort, der bei der Zuteilung der Niederschläge ausgelassen wurde.
Der Schock, der die meisten befiel, kam nicht vom Anblick des Maschinensaals, sondern von dem Geruch, den der Saal ausströmte. Sameon arbeitete hier schon seit zehn Jahren. Aber er roch ihn immer noch. Er hatte Medizin studiert und hier das Trösten gelernt.
Eine Frau begann zu schreien. Eher wollte sie sich auf der Schwelle erschlagen lassen, ehe sie in diesen Mief reingehen würde. Jetzt begann die ganze Gruppe aufzubegehren. Das widerspricht allen Regeln der Hygiene!, beschwerte sich ein wirklich gutaussehender Alter. Das ist ein Ort, um Hautfäule zu kriegen. Sameon sah in seine Liste. Der mit den Regeln der Hygiene war ein Fall tätlicher Auseinandersetzung mit Todesfolge. Der Tageskommandant ist ein Sadist, dachte Sameon. Er ließ die Leute im Tor stehen, ließ in ihnen die Hoffnung aufkeimen, sie könnten mit ihrem Einspruch irgendetwas bewegen. Je länger sie dort standen, umso stärker würden sie sich gegen den Schritt über die Schwelle wehren. Und die Wachtruppen schreiten dann mit massiver Gewalt ein. Sameon musste anschließend denjenigen, die verletzt wurden, den nächsten Schock verpassen, denn es gab hier keinen Medikomp, keinen großen biologischen Reaktor, der gebrochene Arme wieder zusammenrechnete. Nicht einmal Blutergüsse konnten hier behandelt werden. Sameon erklärte den Betroffenen, wie lange es dauerte, bis die Hautverfärbung verschwunden war. Er schiente Knochenbrüche, und er vergab auch Schonplätze. Viel mehr konnte er nicht machen. Das war das Gefängnis. Wer es hier schaffte, jeden Tag ein oder zwei Stunden an einer Maschine etwas Sinnvolles zu tun, der bekam Essen und Wasser, wer mehr schaffte, der konnte sich waschen, und wer Punkte sammelte, der konnte Decken und Kleidungsstücke erwerben. Der Tag der Entlassung war jedem auf dem Arm eintätowiert, und über dem Tor hing eine große Uhr, die das Verstreichen der Tage, der Dekaden, der Sonnenwanderung und der Modurs anzeigte.
Jetzt endlich schien der Torkommandant genug von dem Entsetzen in den Gesichtern gesehen zu haben. Er befahl das Räumen, und es passierte genau das, was Sameon vorausgesehen hatte, es gab ein Handgemenge, der gutaussehende Alte riss einem Wächter den Schild aus der Hand und warf ihn in die Maschinenhalle, zwei weitere stürmten zurück zu dem Bus, die Frau bekam weiße Flecke im Gesicht, das sah ernst aus, und der Rest verkeilte sich ineinander, bildete einen festen Haufen, der sich nur mit brachialer Gewalt auflösen ließ. Jetzt musste Sameon einschreiten, denn sonst waren seine wenigen Schonplätze in wenigen Minuten ausgebucht. Er gab ein Zeichen mit der Faust an den Torkommandanten, der aber grinste nur breit und zeigte eine Acht mit den Fingern. Acht Minuten, Sameon, dann räumen wir.
Der verließ seinen Beobachterplatz, ging hinunter zum Tor und holte aus seiner Tasche einen Packen Kautabak. Er rollte ihn und bot ihn der Frau mit den weißen Flecken im Gesicht an. „Das Zeug ist verboten“, sagte die leise.
„Wer will Sie jetzt noch bestrafen, gute Frau, Sie sind schon bestraft, Sie sind schon ganz unten. Also genießen Sie es. Für zwanzig Punkte können Sie sich unten in der Halle eine Menge Kautabak besorgen, für die müssten Sie draußen vier Tage arbeiten. Nehmen Sie, das ist gut gegen die weißen Flecken, die Sie im Gesicht haben. Los, nehmen Sie schon!“ Er drückte der Frau ein kleines Stück in die Hand und wandte sich der verkeilten Gruppe zu. „Noch jemand, der vielleicht noch nicht probiert hat? Unten in der Halle gibt es auch jemanden, der zeigt ihnen, wie man aus Fruchtmus einen feinen, rauschigen Tropfen herstellt. Das ist eine andere Welt, das Gefängnis. Hier gibt es eine Menge zu entdecken!“
Einer der verkeilten Männer nutzte den Rückenhalt, um nach Sameon zu treten.
Sameon wich aus und schüttelte nur mit dem Kopf. „Halt, halt, mein Freundchen, wenn du mal deine Finger in einer Maschine drin lässt, dann brauchst du sicher jemanden, der dann deine Hand rettet. Das bin ich. Also, lass die Füße unten. Ich könnte mich an dein Gesicht erinnern und gerade dann keine Narkotika finden. Und jetzt lasst den Blockademist. Nehmt euch was von dem Kautabak, dann riecht die neue Welt gleich viel freundlicher.“
Die zwei Männer, die zum Bus zurückgerannt waren, kamen jetzt unfreiwillig zurück, mit verdrehten Armen und verbissenen Gesichtern. Das half. Sameon verteilte langsam seinen ganzen Vorrat an Kautabak und führten die Leute sanft über die Schwelle. Über die Spielregeln unten im Maschinensaal würden sie schon rechtzeitig von den anderen Gefangenen belehrt werden. Das Klima im Saal war gar nicht so schlecht, wie es beim ersten Ansehen wirkte. Es gab Leute, die sich gegenseitig halfen, und es gab solche, die von allen respektiert wurden. Zu denen gehörte Sameon Rauka. Er konnte viel zu wenig als Arzt tun, deshalb ging er umher und versuchte, allem, was echte Arztpflichten fordern würde, vorzubeugen. Dazu gehörten Infektionskrankheiten genauso wie Streitereien. Das Tor schlug zu, Sameon stieg hoch in die Wachkammer und stellte den Torkommandanten.
„Alfo, das machst du keine zwei Mal mehr, wenn ich Dienst habe! Ich habe keinen Tabak mehr.“
„Das war auch der Sinn der Übung. Du solltest deinen restlichen Vorrat sinnvoll verwenden, bevor du ihn vielleicht draußen in irgend ein Klo schmeißen musst.“
„Das verstehe ich jetzt nicht. Ich habe noch nie ein Gramm Tabak kaputt gehen lassen!“
„Dann lies erst mal dieses kleine Briefchen!“
„Wer hat den denn mitgebracht?“
„Sie stehen draußen. Du sollst deine Angelegenheiten sortieren und morgen früh nach Simapi fliegen. Sie warten sogar so lange. Was steht denn drin in dem Brief? Du siehst aus wie die Frau vorhin am Tor.“
Sameon gab dem Kommandanten zur Antwort den Brief.
„Vorgesehen für noch nicht näher zu definierende Aufgaben. Der Zeitraum der Abordnung beginnt morgen und endet nach Erfordernis“, las der Kommandant vor. „Sameon, so stolpert man die Karrieretreppe nach oben!“, sagte er und ließ seine breite Hand auf Sameons Schulter fallen.
„Ich weiß nicht weshalb? Ich weiß nicht mal, was ich falsch gemacht habe? Ich kann hier nicht einfach weg. Ich kann nicht einfach alles liegen und stehen lassen?“
„Sameon, du hast eine Einladung vom großen Lakolar persönlich und das bedeutet, dass sich die Torwache um Ersatz für deine Arbeit kümmert. Er wird dir schon sagen, weshalb er dich jetzt woanders braucht. Wir halten dein Zimmer warm. In Ordnung! Wenn irgendwas schief geht, kannst du dir ja unter deinen Freunden unten im Saal einen Platz suchen!“
Es sollte ein Wort zur Aufmunterung sein, aber Sameon war noch zu sehr geschockt, um den Schritt über die Schwelle zu tun. Er würde bis morgen diesen Schock aushalten müssen. Besser wäre es gewesen, sie hätten ihn sofort mitgenommen.
XV.
Rotam saß mit Sell in einem Straßencafé im Zentrum von Simapi, eigentlich wollte er heute mit seiner Mutter feiern, er hatte die Zusage für sein Studium bekommen. In seiner Jackentasche lag ein Zeitplan und eine Liste von Vorbereitungslehrgängen, er wollte so viel mit ihr besprechen, in der gelösten Atmosphäre dieses Cafés, und vielleicht ein wenig von dieser Zweisamkeit und dem stillen Verständnis herstellen, das bis zu jenem verhängnisvollen Abend in der Sporthalle zwischen ihnen bestanden hatte. Rotam wollte, dass sie in Frieden in die Zukunft gingen und sich endlich wieder in die Augen schauen konnten.
Aber Clarissa hatte abgelehnt, Arbeit vorgeschützt und den Kopf geschüttelt. Nun saß er hier mit Sell, aber Sell war auch nicht der Partner, mit dem man ein so wichtiges Ereignis hätte feiern können. Sell sah ständig zur Uhr, rührte unlustig in ihrem Eis, und wenn er sie fragte, worauf sie wartete, dann schüttelte sie nur mit dem Kopf. Ich sitze gerne mit dir hier, sagte sie. Können wir nicht am Samstagabend gemeinsam zum Taisieh in die Sporthalle gehen? Rotam nickte, um ihrem Gesicht wenigstens ein kleines freundliches Funkeln abzuhaschen.
„Ich komme nie so weit wie ihr“, sagte Sell schließlich. „Ich bin einfach zu blöde, zu ängstlich, zu unsicher.“
Rotam konnte sich gar nicht vorstellen, das Sell jemals anders sein könnte. Sie war ebenso. Rotam hatte immer das Gefühl, sie an die Hand nehmen zu müssen. Das war ein gutes Gefühl. „Es muss auch Mädchen wie dich geben, Sell!“, sagte er.
„Ich bin nicht mal gut genug für die Jünger des Neuen Hauses, hat deine Mutter zu mir gesagt.“
„Sie ist immer so. Vergiss das! Vielleicht braucht man bei den Jüngern des Neuen Hauses auch andere Qualitäten!“
„Nur nicht meine.“
„Warum schaust du eigentlich andauernd auf die Uhr?“
Sell hatte wirklich panische Augen. „Ist schon gut“, sagte sie. „Lass uns in die Ausstellung des Lebenskünstlers Tripli Triers gehen, die ist heute bestimmt nicht so überfüllt.“
Rotam hatte keine Ahnung von Lebenskunst, und von Tripli Triers erst recht nicht, aber alles war besser, als das stupide Starren in halbaufgeweichtes Anemoneneis.
In der Ausstellung war es dunkel. Ein Weg aus Metallgitter führte durch Pflanzungen, die farbig angestrahlt, bunt zurückstrahlten, bei Berührung mit einem Stab dunkle Rauchwolken ausstießen und komisch rochen. Einige dieser Gewächse hatten riesige blasenförmige Früchte ausgebildet, andere wieder bewegten sich wie Algen unter Wasser, und vor den Besuchern erschien alle zwanzig Sekunden ein Hinweisschild, dass das Berühren der Pflanzungen ein Verfahren wegen Sachbeschädigung nach sich ziehen könne. Es war alles bunt, ziemlich künstlich und mit Erklärungstafeln zugepflastert. Sell dagegen wurde noch trübsinniger.
„Los, raus mit der Sprache!“, fauchte Rotam sie an, nachdem sie eine halbe Stunde lang still und wortlos durch dunkle Hallen und enge Gänge gestrichen waren. Ein paar von den Pflanzungen reagierten mit einem Ausstoß von schwarzem Dampf.
„Du kannst mir auch nicht helfen!“, jammerte Sell. „Schau dir nur diese Vollkommenheit an!“ Sie breitete die Arme aus und ihre Augen wurden feucht.
„Welche Vollkommenheit?“
„Na die Farben, das Design, die Fähigkeit, aus einem Strang aus Buchstaben etwas herzustellen, das so ungezwungen wirkt!“
Rotam hatte etwas gesehen, das viel ungezwungener war, und das auch ohne Design hundertmal kraftvoller wirkte als dieser dunkle, klebrig riechende Realitätsersatz. Er suchte im Ausstellungskatalog nach einem Notausgang.
„Vielleicht“, jammert Sell weiter, „hätten mir die Jünger des Neuen Hauses geholfen. Vielleicht hätten sie den Professoren gesagt, sie sollen nicht so theoretische Fragen stellen.“
„Jetzt sprich dich doch endlich aus!“ Rotam war stehen geblieben und hatte Sell an den Armen gefasst.
„Heute ist der letzte Tag!“, schniefte sie. „Heute bis 18.00 Uhr. Bis heute Abend ist das Aufnahmekomitee der Thraxonischen Hohen Schule für die bildenden Künste in Simapi. Bis heute Abend kann man seine Bewerbung abgeben.“
„Verdammt, und warum bist du nicht schon lange dort gewesen?“
Sell schüttelte mit dem Kopf. „Ich würde kein Wort heraus bringen.“
„Aber deine Arbeiten, die du zu Hause stehen hast, die sprechen doch für dich. Leg sie hin, zeig sie vor, damit sie sehen, dass du gute Voraussetzungen für diese Schule hast!“
„Rotam, das sind nur Bilder! Mit dem Zeigefinger getupft und mit dem Fingernagel umrissen. Sie sind zweidimensional, sie sind starr, und sie sind nicht mal fixiert. Das reicht nicht. Die werden fragen: Was wollen Sie mit diesem Bild aussagen, was stellt das alles dar? Ist es etwa alles nur hohle Form ohne Inhalt? Soll ich da drauf sagen, sie sind einfach da? Sie kommen aus mir. Ich habe weder Ahnung von Genetik und auch keinen Schimmer von den Schmelzfarben von Metall! Ich kann nur ein wenig tupfen und Farben mischen. Ich kann nicht mal sagen, was meine Farbmischungen bedeuten sollen, und ich kann den Betrachtern auch nicht sagen, was sie lernen sollen, wenn sie sich damit abgeben.“
Das war so. Sells Malobjekte zeigten Formen in goldrot und orangerot, mit großen und kleinen dunklen Zentren und jedes Mal, wenn Rotam zu Sell kam und diese Bilder sah, dann sah er in ihnen andere Bilder. Er sah das Abendrot und er sah dunkle Sonnen, er sah große und kleine Augen und Gesichter, die sich berührten, dann wieder verschwammen sie, und er sah kosmische Stürme und das Meer des Schlafes. Sell konnte sie nicht erklären. Aber die Bilder waren wirklich wunderbar. Und in seinen Augen tausendmal schöner als die Duftwolken auswerfenden Gewächse von Tripli Triers. Viel zu schade für ein dunkles, viel zu kleines Jugendzimmer. Sell würde anfangen, sich darin zu vergraben und nie wieder herausschauen, wenn sie niemand am Arm nahm und ihren Tupfern den Wert gab, den sie besaßen.
„Geh heim und hol’ die Bilder und deine Bewerbungsunterlagen!“, fuhr Rotam sie an.
„Was soll ich machen?“
„Was ich eben gesagt habe. Ich warte hier auf dich. In einer Stunde bist du wieder hier, sonst brauchst du nie wieder im Leben mit mir ein Wort über Taisieh zu reden. Ich gehe mit zu dem Bewerbungsgespräch. Ich steh’ dir bei! Verstanden?“
„Aber du kannst nicht für mich reden!“
„Das werden wir schon sehen! Hol’ das Material! Ich warte hier auf dich! Eine Stunde, keine Minute länger!“
Sell gehorchte. Sie ließ seine Hand los, und begann zu laufen, vorwärts, immer schneller durch die Ausstellung, bis Rotam sie aus den Augen verlor und plötzlich ganz allein war, inmitten eines künstlichen Urwaldes aus lauter Pflanzen, die auf gar keinen Fall dieses Gebäude verlassen durften. Rotam suchte sich einen Sitzplatz und lehnte sich an den grauen Betonputz. Vor ihm gaukelten rotgepunktete Algenarme von der Decke herunter, und weil Rotam sich in völlige Bewegungslosigkeit zurückgezogen hatte, begannen die Pflanzen sich langsam dem spärlichen Licht zuzuwenden und die Algenarme flatterten wie zarte Girlanden, angetrieben vom dünnen Luftzug der Klimaanlage bis über den Eisengitterweg.
Es ist komisch, dachte Rotam. Es ist nicht wirklich wichtig, dass du einen Plan hast, es ist nur wichtig, den anderen deutlich zu machen, du hättest einen. Rotam hatte eigentlich keinen Plan. Nur eine verschwommene Idee.
Er stützte den Kopf in die Hände und dachte an die Flüchtigkeit einer fernen Erinnerung, wegen der er sein Leben umgeschmissen hatte, und jetzt wollte er wissen, ob das Versprechen, das sie ihm gegeben hatte, als Dank für seine Worte damals in der Sporthalle, ob das noch lebendig war.
Er wollte, dass er ihren Namen würde aussprechen können, denn dann würde er sie rufen können. Er würde sie bitten, dass sie auch Sells Hände berührte und Sell vom Schleier ihrer Traumwelt befreite, er schloss die Augen und suchte den Weg zu den tiefen kosmischen Seen.
Er ließ die Abbilder der bunten Pflanzen vor seinem inneren Auge vorbeifließen und dachte an diese einsame Stunde Taisieh und an den Schatten an der Hallenwand. Und er dachte an die schillernden Flügel, die dieser Schatten verbarg.
„Sterano!“
War’s denn wahr? Verdammt noch mal, wie war der Name? War er überhaupt richtig?
„Sterano.“
Irgendwo klapperte was in der Klimaanlage, und beinahe wäre mit diesem Klappern auch der Name im Abwind gelandet. Aber dann zischte es, und Rotam war wieder von Stille umgeben. Und jetzt sagte er ihn laut, so laut er es dem Raum zumuten konnte: „Sterano!“
Zuerst war ihm, als würde überhaupt nichts passieren, aber dann begann doch etwas zu passieren, wenn es auch nur das war, dass ihm die Haare im Genick aufstanden.
„Sterano“, sagte er wieder, diesmal ganz leise, und die Haare stellten sich auf bis zur Stirn. Ein warmer Luftzug fuhr durch die Ausstellung, die Algenartigen flogen hoch und verwirrten sich ineinander, wie Stofffäden, die im falschen Waschmaschinenprogramm gelandet waren.
„Wo bist du, kann ich dich sehen?“
Der Hauch vor ihm drückte eine große Beule in die rotgepunkteten langblättrigen Pflanzen, fegte durch den Raum und baute sich als weiße Rauchsäule zwischen den roten Blättern auf.
Du würdest dich erschrecken, summte es in Rotams Ohren. Ich bin hässlich und unförmig, nimm mit meinem Atem vorlieb und sprich leise mit mir. Ich freue mich zwar, dass es jemanden gibt, der meine Hilfe sucht, aber es gibt noch mehr, die nur meine Asche wollen.
„Sterano“, sagte Rotam noch einmal leise.
Zauberwort, Rotam Vargun, bitte sei still! Ich atme deine Nähe, aber ich will nicht, dass ich dich das nächste Mal in einem eurer Kopf-Krankenhäuser besuchen muss.
„Ich möchte so viel von dir wissen!“
Hast du mich nur deswegen gerufen. Sollte ich mich so in dir getäuscht haben?
„Nein, das ist es nicht, weswegen ich dich hier haben möchte. Es ist wegen Sell. Ich möchte, dass du Sell hilfst. Gib’ ihr einen Hauch von deiner Kraft! Und wenn es nur für heute ist. Für dieses Vorstellungsgespräch. Einfach, damit sie nicht zittert. Damit es ihr im unpassenden Moment nicht die Sprache verschlägt.“
Rotam sah wieder die roten Blätter fliegen, seltsame Formen beschreiben, den weißen Rauch auf und nieder steigen.
Lass mich sehen, was ich für euch tun kann, hörte er undeutlich, dann wurde der Rauch still, Sell kam gerannt.
Sie war außer Atem, sie hatte wirklich die Mappe mit ihren Arbeiten dabei und lief, ohne darauf zu achten, mitten in den weißen Rauch hinein, aber sie schüttelte sich nur einen Moment, als hätte sie einen Spritzer kalten Wassers abbekommen. Der weiße Rauch war weg. Auch die rotgesprenkelten Blätter hatten sich beruhigt. Sie wehten nur noch etwas nach, als wären sie elektrisch, und Sell ein Magnet, das sie anzog.
Rotam ging auf sie zu, nahm ihr die Mappe ab, nahm ihre Hand und während er Sell mehr vorwärts zog, als neben ihr ging, da sprang der Hauch von ihrem Arm zu seinem Arm und das Ziehen wurde leichter.
„Sell“, sagte Rotam. „Geht’s jetzt besser?“
„Wo werden wir hingehen?“
Rotam blieb abrupt stehen. Der Unterschied war einfach zu krass. Er sah sie an, und er wusste nicht mehr, wen er vor sich hatte. Um sie herum war immer noch die Ausstellung, aber Rotam hatte den Eindruck, als würden sich alle diese seltsamen Ausstellungsstücke nur ihnen zuwenden, als wäre Sell ein großes Licht.
„Sell!“, fragte er noch einmal.
„Sie schläft. Sie träumt, dass sie sicheren Schrittes zu dieser Aufnahmekommission geht.“
„Das war nicht so gedacht“, sagte Rotam leise. „Bitte, sie muss doch später wissen, dass sie dort gewesen ist.“
„Noch nicht. Auch ich muss mich erst an diese Form gewöhnen. Was sind das für Pflanzen?“
„Kunstwerke!“, gab Rotam zurück.
„Seltsam. Wer hat das alles geschnitzt und bemalt? Dabei ist alles unversehrt. Ich glaube, der Künstler ist ein Betrüger, der mit einem Schiff über das weite Meer gefahren ist, auf einer einsamen Insel hoch im kalten Norden all diese Gewächse eingesammelt hat und sie jetzt als Kunst feilbietet. Ihr solltet ihm nicht glauben!“
Rotam lachte kurz auf. Diese Theorie müsste er mal seiner Mutter anbieten. Dann würde sie ihn für völlig verrückt erklären. Aber dann wurde er wieder ernst.
„Wo lebst du jetzt?“
„Ich habe einen Platz gefunden, der für mich gut ist. Du würdest dort sterben. Lass uns gehen. Es ist alles sehr unsicher geworden. Wir haben nur wenig Zeit.“
Rotam verließ mit seiner Begleitung die Ausstellung, lieh sich ein Taxi und fuhr zu dem Stadtteil, in dem nach Sells Angaben diese Kommission tagen sollte. Während der Fahrt versuchte er ein paar Mal, SellSterano zu beobachten, wie sie auf die Stadt reagierte, aber das Taxi beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit, es funktionierte nicht richtig, es stuckerte und ruckte, wenn es von einer Leitlinie zur anderen sprang, und fuhr, als ob es einen Bus mit fünfzig übergewichtigen Primesorern mitschleppen müsste. Als sie ausgestiegen waren, rochen Antrieb und Elektronik stark nach heißem Öl.
„Rotam, ich fürchte mich, lass uns umkehren.“
Das war wieder Sell. Oder?
„Nein!“, fauchte er.
Dann ein Hauch Sterano. Sie hatte wieder Boden unter den Füßen. Sie wirkte erleichtert, sah nach dem Gebäude, das sie jetzt betreten wollten, lächelte und löste sich von Rotams Hand. Sie ließ sich die Mappe geben. Sie sah sich um, und erfasste in Sekundenbruchteilen die Regeln der sich vor dem Gebäude bewegenden Artesianer, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Gebäude, und sah fast eine ganze Minute nur unbewegt dorthin. Rotam fürchtete schon, dass sie auffallen würde mit diesem ungewöhnlichen Verhalten. Aber plötzlich fiel die Starre von ihr ab, sie ging auf das Gebäude zu, mitten über die stark befahrene Verkehrsader, ohne dass ihr irgendetwas passiert wäre, dann stieg sie die Treppen nach oben, mit ebenmäßigen, festen Schritten, und zog damit wirklich alle Aufmerksamkeit auf sich, nur durch diese Art, die Treppe zu erobern, und ihre wirklich gerade und aufrechte Haltung. Als sie oben auf dem Absatz stand, drehte sie sich um, unwillig, weil er stehen geblieben war, und Rotam lief hinterher wie ein kleiner Schuljunge.
Vor dem Raum, in dem die Aufnahmekommission tagte, mussten sie einen Moment warten, SteranoSell vermaß mit den Augen den Vorraum und Rotam bewunderte die Ruhe ihrer Person, die die Wartezeit dazu nutzte, mit sich selbst ins Gleichgewicht zu kommen. Schließlich wurden sie herein gebeten, Rotam trat gleich zur Seite und hoffte inständig, dass ihn niemand ansprach.
SellSterano stellte sich vor, sie sprach die Bewerbung aus, und sie sah genau den Thraxoner an, der im Raum wichtig war, sie legte ihre Mappe auf den Tisch, und sie ließ die Prüfer blättern. Sie beantwortete Fragen nach Arbeitstechniken und Material, und Rotam fragte sich immer wieder, wer da jetzt geprüft würde, Sell oder das Gespenst Sterano.
Dann zog aber doch einer der Prüfer ein Blatt aus der Mappe und fragte, was er denn von dieser Tupferei halten sollte. Das war die böse theoretische Frage, vor der Sell sich gefürchtet hatte. Es war eine psychologische Frage, keine wirklich fachliche, denn der Prüfer hatte ein wunderbares Bild herausgezogen, eines mit einer schwarzen Sonne in der Mitte, die einen langen spiralförmigen Schweif um sich zog, und inmitten dieses Schweifs schwebte ein einzelner dunkler Planet. Es war ein Bild in goldorange und der Schwärze des optischen Raums.
SellSterano legte die Mappe hin, und einen Moment dachte Rotam, jetzt verlässt sie fluchtartig den Raum und redet nie wieder mit mir.
Aber ihre verschleierten Augen blickten auf das Bild, wurden plötzlich glockenklar und wandten sich an den fragenden Prüfer. Sie nahm das Bild, und dann redete sie mit der Stimme, die nicht die von Sell war:
„Das Bild zeigt die Nähe und die Einsamkeit. Das da, die hell umrandete Sonne, das sind meine Geschwister, ihre Antlitze sind schwarz, weil sie so weit von mir entfernt sind, und ich ihre Nähe fast nicht mehr spüre. Ein Schweif gemeinsamer Gedanken und Erinnerungen verbindet uns, egal wie weit wir voneinander getrennt sind, und alle meine Gedanken hängen an ihnen als Zentrum. Aber in diesem Schweif bin ich einsam, denn ich kann nicht mit ihnen Kontakt aufnehmen, und wenn das noch länger anhält, fürchte ich, werde ich mich in diesem Schweif verlieren, fortstrudeln in das Schwarze der Nacht.“
„Und warum zeichnen Sie sich selbst auch schwarz?“
„Das ist nicht die Schwärze eines Schleiers. Das ist die Leere, die ich erst noch mit einem Bild von mir auffüllen muss.“
„Sie sehen sich selbst also noch auf der Suche?“
„Ich suche den Platz, an dem ich mich entwickeln kann und die Helfer, die mir bei dieser Suche beistehen!“
„Auch das noch!“, sagte der Prüfer knurrig. „Bei so was kann Ihnen niemand helfen, den Platz im Leben müssen Sie selbst finden!“ Stille trat ein, und plötzlich wurde dem Prüfer klar, dass er sich handfest im Ton vergriffen hatte, und er lenkte ein:
„Na gut! Mir persönlich sind die, die suchen, immer noch lieber als die, die behaupten, jetzt schon ihren Platz gefunden zu haben. Die sitzen nämlich schon im Studium nur noch ihr Gesäß breit und produzieren nix Besseres als Seniorenratgeber fürs Niemandsland. Aber wenn Sie nur suchen und nicht bereit sind, den Wert Ihrer Fundstücke anzuerkennen, werden Sie schneller zum Konsumenten von Seniorenratgebern, als Ihnen lieb ist. Wollen Sie das?“
SellSterano schüttelte mit dem Kopf. Der Prüfer blickte immer noch unschlüssig auf das Bild. SellSterano holte tief Luft und damit die Aufmerksamkeit der Gruppe wieder auf sich.
„Ein Jüngling“, begann sie in ungewohnt melodischer Tonart, „war gefangen in einem Labyrinth. Er suchte und suchte nach dem Ausgang und konnte ihn nicht finden. So sammelte er Federn auf dem Weg und Wachs von wilden Bienen, und baute sich daraus Flügel. Er legte die Flügel an, erhob sich vom Boden und überwand das Labyrinth. Ist das Suchen nicht auch immer ein Mittel, um alten Irrwegen zu entkommen?“
Rotam war sich nicht sicher, ob einer der Prüfer schon mal was von Wachs, Federn oder wilden Bienen gehört hatte. Aber der letzte Satz hatte offensichtlich das ganze Prüferkollektiv überzeugt, sie nickten Rotam und Sell zu, gaben Sell ein freundliches Zeugnis und dann wurden sie entlassen. Draußen neigte sich der Abend, und plötzlich sagte Rotam: „Ich glaube, da drauf müssten wir jetzt wirklich einen feiern!“
Sie aber zwinkerte wie zum Abschied, leb wohl, ich muss zurück, aus meinem Schutzraum wird die Stille vertrieben. Aber Rotam hielt sie fest und sagte noch einmal: „Sterano!“
Sie kam zurück.
Rotam sah sie an, nahm ihre Arme und hielt sie fest.
„Ich träume nachts“, sagte er leise, „davon, mit dir zu diesem Planeten zu fliegen, von dem du kommst. Ich träume davon, Blitze einzufangen und das Meer zu glätten. Mit einer einzigen Handbewegung. Ich will nicht nur träumen. Ich will es wirklich machen!“
Das Lächeln wurde nicht heller. „Du Artesianer! Du willst dich mit dem Wind anlegen! Der Blitz wird dir den Arm verbrennen und dein Herz wird still werden. Der Wind wird Wellenberge über dir aufhäufen, und die Raubfische deine Därme ausreißen. Weißt du, wie die Geschichte von dem Jüngling ausgegangen ist?“
Rotam schüttelte mit dem Kopf.
„Der Jüngling fand das Fliegen so fabelhaft, dass er sich aufschwang, um die Sonne zu besuchen. Und als er ihr nah war, da ließ sie das Wachs schmelzen, und er stürzte zu Tode. Warum willst du dir das antun?“
„Ja, ich will. Damit du mir zuhörst! Damit du weißt, dass es mir ernst ist. Auch wenn ich jetzt noch ganz weit weg bin, von dem, was ich dir einmal versprochen habe. Ich will das erreichen, das, und nicht mehr und nicht weniger. Ich will keine Sonne besuchen und ich werde mein Leben auch nicht an schmelzenden Wachs-Kleister binden. Ich bin Artesianer!“
„Deine Worte sind wie der Quell in der Wüste. Das Meer der Angst weicht von mir, wenn ich deine Worte höre. Aber noch sehe ich nicht, wie du das, was du mir versprichst, halten willst. Was wäre denn, wenn es morgen sein muss?“
Das ist es wieder, dachte Rotam. Dafür habe ich keinen fertigen Plan und bräuchte ihn wie Wasser zum Löschen. Das geht so nicht. Nicht, wenn man es mit so einem ernsten Wesen wie Sterano zu tun hat.
„Es wird etwas uneben“, sagte er verärgert über sich selbst, und weil ihm nichts Besseres einfiel. „Wenn wir jetzt starten. Du siehst es ja selbst! Das Taxi ist auf solche Fluggäste wie dich nicht eingestellt. Ich besorge mir was Eleganteres. Was mit Sprungsondenantrieb und Subraumnavigation. Das dauert allerdings etwas. Reicht übermorgen?“
Steranos Augen blitzten plötzlich genauso ärgerlich zurück.
„Was bist du nur für ein Narr!“, fauchte sie. „Hat deine Mutter dir nicht Manieren beigebracht, oder dein Vater mit dem Rohrstock und der Lederpeitsche!“
„Nein!“, fauchte Rotam zurück. „Aber du solltest etwas normaler werden! Und die Realität einsehen. Ich habe versprochen, dich nach Hause zu bringen. Dazu muss ich erst die notwendigen Ausbildungen erwerben. Dazu muss ich das Fliegen lernen. Und das Navigieren. Das geht aber nicht von heute auf morgen. Du hättest dir für deinen Heimflug auch einen fertigen Piloten aussuchen können. Warum in drei Mal Lakolars Namen hast du das nicht gemacht? Dann wäre das alles kein Problem. Aber du hast mich ausgesucht, und ich werde deine Bitte erfüllen. Weil ich denke, dass es dazu keine Alternative gibt. Für dich nicht und für die Artesianer auch nicht. Und unterstelle mir nicht, dass ich keine Umgangsformen hätte! Was bitte sind Lederpeitschen und Rohrstöcke?“
Sterano lächelte bitter. Wir reden aneinander vorbei, dachte sie. Ich habe ihn beleidigt. Ich will ihn nicht beleidigen. Ich trinke seine Worte wie Wasser in der Wüste und nur weil ich weiß, dass er zu mir hält, bin ich gesund geblieben in diesem Beton-Gefängnis. Ich will ihm mein Lächeln schenken und mein Vertrauen und ein Wort zur Probe. Wenn er die besteht, will ich ihm vertrauen, denn er kennt seine Welt besser als ich, er wird das Richtige tun.
„Ich will wissen, was das ist, womit ihr euren Kindern gute Manieren beibringt!“, fauchte Rotam mitten in ihre Überlegungen hinein.
„Eine Lederpeitsche ist ein Stück Holz mit vier langen Lederriemen. Das tut sehr weh!“, sagte sie.
„Beim Essen oder beim Anziehen oder beim Draufhauen?“
Autsch, dachte Sterano. Ich bin es, die sich im Ton vergriffen hat. Ich muss das dringend heilen. Sie lächelte vorsichtig. „Beim Essen“, sagte sie. „Das Holz schiebt sich zwischen die Zähne und die Lederriemen wickeln sich um die Zunge. Du kannst dann nur noch ja, ja, und ja sagen. Nichts anderes mehr.“ Und dann lächelte sie breit und aggressiv. Rotam zog die Augenbrauen hoch. Sie sah ihm an, wie er versuchte, sich das vorzustellen.
„Das ist jetzt nicht ernst gemeint!“, sagte er.
„Doch! Und mit dem Rohrstock kannst du jemanden dazu bringen, dass er nur noch leise vor sich hin schaukelt. In dem Rohrstock sind Löcher drin, und wenn du auf einer Seite reinbläst, und bestimmte Löcher auf und zudrückst, dann kommt auf der anderen Seite Musik heraus. Hältst du uns etwa für brutale Schläger, die ihre Kinder verprügeln!“ Sie lachte leise. Sie sah sein ungläubiges Gesicht, und dann dachte Sterano, dass sie eigentlich jetzt keine Probe mehr erfinden musste, wenn er diese jetzt bestand, dann war alles gut.
„Verdammt!“, sagte Rotam. „Einen Moment lang habe ich geglaubt, du wärst ein hochnäsiges, kaltschnäuziges und arrogantes Miststück, das jedem auf die Nase binden muss, wie viel Macht es besitzt. Ich habe mir fast schon selber leidgetan.“ Er sah sie an. Er sah in ihre Augen, sah plötzlich, dass sie eine Seite besaß, die nicht mehr so einfach war. Nicht eindimensional, oberflächlich, sondern ein bisschen frech, ein bisschen hilflos und nicht ohne Überraschungen. Rotam fühlte das Pulsen von Blut in ihren Armen und versuchte sich vorzustellen, wie das wäre, wenn man den Mut fände, sich wirklich nahe zu sein. Ob man danach immer noch der Gleiche sein würde wie vorher, oder dann auch so was wie ein fliegender Geist oder sonst was. Das auszuprobieren wäre spannender als jede noch so elegante Form von Sprungsalto. Rotam dachte in diesem Moment, dass er damals zum ersten Mal in seinem Leben etwas getan hatte, was wirklich einzigartig war, und keine Minute, die er danach gelebt hatte, war ohne Sinn und ohne Plan gewesen. Dieser Plan würde nur viel größer und schwieriger werden, als er sich das am Anfang vorgestellt hatte.
„Die Artesa ist feindlich zu mir“, sagte sie. „Sie sind alle feindlich zu mir.“
„Unfug!“, unterbrach Rotam sie. „Wir sind eine zivilisierte Spezies!“
„Aber ich bin dreizehn Mal beschossen worden. Und man hat sieben Mal versucht, mich einzukreisen. Jedes Mal, wenn ich versuchte, einen Ruhepunkt zu finden, hat mich die Wut von immer neuen Verfolgern hochgejagt. Aber ich werde trotzdem nicht morgen vor deiner Tür stehen, und um ein Taxi betteln. Ich muss hier bleiben, bis mein Entwicklungsprozess abgeschlossen ist. Danach werde ich prüfen, ob die Artesa bereit ist, meine Existenz anzuerkennen oder nicht.“
„Sie wird es. Und du wirst nach Hause fliegen können, mit einem Frachtcontainer voller prickelnder Erinnerungen“, gab Rotam zurück. „Und wenn die anderen das nicht kapieren, ich hab’s kapiert. Wenn die Zeit reif ist, dann fliegen wir zurück. Ohne Wenn und Aber!“
Sterano lächelte wehmütig.
„Sie sind mächtig!“, sagte sie.
„Wer?“
Sie schüttelte mit dem Kopf, als wolle sie ein lästiges Insekt verscheuchen und machte eine abwertende Handbewegung. Lass uns darüber jetzt nicht mehr reden. Sie legte einen Moment lang ihren Zeigefinger auf die Lippen, und zog rasch, so wie jemand, der eine Wagentür zuschlägt, die Unterarme übereinander und Rotam fühlte sich von einem Schwall kalter Luft übergossen.
Dann war sie nur noch Sell.
Sell jubelte und fiel ihm um den Hals, sie drückte ihren Mund auf den seinen und weinte. Sie brachten die Mappe zurück in Sells Zimmer und bestellten sich die größten und buntesten Eisbecher, die über Tele zu bekommen waren.
„Hast du gesehen, wie ich den Giftzwerg fertig gemacht habe! Er hat sich nicht mehr getraut, auch nur einen Satz zu sagen.“
„Und was hast du nun wirklich gedacht, ich meine, bei dem Bild!“ Rotam war eigentlich noch in Gedanken bei der geisterhaften Besucherin.
Sell packte das Bild aus und stellte es auf ein Wandbord. Sie richtete eine Tageslichtlampe darauf, solange, bis sie es ausreichend ausgeleuchtet fand, und dann sah sie es mit schräg gestelltem Kopf lange an.
„Ich glaube, das da in der Mitte, das ist das, was ich gerne sein möchte.“
Ein schwarzes Zentrum, dachte Rotam.
Sell drehte sich um und dann gab sie ihm einen langen Kuss. „Du bist ein Zauberer!“, sagte sie. Er aber starrte über ihre Schulter weg weiter auf das Bild und versuchte sich vorzustellen, was sich hinter diesem schwarzen Zentrum verbarg. Bei Sell und bei Sterano.
„Du machst ja die Augen gar nicht zu“, schmollte sie.
„Doch, jetzt.“
Sell war weich, anschmiegsam, dann plötzlich von einer Wildhaftigkeit, die er bei ihr nie vermutet hätte, als hätte man ihr ein Signal gegeben, endlich das auszuleben, was früher verboten war. Sie balgten sich wie kleine Kinder, lagen dann lange still ineinander verschlungen, und Rotam versuchte herauszubekommen, ob da noch etwas übrig geblieben war, von dem fremden Besuch und der machtvollen Schwere Steranos. Aber Sell war jetzt nur noch Sell, wenn auch eine andere als die, die er früher gekannt hatte. Irgendwann in der letzten Zeit musste da was passiert sein, das er glatt übersehen hatte.
Später, viel später, beim Anziehen, fragte Sell ihn dann, was ihn dazu bewogen hätte, hier bei ihr zu bleiben.
„Dass du nicht immer so bist wie heute Nachmittag. Das hat mich dazu gebracht, Sell.“
„Wenn du öfters bei mir wärst, würde ich Bilder malen in hellblau und sonnengrün. Bilder vom Regenbogen und vom Rot der Papierrosen.“
„So! Wer ist denn sonst bei dir?“
„Quodon. Er sagt eigentlich immer, was gut und richtig für mich ist.“
XVI.
Eyniyah Aisoh war müde. Sie starrte nun schon seit Dekaden auf diese Überwachungsbildschirme, die jeden Luftzug in der Lagerhalle von KAPTOS anzeigten. Sie hatte schlecht geschlafen, denn auf Artesa waren alle Betten für sie zu kurz. Und sie hatte immer noch hochgradig Anpassungsprobleme an die Schwerkraft des Planeten. Sie ging selten nach draußen, sie war seit Jahrzehnten geschlossene Räume um sich herum gewöhnt, und Klimaanlagen und staubfreie Luft. Sie hatte von Blütenpollen Ausschlag im Halsinneren bekommen und hochdosierte Medikamente dagegen, aber die Ärzte auf Artesa hatten keine Medikompzeiten für sie frei und sahen außerdem keine Notwendigkeit dafür, eine so kleine Entzündung chirurgisch zu behandeln. Diese üblen, winzig kleinen Pollen schwirrten mit jeder Türbewegung herein und wurden im Raum breit geblasen. Eyniyah sehnte den Tag herbei, an dem sie sich in einen Orbiter setzen konnte, endlich wieder Luft aus dem Reaktor einatmen, tief einatmen, und sie würde unbedingt den nächsten erreichbaren Medikomp buchen und dieses lästige Kratzen im Hals entfernen lassen. Noch besser wäre eine sanfte Bestrahlung, die die Überreste dieser Pollen in der Lunge und auf den Schleimhäuten zu Wasser und Salz reagieren ließ und den ganzen anderen Dreck, den sie sich inzwischen beim Aufenthalt auf dem Planeten eingefangen hatte. Die Tür ging auf, und wieder flogen unsichtbar Quartel von Mikrobestandteilen herein. Eyniyah prüfte erst das Gesicht des Ankömmlings, bevor sie ihn ihren Ärger spüren ließ. Er war der Direktor von KAPTOS, und er sah überhaupt nicht freundlich aus. Er sah so aus, als wäre er bereit, jetzt richtig unfreundlich zu werden.
„Wie lange soll das hier noch dauern“, fauchte er Eyniyah an.
„So lange, wie es dauert. Es gibt einen Befehl, die Aufräumarbeiten zu stoppen und vor Ablauf von sechs Tagen eigentlich gar nichts zu machen. Wir überwachen das Lager, ob alles ruhig bleibt, und Sie werden mit uns warten.“
„Bis dahin sind die letzten acht Sonden, die noch im Lager stehen, endgültig futsch. Sie ruinieren unseren Standort, sind Sie sich dessen bewusst!“
„Sie bekommen einen neuen. Im oberen Orbit, geostationär. Das ist immer noch besser, als hier auf Artesa. Es ist alles super sauber und super modern. Freuen Sie sich doch da drauf!“
„Da drauf kann ich mich nicht freuen. Wissen Sie, was es kostet, Mitarbeiter für das obere Orbit zu bekommen? Das Zehnfache gegenüber dem Arbeiten am Boden. Sie ruinieren uns! Aber ich will mich nicht mit Ihnen aufhalten. Sie sind nicht die richtige Adresse dafür. Ich will nur von Ihnen wissen, ob meine werten Freunde vom Thraxonischen Abendjournal die Lagerhalle filmen dürfen. Und sie hätten auch liebend gern ein Interview mit einem auskunftsfähigen Mitarbeiter Ihrer Behörde, der Raumsicherheit. Und zwar jetzt!“
Eyniyah fuhr auf. „Das geht nicht! Sie haben genauso wie wir alle dafür unterschrieben, dass alles, was hier passiert, unter Verschluss bleibt!“
„Schluss! Aus! Ich lass mir den Mund nicht mehr verbieten! Ich soll hier einfach tatenlos zusehen, während meine Arbeit kaputt gemacht wird. Nein, so geht das nicht. Nicht mit mir! Die Kollegen sind übrigens schon unterwegs.“
Eyniyah hustete, würgte einen Batzen Wut runter und fuhr auf. „Sie müssen Ihr Diplom in der Markthalle am Dreieck gekauft haben! Die ganze Strahlung, die den Sonden fehlt, ist doch nicht einfach weg, sie ist noch drin in der Halle und jeder, der dem Punkt, dem Konzentrationspunkt, zu nahe kommt, der holt sich sofort einen irreparablen Gesundheitsschaden.“
Eyniyah drehte einen ihrer Bildschirme um und hielt ihn vor das Gesicht des Direktors.
Der lächelte aber nur müde. „Das wissen wir. Wir haben vorgebaut!“
Auf dem anderen Bildschirm sah man eine winzige Roboterkamera in die riesige, fast leere Halle rollen, hin zu den letzten acht Sonden, die massig schwer in einer Ecke standen, der Roboter hatte fast die Sonden erreicht, da brüllte Eyniyah durch das Mikro: „Halt, verdammt noch mal, halten Sie an!“
Und dann leise zu dem Direktor: „Sie hat sich etwa zwei Stunden überhaupt nicht gerührt, scheinbar geruht, vielleicht haben wir Glück und sie übersieht den Roboter. Sie kann Roboter nicht leiden.“
Sie hatten kein Glück. Der Miniroboter, der vollgestopft war mit Elektronik, Kameras, Sensoren und Prüfaggregaten, der kippte einfach um, so als wäre er auf eine schräge Fläche gefahren. Einen Moment lang lag er regungslos auf dem Boden. Dann drehte sein Fahrgestell, kleine Teleskoparme fuhren aus und Sekunden später stand er auf den Rädern und rollte weiter.
Eyniyah rief den Blue Frog an und löste Alarm aus. Der Roboter hatte erst eine Runde gedreht und peilte nun zum zweiten Mal den unsichtbaren Kreis um die Sonden an. Diesmal kippte er nicht einfach, sondern vollführte eine Rückwärtsrolle, als hätte ihn ein gigantischer Finger angeschnipst, er überschlug sich ein zweites Mal und lag jetzt viel weiter hinten. Man hätte ihn prima zurückholen können.
„Es lebt!“, sagte der Direktor plötzlich.
„Ja, es lebt!“, brummte Eyniyah wütend.
Der Roboter war so schnell nicht kaputt zu kriegen. Er stellte sich wieder auf seine vier Räder und fuhr nun große Schleifen vor den Sonden, nach rechts, nach links, ohne sich ihnen wesentlich zu nähern, und hinter Eyniyah trat der Blue Frog in den Überwachungsraum. Diesmal traute sich Eyniyah keinen bitteren Blick.
„Warten wir ab, was passiert“, sagte der Blue Frog.
„Wieso? Das ist der pure Wahnsinn, was diese Leute da treiben.“
„Wollen Sie den Journalisten sagen, was hinter den Sonden sitzt?“
„Nein, darf ich doch gar nicht.“
„Ich auch nicht. Ich habe ihnen erklärt, dass sie ihre Technik aufs Spiel setzen und dass das kein Platz ist, um kleine Spielzeugroboter zu testen. Sie haben mir gesagt, dass sie die Genehmigung von KAPTOS dazu haben und der Direktor von KAPTOS steht hier und der Direktor von KAPTOS weiß sicherlich, was er tut, und wir können ihn nicht davon abhalten.“
„Ich glaube, ich bin im falschen Film!“, sagte Eyniyah. „Dann kann ich ja wohl jetzt gehen.“
„Und wohin?“
„Ich will mir das Schauspiel von unten ansehen. Auf die Schlagzeile morgen freue ich mich: „Thraxonische Journalisten retten Sprungsondensondermüll.“
Am Eingang der Halle hatte sich einer der Journalisten einen Strahlenanzug übergezogen und war dabei, jetzt selbst in die Halle zu gehen. Die anderen waren damit beschäftigt, das Roboterspielzeug zu steuern. Das Spielzeug hatte einen Kraftfeldscanner an Bord und dieser Scanner zeigte ihm genau, wie weit es sich an die Sonden heranwagen konnte, ohne wieder Purzelbäume schlagen zu müssen.
Eyniyah blieb einen Moment still in einer Ecke stehen, wartete, bis wirklich niemand auf sie achtete, dann ging sie drei Schritte nach vorn und drückte dem Mann mit dem Anzug die Luft ab. Sie schleppte ihn geräuschlos in eine Ecke, zerrte den Anzug herunter und stieg selbst hinein. Der Mann war schon ziemlich alt, er hatte ein zerfurchtes Gesicht und Eyniyah drückte ihm ein paar Tropfen Dope ins Blut, damit sie genug Zeit für ihren Rückweg bekam. Seinem Gesicht nach sprach er rauen Altmännerjargon, den konnte Eyniyah imitieren, sie ging an den erstaunten Roboterpiloten vorbei, direkt in die Halle und eigentlich hatte sie nur vor, diesen Roboter, der sich wie ein ungezogenes Kind gebärdete, einzufangen und unschädlich zu machen. Dumm gelaufen, tut mir leid und so weiter. Das Ergebnis zählte. Und das Ergebnis hieß: noch sechs Tage Ruhe im Saal!
Eyniyah ging langsam in die Halle hinein, sie orientierte sich in den Funktionen des viel zu kurzen Schutzanzuges, der aus Werftbeständen von Orbit 3 bestand und der ziemlich gut in Funktion war. Das Spielzeug vollführte immer noch seine Schlenkerrunden vor den Sonden, wich aber keinen Meter zurück, und Eyniyah konnte auch nicht bis an den Roboter heran, denn der Schutzanzug brachte jetzt ein erstes Warnsignal, dass sie nicht länger als 10 Minuten an diesem Platz bleiben durfte. Eyniyah ging aber trotzdem weiter, das Warnsignal verkürzte auf fünf Minuten, aber diese Anzüge waren sowieso auf hundertfünfzig Prozent Sicherheit eingestellt, und Eyniyah ignorierte die Anzeige. Die Strahlung kam eindeutig von den Sonden. Aber jedes Mal, wenn der kleine Roboter in Eyniyahs Nähe kam, standen ihr die Haare zu Berge. Energie. Pure Energie. DER VORFALL und der kleine Roboter belauerten sich also. Halt, wie sollen ja nicht mehr von DEM VORFALL reden, sondern von Nies Edo. Nies Edo und der kleine Störenfried belauerten sich gegenseitig.
Plötzlich sah Eyniyah, dass der Roboter nicht nur alle möglichen Sensoren an Bord hatte, sondern auch eine Waffe, einen Photonenlaser, einen von der Sorte, wie sie Eyniyah nicht mal mit Fernsteuerung zünden würde, der Roboter war zu winzig für eine so wirksame Waffe. Eyniyah schaltete den Sprechfunk ein und sagte, ohne sich Mühe mit Stimmverstellung oder ähnlichem zu geben: „Sie haben keine Genehmigung für die Verwendung von Waffen in dieser Halle. Ich werde jetzt Ihr Spielzeug einsammeln und konfiszieren. Das dazugehörige Rechtsverfahren ist hiermit eingeleitet.“
Sie bekam keine Antwort. Sie würde jetzt einfach warten, bis der Roboter wieder in ihre Nähe kam, mit einem langen Sprung über ihn hinweg hechten und seine Antenne zerstören. Aus, vorbei, das kleine dumme Spielchen.
Der Roboter kam zum dritten Mal. Vier Schritte Anlauf. Plötzlich schallte es in ihrem Kopf, als hätte jemand die Kopfhörer ins Innenohr verlegt, es schallte leise und ihre eigene Stimme sagte: „Bleib stehen, deine Kinder werden dich sonst verfluchen.“
Eyniyah blieb nicht stehen, sie wollte keine Kinder haben und wenn sie hier in Ausübung ihres Dienstes sich einen kleinen Strahlenschaden holte, dann bekäme sie auch sofort die Stunde Medicomp gegen das Kratzen im Hals.
Dann stockte ihr doch der Schritt. Keine fünf Meter davor stand ihr Spiegelbild, wie aus dem Boden gestampft. Es war ohne einen Strahlenanzug, es stand in lockerer und ungezwungener Haltung und ignorierte den Roboter, der vor ihren Füßen zum Stehen kam. „Seht ihr das auch?“, hauchte Eyniyah in den Sprechfunk.
„Wir sehen, dass sie sich mit ihrer gesamten Energie vor dem Roboter aufgebaut hat.“ Das war die Stimme des Blue Frog.
„Ich meine, das Bild!“
„Wir sehen kein Bild. Wir registrieren nur diese Energieform.“
„Geh nicht weiter!“, sagte die Energieform.
„Ich will den Roboter abholen. Er hat hier nichts zu suchen.“
„Geh nicht weiter, die Sonden sind immer noch giftig.“ Wie zur Bestätigung ihrer Worte legte das Spiegelbild den Scanner, der einmal Eyniyah gehört hatte, auf den Fußboden, sodass Eyniyah die Anzeige sehen konnte. Es war wirklich sehr viel auf der Anzeige. Aber Eyniyah sah nicht auf den Scanner. Sie sah auf das Spiegelbild. Sie versuchte, es sich einzuprägen. Jede Zuckung, jede Geste. Eyniyah konnte es atmen sehen.
„Was machst du mit der vielen Kraft, die du den Sonden entzogen hast?“, fragte sie.
„Ich reproduziere mich. Das ist ein Vorgang voller Unsicherheit, für mich und für euch. Deshalb lasst mich in Ruhe.“
„Wir wollen dir einen Platz anbieten, an dem du bleiben kannst. Wir bereiten den Platz vor. Er ist ruhiger und niemand wird dich dort stören. Lass mich den Roboter mitnehmen!“
Ihr Bild ging in die Knie und griff nach dem Spielzeug. Sie drehte es um, aber der Waffenturm fuhr herum, zeigte direkt auf das Bild und Eyniyah wünschte sich Teleskoparme, um endlich die Antenne des Spielzeugs außer Betrieb zu setzen. Mach es kaputt, wünschte sie sich und sie wünschte sich, das Bild würde den stummen Gedanken verstehen. Aber das Bild antwortete nicht, das Einzige, was Eyniyah hörte, war die Stimme des Blue Frog. „Jetzt!“ Das Spielzeug explodierte, es war wirklich viel zu klein für den Photonenlaser und besaß weder eine akzeptable Panzerung noch eine Abschirmung gegen den Energieausbruch. Eyniyah wurde von einer heißen Druckwelle getroffen, von tausend kleinen Glas- und Metallsplittern, die den Anzug durchschlugen, ihre Uniform und ihre Muskeln. Sie flog meterweit rückwärts durch die Halle, sah, wie sich ihr Spiegelbild kopfschüttelnd auflöste, in einen kleinen Sturm verwandelte, über ihren Kopf hinweg fegte und genau über ihr sich auflöste. Dann war es weg, einfach weg. Ihr Bewusstsein klappte zusammen wie ein Kartenhaus, der Cheenport hatte eingesetzt und unternahm einen letzten verzweifelten Versuch, Eyniyahs Lebensfunktionen zu retten.
XVII.
Während sich Steranos Verfolger einen Fehlschlag nach dem anderen einhandelten, traf den glücklichen Oberschüler Quodon Larka eine kleine Katastrophe.
Sell war sein Geschöpf. Jetzt war sie am Videophon und sie leuchtete durch den Bildschirm. Sie hatte sich in ihre Schlafdecke eingewickelt, die ihre cremefarbigen Schultern frei ließ, sie hatte scheinbar wirklich nicht mehr an als die bunten und wirren Stoffbänder, die sie sich selber geflochten hatte und die sie immer um den Hals trug.
„Quodon, ich habe mich beworben“, hauchte sie durchs Videophon.
„Was beworben, wo?“
„Bei der Aufnahmekommission der Thraxonischen Hohen Schule der bildenden Künste.“
„Und die... „ Quodon verschluckte die Jünger des neuen Hauses, „die alten Herren haben dir deine Bewerbung abgenommen?“
„Quodon, es war phantastisch. Rotam hat mir geholfen. Er ist mitgegangen. Und er hat mir seinen Schutzengel geborgt. Hat er jedenfalls so gesagt. Ich weiß zwar nicht, was ein Schutzengel ist, aber es war super. Ich hatte kein bisschen Angst. Ich war gut. Ich hab’ ihnen alles gesagt, was sie wissen wollten. Ich hab’ es geschafft! Ich bin so überglücklich.“
„Nun mach’ mal langsam. Ein erfolgreiches Aufnahmegespräch bedeutet nicht gleich, dass die Thraxonische Hohe Schule der bildenden Künste dich auch aufnimmt.“
„Sag doch so was nicht. Du machst mir meine ganze Freude kaputt.“
„Du sollst nur den Realitäten ins Auge sehen. Die prüfen doch noch die Beurteilungen, deinen Schulabschluss und dann machen sie noch eine Prüfung, ob deine Familie es sich überhaupt leisten kann, dich auf die Hohe Schule nach Thraxon zu schicken.“
„Du hast selbst gesagt, dass das alles nichts bedeutet gegenüber dem Erfolg oder Misserfolg eines Vorstellungsgesprächs.“
„Sell, du hast scheinbar keine Ahnung, worauf du dich jetzt eingelassen hast!“
„Oh doch, sie lieben meine Arbeiten.“
„Ich kann mit dem Getupfe nichts anfangen.“
„Jetzt redest du genauso wie der Giftzwerg in der Kommission.“
„Also war sie doch nicht so erfolgreich, diese Aufnahmeprüfung!“
„Er hat es zurückgenommen.“
„Von wegen. Er wollte dich loswerden.“
Sell schüttelte still mit dem Kopf. Wieder und wieder. Und fast glaubte Quodon, dass er es erneut schaffen könnte. Sie sollte sich nie an jemanden anderen binden als an ihn. Sie sollte vielleicht einen unwesentlichen Abschluss machen, als Hauttherapeutin oder Haardesigner, damit sie sich später ernähren konnte, aber immer abhängig war, von denen, die er dazu bestimmte, und sie sollte immer einen Platz freihalten, auf ihrer Matte und in ihrem Leben, denn Quodon wusste schon als Vorschulkind, dass er in den fernen Sternen Karriere machen würde, so hatte es seine Familie bestimmt, und trotzdem wollte Quodon den Kontakt zur Artesa halten, hier einen festen Anker besitzen. Dieser Anker hieß Sell und eben begann das Seil, das er in jahrelanger mühevoller Arbeit geknüpft hatte, es begann zu verschwimmen und löste sich in Luft auf.
„Quodon, ich glaube, dass ich es schaffe“, sagte Sell plötzlich. „Ich habe den Kopf voller Bilder, wunderbarer Bilder, die möchte ich herausbringen. Voll von Blau und Grün und Weiß, ein großes Wasser, das über Felsen stürzt in einen tiefgrünen See, der so unglaublich klar ist, da schwimmt allerhand lebendiges Zeug drin rum, und du kannst stundenlang am Ufer sitzen und dir das Wasser über die Beine laufen lassen.“
„Das ist doch Energieverschwendung“, warf Quodon ein.
„Ja, aber einfach schön. Psst, ich muss jetzt abschalten, Rotam kommt aus der Dusche zurück. Tschüssi bis morgen. Ich sag dir Bescheid, wenn es geklappt hat. Nun freu dich doch auch mal ein bisschen für mich!“
Sell war sein Geschöpf gewesen.
Tja.
War.
Gewesen.
XVIII.
Sterano verstand die Artesianer nicht. Sie waren ein Volk voller Gegensätzlichkeiten. Es schien unmöglich, ihre Handlungsweisen nachzuvollziehen. Zum ersten Mal war es Sterano gelungen, echten Kontakt zu ihrer Verfolgerin herzustellen, und im nächsten Moment wurde diese von einer kleinen hinterhältigen Bombe getötet. Sterano hatte sich einen Weg gesucht, hin zu dem Platz, der laut Eyniyahs Worten sicher sein sollte, und sich unverzüglich dorthin begeben. Aber dort wurde gebaut. Viel, viel zu viel Unruhe. Die Unruhe legte sich schlagartig, nachdem Sterano angekommen war, und sie blieb auch dort, aber nur wenige Tage, denn das, was sie brauchte, war schnell aufgebraucht. Sie zog weiter und fand eine riesige Anlage, die in den Gedanken der Artesianer Fusionsreaktor hieß, und die riesige Mengen von Energie bereitstellte. Der Reaktor heulte auf, als sie ihn berührte, aber er gehorchte ihr sofort und heiße Flüsse zogen aus dem Reaktor in ihre Adern. Sie hatte alles, was irgendwie mit normalem Auge sichtbar sein konnte, abgestreift, Haare, Haut, Flügel. Sie stieg immer weiter in einen herrlichen Rausch hinein, sie würde sich reproduzieren, nicht einfach nur sich selbst, sondern neues hariolenes Leben würde diesem Rausch entsteigen. Viel stärker und machtvoller als ihr eigenes.
XIX.
Heute war nicht die Stunde von Lakolar Annselarmo. Der Thraxonische Antragsprüfer und die Primesorische Königin hatten ihm sehr beunruhigende Nachrichten zukommen lassen und Lakolar Annselarmo entschied sich dafür, ihnen höchstpersönlich die Lage zu erklären. Dazu musste er seine nachtschwarzen Räume verlassen und sich in einen Saal begeben, in dem ihm die Sehenden überlegen waren. Aber die Primesorische Königin war das wert und der Antragsprüfer der Thraxonischen Nation ebenfalls. Sie standen zu dritt auf einer Ebene und konnten miteinander reden, ohne dass einer von ihnen die Augen hätte senken müssen.
Lakolar Annselarmo lud sie zu Tabak und Sen ein, das war das Zeichen für den Thraxoner, dass er seinen Journalistenanhang zu Hause lassen sollte und für die Primesorische Königin, dass sie ohne ihre aufwändige Garderobe erscheinen konnte.
Die Primesorische Königin hatte eine neue Stimme und wie immer fand Annselarmo, dass sie für eine Verantwortung über zwei Fünftel der bewohnbaren Planetenoberfläche viel zu jung war. Aber diese zwei Fünftel der Planetenoberfläche waren nicht hierarchisch verwaltet und die Königin konnte nie sagen, wie hoch das Bruttosozialprodukt der Artesianer in ihrem Herrschaftsbereich zur Zeit gerade war. Die Primesorer hätten eine solche Angabe auch als Zumutung empfunden, sie bezahlten Steuern und Abgaben an ihre Regierung nur aus Überzeugung und nur so viel, wie ihnen diese Regierung wert war. Den Rest ihrer Einkünfte verwerteten sie nach eigenem Ermessen. Die neue Primesorische Königin war gerade auf dem Weg, ihrem Volk die Notwendigkeit einer gewissen Ordnung wieder plausibel zu machen. Sie war groß gewachsen und wenn sie tief durchatmete, dann traf sogar den Lerasischen Diktator ihr warmer Hauch. In solchen Momenten dachte Lakolar Annselarmo daran, dass das Primesorische Unterwasserreich wirklich eine Königin brauchte, die einen tiefen Atem besaß. Ihr Name war Uliesieth Umia.
Der Antragsprüfer der Thraxonischen Nation Thuron Thieck war ein unscheinbarer und sehr in sich ruhender Artesianer, den Lakolar Annselarmo schon seit zwanzig Jahren kannte und dem er schon mehrere hohe Funktionen in seiner eigenen Regierung angeboten hatte. Thuron Thieck aber stand zu seiner komplizierten und nervenraubenden Thraxonischen Demokratie. Irgendwie besaß er die Fähigkeit, immer wieder eine große Menge Artesianer dazu zu bewegen, dass sie in völliger Übereinstimmung mit ihrem eigenen Willen genau das taten, was Thuron Thieck für wichtig und momentan notwendig hielt.
Lakolar Annselarmo wünschte sich diese Fähigkeit auch. Weil er sie nicht besaß, setzte er Willen mittels Befehlsgewalt durch. Von seinem dunklen Arbeitszimmer bis in die letzte Wohnstube reichte diese Befehlsgewalt, sie lenkte und schützte einen großen Teil aller Artesianer auf Artesa und noch mal zehn Prozent, die sich mehr oder weniger im Orbit des Planeten aufhielten. Wer das nicht wollte, der wechselte in die lockeren Wohnformen des Primesorischen Reiches oder in die aufwendigen Verwaltungsverfahren von Thraxon.
Bei diesem Treffen bei Tabak und Sen wurden sich die drei Staatsoberhäupter nicht einig. Lakolar Annselarmo konnte ihnen nicht glaubhaft erklären, dass diese Situation nicht gefährlich war, dass die massive Einfuhr von orbitalen Energiereserven nichts damit zu tun hatten, dass einer der drei planetenwichtigen Fusionsreaktoren praktisch ausgefallen war, und dass die massive Energiekonzentration in den Händen eines Fremdwesens keine Gefahr für den Planeten darstellte.
„Die Fehler, die wir machen, resultieren nur aus unserem absoluten Nichtverständnis für ein solches Fremdwesen. Nies Edo entzieht sich unserer Vorstellungskraft, und immer, wenn wir einen Hauch von Berührung zustande bekommen, passiert der nächste Fehler. Manchmal denke ich, dass ich ihre Verfolger bekämpfen müsste und nicht sie.“ Das sagte Lakolar Annselarmo nicht in der Versammlung der Staatsoberhäupter, sondern leise während seiner schlaflosen Nächte, in denen er scheinbar endlos durch die Zimmerfluchten wanderte, auf der Suche nach Ruhe und Geduld. Irgendwann, in den nächsten Tagen musste etwas passieren. Irgendetwas. Die Falle, die sie für sie gebaut hatten, war nicht rechtzeitig fertig geworden, die riesigen Mengen an zusammengetragenen hochgiftigem strahlendem Müll hatte sie leergesaugt in weniger als drei Tagen, bevor der schwere Schutzschild, den sie aktivieren wollten, fertig geworden war. Sie war weitergezogen, bis zu dem Reaktor und mit dem Maß, mit dem sie wuchs, wuchs auch ihr Energiehunger. Die Liste der möglichen Anwendungen für eine solche Energiemenge war nicht mehr zu überschauen, sie wuchs täglich weiter. Was aber noch schneller wuchs, das war die Angst und die Liste der Vorhaben, mit denen das Fremdwesen vernichtet werden sollte. Irrsinn, Selbstmord. Wann begreifen sie das endlich! Bei einer derartigen Größenordnung gewinnt man nicht mit Bomben, sondern nur mit guten Nerven.
Sameon hatte keine Nerven mehr. Seit man ihn vor Dekaden von seinem Posten in Exodun Hall abgeholt hatte, seitdem lebte er abgesondert von der Öffentlichkeit in einem winzigen Hotel am Primesorischen Meer. Er hatte seit seiner Abberufung keine Nachrichten mehr gesehen, keinen Film, er hatte keine Fremden getroffen, keine Tele mehr geführt. Er war nur am Strand auf und ab gelaufen, hatte einzelne Schaben verscheucht, die den Strand als ihr Eigentum zu betrachten schienen, und ihn frech anfauchten. Sameon erinnerte sich an sehr frühe Zeiten, in denen er mit anderen Kindern auch Schaben gejagt hatte, damals waren sie ihm unheimlich groß vorgekommen, heute würde er ein solches Mistvieh mit einem einzigen, gezielten Fußtritt ins Wasser befördern. Drinnen im Wasser machten die Primesorischen Grenztruppen auch Jagd auf die Küstenschaben und dann krochen sie zu Tausenden unter die Hülle der Artesa, dorthin folgte ihnen niemand. Sie waren gründlich hässlich und nicht auszurotten.
Sameon hatte in den letzten Dekaden mehrere Male unter dem Medikomp gelegen, seitdem summten ihm die Ohren und das Fingerspitzengefühl war ihm verloren gegangen. Ein kleines Männchen hatte sich zwischen seinen Ohren eingenistet, kurz nach der Operation mit ihm geflüstert, und jetzt vor wenigen Tagen bei einem dieser Strandspaziergänge ein zweites Mal, und Sameon war sich nicht mehr sicher, in wie weit er noch mit seinen Gedanken wirklich allein war. Zumindest, seit ihm das Männchen gesagt hatte, dass er seine Kraft nicht an die Schaben vergeuden sollte. Sameon dachte an die letzten vier Patienten, die er auf Schonplätze verwiesen hatte und von denen er nicht wusste, woran sie sterben würden. Er dachte an die beiden Frauen, die von seinen Besuchen lebten und die eigentlich seine Familie waren. Mehr Familie hatte Sameon nie gewollt. Familie war für ihn etwas, das man schneller verlieren konnte, als man darüber nachdachte, und der Schmerz war umso größer, je mehr man sich in dieser Familie eingerichtet hatte. Sameon hatte sich in der Welt der einsamen Erwachsenen eingerichtet und seine Seele mit Arbeit zugekleistert. So betrachtete er die langen Spaziergänge am Strand als seine Arbeit und den Dialog mit dem kleinen Männchen zwischen den Ohren als eine zu erlernende Fähigkeit. Dass sie als Kinder die Schaben nur deswegen gejagt hatten, um an die Beute der Schaben zu kommen, Mitbringsel aus der Welt unter der Artesa, daran dachte Sameon nicht mehr. Denn die Zeit vor Lerasia war nichts, rein gar nichts. Niemandszeit.
Sameon wusste nichts von der schleichenden Unruhe, die sich draußen auszubreiten begann, denn die Artesa war mit einem Fremdwesen infiziert, dass sich nicht einkreisen und auch nicht vertreiben ließ. Es hatte einen der drei wichtigsten Energieerzeuger des Planeten okkupiert, dort saß es und wuchs ins Unermessliche. Das Einzige, was er wusste, war, dass er in einem Doppelblindversuch steckte, niemand durfte mit ihm reden, er konnte nur mit empfindungslosen Maschinen kommunizieren und mit dem kleinen Männchen zwischen seinen Ohren.
Das erste, was das aufkommende Unheil ankündigte, war eine Invasion der Schaben. Sie krochen zu Tausenden aus dem Primesorischen Ozean. Sie krochen weit auf das Land und ließen sich nicht wieder vertreiben. Sameon musste auf seine Strandspaziergänge verzichten. Wollte er durch die Schabenherden laufen, dann fauchten sie ihn an, als würde er ihr Leben bedrohen. Sie saßen alle da und blickten nach Norden. Dass sich dort der große Energieerzeuger befand, wusste Sameon nicht, er steckte in einem Doppelblindversuch und er versuchte, das eigenartige Verhalten der Schaben zu ignorieren.
Die Primesorer räumten, nachdem es ihnen ihre Königin dringend angeraten hatte, in der Umgebung des Reaktors alle ihre Algenkolonien ab, sie zogen sich in die tiefer gelegenen Siedlungen zurück.
Sameon musste mit ansehen, wie ein Thraxonisches Filmteam, die wirklich nur das eigenartige Verhalten der Schaben filmen wollten, vom Hotelgelände unter Androhung von Waffengewalt vertrieben wurden. Und Sameon hätte sie gerne gefragt, welcher Aufruhr in der Welt losgegangen war. Die Spannung lag in der Luft, sie war wie zum Greifen nah, selbst der Primesorische Ozean lag da wie ein Spiegel aus Blei und wartete.
XX.
Sterano badete in diesem Meer aus Spannung wie eine Süchtige. Es war wie eine Initialzündung in ihrem Inneren, die ihr sagte, dass es jetzt so weit war. Der Reaktor war an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit, aber das, was sie jetzt brauchte, das konnte ihr der Reaktor nicht mehr liefern. Sie brauchte Licht. Viel Licht. Unermessliche Mengen von Licht. Weißes Licht. Und während eine winzige weiße Rauchsäule aus dem Kühlturm des Reaktors stieg, wusste sie, wie sie zu diesen unermesslichen Mengen Licht kommen würde. Sie bemächtigte sich der winzigen Wasserwolke, gab ihr einen Hauch von dem Feuer, das sie in den letzten Monaten gestohlen hatte, und stieg damit auf, wurde zu einem mächtigen Wolkenturm, glitt hinaus auf den Primesorischen Ozean und löste sich von dem Reaktor. Sie begann einen Reigen, überließ sich der Drehkraft des Planeten und badete im Licht. Ein Wolkenturm nach dem anderen entstand in diesem Reigen, die losgelösten Wassermoleküle rieben sich aneinander, erste Blitze schlugen in den Ozean ein, ein leiser Windhauch wurde zum wilden Sturm, der peitschte das ruhige Wasser auf, aber davon wusste sie nichts, auch nicht davon, dass ein ganzes Rudel von Atmosphärensatelliten ihre Energiewerfer auf das entfesselte Unwetter gerichtet hatte, mit dem unheilvollen Effekt, dass das Unwetter immer größer wurde. Und genau dieses Unwetter lieferte ihr den Rest von Energie, den sie brauchte. Ein mächtiger goldroter Lichtstrahl brach aus dem Wolkengebirge, er verschwand wenige Lichtsekunden später im Subraum, und unter dem Wolkengebirge begann der Primesorische Ozean zu kochen. Wellenberge von der Höhe von Funktürmen wölbten sich auf, unter peitschenden und heulenden Sturmböen flogen weiße Gischtfetzen bis weit ins Land, Blitz auf Blitz zuckte nieder, und wieder lud sich der Sturm aufs Neue auf, als wollte er in einer Stunde alles das nachholen, was man ihm in den letzten 400 Jahren verboten hatte. Doch davon wusste Sterano schon nichts mehr.
Einem Fiebertraum ähnlich landete ihr Bewusstsein an einem anderen Ort des Realraumes, in einer riesigen, von schwarzem Rauch durchfluteten Bodenlosigkeit, immer noch drehte sie sich im Rausch des Wolkensturms und immer noch schienen ihre Sinne beinahe überzuschießen. Aber inmitten der rauchdurchfluteten Tiefe begannen sich blau glänzende lange Bänder abzuzeichnen, die wie riesige Spinnfäden von links nach rechts und von oben nach unten den Raum durchzogen, Sterano fühlte sich plötzlich von den Fäden aufgefangen, eingehüllt und angeschlossen. Fast augenblicklich fühlte sie, dass sie wieder heimgekommen war, wie das Netz begann, die gesammelte Energie aus ihrem Körper zu ziehen, aber sie hatte keinen Körper mehr, sie war nur noch Licht, eine weiße Spindel aus Licht, rundum drehten sich in dem schwarzen Rauch noch mehr solche Spindeln, und durch die Fasern, die sich an sie angelegt hatten, konnte Sterano sehen, wie das Netz von den anderen Spindeln zusammen gehalten wurde. Sie sah Bilder, Töne und Erinnerungen auf sich einströmen, andere durch sich hindurchfließen und ihre eigenen wieder zurückkommen, sie ertrank fast in der Bilderflut und dem bunten Taumel der Nachrichtenflut. Die Jade-Welt. Die Mono-Omo-Welt. Beide so hell und dynamisch wie Artesa. Sterano wanderte durch die Bilderwelt von Jade, erkundete den goldenen Pfad von Mono-Omo. Sie war zurück im Netz. Das Netz hatte sie wieder aufgenommen. Sterano sandte Bilder aus von Boden, vermischte sie unwillkürlich mit denen von Artesa: Licht, Luft, Spannung, Energie. Boden bestand aus Wasser, Bäumen, Musik, Früchten, Wein und Brot. Aber von dem Netz wurden immer wieder nur die Bilder von Artesa zurückgespiegelt, die Düfte und die Süße und die Melodien von Boden ignorierte das Netz. Aber Sterano hatte von Boden zwei andere Bilder mitgebracht, die gab sie jetzt in das Netz hinein. Das Netz begann zu reagieren. Die Bilder kamen zurück. Die Bilder formierten sich. Sterano musste Fragen beantworten, nach Anpassung und Überlebensstrategien. Sie kommunizierte mit dem Netz. Das Netz begann, aus ihren Bildern eine neue Wirklichkeit zu formen. Tausend von den meinen sind notwendig, um etwas zu formen, das so kraftvoll sein soll, wie wir selbst. Sterano gab dem Netz zusätzlich Bilder von ihren Träumen und Wünschen. Das Netz wob diese Wünsche hinein in die neue Materie. Aus der Energie, die Sterano mitgebracht hatte, erschienen zwei neue Wesen. Deshalb war sie hier her gekommen. Das Netz legte seine Bänder an die neuen Wesen und Sterano bekam Zeit, sie zu erkunden. Sie waren vollkommen, sie pulsten leise und schliefen noch.
Sterano war glücklich. Sie hätte hier bleiben mögen bis zum Ende aller Gedanken. Aber das Netz wollte das nicht. Bring’ uns zur Artesa, forderte es erst leise und dann immer deutlicher.
Sterano wehrte sich. Ich bin müde, immer nur fliehen zu müssen. Ihr werdet dort auch immer nur auf der Flucht sein.
Dann bring Artesa zu uns. Artesa wird den unseren Welten hinzugefügt. Artesa wird neue Energie in unsere Systeme bringen. Du bist mächtig, du kannst das, Sterano. Du hast es nur noch nicht ausprobiert.
Den schwarzen Rauch freilassen?
Mach es, wie du es für richtig hältst.
Ich will nicht. Lasst mich hier bleiben und träumen. Ich bin so müde.
Das Netz löste sich von ihr. Als erstes verlor sie den Kontakt zu ihren beiden Schöpfungen. Dann blieb nur noch ein Band an ihr fest. Über das Band sah, sie, wo die beiden Kleinen auf Artesa landen würden. Inmitten von lauter Fremden. Reflexartig forderte sie das Netz auf, die besondere Gestalt der beiden zu verbergen. Das Netz folgte.
Willst du sie allein dort lassen?
Nein. Ich folge. Ich gehe zurück zur Artesa. Ich werde Artesa euren Welten hinzufügen. So schnell ich kann. Lasst ihr mich dann träumen?
Gewiss. Geh nur! Wir werden warten. Aber nicht zu lange! Verstehst du?
Der Raum voller Rauch fiel zusammen, verwandelte sich in eine Schale aus dunkelrotem Dampf, die wie ein Riesenspielzeug zu kreisen begann, in dieser wilden Drehung verlor Sterano die Macht über ihren Willen und über Zeit und Raum. Drei goldrote Strahlen fielen einer nach dem anderen zurück auf Artesa, rechtzeitig, bevor der Riesenwolkenberg endgültig zusammenfiel.
Vor ihr war einer der Strahlen auf die verwüstete Küste zwischen dem Niemandsland und dem Primesorischen Meer gefallen, er hinterließ ein fertiges Kind mit der Statur eines dreijährigen Artesianers, das zuerst seine in der Sonne glitzernden Flügel entfaltet hatte, sie dann aber plötzlich unter seiner Haut verbarg, und sich heftig gegen neugierige Schaben zur Wehr setzen musste. Zwei Stunden später fand es dort die Primesorische Küstenwache, sie verscheuchten die Schaben und brachten das Kind weg.
Der zweite Strahl fiel in ein Kinderheim mitten in Thraxon, dort entstand plötzlich auch ein kleines geflügeltes Wesen. Aber bevor auch die anderen Kinder begriffen, was da passiert war, wurde auch dieses Fremde so wie sie, beinahe so wie sie, denn es war weder Junge noch Mädchen, und besaß eine Präsenz, dass ein einziger Augenaufschlag einen ganzen schreienden Saal zum Schweigen bringen konnte.
Sterano aber fiel zuerst wieder in ihr Wolkengebirge, das immer kleiner und kleiner wurde und vor den Satelliten nach Norden driftete, zum kalten Wasser hin. Endlich kam sie über einer dunklen und unwirtlichen Insel an, dort entließ sie das Wolkengebirge, ließ sich zu Boden gleiten, zwischen riesige fluoreszierende Pilzgewächse, die vom Sturm zerzaust waren. Sie umkleidete sich mit der Hülle, mit der sie sich auch im Markthaus am Dreieck unter Artesianern bewegt hatte. Und dann fragte sie sich, warum ihr gerade in dieser unwirtlichen, nebligen Landschaft voller giftiger Pilze Sameon begegnete. Sameon, das Kind, für das Wass Mato die riesige Markthalle am Dreieck gebaut hatte und 25 Jahre seines Lebens geopfert. Dieses Erstaunen kostete sie genau die wichtigen dreißig Sekunden, die sie gebraucht hätte, um sich in der neuen Situation rechtzeitig zu orientieren.
„Das ist die Aufgabe, für die wir dich ausgesucht haben“, sagte die Stimme hinter Sameons Stirn. „Ich werde dich begleiten, durch deine Augen sehen und dir sagen, was du tun sollst. Es kann sein, dass ich still sein muss, dann musst du aus eigenem Ermessen handeln.“
„Bekomme ich eine Waffe“, fragte Sameon.
„Nein“, fauchte die Stimme beinahe feindlich.
„Wer schützt mich?“
„Du brauchst keinen Schutz, Sameon. Du sollst Schutz geben. Schutz vor schießwütigen Artesianern und vor neuen Missverständnissen. Mach es gut! Das Objekt, mit dem du Kontakt aufnehmen sollst, befindet sich zwischen den großen Faulschwämmen. Ich sage dir, wo du es findest.“
„Warum gerade ich?“
„Beeil dich!“
Und Sameon war gegangen. Er hatte die bewaffnete Meute hinter sich gelassen, er hatte weder eine Lampe noch ausreichend warme Kleidung an, er war am Vormittag vom warmen Primesorischen Strand weggeholt worden, dann von einer genauso ahnungslosen Hubschrauberbesatzung stundenlang kreuz und quer durch die Gegend geflogen worden, hier gelandet, er fror und seine Augen gewöhnten sich nur langsam an das Licht der fluoreszierenden Pilze. „Nach links“, sagte die Stimme. „Jetzt noch zehn Meter geradeaus.“
„Ich sehe da was“, sagte Sameon.
„Ab jetzt schweige ich.“
Das ist eine Arbeit, die kannst du, sagte sich Sameon. Sie hätten mich sonst nicht dafür ausgewählt. Sie hätten mich dafür sonst nicht ausgewählt.
Er ging auf die Gestalt zu und drückte alles, was wie Angst ausgesehen hätte, weit von sich. „Verdammt, was treibt eine Fremde allein hier auf dieser Insel in der Wildnis?“, sagte er kopfschüttelnd. Er hatte Blickkontakt aufgenommen und war bis auf wenige Meter heran gegangen.
„Weißt du nicht, wer ich bin?“, fragte sie. Sie sah auf, und war in der Augenwinkeln so müde wie eine hundertjährige Greisin. Sameon verstand die Aufregung rundum nicht. Er sah sich um und suchte nach einem wirklich gefährlichen Objekt. Aber da gab es nichts anderes.
„Wenn ich wüsste, was hier wirklich gespielt wird, wäre ich wahrscheinlich nicht hier. Eine Armee von schwerbewaffneten Artesianern ist drauf und dran, in den nächsten fünf Minuten alles was hier lebendig ist, in Sternenstaub zu zerlegen.“
„Warum willst du mir helfen?“
„Weil ein kleines Männchen zwischen meinen Ohren der Meinung ist, dass ich das tun soll. Es hat mir gesagt, dass wir zwei jetzt zu einem Helikopter gehen, der etwa hundert Meter hinter uns steht. Wir werden uns dort rein setzen, ich hoffe, der ist gut geheizt. Diese Insel ist nicht mein Land.“
„Vertraust du dem Männchen?“
„Natürlich. Du kannst ihm auch vertrauen. Die Alternative will ich mir nicht vorstellen.“
„Es gibt so viel, was ich jetzt erledigen muss!“
„Das hat Zeit. Wenn wir von hier weg sind.“
Sterano berührte seine Hände, aber sie fand keinen Kontakt. Vielleicht lag das nun daran, dass sie eben einen viel größeren Kontakt erlebt hatte und ihre Sinne gelitten hatten. Sie stand immer noch unter dem Eindruck dieser mächtigen Begegnung. Sie wollte ihre Kinder suchen. Und sie war ohne Orientierung. Sie ließ sich von Sameon willenlos führen. Leise und unscheinbar baute sich vor ihr eine riesige Mauer aus Wut und Angriffslust auf. Sie sah in den Augenwinkeln Maschinen blinken, aber dort, wohin Sameon ging, dort teilte sich das Meer aus Abneigung wie eine Masse von Kriegern, durch die eine bewaffnete Eskorte ritt. Die Wahrnehmung dieses feindlichen Meeres sagte ihr, dass ihre Sinne richtig funktionierten, aber Sameons Hände waren wie aus leblosem Material, für sie undurchdringlich. Sie erreichten den Helikopter. Sameon zitterte wirklich. Er fror. Hariolenen dagegen frieren nicht. Sie flüchten auch nicht. Aber Sterano hatte in den letzten Dekaden viel zu oft vor diesen Wellen aus Angst und Angriffslust zurückweichen müssen. Sie war am Ende ihrer Kraft. Sie sehnte sich nach der Ruhe, wie sie Sameon ausstrahlte, nach einfachen Formen der Kommunikation. In dem Helikopter stand ein tiefer Sessel voller Energie. Sameon bot ihn ihr an, sie fiel hinein und horchte auf die fließenden Ströme in dem Sessel. Sie wollte sie nicht mehr aufnehmen. Sie hatte genug Energie geraubt und einer neuen Verwendung zugeführt. Es war genug. Es war die Ruhe nach dem Rausch. Sameon gab ihr eine durchsichtige Maske mit einem angebauten Filter. „Kurz einatmen“, sagte er, „das ist gut gegen die Erschöpfung.“
Sie probierte. Ihre Hülle, die, die das artesianische Gesicht trug, reagierte mit einem frischen Wind hinter der Stirn auf die eingeatmete Luft. Sterano spürte eine ungewohnte Klarheit beim Sehen. „Noch mal?“, fragte er.
„Ja.“ Diesmal nahm sie einen tiefen Zug aus der Maske. Ihre Haut wurde warm wie in heißem Wasser. Sie tauchte in ein tiefes Bad ein. Das Bad strömte Blütenduft aus, es war weich wie Milch, weiß wie die Wolken, die sie am Nachmittag aufgetrieben hatte, weiß wie ein dichter Nebel, weich wie die Wolken des Schlafes. Das Zusammenbrechen der Angstmauer nahm sie schon nicht mehr wahr, das Jubelgeschrei der achttausend schwerbewaffneten Artesianer, das sich überschlagende Geplapper der Thraxonischen Lifereporter, denen man mitgeteilt hatte, dass soeben eine hochgerüstete terroristische Gruppe der Jünger des Neuen Hauses festgesetzt worden war, das Aufatmen in den vom Sturm zerstörten Küstenorten und die stille Rückkehr der Schaben in den immer noch von Dünung aufgewühlten Primesorischen Ozean.