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2. Kapitel - Mia

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»Hier ist ja überhaupt nichts los«, krächzt Sybille, als wir den Klub betreten.

Der Laden ist in der Tat ziemlich leer. Mich wundert es nicht weiter. Es ist noch vor neun Uhr. »Das wird schon voller«, sage ich.

Carmen und Marta stimmen mir nickend zu.

Wir gehen direkt auf die Bar zu und bestellen uns die ersten Cocktails des Abends.

Ich wende mich von dem Tresen ab und schaue mich um. Vereinzelt stehen kleinere Grüppchen in den Ecken und unterhalten sich. Ich sehe mir alle Gäste an. Immerhin ist es nicht auszuschließen, jemand zu treffen, den ich kenne. Noch kann man sich jeden Menschen genauer anschauen. Wenn der Laden in ein paar Stunden so richtig voll ist, wie freitags üblich, wird es schwierig, im Gedränge ein bekanntes Gesicht zu finden.

Ich entdecke tatsächlich eine Person, die ich kenne, aber die ich hier nie erwartet hätte und heute eigentlich nicht mehr sehen wollte. In der hintersten Ecke sitzt Lisa mit einem gut aussehenden Typen. Er passt zu der spartanischen Beschreibung, die sie uns vorhin gegeben hatte. Er hat kurze dunkelblonde Haare und wahrscheinlich blaue Augen. Das kann ich aus der Entfernung nicht erkennen.

So einen passablen Geschmack hätte ich der Streberin nicht zugetraut. Für den Leckerbissen hätte ich mich heute auch so beeilt.

Die beiden scheinen sich ausgesprochen gut zu unterhalten. Lisa sieht so anders aus. Sie trägt ihre Haare zwar wieder zusammengebunden, aber sie wirkt viel lockerer, als sie es sonst ist. Ich kann sogar ab und zu ein Lächeln auf ihren Lippen erkennen. So oft, wie sie in der Gesellschaft des Mannes lächelt, habe ich sie in den zwei Jahren, in denen ich sie kenne, nicht lachen sehen. Wenn ich es mir genau überlege, habe ich sie bisher nur bei unserer ersten Begegnung fröhlich gesehen. Seitdem war sie immer nur ernst und hatte dementsprechend einen grimmigen Blick drauf.

Bei dem Anblick des Paares bin ich ein bisschen neidisch. Das würde ich natürlich nie vor Lisa zugeben. Das wäre eine Genugtuung für die besser wissende Streberin. Ich hätte auch Lust, mich mit einem netten Mann zu unterhalten, in der Hoffnung, daraus entwickelt sich mehr. Er müsste gut aussehend und dennoch intelligent sein, so wie Konstantin. Ich weiß, meine Ansprüche sind sehr hoch gesteckt. Vielleicht ist das der Grund für mein Singledasein. So langsam habe ich genug von der Einsamkeit.

Mein letztes Date ist inzwischen fast ein Vierteljahr her. Daran denke ich allerdings nur ungern zurück. Diese Verabredung gehörte zu den schlimmsten, die ich jemals erlebt habe. Mein Date - ich kann mich an seinen Namen nicht mehr erinnern - war eigentlich süß, zumindest von der Optik, aber als er seinen Mund aufmachte, wollte ich mich am Liebsten auf der Stelle wegbeamen. Es lag weniger an seiner Stimme - sie war angenehm - vielmehr waren es die Worte, die er von sich gab. Die ganzen zwei Stunden, die wir im Restaurant zusammen verbrachten, machte er die Kellnerin zur Sau. Er beschwerte sich in einer Tour über das Essen, und wenn er nicht damit beschäftigt war, ging es nur um ihn und seinen Traum, einen eigenen Laden zu eröffnen. Bereits nach der ersten halben Stunde konnte ich das Palaver nicht mehr hören. Irgendwann schaltete ich meine Ohren auf Durchzug und nickte nur noch, wenn ich den Eindruck hatte, er erwartete eine Antwort von mir. Ich war heilfroh, als wir aufgegessen hatten und ich mich unter dem Vorwand, ich hätte im Anschluss eine Verabredung mit einer Freundin - was natürlich nicht der Fall war - verabschiedete. Zu meinem Leidwesen hatte ich ihm vor dem Treffen - wir lernten uns eine Woche zuvor in einer Bar kennen, dort verhielt er sich völlig normal - meine Handynummer gegeben. Diese Entscheidung bereute ich nach diesem misslungenen Date. In den darauf folgenden Tagen rief er mich beinahe täglich an. Die ersten beiden Anrufe nahm ich noch entgegen und sagte ihm, ich hätte keine Zeit. Danach drückte ich ihn immer weg, sobald seine Nummer auf dem Display meines Handys erschien, und hoffte jedes Mal, dass es sein letzter Anruf war. So schnell gab er allerdings nicht auf. Vor ungefähr sechs Wochen hat er es erst kapiert und aufgehört, mich zu terrorisieren. Ich kann nur froh sein, ihm nicht auch meine Adresse gegeben zu haben. Womöglich hätte er dann wochenlang vor meiner Tür gestanden und mir aufgelauert. Bei dem Gedanken läuft mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ich hätte mich einige Wochen verstecken oder ihm ins Gesicht sagen müssen, dass ich ihn nie wiedersehen will. In solchen Sachen tue ich mich immer schwer. Ich wähle lieber den Weg des geringsten Widerstands und gehe Konfrontationen - außer bei Lisa - aus dem Weg. Gerade bei dem Typen, den ich kaum kannte, hätte ich seine Reaktion vorher nicht abschätzen können. Er hätte meinen Korb entweder vernünftig aufnehmen und akzeptieren oder sich zurückgestoßen fühlen und austicken können. Bei den vielen Spinnern, die es auf dieser Erde gibt, kann man nichts ausschließen. Und wenn die Aussprache an einem abgelegenen Ort, wie in meiner Wohnung - wo keiner ist, der mir notfalls helfen könnte - stattfände, wäre mir das Risiko zu groß. Da ist es schon besser, wenn man sich einfach nicht mehr meldet, getreu dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn!

Durch dieses Erlebnis habe ich begriffen, vorsichtiger mit der Herausgabe meiner persönlichen Daten zu sein - vielleicht bin ich deshalb so zurückhaltend bei den Chatgesprächen mit Konstantin. Meine Nummer werde ich jetzt jedenfalls erst nach reiflicher Überlegung preisgeben. Ich denke schon darüber nach, ob ich mir für solche Zwecke ein Handy mit Prepaidkarte anschaffen sollte. Dann wäre ich immer erreichbar, und wenn mich wieder so ein aufdringlicher Typ belästigt, kann ich die Karte einfach austauschen. Bei der Herausgabe meiner Adresse sieht es anders aus. Ich kann mir schlecht eine zusätzliche Wohnung anmieten, nur um irgendwelchen durchgeknallten Kerlen eine Anlaufstelle zu bieten, wo sie mich antreffen könnten. Bevor ich jemandem verrate, wo ich wohne, muss ich mir also wirklich sicher sein, dass derjenige es wert ist und keine schizophrenen Züge an sich hat.

Ich stupse Carmen, die neben mir sitzt, an und mache sie auf Lisa aufmerksam. In ihren Augen kann ich sehen, wie erstaunt sie ist.

Nachdem sie ihre Worte wiedergefunden hat, sagt sie zu Sybille und Marta: »Mädels, schaut mal da drüben!«

Die beiden starren fassungslos zu dem Paar und scheinen nicht zu glauben, was sie sehen.

Wir vier können den Blick nicht von dem Paar lösen. Keine von uns scheint es je für möglich gehalten zu haben, Lisa mit einem vorzeigbaren Mann zu sehen. Und so, wie sie sich gibt, hat sie von den anderen Mädels neben mir bestimmt noch keine gesehen. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, Lisa ist glücklich oder wenigstens zufrieden und hat nichts zu meckern.

»Das glaube ich nicht«, sagt Sybille. »Das kann nicht Lisa sein.«

»Glaubt ihr die haben ein Date?«, fragt Marta. Ihre Stimme klingt so verwundert, als hätte sie soeben ein UFO entdeckt.

»Keine Ahnung«, antwortet Carmen.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass zwischen den beiden etwas läuft. Schaut sie euch doch mal an. Die passen überhaupt nicht zusammen«, sage ich in einem ziemlich gehässigen Ton.

Jeder anderen aus der Clique würde ich den Kerl gönnen, aber das ausgerechnet Lisa so einen Mann abbekommt, scheint mir ungerecht zu sein.

»Ich kann mir auch nicht vorstellen, was dieses Leckerchen von Lisa will. Wollen wir uns jetzt wirklich von Lisa trennen? Ich meine, vielleicht können wir den Typen ja kennenlernen«, schlägt Marta vor.

»Also Marta, was du für Ideen hast«, antwortet Sybille prompt.

»Warum? Marta hat doch irgendwie recht«, stimme ich zu.

»Ihr wisst echt nicht, was ihr wollt, oder? Erst wolltet ihr Lisa unbedingt loswerden und nun wollt ihr so tun, als wäre alles in Ordnung. Sorry Mädels, aber bei so einer Heuchelei mache ich nicht mit!«

Die Ansage von Carmen war eindeutig. Wir hätten uns denken können, wie wenig unser Temperamentbündel von der Idee hält. Sie ist ohnehin nicht der Typ Frau, der Intrigen gut findet. Am liebsten würde sie jedem Menschen, der ihr begegnet, direkt ins Gesicht sagen, was sie von ihm hält. Und jetzt wo Karl sich von ihr getrennt hat, habe ich den Eindruck, nimmt sie es mit der Ehrlichkeit noch genauer.

Ich kann ja verstehen, dass sie im Moment die Schnauze voll von Männern hat, aber deshalb müssen wir nicht gleich alle, wie die Apostel leben. Einer von uns - außer Lisa - könnte sie dem gut aussehenden Typen ruhig gönnen.

»Das heißt, es bleibt dabei, dass du nächsten Freitag mit ihr reden willst?«, hake ich nach.

»Ja! Obwohl, warum bis Freitag warten? Wenn sie schon mal hier ist, können wir es doch sofort hinter uns bringen. Also Mädels, auf geht es!«

»Ist das dein Ernst? Du willst jetzt zu ihr rüber gehen und ihr sagen, dass wir nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen? Damit versaust du ihr nicht nur den Abend, sondern auch gleich ihr Date«, argumentiert Sybille.

»Hm, meinst du wirklich?«, fragt Carmen nachdenklich. »Na gut, vielleicht hast du recht. Dann machen wir es eben doch am Freitag bei dem nächsten Treffen«, stimmt Carmen zu.

Ich bin erleichtert und atme auf.

Gott sei Dank. Auf so ein peinliches Theater hätte ich jetzt überhaupt keine Lust. Lisa würde uns mit Sicherheit eine lautstarke Szene machen, die alle anderen Gäste mitbekommen. Darauf kann ich gut verzichten.

»Das ist ganz schön trostlos hier. Es wird Zeit, dass endlich mal ein paar mehr Leute kommen, vor allem ein paar Männer«, ertönt Sybille.

»Ja, wenn das so weiter geht, mache ich mich bald vom Acker. Da ist das Fernsehprogramm bestimmt spannender«, antwortet Marta.

»Freitags kommt doch nichts im Fernsehen. Da würde ich es mir eher vor dem Computer bequem machen und mit ein paar interessanten Männern chatten.«

»Das war klar, Mia. Du denkst schon wieder an deinen Konstantin«, stachelt Marta mich an.

»Ach quatsch. Das war auf die Allgemeinheit bezogen. Außerdem was heißt hier mein Konstantin? Bisher haben wir uns nur nett unterhalten.«

Marta liegt mit ihrem Verdacht richtig. Gerade habe ich an ihn gedacht. Ich stelle mir immer wieder vor, wie er aussehen mag. In meiner Fantasie ist er natürlich hübsch - ein Mann wie aus dem Bilderbuch. Ob er es im realen Leben auch ist, wage ich bei meinem Glück zu bezweifeln, aber das ist im Moment unwichtig. Solange ich nicht weiß, wie er aussieht, kann ich ihn mir wenigstens vorstellen und unsere Gespräche in vollen Zügen genießen.

Statt mich hier zu langweilen, würde ich jetzt wirklich lieber mit Konstantin schreiben. Das wäre mit Sicherheit spannender, als hier herumzusitzen, aber ich weiß nicht, ob er an einem Freitagabend zu Hause ist. Am Wochenende wird er bestimmt auch vor die Tür gehen. Wenn ich so darüber nachdenke, fällt mir auf, dass ich eigentlich kaum etwas über ihn weiß. Vielleicht sollte ich ihn in unseren nächsten Gesprächen gezielter danach fragen, was er so macht. Andererseits wird er im Gegenzug mehr über mich wissen wollen. Dann habe ich wieder das Dilemma mit meinen persönlichen Daten. Ich weiß noch nicht, was ich tun werde. Wahrscheinlich ist es besser alles so laufen zu lassen, wie es ist. Wenn ich nachher nach Hause komme, werde ich auf jeden Fall schauen, ob er online ist.

»Ich hoffe, bei dem Speed Dating nächstes Wochenende ist mehr los als hier!«, sagt Sybille.

»Was denn für ein Speed Dating?«, ertönt eine Stimme hinter uns.

Wir vier drehen uns zeitgleich um und entdecken Lisa, die nun vor uns steht.

Toll, jetzt hat sie das auch noch mitbekommen!

Ich ärgere mich, dass keine von uns die Streberin auf uns zukommen sah. Wir waren einfach zu sehr in unser Gespräch vertieft und haben für einen Augenblick Lisas Anwesenheit vergessen.

»Ähm«, versucht Sybille zu erklären. Doch sie weiß nicht, was sie sagen soll.

»Wir haben uns vorhin bei einem Speed Dating für das kommende Wochenende angemeldet«, nuschelt Carmen, die obwohl sie nicht viel verträgt, schon ihren dritten Cocktail schlürft. Dabei sind wir noch keine halbe Stunde hier. Wenn das so weiter geht, ist der Abend bald gelaufen, weil wir in Kürze Carmen nach Hause tragen können.

Na toll, jetzt weiß Lisa auch davon. Das hätte jetzt nicht sein müssen!

»Ach so. Das klingt interessant. Vielleicht melde ich mich auch an. Aber jetzt muss ich wieder zurück. Ich wollte euch nur schnell Hallo sagen«, sagt Lisa und deutet auf den Tisch, an dem ihr Begleiter auf sie wartet. Sie wirkt arrogant wie immer. »Macht es gut Mädels«, ergänzt sie und verschwindet.

Die kam doch nur her, um uns auf ihr Date aufmerksam zu machen. Das ist so typisch.

Jetzt bin ich froh, dass Carmen ein bisschen zu viel Alkohol intus hat und somit das Auftauchen von Lisa kaum realisierte. Im nüchternen Zustand hätte sie sicherlich mit Lisa über ihren Ausstieg aus der Clique gesprochen. Das ist aber der einzige Vorteil von Carmens Alkoholunverträglichkeit.

»Was war das denn?«, fragt Sybille irritiert.

»Keine Ahnung. Ich hoffe nur, dass sie nicht bei dem Speed Dating auftaucht«, antworte ich.

»Und wenn schon«, sagt Marta.

»Na ja, ich weiß nicht, ob das so gut ist. Wenn wir vorher auch noch mit ihr reden und ihr sagen, dass wir sie nicht mehr in unserer Runde haben wollen, könnte es in einem Desaster enden«, antworte ich.

»Ach, das glaube ich nicht. Es wird schon alles gut gehen«, sagt Sybille ermutigend.

»Hoffen wir es. Viel verspreche ich mir von der Veranstaltung sowieso nicht.«

»Wieso?«, fragt Marta.

»Mich wundert es einfach, dass wir so schnell einen Platz dort bekommen haben. Ich weiß nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist. Ganz ehrlich, wenn es so gut laufen würde, wäre das Speed Dating schon Monate im Voraus ausgebucht, oder?«, antworte ich.

»Macht euch nicht so verrückt«, lallt Carmen.

»Carmen, trink nicht so viel!«, ermahne ich sie.

»Ach Mia, das ist doch nicht viel. Außerdem muss ich mein Gedächtnis auslöschen.«

»Dafür brauchst du keinen Alkohol. Karl ist es nicht wert, dass du dich sinnlos besäufst. Er hat dich einfach nicht verdient. Du bist so eine tolle Frau. Und irgendwann findest du den Mann, der das zu schätzen weiß.«

»Danke! Du bist süß, Mia.« Carmen, die sich bis eben noch auf den Tresen abstützte, erhebt sich vom Barhocker und fällt mir schwankend um den Hals. Dabei wäre sie fast umgekippt. Ich konnte sie gerade noch halten.

»Vielleicht sollten wir für heute Schluss machen«, höre ich mich sagen.

Eigentlich wäre ich gern geblieben. Immerhin sind wir zum Tanzen hergekommen. Bis jetzt war keine von uns auf der Tanzfläche. Dafür ist der Laden eindeutig zu leer und der Alkoholpegel zu gering, wenn man von Carmens viel zu hohem Pegel absieht. Mit einer sturzbetrunkenen Carmen im Schlepptau habe ich wenig Chancen, mich auf dem Männermarkt umzuschauen. Schließlich kann ich sie nicht einfach in eine Ecke setzen und mich mit dem männlichen Geschlecht beschäftigen. Das brächte selbst ich nicht übers Herz.

»So ein Blödsinn! Warum sollen wir denn gehen? Der Abend hat noch nicht richtig angefangen«, nuschelt Carmen mir ins Ohr.

»Carmen, es reicht jetzt! Lass uns gehen!«, fordere ich sie auf.

»Nein, ich will nicht gehen!«

»Sybille! Marta! Sagt ihr doch auch mal was!«

»Mia hat recht, wir sollten gehen«, stimmt Marta zu.

»Gut, ich rufe uns ein Taxi«, sagt Sybille.

»Sehr schön. Marta kannst du zahlen? Ich gehe mit Carmen schon nach draußen. Hoffentlich trifft das Taxi bald ein.«

»Ja, mache ich. Wir sehen uns draußen.«

»Los Carmen, auf geht es!«

Ich greife Carmen unter die Arme und ziehe sie mit aller Kraft von der Bar weg: »Du kannst mir ruhig ein bisschen helfen. Ich kann dich schlecht hier raus tragen.«

»Ja. Ja.«

Während ich Carmen von der rechten Seite stütze, merke ich erst, wie schwer sie ist. Obwohl sie nicht dick ist, habe ich einiges an Gewicht zu stemmen. Vielleicht hätte ich Sybille meinen Job machen lassen sollen. Sie ist von uns allen die Größte und gleichzeitig die Kräftigste. Ich hingegen bin einen halben Kopf kleiner als Carmen und auch nicht gerade stark. Zwar treibe ich regelmäßig Sport, aber deshalb habe ich noch lange nicht so viel Kraft, um Carmen tragen zu können. Mein Training bewegt sich eher im Bereich Ausdauersport. Ich gehe drei Mal die Woche joggen und mache hin und wieder ein bisschen Yoga, also nichts, wovon man übermäßige Muskeln bekommt.

»Och Carmen, jetzt mach dich doch nicht so schwer!«, fluche ich.

Wir haben noch nicht die Hälfte des Weges nach draußen geschafft und ich merke bereits, wie mir die Kräfte schwinden. Es fällt mir sekündlich schwerer, meine Freundin zu halten. Ich muss mich zusammenreißen, sie nicht vor versammelter Mannschaft fallen zu lassen und womöglich selbst umzukippen. Das wäre so peinlich, in den Laden könnte ich nie wieder gehen. Das Allerschlimmste für mich wäre aber, wenn Lisa dieses Malheur mitbekäme. Sie würde sich köstlich amüsieren. Dieser Gedanke ermutigt mich, meine ganzen Kraftreserven zu bündeln und nicht aufzugeben.

Ich schaue zu dem Tisch, an dem Lisa und ihr Begleiter sitzen. Zum Glück sind beide so in ihrem Gespräch vertieft, dass sie nicht mitbekommen, was mit Carmen los ist. Ich hoffe, es bleibt so und wir gelangen rechtzeitig nach draußen.

»Warte Mia, ich helfe dir!«, höre ich Sybille sagen, die hinter uns auftaucht.

Über ihre Hilfe bin ich froh. Sie stützt Carmen von der anderen Seite. Jetzt kommen wir gleich viel schneller voran.

»Wo ist Marta?«, frage ich.

»Sie bezahlt gerade unsere Drinks.«

»Okay. Dann wird sie sicher bald kommen. Wie lange braucht das Taxi?«

»Die Frau in der Zentrale hat gesagt, dass es in etwa zehn Minuten hier ist.«

»Das ist gut. So lange werden wir auch fast brauchen, bis wir draußen sind.«

»Ach quatsch! Wir sind doch gleich an der Tür.«

»Ja. Ich bin so froh, dass du da bist. Lange hätte ich Carmen nicht mehr halten können.«

»Du musst halt richtig essen und Kraftsport machen!«

»So wie du?«, stachele ich meine muskulöse Freundin unter größter Anstrengung an.

»Ja.«

Ich gebe ja zu, ich beneide Sybille für ihren Körperbau ein wenig. Sie ist verdammt gut durchtrainiert, aber die Disziplin, die sie an den Tag legt, wäre mein absoluter Untergang. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, ständig auf Diät zu sein, und keine Süßigkeiten mehr zu essen. Ich und Selbstdisziplin das passt überhaupt nicht zusammen. Das ist wie Feuer und Wasser. Mit Wasser wird höchstens Feuer gelöscht. Genauso ist es bei mir: Sport und Eintagesdiäten dienen mir dazu, nicht aus der Form zu geraten, aber Spaß macht es mir bei Weitem nicht. Im Gegenteil, wenn es nach mir ginge, würde ich mich rund um die Uhr von Schokolade ernähren und auf der Couch rumfletzen. Das kann ich mir nur nicht leisten. Frauen, die auf dem Männermarkt ein möglichst vorzeigbares Exemplar abbekommen möchten, müssen peinlichst genau auf ihr Äußeres achten und können sich nicht gehen lassen. Sonst hat sich das mit der Männersuche schnell erledigt.

Wir haben es geschafft! Die Tür ist in greifbarer Nähe. Nur noch wenige Schritte und wir sind draußen.

»Ihr seid ja immer noch hier!«, höre ich Marta hinter mir sagen.

»Du bist gut. Versuch du doch Carmen nach draußen zu hieven, wenn sie nicht mitmacht! Ohne Sybille lägen Carmen und ich längst auf dem Boden.«

»Ich mache drei Kreuze, wenn wir endlich im Taxi sitzen«, keucht nun auch Sybille.

»Ja. Da stimme ich dir zu. Ich hätte nicht gedacht, dass Carmen dir zu schwer ist, so muskelbepackt, wie du bist«, sage ich völlig außer Atem.

»Meine Muskeln sind eben nicht dafür ausgelegt, Frauen herumzuschleppen«, scherzt Sybille.

»Na, solange du noch Witze reißen kannst, scheint es ja nicht so schlimm zu sein«, kontert Marta.

»Du, wir können gern tauschen. Mal sehen, ob du dann noch Reden schwingen kannst«, antwortet Sybille und versucht dabei ernst zu klingen.

»Ach lass mal. Ich sage ja nichts mehr.«

»Wo ist denn das verdammte Taxi?«, fluche ich, als wir endlich draußen auf der Straße stehen.

»Es wird sicherlich gleich hier sein«, sagt Bille.

»Hoffentlich! Ich kann langsam nicht mehr!«

»Du schaffst das. Reiß dich mal zusammen!«, ermutigt Sybille mich.

»Mädels, wo gehen wir jetzt hin? In einen anderen Klub?«, fragt Carmen lallend. Ich kann sie kaum verstehen.

»Wir bringen dich jetzt in dein kuschliges Bettchen, Carmen. Da kannst du dich richtig ausschlafen«, antworte ich.

»Ich will nicht nach Hause. Da erinnert mich alles an Karl. Kann ich nicht mit zu einer von euch?«

Sybille wirft mir einen Blick zu, der mir sagen soll, dass Carmen auf keinen Fall mit zu ihr kann.

Ich drehe mich zu Marta und schaue sie fragend an.

»Ist das dein Ernst?«, erwidert sie gespielt entsetzt.

»Ja, schon.«

»Wieso kann sie nicht mit zu dir?«

»Ich habe Carmen beim letzten Besäufnis mitgenommen. Heute ist eine von euch dran!«, antworte ich zickig.

»Na schön, wenn es unbedingt sein muss, dann nehme ich Carmen eben mit zu mir«, sagt Marta.

In ihrer Stimme liegt eine Menge Enttäuschung. Sie hatte gehofft, die Nacht mit Carmen bliebe ihr erspart.

»Super. Dann setzen wir euch zuerst bei dir ab«, sage ich und bin froh, dass Marta sich bereit erklärt hat, Carmen mit zu sich zu nehmen. Ich hatte schon befürchtet, ich müsste sie mitnehmen. Das wäre wieder eine Horrornacht geworden. Ich mag Carmen wirklich gerne. Sie ist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben, aber wenn sie zu viel getrunken hat, ist sie kaum auszuhalten. Ich erinnere mich noch an das letzte Mal, als sie sturzbesoffen bei mir übernachtet hatte. An Schlaf war für mich damals nicht zu denken. Die ganze Nacht musste ich mich um sie kümmern. Ständig hat sie sich übergeben und ich musste ihr die ganze Zeit einen Eimer vors Gesicht halten, damit sie meine Möbel nicht vollkotzt. Für so ein Abenteuer fehlen mir heute Nacht die Nerven. Ich will doch nachher schauen, ob Konstantin online ist. Da kann ich keine pflegebedürftige Carmen gebrauchen, die mich vom Chatten abhält.

Marta hat in ihrem Domizil ohnehin viel mehr Platz. Sie hat die größte Wohnung von uns allen. Sie kann es sich auch leisten. Marta verdient als Medienfachwirtin ordentlich, mehr als wir anderen.

»Aber ihr bringt Carmen noch mit hoch, ja? Alleine werde ich das nämlich nicht schaffen.«

»Na klar, das machen wir«, verspreche ich ihr.

»Das ist gut.«

»Na endlich!«, schreie ich fast, als ich von Weitem das Taxi sehe.

»Jetzt müssen wir nur unsere gute Carmen da rein verfrachten«, sagt Sybille nachdenklich.

Daran habe ich nicht gedacht. Hoffentlich sträubt sie sich nicht. Ich habe keine Lust hier noch eine halbe Stunde auf der Straße zu verbringen. Mir wird nämlich langsam kalt. Als ich mich für den heutigen Abend zurechtgemacht habe, war bei der Outfit-Auswahl nicht vorgesehen, stundenlang in der Kälte stehen zu müssen.

»Das kann ja noch heiter werden!«, sage ich.

Das Taxi hält genau vor uns an. Sybille öffnet die Hintertür, steigt zur Hälfte ein und zerrt Carmen förmlich hinter sich her. Ich helfe ihr, indem ich Carmen von außen hinein schiebe. Nach wenigen Minuten - viel schneller, als ich es erwartet hätte - sitzt unsere temperamentvolle Spanierin in der Mitte der Rücksitzbank, sodass ich hinterher rutschen kann.

Als ich meinen Platz eingenommen habe, sage ich zu Marta, die immer noch draußen steht: »Du kannst jetzt vorne einsteigen, damit wir loskommen!«

»Ja, mache ich.«

Marta öffnet die Beifahrertür, steigt ein und nennt dem Fahrer, der kurz darauf losfährt, ihre Adresse.

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