Читать книгу Der Irrtum der Wunschfee - Heidi Hartmann - Страница 2

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Wiedersehen …

Tage später sitze ich beim Röntgen, weil ich mit meinem linken kleinen Zeh gegen ein Stuhlbein geknallt bin. Ich vertreibe mir die Warterei mit Lesen, bis mich jemand fragt:

„Was machst du da?“

„Ich warte darauf, aufgerufen zu werden. Aber was machst du hier?“

„Ich dachte, ich schau mal vorbei. Schließlich konnte ich mich nicht von dir verabschieden, und das ist unhöflich.“

„Wie konntest du mich denn finden?“

„Ich bin ein Drachen!“

„Nun, ich freue mich sehr, dich wiederzusehen. Ich war ziemlich traurig, als ich mit deinem Frühstück nach Hause kam, und du warst weg.“

„Stattdessen saß ein fetter Frosch in meinem Nest, stimmt’s?“

„Stimmt. Und ich war nicht begeistert.“

„Was hast du mit meinem Frühstück gemacht, aufgegessen?“

„Ich esse kein Fleisch.“

„Dann habe ich ja nichts verpasst.“

„Glaubst du denn, ich hätte dir Gemüse und Salat vorgesetzt?“

„Na, wenn du nichts anderes isst?“

„Ich hatte ein Steak vom Rind, ein halbes Kilo Schabefleisch und einen Markknochen gekauft. Für dich.“

„Und was hast du damit gemacht? Etwa dem Frosch gegeben?“

„Nein, ich habe es meiner Nachbarin gegeben. Die konnte etwas damit anfangen.“

„Warum hast du es nicht behalten?“

„Es würde schlecht werden.“

„Na und?“

„Dann fängt es an zu stinken.“

„Auch kein Grund.“

„Das heißt also, du nimmst es nicht so genau mit der Frische? Du würdest vergammeltes Fleisch essen?“

„Das kann durchaus lecker sein.“

„Dann könntest du vermutlich in dieser Welt recht gut überleben. Es gibt von allem genug.

Also du bist nicht abgehauen?“, hakte ich noch einmal nach.

„Natürlich nicht!“

„Du gehst wieder nach Hause?“

„Die Wanderin zwischen den Zeiten holt mich wieder ab.“

„Die Wanderin zwischen den Zeiten?“

„Ja, genau die.“

„Und wann?“

„Wenn die Ferien zu Ende sind.“

„Schön, dann haben wir ja vielleicht genug Zeit, um uns besser kennenzulernen.“

„Nun ja, in deiner Zeit ist das bis zur elften Stunde des Mondes.“

„Habt ihr nur einen Tag Ferien?“

„Nein, eine Woche.“

„Aha.“

„Mama, guck mal, die Frau da redet mit der Wand …“

„Pst, sieh da nicht hin!“

„Aber Mama!“

„Pst!!!“

Ups, ich habe ganz vergessen, wo ich bin, stehe auf, gehe zur Wand und tue so, als würde mich der gerahmte Druck interessieren. Ich flüstere:

„Wenn das Mädchen sagt, ich rede mit der Wand, heißt das, sie kann dich nicht sehen?“

„Ja, das kannst in dieser Höhle nur du.“

„Okay, dann lass mich das hier zu Ende bringen und wir reden draußen weiter.“

„Warum?“

Stumm nicke ich in Richtung des kleinen Mädchens, das natürlich immer noch zu mir herüberschielt.

„Aber du musst ja gar nicht laut mit mir reden. Ich kann deine Gedanken hören.“

„Na ganz toll!“, platze ich heraus und habe nun die Aufmerksamkeit aller Patienten.

Meinen Drachen amüsiert das sehr. Aufmerksam geht er zu jedem Patienten und betrachtet ihn genau. Süßer kleiner Kerl und vermutlich ein absoluter Rabauke, denke ich.

„Das habe ich gehört“, murmelt er.

„Hörst du absolut jeden Gedanken, den ich habe? Dann schwirrt dir garantiert bald der Kopf.“

„Nein, nur wenn es mit mir zu tun hat.“

„Da bin ich aber froh!“

„Warum?“

„Weil ich vermutlich den ganzen Tag denke …“

„Den ganzen Tag?“

„Ich glaube schon.“

„Das ist aber anstrengend. Über was denkst du denn so nach?“

„Jetzt zum Beispiel denke ich, hoffentlich bin ich bald dran, damit wir hier schnell verschwinden können. Auf dem Weg nach Hause besorge ich dir was zu essen und dann können wir es uns auf dem Balkon gemütlich machen.“

„Was ist ein Balkon?“

„Erinnerst du dich an meine Wohnung?“

„Wohnung?“

„Meine Höhle?“

„Ja.“

„An dieser Höhle gibt es einen Anbau, der nach draußen führt. Man kann von dort aus in den freien Himmel sehen. Ich habe dort zwei Stühle, einen kleinen Tisch und viele, viele Pflanzen.“

„Aber dann könnte man uns ja entdecken!“

„Ich denke, nur ich kann dich sehen?“

„Ja, hier in dieser Höhle ist niemand sonst, der es könnte. Aber es kommt auch vor, dass ein anderer Mensch so ist wie du, und dann kann er es auch. Das hat mir die Wanderin zwischen den Zeiten erzählt und mich zur Vorsicht ermahnt.“

„Ich schätze, da kann ich dich beruhigen. Mich gibt es nur ein Mal. Im Prinzip ist jeder Mensch einzigartig, abgesehen von eineiigen Zwillingen vielleicht.“

„Oh, dann bist du bestimmt sehr einsam. Deswegen hast du auch den Frosch bekommen. Was hast du mit ihm gemacht?“

„Erstens: Ich bin nicht einsam. Zweitens: Ich habe den Frosch einer Kollegin geschenkt, die tatsächlich einsam ist und sich einen Partner an ihrer Seite wünscht.“

„Das wird nichts!“

„Wieso wird das nichts?“

„Weil es dein Frosch war, nur du könntest ihn verwandeln.“

„Sicher?“

„Ganz sicher!“

„Oh, da habe ich wohl keinem von beiden einen Gefallen getan.“

„Du musst ihn zurückholen, bevor die Wunschfee davon erfährt.“

„Auch das noch. Sollte ich sonst noch etwas wissen?“

„Ja! Man verschenkt nicht, was man selbst geschenkt bekommen hat.“

„Glaub mir, das läuft in meiner Zeit anders.“

„Das ist sehr unhöflich! Warum tut ihr so etwas?“

„Na ja, es gibt verschiedene Gründe. Der häufigste ist, dass man etwas geschenkt bekommt, was einem nicht gefällt, und man es nicht gebrauchen kann. Man will aber den, der es schenkte, nicht enttäuschen oder gar beleidigen. Also bedanken wir uns dafür und hoffen, es irgendwann irgendwem weiterschenken zu können. Ist dir das denn noch nie passiert?“

„Was?“

„Dass du etwas zu deinem Geburtstag geschenkt bekamst, das dir nicht gefallen hatte. Das liegt doch bestimmt auch unbeachtet in einer Ecke und verstaubt.“

„Nein, das ist mir noch nie passiert!“

„Sicher nicht?“

„Nein, ich habe noch nie etwas geschenkt bekommen!“

„Oh, das tut mir leid. Nicht einmal zu deinem Geburtstag?“

„Nein.“

„Das finde ich aber nun wirklich sehr, sehr gemein!“

„Ich bin mir sicher, zu meinem ersten großen Geburtstag werde ich Geschenke bekommen.“

„Deinem ersten großen Geburtstag?“

„Wir Drachen feiern ausschließlich nur jeden hundertsten Geburtstag. Ich war schon bei vielen eingeladen. Drachenland wird geschmückt und alle sind schon Tage vorher sehr aufgeregt. Überall brennen Feuer. Es ist herrlich warm und es kommen alle, die in Drachenland leben. Das ist immer ein Riesenspaß.“

„Du bist also noch keine einhundert Jahre alt?“

„Nein, ich zähle erst sechsundneunzig Jahre. Wie alt bist du denn eigentlich?“

„Achtundvierzig Menschenjahre.“

„Ist das in deiner Welt alt?“

„Zumindest würde uns nicht einfallen, nur jeden hundertsten Geburtstag zu feiern. Nur wenige erreichen dieses Alter und nur wenige könnten dann auch noch eine Riesenfeier überstehen. Das wäre viel zu anstrengend!“

„Du wirst also keine hundert Jahre alt?“

„Wahrscheinlich nicht.“

„Das tut mir sehr leid.“

„Muss es wirklich nicht.“

„Unsere Drachenblumen erreichen auch nur ganz selten das hundertste Jahr. Dann ist es beschlossen, freute sich mein Drachen, ich nenne dich Drachenblume.“

„Vielen Dank. Wie sieht denn so eine Drachenblume aus?“

„Oh, sie ist purpur und leuchtet.“

„Schön.“

„Und sie sammelt in ihrer Mitte Wasser und lässt es lustig sprudeln.“

„Aha.“

„Und wenn sie nicht gut gelaunt ist, schießt sie einen Strahl nach jedem, der sich ihr nähert.“

„Oh …“

„Dann passieren schon einmal kleine Unfälle.“

„Warum?“

„Nun, ihr Wasser klebt dann, das habe ich selbst schon einmal erfahren …“

„Also ist es dann eklig, wenn man getroffen wird.“

„Wenn sie deine Flügel trifft, kannst du nicht mehr fliegen und plumpst zu Boden.“

„Autsch!“

„Ja, ich hatte damals großes Glück gehabt und nähere mich ihnen heute sehr vorsichtig.“

Weniger vorsichtig aber nähert er sich nun einem Mann …

„Was hat der hier auf seiner Nase?“

„Eine Brille.“

„Was ist das?“

„Damit kann man besser sehen.“

Er geht so nahe heran, dass der Mann sich an die Nase fasst.

„Hör auf damit!“

Er geht zurück.

Der Mann entspannt sich wieder.

Wieder geht er ganz nah heran …

Der Mann schaut verstohlen zu mir herüber. Wahrscheinlich traut er mir so einiges zu …

„Würdest du bitte damit aufhören?“

Im nächsten Moment findet er das kleine Mädchen spannend. Es rutscht auf seinem Stuhl hin und her und langweilt sich fürchterlich. Seine rosa Schleifen haben es ihm angetan. Und, oh Schreck, schon zieht er daran.

Mir bleibt fast die Luft weg, und ich muss mich immer wieder daran erinnern, dass ihn kein anderer außer mir sehen kann.

Erschrocken fasst sich das Mädchen an ihren linken Zopf.

Da zupft er schon am rechten und hat die Schleife gelöst.

Wenn er das Band in die Pfoten bekommt, gibt er es bestimmt nicht wieder her. Dann haben wir ein echtes Problem. Ein rosa Schleifenband bewegt sich wie von Zauberhand …

Bevor das Mädchen noch etwas hätte sagen können, wurden sie aufgerufen und verschwanden in Kabine Nummer vier. Sie mussten an mir vorbei und es traf mich ein vorwurfsvoller Blick.

Ich war drauf und dran zu sagen: Ich war’s nicht!!!

Aus dem Augenwinkel nahm ich gerade noch wahr, dass mein kleiner Drache auf dem Tresen der Anmeldung stand. Fasziniert beobachtet er die Frau, wie sie ins Telefon sprach.

Sein Schwanz zuckte, vor Aufregung und gibt damit der Vase einen ordentlichen Schubs …

Sie flog über den Tresen und ihr Wasser ergoss sich über all die Patientenakten.

Mir wurde ganz schlecht.

Glücklicherweise war die Frau eher verblüfft als erschrocken und hatte schon einen Lappen zur Hand, um den Schaden zu beheben.

Es war totenstill im Warteraum und alle sahen zu ihr hinüber.

„Vielleicht war ein kleiner Geist zu Besuch“, sagte sie, „und dem haben die Blumen nicht gefallen. Nelken sind ja auch nicht jedermanns Sache. Also entschuldige, kleiner Geist, die sind von meinem Chef …“

Kann sie ihn womöglich doch sehen?

Als ich endlich aufgerufen werde, hüpft er vom Tresen, um mir in Kabine Nummer drei zu folgen. Er wittert ganz bestimmt das nächste Abenteuer … Ich erkläre ihm, was jetzt gleich geschehen würde. „Und“, so versuche ich ihm einzuschärfen, „es ist ganz wichtig, dass du nichts anfasst und nirgendwo drauf springst. Und auch der Person, die gleich meinen Fuß röntgen wird, gehst du bitte aus dem Weg. Du kannst alles prima von der Tür aus beobachten.“

Er sitzt neben mir und baumelt mit seinen Beinen. Wieder fallen mir seine großen Füße auf.

Staunend sieht er zu, wie ich meinen linken Fuß von Schuh und Socken befreie. Als ich reingerufen werde, humpele ich der Schwester entgegen. Ich setze mich auf den Tisch, stelle meinen Fuß auf die Platte und bin nicht wirklich überrascht, einen kleinen Drachen neben mir zu sehen. Die Schwester richtet meinen Fuß aus und verschwindet, um auf den Knopf zu drücken. Kaum ist sie weg, stellt er seinen Fuß neben meinen, um sie zu vergleichen …

Das geht so schnell, dass ich keine Zeit habe, irgendwie zu reagieren, und es piepst.

Ich harre der Dinge, die nun kommen würden. Ganz sicher ist nicht nur mein Fuß zu sehen. Insgeheim überlege ich, ob ich irgendwie in Besitz dieses Röntgenbildes kommen könnte.

Die Minuten verstreichen. Dann kommt die Schwester heraus und fragte, ob ich mich vielleicht bewegt hätte.

„Nein, warum?“

„Dann stimmt vermutlich etwas mit dem Gerät nicht. Wir machen mal noch eine Aufnahme. Wenn das Ergebnis das gleiche ist, müssen wir den Röntgenapparat austauschen.“

Noch bevor sie verschwunden ist, flehe ich mein Drachenkind an, ruhig neben mir sitzen zu bleiben und sich nicht vom Fleck zu rühren.

„Langweilig!“

„Mag sein, aber wir werden sonst nicht fertig. Es sei denn, du willst ewig in dieser Höhle bleiben?“

„Nein, ich bin müde. Kannst du mich tragen?“

„Okay.“

Er rollte sich ein und war binnen dreißig Sekunden eingeschlafen.

Dieses Mal dauerte es nach dem Piep nicht lange und die Schwester kam raus. Die Aufnahme ist in Ordnung, ich kann mich wieder anziehen und zur Chirurgie gehen. Sie hat mir kaum den Rücken zugedreht, da nehme ich vorsichtig mein Drachenkind auf den Arm und humpele schnell in die Kabine zurück. Ich lege es auf die Bank, ziehe mich an und packe ihn kurz entschlossen in meine Jacke. Es schlief so fest, dass er den Rest meines Arztbesuches verpasst.

Auch meinen Einkauf, die Wiederholung seines verpassten Frühstücks, bekommt es nicht mit.

Als ich es zu Hause auf die Couch lege, öffnet es schläfrig ein Auge, sieht sich um und schien sehr zufrieden zu sein. Es holte tief Luft, schmiegte sich in die Kissen und döste noch ein wenig vor sich hin. Ich ging in die Küche und machte mich daran, sein Fresschen in mundgerechte Häppchen zu schneiden. Dabei fällt mir auf, wie selbstverständlich es in meinem Leben seinen Platz gefunden hatte.

Ich stelle den Teller auf den Tisch und seine Nüstern nehmen sofort Witterung auf.

Der Drache öffnet die Augen, ich sage: „Frühstück“ und stelle den Teller neben ihn.

Vorsichtig beschnuppert er das Fleisch und nimmt mit langen Zähnen ein winziges Stück.

„Was ist los?“

„Ich koste …“

„Machst du das immer so?“

„Nein, nur wenn ich nicht weiß, was es ist.“

„Das ist Steak vom Rind. Rindfleisch. Das war mal eine Kuh, nehme ich an.“

„Es riecht aber nicht so.“

„Es riecht nicht so?“

„Nein.“

„Riecht bei euch Rindfleisch anders?“

„Darauf mein Drachenehrenwort!“

„Hm, soll ich dir was anderes holen?“

„Nein, ich versuche es ja noch.“

Nun ist es ganz verschwunden und er kaut darauf herum. Seine Miene zeigt wachsendes Interesse und er kaut schneller. Schließlich schluckt er es hinunter.

„Alles okay?“, fragte ich.

„Ja, es ist gewöhnungsbedürftig und ganz sicher keine Kuh, aber man kann es essen.“

Ich beschließe, nicht weiter darüber nachzudenken, und sehe ihm einfach nur zu. Er braucht nun nicht mehr sehr lange und mit einem Seufz-Schmatz beendet er seine Mahlzeit.

„Bist du satt?“

„Ich glaube ja.“

„Du glaubst?“

„Ja.“

„Wann weißt du es denn genau?“

„In ungefähr vier Stunden.“

„Vier Stunden?“

„Ja, wenn in vier Stunden mein Magen nicht knurrt, bin ich satt geworden.“

Ich sehe auf die Uhr. „Dann ist es die sechste Stunde in Richtung des Mondes.“

Er überlegt und stimmt mir zu. „Ich gehe zur Schule, ich kann schon rechnen!“

„Das bezweifele ich nicht. Aber wenn dann dein Magen eventuell knurrt, sollte etwas zu essen da sein. Und ich bin mir nicht sicher, ob dir das halbe Kilo Schabefleisch und der Markknochen dann reichen. Das heißt, ich müsste noch mal los … Du kannst ja mitkommen.“

„Hm …“

„Keine Lust?“

„Nein, wir Drachen sind nach dem Essen immer ziemlich faul.“

„Eine kleine Gemeinsamkeit mit uns Menschen. Also was machen wir?“

„Wir können ja nachher einmal nachsehen, was in deiner Vorratshöhle zu finden ist. Zur Not essen wir ja auch Gemüse und Obst.“

„Zur Not?“

„Wirklich nur, wenn nichts anderes zu finden ist!“

„Also gut. Sollte gar nichts für dich dabei sein, gehe ich noch mal einkaufen. Das geht bis zur zehnten Stunde des Mondes.“

„Im Dunkeln?“

„Da gibt es Licht.“

„Wir Drachen jagen nie in der Mondzeit.“

„Warum nicht?“

„Da schläft das, was wir jagen.“

„Das nenne ich aber wirklich rücksichtsvoll.“

„Wir können in der Dunkelheit nicht gut sehen, und wenn wir unsere Beute verfehlen, müssen wir ihr hinterherjagen. Das regt sie dann so auf, dass ihr Fleisch ungenießbar wird.“

„Ich denke, ihr esst auch Gammelfleisch. Wie viel schlimmer könnte es schon sein?“

„Der Unterschied ist gewaltig! Gammelfleisch ist delikat und hat eine leicht schleimige Konsistenz. Lässt man es ein Weilchen auf der Zunge liegen, glaubt man Leben in ihm zu spüren. Gaumenfreude pur! Im Abgang hat es den unverkennbar modrigen Geschmack längst vergangener Zeiten. Es ist ähnlich dem Duft der verbotenen Drachensümpfe.“

Er blickt auf irgendeinen Punkt an der Wand und scheint ziemlich entrückt dem Hier und Jetzt zu sein. Dann schweigt er und seufzt. „Aber leider dürfen wir nicht zu viel davon essen, sonst bekommen wir Ausschlag von der übelsten Sorte. Das Wasser der Drachenblume kann ihn lindern, aber es liegt so tief in ihrem Kelch, dass man sich an ihren Blättern abstützen muss um nicht hineinzufallen. Und sie hasst, es berührt zu werden, reagiert zickig und ihr Wasser wird ein klebriger Brei. Zur Behandlung ist der dann nicht mehr geeignet.“

„Wenn Gammelfleisch lecker ist, was ist dann bitte schön ungenießbar für euch?“

„Bitter!“

„Bitter?“

„Ja, wir können bitter nicht ausstehen. Davon bekommen wir stumpfe Zähne.“

„Ja, stumpfe Zähne kann ich auch nicht leiden. Wie viele Zähne hast du eigentlich?“

„Das weiß ich gar nicht so genau.“

„Hast du sie noch nie gezählt?“

„Ist das normal, seine Zähne zu zählen? Weißt du es denn?“

„Ja, ich weiß das ganz genau, und ich achte sehr darauf, sie vernünftig zu pflegen. Leider ist das nicht immer genug getan und so musste ich schon den einen oder anderen Zahn opfern.“

„Der Zahnfee?“

„Nein. Gezogene Zähne bleiben bei meiner Zahnärztin.“

„Macht sie sich eine Kette davon?“

„Das glaube ich nicht. Sie wird sie wohl wegwerfen.“

„Findest du das nett? Sie waren so lange in deinem Mund, haben dich Nahrung zerkleinern lassen und sahen bestimmt auch hübsch aus. Und wenn sie nicht mehr gut genug sind, schmeißt sie sie einfach weg. Ich finde das gemein!“

„Bitte entschuldige, aber ich bin noch nie auf die Idee gekommen, sie mit nach Hause zu nehmen und mir womöglich eine Kette davon zu machen.“

„Warum nicht?“

„Was macht ihr denn in Drachenland, wenn ihr mal einen Zahn verliert?“

„Zum Glück geschieht das nur ganz, ganz selten. Aber sollte es doch passieren, wird der Zahn von der ganzen Familie und den Ältesten in einer großen Zeremonie der Erde übergeben. Wir danken ihm für sein Leben und dass er für uns da war. Wir betrauern seinen Verlust. Am letzten Tag pflanzen wir ein kleines Zahnstocherbäumchen, das wir fortan hegen und pflegen. Wenn es größer ist, wachsen ihm sehr spitze Dornen. Und wenn jemand etwas zwischen den Zähnen hat, bricht er vorsichtig einen Dorn ab, bedankt sich bei dem Bäumchen und benutzt ihn. So lebt er weiter mit uns. Aber es gibt nur sehr wenige dieser Bäumchen in Drachenland.“

„Wie lange geht denn eine solche Zeremonie?“

„Sieben Tage.“

„Ja, das nenne ich einem Zahn respektvoll die letzte Ehre erweisen. Sollte ich jemals wieder in die Situation kommen, mir einen Zahn ziehen lassen zu müssen, werde ich sicher klüger handeln. Versprochen!“

Die Zeit schreitet gnadenlos voran, es stellt sich kein Hungergefühl ein, und ich packe ihm alles, was Fleisch war, ein, damit er es mitnehmen kann.

Kurz vor der elften Stunde des Mondes werden wir beide ein wenig melancholisch.

Die Zeit des Abschieds naht und die Fee der Zeiten würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Wir sehen nicht sehr glücklich aus und jeder schielt zum anderen hinüber.

„Wenn deine Eltern es erlauben würden und auch die Fee der Zeiten nichts dagegen hätte, hättest du dann Lust, mich wieder zu besuchen?“

Er sieht mich an und strahlt über das ganze Gesicht. „Oh ja, sehr sehr gern. Als Mensch bist du nämlich gar nicht übel.“

„Schön, dass du das so siehst.“

„Und ich könnte dir sicher auch noch sehr viel beibringen, und du könntest mir das eine oder andere aus deiner Zeit erklären. Und bestimmt werden wir auch viel Spaß haben.“

„Ja“, lache ich ihn an, „da bin ich mir ganz sicher …“

„Geht es?“, fragt jetzt ganz aufgeregt mein Drachenkind und sieht auf den Sessel uns gegenüber.

Die Wanderin zwischen den Zeiten muss schon hier sein, um ihn mitzunehmen. Ich kann sie nur nicht sehen. Und hören, was sie sagt, kann ich ebenso wenig.

„Das werden sie erlauben, ganz bestimmt!“ Er sieht mich an und erklärt mir: „Die Wanderin zwischen den Zeiten hätte nichts dagegen, wenn meine Eltern es erlauben – vorausgesetzt, die Ältesten stimmen zu und du bringst das mit dem Frosch in Ordnung. Wenn die Wunschfee von deinem sehr fragwürdigen Verhalten erfährt, hält sie dich für verantwortungslos.“

Verantwortungslos, respektlos, achtlos – alles ganz üble Verfehlungen, die im Reich der Feen genauso schwer angeklagt werden wie in Drachenland. Nie hätte ich geglaubt, dass man mir auch nur eines davon vorwerfen könnte. Ich hielt mich immer für einen recht netten Menschen, aber das scheint wohl nur meine eigene Wahrnehmung zu sein.

„Gleich morgen“, verspreche ich, „bringe ich das mit dem Frosch in Ordnung!“

„Das musst du wirklich“, sagte mein Drachenkind, „sonst sehen wir uns nie wieder.“

Um nichts in der Welt würde ich das riskieren. „Du kannst dich auf mich verlassen!“

Nicht viel mehr als ein Flüstern drang aus dem Nebel … „Mach’s gut, Drachenblume, und denk an den Frosch!“

„Mach’s gut …?“ Mir fällt erst in diesem Moment auf, dass ich immer noch gar nicht seinen Namen kenne. Danach frage ich ihn das nächste Mal.

Jetzt werde ich erst einmal eine Strategie entwickeln, um den Frosch von der Kollegin zurückzubekommen. Im Notfall breche ich bei ihr ein!

Der Irrtum der Wunschfee

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