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2.1.4 Wissenschaftliche Theorien versus Alltagstheorien
ОглавлениеBevor wir das Kapitel „Wozu Theorie?“ abschließen, möchte ich noch einen Blick auf die Frage nach dem Unterschied zwischen wissenschaftlichen Theorien und Alltagstheorien werfen. In unserer (westlich-modernen) Welt hat Wissenschaft und wissenschaftliche Erkenntnis einen sehr hohen Stellenwert. Die Bezeichnung einer Aussage, eines Gedankenganges oder eines Projektes als „wissenschaftlich“ adelt die Aussage, den Gedanken oder das Projekt durch eine hohe zugeschriebene Glaubwürdigkeit. Wissenschaftliche Erkenntnis scheint also höher zu stehen als Alltagserkenntnis oder Alltagswissen. Folgt man der oben getroffenen Definition von Theorien als Annahmen über kausale Zusammenhänge, dann ist zunächst unklar, warum sich wissenschaftliche Theorien von Alltagstheorien unterscheiden sollten. Denn auch im Alltag formulieren wir laufend Annahmen über kausale Zusammenhänge und bilden damit Alltagstheorien. Zum Beispiel wenn wir auf der Straße gehen und hinter uns ein Quietschen und einen Knall hören und beim Hinblicken sehen, dass zwei Autos kollidiert sind, schließen wir in der Regel darauf, dass die beiden Autos eben einen Unfall hatten und dabei die gehörten Geräusche erzeugten. Die gedankliche Verbindung des Gehörten (Quietschen und Knall) mit dem später gesehenen Bild der Kollision ist nichts anderes als eine Annahme über einen Zusammenhang dieser beiden Phänomene. Wenn wir wissenschaftlich arbeiten, gehen wir nicht anders vor: Wir beobachten verschiedene Phänomene und stellen sie in einen kausalen Zusammenhang.
Unterschiede zwischen Wissenschaftstheorien und Alltagstheorien
Allerdings unterscheiden sich Alltagstheorien und wissenschaftliche Theorien hinsichtlich ihrer Fragestellungen und Inhalte, ihre Erkenntnismethoden und in der Art der getroffenen Aussagen (vgl. BORTZ & DÖRING 1995, S. 30). Die für wissenschaftliche Hypothesen so wichtigen Kriterien wie Allgemeingültigkeit, Konditionalität und empirische Falsifizierbarkeit sind für Alltagstheorien nicht anwendbar. Diese sind zudem in der Regel auf einen Einzelfall zugeschnitten und dienen vor allem der Orientierung und Selbstdefinition des Individuums, während wissenschaftliche Theorien über den Alltagsbereich des Einzelnen weit hinausgehen. In methodischer Hinsicht unterscheiden sich Alltagserkenntnis und wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn vor allem im Hinblick auf die Systematik, die Dokumentation des Vorgehens, die Genauigkeit der Begriffe sowie in der Art der Auswertung und Interpretation von Informationen, zu der auch die Überprüfung von Gültigkeitskriterien (Validität) der Befunde gehört.
Alltagssituationen der Entscheidungsfindung
Diese Beschreibung wissenschaftlicher Arbeit mit dem Fokus auf Methodik, Objektivität, Experiment, Überprüfung der Validität (Gültigkeit der Methodik) usw. unterschlägt, dass viele Situationen des (naturwissenschaftlichen wie sozialwissenschaftlichen) Forschens Alltagssituationen der Entscheidungsfindung sind, in denen irgendeine Wahl zu treffen ist, über deren Gehalt erst nachträglich eine abschließende (validierende) Entscheidung herbeigeführt werden kann (vgl. GARFINKEL 1981). An der Objektivität, der Reinheit der Methodik und der Validität von Ergebnissen kann daher auch Zweifel angebracht sein. Der Philosoph BERNHARD WALDENFELS lehnt die Besonderheit wissenschaftlicher im Unterschied zu alltäglicher Erkenntnis schlichtweg ab:
„Nur wenn man eine spezifische Methode zum Ideal emporsteigert, erscheint das Alltägliche als das bloß Vage, Unberechenbare, Improvisatorische, Okkasionelle gegenüber den exakten Berechnungen, den künstlichen Methoden und dauerhaften Konstruktionen der Wissenschaften, und nur wenn man die Methode für das Sein selber nimmt, erscheint Alltagserkenntnis als bloß subjektiv-relativ gegenüber den objektiven und universalen Geltungsansprüchen der Wissenschaften.
Hinter der Abwertung des Alltags lauert die szientistische Verabsolutierung der objektiven Wissenschaften und, damit Hand in Hand gehend, deren technizistische Sinnentleerung“ (WALDENFELS 1999, S. 56, Hervorhebungen im Original).
Wissenschaft als eine Form der Erkenntnis
Wissenschaft und wissenschaftliche Arbeit bildet in diesem Verständnis nur eine Form der Erkenntnis und der Wissensproduktion unter vielen. Es ist zugleich ein Aufruf für das Einbeziehen unterschiedlichster Wissensbestände in die wissenschaftliche Arbeit, denn gerade in einer derart angewandten Disziplin wie der Geographie zeigt sich oft, dass das Ignorieren von lokal vorhandenem alltäglichem und praktischem Wissen die beste Analyse wissenschaftlicher Experten scheitern lassen kann. Das obige Zitat von WALDENFELS mag daher durchaus als ein Plädoyer gegen die vorschnelle „Adelung“ wissenschaftlicher Erkenntnis als besonders „objektive“ oder „geprüfte“ Form des Wissens verstanden werden.