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1. Der Fluch

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Unbarmherzig habt ihr mich gejagt, habt mich in die Falle getrieben, seid mir dicht auf den Fersen. Es ist ungewiss, wie viel Zeit mir und euch noch bleibt.

Dabei habt ihr mich mit offenem Armen empfangen, als Retter in der Not. Euer Dorf lag unter einer dicken Schneedecke, eure Wintervorräte waren aufgebraucht. Die Zugbrücke zum Schloss war hochgezogen. Bittere Not, verbunden mit Hunger und Kälte bedrohte euer Leben. Keiner wollte wissen, woher ich kam, wieso ich auf einmal auftauchte aus dem Nichts. Mit einer anmaßenden Selbstverständlichkeit habt ihr euch aus meinem Kornspeicher bedient, habt meinen Wein getrunken, als wäre er Wasser. Ihr habt mich gefeiert, als Helden, der euer Dorf vor dem Hungertod gerettet hat, habt mich mit Schmeicheleien und Komplimenten umgarnt, mich als neuen Schlossherrn akzeptiert.

Ich habe gelogen und betrogen, doch keiner von euch hinterfragte meine Behauptungen. Nein, ihr habt das Weinglas erhoben und auf meine Lügen angestoßen. Ihr habt mich ausgenommen, ohne mit der Wimper zu zucken, habt gelebt in Saus und Braus auf meine Kosten.

Aber nehmen ist auch geben. Ich reichte euch meine Hand und ihr nahmt an. Alle, ausnahmslos. Einen Pakt mit mir, bricht man nicht. Den Preis wolltet ihr nicht zahlen, doch ich hole mir immer, was mir zusteht.

Aber auch ich wähnte mich zu sehr in Sicherheit, ein verheerender Fehler. Schon war es zu spät für einen unbemerkten Rückzug.

Es tut mir leid für die jungen Mädchen, um die ihr nun trauert. Es jammert mich, aber ich bin, was ich bin. Ich ernähre mit vom Blut anderer. Für euch mag ich nichts anderes als eine Bestie sein. Aber habe ich eine Wahl? Habt ihr eine Vorstellung davon, wie es ist, in der kalten Gruft auszuharren und den Hunger zu spüren, den Schmerz? Ahnt ihr meine Qualen, wenn die Schwäche mit aufzufressen droht? Es ist zu spät, wenn meine Muskeln erschlaffen und ich nicht mehr klar denken kann. Ich bin ein Jäger. Ich muss handeln und Beute machen. Wann immer sich die Möglichkeit bietet, kann und darf ich der Versuchung nicht widerstehen. Meinem Willen sind Grenzen gesetzt, meinem Überlebenswillen jedoch nicht. Was Hunger aus einem Menschen machen kann, wisst ihr nur zu genau.

Aber nun habt ihr meine Zuflucht zerstört, seid in meine Gruft eingedrungen, habt gewütet wie Wahnsinnige und Stille und Heimlichkeit zerstört. Zu dumm, dass die Nacht schon hereingebrochen war und ich fliehen konnte.

Doch nicht weit. Ihr habt die Zugbrücke hochgezogen und mir die Möglichkeit genommen, mich durch das Waldgestrüpp davon zu schlagen.

Ihr jagt mich hier, wo ich mich sicher fühlte, als wäre ich ein Tier. Dabei bin auch ich ein Mensch oder ich war zumindest einer, bis das Unglück über mich hereingebrochen ist und mich in die rabenschwarze Tiefe gezogen hat. Aber wer blickt schon in mein Herz?

In den Turm, der das Schloss überragt, habt ihr mich getrieben, mir nur diesen einen Weg in eine Falle gelassen. Dem Schicksal, um welches ich herumzukommen hoffte, muss ich mich nun endgültig stellen.

Noch halten die Barrikaden, die ich errichtet habe. Aber was soll mir das nützen? Die Zeit arbeitet unbarmherzig gegen mich. Überall hier sind Fensternischen. Ich weiß, was geschehen wird, wenn erst die Sonne aufgeht und ihre hellen Strahlen mich treffen.

Schon sehe ich erste zaghafte Lichtstreifen am Horizont. Ich zerreiße meinen Umhang und versuche, die Fensternischen mit dem Stoff zu verdecken. Aber dieser Jahrhunderte alte zerschlissene Stoff kann das drohende Licht nicht ganz aussperren. Es wird nicht helfen, die Hände vor die Augen zu halten. Die Finsternis wird unwiderruflich weichen. Es gibt keinen Weg aus dieser vertrackten Lage. Und nun spüre ich, der sonst anderen Angst macht, das muss ich zu meiner Schande gestehen, selbst Angst.

Jetzt bin ich der Gejagte und ihr seid die Jäger. Wie gefällt euch diese Rolle? Spürt ihr das Blut in den Adern pulsieren? Hört ihr den rasenden Herzschlag in den Ohren? Ein berauschendes Gefühl, nicht wahr?

Noch einmal sehe ich die Vorwürfe, das namenlose Entsetzen, die moralische Entrüstung und das Erschrecken in euren Blicken, als ihr hinter mein kleines Geheimnis gekommen seid. Niedertracht, Täuschung und Bösartigkeit habt ihr mir vorgeworfen. Ihr, die nun Gleiches mit Gleichem vergelten wollt. Vergessen ist der gefeierte Held. Meine guten Taten zählen nicht mehr. Genugtuung gönne ich euch trotzdem nicht.

Die Morgendämmerung bricht langsam herein. Der alte schwarze Stoff am Fenster scheint nun grau. Ich weiß, was gleich passieren wird und dass bald nur noch ein Haufen Staub von meinem Dasein zeugen wird. Aber im Gegensatz zu mir werdet ihr keine Ruhe finden, denn schon bald werden meine Opfer mein Erbe antreten.

Ich höre euch näher kommen. Die Barrieren geben nach. Doch ihr seid zu spät. Nur eins bleibt mir noch zu tun, bevor ich vor Schmerzen aufbrüllen werde und der Tod mich ein zweites Mal nimmt: Ich verfluche euch!

Unter der Friedhofseiche

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