Читать книгу Deutschpflicht auf dem Schulhof? - Heike Wiese - Страница 7
ОглавлениеEINLEITUNG
Sprache bewegt uns. Im Kontext aktueller bildungspolitischer Debatten liegt darin einerseits eine nicht zu unterschätzende Problematik, andererseits aber auch ein besonderes Potenzial. Um beides, eine oft von Irrationalität geprägte Einstellung gegenüber der Rolle von Sprache in unserer Lebenswelt und Ansätze für das Nachdenken darüber, geht es in diesem Band.
Unsere Art zu sprechen verrät viel über uns, macht uns transparent und daher verletzlich.
Wir geben anhand von Merkmalen, die wir kaum bewusst kontrollieren können, viel von uns preis: regionale und soziale Herkunft, Bildungshintergrund, momentane Stimmung, ablehnende oder positive Einstellungen gegenüber anderen, Hinweise auf unser Selbstbild. Durch unsere Wahl unterschiedlicher sprachlicher Mittel beeinflussen wir andere, begeistern sie, versetzen sie bewusst oder unbewusst in Aufregung, hetzen sie auf oder beruhigen sie, und natürlich verbreiten wir, absichtlich oder in Ermangelung besseren Wissens, auch Irrtümer und Unwahrheiten. Durch die Auf- und Abwertung sprachlicher Praktiken anderer üben diejenigen, die »das Sagen haben«, Macht aus, machen andere »mundtot« und (re-) produzieren Machtverhältnisse. Obwohl wir uns im Zuge des Erwerbs unserer Erstsprachen (und ja, davon können wir gleich mehrere haben, einschließlich dialektaler Varianten!) bemerkenswerte sprachliche Fähigkeiten aneignen, fällt es uns schwer zu erkennen, wie eng unsere Einstellung zu unserem eigenen sprachlichen Repertoire und zu dem anderer mit unseren Wertvorstellungen verknüpft ist und darüber entscheidet, wer zu »uns« gehört und wer nicht.
Sprache wird leicht zu einem Markenzeichen für ein ganzes Sammelsurium von Eigenschaften, die man Menschen zuschreibt, etwa nach Mottos wie »Wer sauber schreibt, denkt auch sauber« oder »Wer Latein kann, kann auch logisch denken« oder »Wer immer Hochdeutsch spricht, ist gebildet«. Dies lässt sich gut anhand raffinierter Experimente nachweisen, z. B. in sogenannten »Matched Guise«-Studien. Zu diesem Zweck erstellt man Tonaufnahmen von Texten, die von unterschiedlichen Personen in verschiedenen Sprachen oder Dialekten vorgelesen werden, und lässt die Lesenden anschließend hinsichtlich bestimmter Merkmale beurteilen: Welche Person klingt intelligent, erfolgreich, liebenswürdig, ehrgeizig etc.? Da diejenigen, die ihre Einschätzungen abgeben, die Vorlesenden nicht sehen können, wissen sie nicht, dass unter den Aufnahmen auch solche sind, die von derselben Person stammen, also von Menschen, die den Text zweimal lesen, sowohl in Sprache/Dialekt A als auch in Sprache/Dialekt B. Aufschlussreich ist nun, wie unterschiedlich dieselben Sprecher*innen beurteilt werden, je nachdem, welches soziale Prestige die betreffenden Sprachen/Dialekte haben. Eine Sprecherin wird also beispielsweise für erfolgreich, intelligent, wohlhabend etc. gehalten, wenn sie Englisch spricht, nicht aber, wenn man sie in einer Sprache mit anderem Status hört. Dieses einfache Experiment sollte uns zu denken geben, denn es zeigt, wie anfällig wir dafür sind, Menschen aufgrund des »Marktwerts« ihrer Sprachen/Dialekte positiv oder negativ einzuschätzen.
Wie wir aus der aktuellen Bildungsforschung wissen, genügt oft schon ein Name oder ein vermuteter »Migrationshintergrund«, um ungeachtet gleicher Leistungen negative Prognosen (z. B. bei Schulempfehlungen) oder schlechtere Noten zu erhalten (vgl. Sprietsma 2009, Wilmes et al. 2011, Bonefeld & Dickhäuser 2018). Die tatsächlichen schulrelevanten Kompetenzen, selbst solche in sprachlichen Fächern, spielen auf einmal nur noch eine nachgeordnete Rolle, wenn sie vorgeprägten Erwartungen widersprechen und sich nicht zur Markierung einer erwarteten Grenze eignen. Wie der Gebrauch einer Sprache bewertet wird, hängt zentral davon ab, welches soziale Prestige Sprachen bzw. ihre Sprecher*innen für uns haben und wie verbunden wir uns ihnen fühlen. Dementsprechend halten wir auch den Wunsch, weitere Sprachen neben dem Deutschen als Familiensprachen zu pflegen, für lobenswert, vernachlässigbar oder sogar bedrohlich.
So zeigen wir uns beeindruckt, wenn an anderen Orten der Welt auch nach Jahrhunderten der Auswanderung noch Deutsch gesprochen wird. Besonders bekannt sind deutsche Sprachinseln in den USA, z. B. in Pennsylvania (vgl. dazu den Dokumentarfilm Hiwwe wie Driwwe) oder in Texas. Über Letztere wurde vor einigen Jahren auf Spiegel Online berichtet (Spiegel Online, 14.4.2008), basierend auf der Forschung des Sprachwissenschaftlers Hans Christian Boas. Das Texas-Deutsche wurde in dem Artikel als deutscher Dialekt beschrieben, der sich im mehrsprachigen Kontext entwickelte und daher auch viele deutsch-englische Mischformen aufweist (z. B. Die haben, you know, Kälber geropet, im Sinne von ›mit einem Seil eingefangen‹). Der Spiegel-Artikel wurde sehr positiv aufgenommen, und viele Leser*innen äußerten sich begeistert über diesen neuen Dialekt des Deutschen.
Vier Jahre später erschien dann auf Spiegel Online noch einmal ein Artikel über einen neuen deutschen Dialekt, der sich ebenfalls im Kontext von Mehrsprachigkeit, allerdings in Deutschland, entwickelt hat: Kiezdeutsch (Spiegel Online, 29.3.2012). In diesem Fall aber war die Reaktion bei Weitem nicht so positiv, und von vielen wurden die Kiezdeutsch-Sprecher*innen und ihre Sprachverwendung sogar vehement kritisiert. Analysiert man diese Reaktionen genauer, zeigt sich, dass es hierbei in erster Linie um ausgrenzende Einstellungen gegenüber den Sprecher*innen geht, die nicht als Teil einer deutschen »Wir«-Gesellschaft akzeptiert werden (Wiese 2018) – obwohl die Kiezdeutsch-Sprecher*innen, anders als die Texaner*innen, in Deutschland geboren und aufgewachsen sind! Bei der Einschätzung von Sprache, gerade (aber nicht nur) im Kontext von Mehrsprachigkeit, lassen wir uns also oft den Blick verstellen durch Stereotype oder Vorurteile gegenüber bestimmten Sprecher*innen oder sozialen Gruppen.
Das Thema des vorliegenden Bandes ist in vielerlei Hinsicht zeitlos. Die von uns angeschnittenen Phänomene und die sich daran entzündenden Kontroversen tauchen immer wieder auf: Mehrsprachigkeit als Risiko für das Individuum und für die Solidargemeinschaft, die Sorge um die Veränderung oder gar Bedrohung alteingesessener Sprachen (als ob sich diese nicht ohnehin kontinuierlich wandeln würden!). Zu den Dauerthemen gehört auch die in bildungspolitischen Debatten regelmäßig wiederkehrende Forderung nach der (Selbst)verpflichtung »Deutsch auf dem Schulhof« oder – auf einem Wahlplakat der österreichischen FPÖ – »Deutsch als Pausensprache«.
Solche Forderungen werden zum einen aufgestellt, weil dies angeblich den für die Schule wichtigen Deutscherwerb befördere. Das Deutsch, das Kinder und Jugendliche auf dem Schulhof verwenden, entspricht jedoch ohnehin nicht den formelleren sprachlichen Varietäten, die sie im Unterricht benötigen (vgl. das Interview mit der Erziehungswissenschaftlerin Ursula Neumann auf www.focus.de vom 18.2.2016). Zum anderen wird eine Deutschpflicht auf dem Schulhof oft damit begründet, dass man dann besser verstehen könne, was Schüler*innen über andere sagen, vor allem »über uns«. Auf dem erwähnten österreichischen Plakat wird Letzteres ganz explizit so formuliert: » … damit du auch verstehst, was über dich geredet wird«. Hier wird suggeriert, dass die Verwendung einer uns unbekannten Sprache etwas Bedrohliches und Verletzendes habe (vgl. dazu İnci Dirim, Sprachverhältnisse in der Migrationsgesellschaft, www.agij-sachsen.de). Aber wäre es denn wirklich in Ordnung und sozial verträglicher, despektierlich über andere zu reden, sofern dies nur auf Deutsch geschieht? Und würde man sich auch dagegen wenden, dass Schüler*innen auf dem Schulhof miteinander flüstern?
Im vorliegenden Band zeigen wir, dass man sich vor dem Miteinander von Sprachen in unserer Gesellschaft und auch in unseren Schulen nicht fürchten muss und dass die Wertschätzung und Nutzung vielerlei sprachlicher Ressourcen Lernprozesse unterstützen kann. Die Beschränkung auf Deutsch im Schulhof und darüber hinaus ist nicht nur nicht zielführend, sie ist überflüssig, diskriminierend und der Lernmotivation abträglich, unter anderem auch, weil sie den Sprachgebrauch vieler Familien und damit die vorhandenen Kompetenzen von Kindern als unerwünscht und unangemessen abwertet, im Unterschied zu den klassischen schulischen Fremdsprachen.
Die ältesten amerikanischen Sprecher*innen des Texas-Deutschen erinnern sich übrigens noch gut daran, dass in ihrer Schulzeit die noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts gesellschaftlich akzeptierten deutschen Schulen in den USA verboten waren und dass Kinder für die Verwendung ihrer Familiensprache Deutsch bestraft wurden. Im »Spiegel« heißt es: »… im Pausenhof redeten wir manchmal heimlich Deutsch, aber wenn wir erwischt wurden, mussten wir Strafaufgaben machen und immer wieder schreiben: ›Ich darf kein Deutsch reden.‹« Wer dies – zu Recht! – für ungerecht und diskriminierend hält, sollte es ebenso bedauerlich finden, wenn in Deutschland Sprachen wie Türkisch oder Arabisch auf dem Schulhof unerwünscht sind oder als bedrohlich empfunden werden, weil man ihre Verwendung als Ausdruck unsolidarischer Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft interpretiert und den Schüler*innen Heimlichtuerei, wenn nicht Bosheit unterstellt.
Vergleicht man unsere Empathie für das Texas-Deutsche in den fernen USA mit unseren Einstellungen gegenüber den mitten in Deutschland gesprochenen Sprachen, so sieht man, wie sehr wir mit zweierlei Maß messen. Diese Art von Doppelmoral beschränkt sich allerdings nicht nur auf Deutschland. So äußerte sich 1976 z. B. der damalige französische Bildungsminister René Haby vor dem französischen Senat kritisch zur Mehrsprachigkeit in Frankreich, befürwortete aber nur wenige Wochen später anlässlich eines Besuchs in Louisiana (USA) den Erhalt des Französischen als Minderheitensprache in den Vereinigten Staaten (vgl. Porsché 1983).
Es ist also ein trauriges Kuriosum unserer Zeit, dass sich Europa einerseits dreisprachige Bürgerinnen und Bürger wünscht (Europäische Kommission 2008) und kulturelle Diversität als gesellschaftlichen Gewinn und Wirtschaftsvorteil preist, während wir andererseits viele der bereits in unseren Schulen sehr lebendigen Sprachen für verzichtbar halten – eine Fehleinschätzung und erstaunliche Verschwendung von Ressourcen!
Bevor Sie als Leser*in nun allzu traurig ob dieser Situationsanalyse werden, sei betont, dass in den letzten Jahren allerdings auch ernsthafte Bemühungen um den Erhalt mehrsprachiger Repertoires zu verzeichnen sind und um die beste Art, allen Kindern und Jugendlichen den Erwerb bildungsrelevanter sprachlicher Kompetenzen zu ermöglichen. Um beide Seiten der Medaille, Hilflosigkeit und Anzeichen des Aufwinds in unserer Gesellschaft und in unseren Bildungseinrichtungen, wird es im Weiteren gehen.