Читать книгу Im Bann des Schattenwaldes - Heike Rau - Страница 4
Prolog
ОглавлениеDie Menschenmenge stand dicht gedrängt um den Scheiterhaufen. Alle Anwesenden waren neugierig und tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Ein Raunen ging durch die Menge, als die gefesselte Hexe endlich unter schwerer Bewachung aus dem Gefängnis geführt wurde.
„Jetzt gibt es kein Entrinnen mehr!“, schrie eine aufgebrachte Frau. „Du richtest keinen Schaden mehr an!“
Aber Miranda hatte keine Angst, nicht um sich selbst. Sie ließ sich ohne Gegenwehr die schräg angestellte Leiter zum Scheiterhaufen hinauf schieben. Ein Leinensack wurde ihr unsanft über den Kopf gezogen, um die Menge vor ihrem bösen Blick zu schützen. Eilig, als könnte sie noch flüchten, band man sie an den Pfahl, der aus den Holzscheiten ragte.
Der Pfarrer der kleinen Stadt redete ein paar Worte, aber die Menge wurde immer unruhiger. „Nun macht schon!“, schrien die Leute. „Wir wollen die Hexe brennen sehen!“
Der Scharfrichter trat mit einer brennenden Fackel an das aufgeschichtete Holz. Er war zufrieden mit sich. Er hatte Miranda nicht lange foltern müssen. Daumenschrauben hatten genügt, um sie zum Geständnis zu bringen. Er stieß die Fackel in den Holzstoß und bemerkte nicht, wie die ersten Wolken sich zusammenzogen. Als die Scheite anfingen zu brennen, kam ein fürchterlicher Wind auf. Die Menschen sahen sich besorgt um. Ausgerechnet jetzt. Der Sack flog von Mirandas Kopf. Ihre Augen sprühten Funken, als sie zum Himmel schaute. Erschrocken mussten die Zuschauer mit anschauen, wie Miranda ihre Arme zum Himmel hob, als wäre sie nie gefesselt gewesen. „Verflucht seid ihr!“, schrie sie mit donnernder Stimme. Dann schlugen die Flammen, vom Wind angefacht, über ihr zusammen.
Das Unwetter war nicht mehr aufzuhalten. Die Menschen stoben auseinander, als Dachziegel, Unrat, Äste und brennende Holzstücke auf sie niederprasselten.
Nachdem Miranda aus dem Gefängnis geführt worden war, trat eine alte Frau durch die Hintertür des Gefängnisses ein. Eine Verkleidung war überflüssig gewesen, denn sogar die Wärter waren hinausgegangen, um dem Spektakel beizuwohnen. Ein einziger Gefangener hatte sich in seiner Zelle befunden, aber der war eifrig bemüht gewesen, sich an den Gitterstäben seines hoch gelegenen Fensters hinaufzuziehen. Vielleicht könnte er ja sehen, was da draußen vor sich ging. Er hatte also kein Auge für die Frau gehabt, die eilig auf Mirandas Zelle zugesteuert war. Sie hatte ihren Holzeimer abgestellt und begonnen, das modrige Stroh, das als Bettstatt gedient hatte, zu durchwühlen, bis sie das kleine Bündel gefunden hatte.
Miranda hatte das Baby erst vor zwei Tagen geboren. Die ständig betrunkenen Wärter hatten nichts bemerkt. Jammerlaute und Wehgeschrei waren für sie alltäglich. Außerdem mieden sie ohnehin die Nähe der Gefangenen, die als Hexe abgeurteilt waren. Viel, viel schwieriger war es gewesen, die Schwangerschaft vor dem Scharfrichter zu verstecken. Aber da sie in viele Lumpen gewickelt war, hatte er sie nicht nur für schmutzig, sondern auch für fett gehalten. Unter der ersten Folter hatte sie gestanden, sodass der Hexenrichter darauf verzichtet hatte, sie ausziehen zu lassen, um nach Hexenmalen auf ihrer nackten Haut zu suchen.
Das Baby gab keinen Mucks von sich, als wüsste es genau, dass es still zu sein hatte. Die alte Frau legte es in ihren Eimer zu den Putzlumpen und deckte es zu. Dann trat sie wieder ins Freie. Ein Blick nach oben verriet ihr, dass sie sich beeilen musste. Die Wolken zogen sich bereits zusammen.
Sie lief aus der Stadt hinaus. Dorthin, wo die Zirkuswagen auf sie warteten.
„Schnell, schnell!“, rief sie und sprang auf einen der Wagen. „Wir müssen weg, es ist nicht mehr viel Zeit.“
Als sie sich später umsah, stand eine große schwarze Rauchwolke über den Resten der kleinen Stadt. Die Frau lächelte zufrieden und drückte ihre Enkeltochter liebevoll an die Brust.