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II

Said

Der Durstige Hai war eine Taverne von vielen, die sich zwischen den Brabaker Baracken und dem Hafen drängten und in denen der Wein gepanscht und die Huren billig waren. Hier traf sich der Bodensatz der Schwarzen Perle, lichtscheue Gestalten, die ihre Dienste für ein paar Kupferstücke feilboten. Gestrandete Existenzen, die ihr jämmerliches Dasein im Reisbrand zu ertränken suchten, ehemalige Sklaven und Tagelöhner, die oft nicht wussten, wovon sie die hungrigen Mäuler zu Hause stopfen sollten, und das wenige Geld lieber versoffen, als schimmligen Reis davon zu kaufen. Dazwischen fand man auch fremde Gesichter, Seeleute aus dem Norden, die die Neugier auf das verruchte Al’Anfa hierhertrieb, oder Questadores mit großen Träumen, aber kaum einem Dirham in den Taschen. Al’Anfa war eine Stadt, die Träume verschlang, und das galt mehr als irgendwo anders für die heruntergekommenen Kaschemmen zwischen Baracken und Hafen, wo dem Rausch viel zu schnell die Ernüchterung folgte.

Gewöhnlich mied Said Spelunken wie den Hai. Nicht, weil er sich vor dem fürchtete, was ihn dort erwartete. Diese Art Furcht hatte ihm Meister Darjin schon vor Jahren ausgetrieben. Die Gestalten, die im Durstigen Hai ein- und ausgingen, witterten, wenn man Angst vor ihnen hatte. Angst verriet Schwäche, und wer schwach war, wurde in dieser Stadt gefressen.

Said war nicht schwach, und wahrscheinlich zählten Meister Darjins Schüler zu den gefährlichsten Raubtieren der Stadt. Doch auch sie mussten sich vor dem Jäger in Acht nehmen, wenn man sie entdeckte, ehe sie zum tödlichen Sprung ansetzen konnten. In einer Kaschemme wie dem Hai lief man ständig Gefahr, sich seiner Haut erwehren zu müssen und dabei unbeabsichtigt mehr von sich preiszugeben, als gut war. Dass Said trotzdem Krüge mit billigem Reisschnaps und Wein durch den rauchverhangenen Schankraum schleppte, war Teil der letzten Prüfung, die ihn frei machen würde. Er arbeitete erst seit einigen Tagen im Durstigen Hai, aber er hatte genug Zeit und Gelegenheit gefunden, sich umzusehen und herauszufinden, dass ihn die Gäste mochten, auf eine Art, wie man hier eben einen jungen Burschen mochte, der ein hübsches Gesicht und ein wenig Mohablut in den Adern hatte.

»He, Süßer!« Eine Seefahrerin, der eine Fieberfäule das halbe Gesicht zerfressen hatte, hob ihren Krug und schwenkte ihn auffordernd. »Schenk uns ein! Geht auf mich, die Runde!«

Johlen begleitete ihre Worte, als die anderen zustimmend ihre Becher auf die zerfurchte Tischplatte donnerten. Es waren raue Gesellen, Schmuggler oder heruntergekommene Freibeuter, die unter der Flagge der Rabenstadt segelten. Der Durstige Hai lag nah genug am Hafen, um den Abschaum der Meere anzuziehen, Männer und Frauen, die nicht viel zu verlieren hatten und ihre Heuer lieber mit schmutzigen Huren und schlechtem Fusel durchbrachten, als sie mit in Efferds Arme zu nehmen. Vermutlich war das der Grund, warum der Wirt ausgerechnet hier eine Taverne unterhielt. Seeleute brachten Neuigkeiten, und es gab kaum einen anderen Ort, wo so viele Nachrichten aus aller Welt zusammenliefen wie in den Kaschemmen am Hafen.

Said nickte, um anzuzeigen, dass er verstanden hatte, und schob sich zwischen den Tischen hindurch zur Theke.

»Wein«, sagte er mit gesenktem Blick, während er die leeren Krüge abstellte. Er vermied es, den Wirt anzusehen, wenn er sprach. Als er im Hai angefangen hatte, hatte er vorgegeben, ein Freigelassener zu sein, der nach dem Tod seines Herrn auf der Straße saß und verzweifelt nach einer Möglichkeit suchte, ein paar Dirham zu verdienen. Der Wirt hatte nicht nachgefragt, aber Said war der Blick nicht entgangen, mit dem ihn der Mann gemessen hatte. Said kannte diese Art Blick. Es war der gleiche, mit dem Nuradjian ihn gelegentlich ansah, wenn er meinte, Meister Darjin bemerke es nicht. Said war es nur recht, wenn der Wirt sich mehr als den Schankdienst erhoffte. Es machte seinen Auftrag leichter.

Der Wirt nickte kaum merklich, und sah an Said vorbei zu dem Tisch mit den Seeleuten. »Halte dich von der Rothaarigen fern«, sagte er mit gesenkter Stimme. »Sie hat ein Auge auf dich geworfen. Denk nicht einmal daran, verstanden? Ich bezahle dich, und du tust, was ich dir sage.«

Said hob den Kopf, um den Blick des Wirts zu erwidern, eine Winzigkeit zu lang. »Natürlich«, sagte er leise. »Ihr bezahlt mich.«

»Vergiss das nicht.« Der Wirt packte die Krüge, um sie aufzufüllen. Wein schwappte über den Rand und lief über seine schwieligen Pranken, als er sie zu Said hinüberschob. »Beeil dich und kümmere dich dann um den Tisch an der Tür. Die brauchen nicht mehr viel.«

Said nickte. Er kannte die Geschäfte des Wirts inzwischen, der daraufsetzte, seine Gäste so betrunken zu machen, dass sie sich nicht einmal an ihren eigenen Namen erinnern konnten und sich nicht beschwerten, wenn er die Zeche kurzerhand selbst aus ihren Geldbeuteln nahm. Immer ein paar Münzen zu viel. Es war ein einträgliches Geschäft, zumal die Stadtwache sich nicht groß darum scherte, was hier unten am Hafen geschah.

Said brachte den Wein zu dem Tisch mit den Seeleuten und schenkte ein, während er sich innerlich sammelte. Das war die Gelegenheit. Wenn er nicht noch weitere Abende im Hai verbringen wollte, musste er die Dinge in die Hand nehmen und den Wirt endlich dazu bringen, etwas zu unternehmen.

»Der Wein«, sagte er überflüssigerweise und streifte dabei wie zufällig den Arm der Matrosin. Ein scheues Lächeln huschte über seine Züge. »Ruft, wenn Ihr noch etwas braucht.«

»Nicht so hastig, Süßer.« Wie erwartet packte die Frau sein Handgelenk. Sie grinste und offenbarte dabei eine Reihe schlechter Vorderzähne. »Du leistest uns doch sicher etwas Gesellschaft, hm? Na los, trink einen mit uns.«

Mit einem Ruck zog sie ihn auf ihren Schoß und legte den Arm um ihn. Die Ausdünstungen ihres ungewaschenen Körpers stiegen Said in die Nase, und für einen winzigen Moment verspürte er das Verlangen, sich loszureißen und der Matrosin mit ihrem eigenen Krug die Kehle aufzuschneiden. Noch vor ein paar Jahren wäre es ihm schwer gefallen, gelassen zu bleiben, und auch jetzt spürte er die Wut, die wie ein wildes Tier in seinem Innern kratzte. Aber er hatte gelernt, das zornige Biest im Zaum zu halten. Er musste diese Rolle spielen, bis er seinen Auftrag zu Ende gebracht hatte. Danach würde alles anders sein.

»Ich muss arbeiten«, wandte er halbherzig ein, aber die Matrosin setzte ihm bereits ihren Becher an die Lippen und zwang ihn, einen Schluck von dem süßen Fusel zu nehmen.

Sie lachte. »Du musst gar nichts, mein Hübscher. Außer uns Gesellschaft leisten. Weißt du, ich hatte noch nie einen Waldmenschen. Das werde ich heute Nacht ändern, hm?« Ihre Hand griff lüstern in seinen Schritt.

Said presste die Kiefer aufeinander, um den Widerwillen hinab zu zwingen, der seine Finger kribbeln ließ. »Ich weiß nicht«, murmelte er, den Blick starr auf die Tischplatte gerichtet, damit die anderen nicht sahen, wie es in seinem Gesicht arbeitete. »Ich darf eigentlich nicht ...«

»Wieso darfst du nicht? Gehörst du etwa dem Wirt?«, fragte ein Nordländer mit roten Wangen und sonnenverbrannter Glatze. »Bist ein Sklave, hö?«

Said schüttelte rasch den Kopf. »Nein, aber ...«

»Natürlich gehört er mir«, grollte die tiefe Stimme des Wirts hinter ihnen. Gewichtig baute er sich vor dem Tisch auf. »Lass ihn los. Er hat zu tun.«

Die Gespräche an den Nachbartischen verebbten, sodass das Lachen der Rothaarigen eigentümlich in die plötzlich einsetzende Stille klang. Ohne jede Eile wandte sie sich dem Wirt zu, der sich vor ihr aufgebaut hatte.

»Hab dich nicht so.« Sie grinste frech, die Hand immer noch in Saids Schritt. »Er sagt, dass er dir nicht gehört, also kann ich ihn haben. Ich mach ihn schon nicht kaputt.«

Die Augen des Wirts verengten sich. Er war nicht groß, vielleicht einen halben Kopf kleiner als die Matrosin, und eher sehnig als muskelbepackt, aber Said wusste, wie sehr der äußere Schein trog. Die Rothaarige ahnte vermutlich nicht einmal, mit wem sie es hier zu tun hatte.

»Du nimmst jetzt die Finger von ihm.« Die Stimme des Wirts klang ruhig, aber es lag eine Kälte darin, die deutlich machte, wie ernst es dem Mann war. »Anschließend trinkt ihr aus und verlasst meinen Laden. Ich will euch hier nicht wiedersehen.«

Die Matrosin wechselte einen kurzen Blick mit ihren Zechkumpanen, offenbar verblüfft, dass der Wirt es wagte, ihnen zu drohen. Ein herausforderndes Grinsen umspielte ihre Lippen, als sie sich ihm wieder zuwandte. »Und wenn nicht?«

Der Mundwinkel des Wirts zuckte kurz. Dann schlug er zu.

Seine Faust traf die Nase der Frau mit einer Wucht, dass sie aufschrie und zurückgeschleudert wurde. Mit lautem Getöse ging sie samt Stuhl zu Boden. Die anderen Zecher sprangen erschrocken auf, und für einen Moment schien die Taverne den Atem anzuhalten.

Der Wirt packte Said und zerrte ihn auf die Füße. »In den Keller«, zischte er und versetzte ihm einen Stoß, der ihn zwischen den Tischen davonstolpern ließ. Aus den Augenwinkeln bemerkte Said, wie sich einige der Gäste langsam erhoben. Einen Herzschlag lang erwog er, sich der Aufforderung zu widersetzen, um im Handgemenge eine Gelegenheit zu finden, seinen Auftrag zu vollenden. Doch er verwarf den Gedanken gleich wieder. Die Gefahr, dass jemand etwas bemerkte, war zu groß. Aber wenn ihn der Wirt in den Keller schickte, würde er früher oder später nachkommen. Und dann wären sie allein.

Flink huschte Said hinter die Theke, von wo aus eine Treppe hinab in die Kellergewölbe führte. Hinter ihm wurden Stimmen laut. Stühle wurden geschoben, aber er zwang sich, nicht zurück zu schauen, während er eilig die dunklen Stufen hinabstieg.

Der Keller war in den Basalt gehauen und deutlich älter als der Rest des Hauses. Vielleicht so alt wie Al’Anfa selbst, denn während Tropenstürme und Brände das Gesicht der Stadt immer wieder veränderten, blieb die Unterwelt über Jahrhunderte davon unberührt. Es hätte Said nicht gewundert, wenn es hier auch irgendwo einen Zugang zum Labyrinth gab, das angeblich die ganze Stadt durchzog. Doch seine Suche war bislang erfolglos geblieben.

In einer Wandnische brannte eine Öllampe, die Said an sich nahm. Gewöhnlich entzündete er eine zweite Lampe an der Flamme, wenn er hier unten zu tun hatte, aber für das, was er vorhatte, war es besser, wenn es so wenig Licht wie möglich gab. Das Flackern des Dochts fing sich an den Fässern, die sich an der Wand reihten und mit schlichten Basaltbrocken am Fortrollen gehindert wurden. Auf der anderen Seite erhob sich ein klappriges Regal, in dem Flaschen mit Reisbrand gestapelt lagen. Die Luft roch abgestanden und muffig, nach altem Holz und saurem Wein. Am Rand des Lichtscheins huschte eine aufgeschreckte Ratte davon und suchte zwischen den Fässern Zuflucht.

Said strich mit der Hand über die Regalbretter, zerrieb den trockenen Staub zwischen den Fingerspitzen, ehe er durch den niedrigen Durchgang in den zweiten Kellerraum ging. Hier lagerten vor allem Gerümpel, kaputte Fässer, die der Wirt irgendwann reparieren wollte, Bretter, leere Säcke und allerlei Vorräte. Reissäcke stapelten sich an einer Wand, daneben großen Amphoren, in denen Oliven und andere Dinge in Öl aufbewahrt wurden. Der Geruch nach geronnenem Blut hing in der Luft, und als Said die Lampe hob, fiel der Lichtschein auf zwei frisch geschlachtete Selemferkel, die an Haken von der Decke baumelten. Auf einem Block daneben steckte ein schweres Schlachtmesser, an dessen Klinge noch Knochenreste und Blut klebten. Eine dicke Schicht Fliegen hatte sich auf dem Fleisch und dem Eimer mit den Eingeweiden niedergelassen, der neben dem Hauklotz stand.

Saids Blick wanderte umher, während er versuchte, sich alles so gut wie möglich einzuprägen. Jede Einzelheit war überlebenswichtig, vor allem im Kampf mit einem überlegenen Feind. Der Wirt war wahrscheinlich der gefährlichste Gegner, mit dem es Said jemals zu tun gehabt hatte. Meister Darjin hatte ihn alles gelehrt, was er über die Hand Borons wissen musste, die berüchtigte Meuchlergilde Al’Anfas. Dennoch spürte Said die Anspannung, die die Hand mit der Lampe zittern ließ. Die Worte des Meisters waren eindeutig gewesen: Said durfte der Hand Borons auf keinen Fall lebendig in die Hände fallen. Wenn er den Keller verließ, war er entweder erfolgreich, oder er starb bei dem Versuch.

Er schloss die Augen und ermahnte sich stumm zur Ruhe. Ein ruhiges Herz und ein beherrschter Geist waren zwei der wichtigsten Aspekte des schnellen Todes. Ein dritter war die Überraschung, der unvorhergesehene Moment, und der musste gelingen. Der Wirt ahnte nicht, was Said in Wirklichkeit war, und das war sein größter Vorteil.

Er kehrte in den Weinkeller zurück und stellte die Öllampe auf einem aufrecht stehenden Fass ab. Noch einmal sah er sich um, während er nach oben lauschte. Es schien alles ruhig, keine Schreie, kein Brüllen oder Krachen von Stühlen und Tischen. Nur das übliche Brummen zahlreicher Stimmen und Schritte auf dem morschen Dielenboden.

Said holte tief Luft, entließ den Atem langsam und bewusst durch die Zähne. Wenn er sich in dem Wirt nicht getäuscht hatte, war es soweit. Die Aufregung, die eben noch seine Brust eng werden ließ, war verschwunden und hatte einer abgeklärten Anspannung Platz gemacht. Der Wirt war nicht der Erste, den er tötete. In den Jahren, die er bei Meister Darjin verbracht hatte, hatte der Maraskaner ihn immer wieder auf die Probe gestellt. Anfangs hatte sich alles in ihm dagegen gesträubt, und als er erstmals ein Leben genommen hatte, hatten ihn wochenlang Alpträume verfolgt. Doch Al’Anfa war eine grausame Herrin, und wer nicht zerbrechen wollte, musste brechen. Also hatte Said gelernt zu töten.

Die Tür zum Schankraum scharrte auf den Holzdielen, schloss sich wieder, und ein leises Klappern zeigte Said an, dass der Riegel vorgeschoben wurde. Seine Nackenhaare stellten sich auf, als die Schritte langsam die Treppe hinabstiegen.

»Du hast heute für einige Unruhe gesorgt.« Die Stimme des Wirts klang ruhig, beinahe erheitert. Er kam die letzten beiden Stufen hinab und trat in den Schein der Öllampe. »Das könnte mich einiges gekostet haben.«

»Haben sie denn nicht bezahlt?« Said machte einen halben Schritt zurück, bis er gegen das Fass stieß. Seine Hand grub sich in den ausgebleichten Stoff seines Hemds, während er dem Blick des Wirts auswich.

»Oh doch.« Der Wirt lachte leise. »Das haben sie. Aber sie haben zwei Stühle und ein Dutzend Becher zerschlagen. Hast du eine Idee, wie du das bezahlen willst?«

Said schüttelte den Kopf, sodass ihm die Haare ins Gesicht fielen. Seine Hand tastete nach dem Rand des Fasses in seinem Rücken. »Nein«, sagte er leise. »Ich habe kein Geld.«

»Das ist wohl das Problem. Und jetzt?« Der Wirt war stehengeblieben, vielleicht noch einen Schritt von ihm entfernt. Said spürte den Blick, der auf ihm ruhte. »Sieh mich an!«

Saids Kopf ruckte hoch, er starrte den Mann an, der ihn eingehend musterte. Der Wirt war nicht schön, aber auch nicht hässlich. Ein gewöhnliches Gesicht, das man rasch wieder vergaß, durchschnittlich und unauffällig. Wenn man es nicht wusste, würde man hinter diesem unscheinbaren Mann niemals einen gefährlichen Meuchelmörder vermuten.

Ein süffisantes Grinsen umschlich die Züge des Wirts. »Ich wüsste, wie du den Schaden wiedergutmachen kannst«, sagte er und senkte die Stimme. »Du bist ein hübscher Bursche, weißt du? Eigentlich viel zu hübsch, um Weinkrüge zu schleppen.« Er überbrückte den verbliebenen Raum zwischen ihnen mit einem Schritt. Said hielt die Luft an, als er den sehnigen Körper des Wirts so dicht an sich spürte, die Hand, die sich nachdrücklich an seinen Hintern schob.

»Dreh dich um«, flüsterte der Wirt rau an seinem Ohr. Er bleckte die Zähne zu einem raubtierhaften Grinsen. »Sag nicht, dass du das für deinen früheren Herrn nicht gemacht hast.«

Said presste die Kiefer aufeinander, drehte sich aber gehorsam um. Seine linke Hand suchte Halt am Rand des Fasses, während er mit der anderen damit begann, seinen Gürtel zu lösen.

Der Wirt lachte leise. »Ich sehe, du bist gut abgerichtet. Dann habe ich mich also nicht getäuscht. Leg dich über das Fass!« Ehe Said reagieren konnte, packte der Wirt ihn am Nacken und drückte ihn grob nach unten. Mit der anderen Hand zerrte er die Hose ein Stück herunter und drängte Saids Beine auseinander. Dann machte er sich an seiner eigenen Kleidung zu schaffen. »Halt still, dann wird es dir vielleicht auch gefallen«, keuchte er.

Said schloss die Augen, während seine Hand zum Stiefel wanderte, wo die Nadel im Schaft verborgen war. Sein Herzschlag beruhigte sich in dem Moment, als er den kalten Griff des Dolchs an seinen Fingern spürte.

Eins. Der verschwitzte Körper des Wirts drängte gegen ihn, gierige Lippen küssten seinen Rücken, seinen Nacken.

Zwei. Schwielige Finger griffen zwischen seine Beine, hart und fordernd, dann richtete sich der Wirt noch einmal auf, um sich in Position zu bringen.

Drei.

Die Augen des Wirts weiteten sich, als Said unter ihm herumfuhr und die Nadel vorzuckte. Doch im nächsten Moment wusste Said, dass er seinen Gegner unterschätzt hatte. Der Wirt warf sich zur Seite, sodass die Vierkantklinge nicht wie geplant die Kehle durchbohrte, sondern nur die Schulter streifte. Mit einem wütenden Aufschrei prallte der Mann zurück, machte einen Satz nach hinten, ohne dabei über seine heruntergelassene Hose zu fallen, und zerrte etwas unter seinem Hemd hervor.

Said stieß einen stummen Fluch aus und schlug die Öllampe zur Seite. Mit einem hässlichen Geräusch krachte sie auf den Basaltboden und erlosch. Schwärze umfing sie.

Hastig rollte er sich zur Seite und zog noch in der Bewegung die Hose hoch. Keinen Moment zu früh, denn im selben Moment schlug etwas hart auf das Fass ein, genau an der Stelle, wo er gerade noch gehockt hatte.

Mit einer schnellen Bewegung brachte sich Said außer Reichweite und zog den Gürtel wieder zu. Atemlos lauschte er in die Dunkelheit. Nun war das Überraschungsmoment vorbei, und sie waren beide Jäger und Gejagte. Der Gedanke ließ seinen Nacken kribbeln.

»So ist das also.« Die Stimme des Wirts klang erheitert, fast als freue er sich über einen gelungenen Scherz. »Du kleine, miese Made. Du hast wohl gedacht, leichtes Spiel mit mir zu haben, wie? Dann komm und bring es zu Ende.«

Said verharrte regungslos, hielt den Atem an, während er auszumachen versuchte, wo sich sein Gegner befand. Doch die Dunkelheit und der Widerhall in den engen Räumen machte die Orientierung nahezu unmöglich.

Schritte klangen auf dem harten Steinboden, hielten inne.

»Du meinst, du könntest dich vor mir verstecken?« Ein abfälliger Laut. »Glaubst du wirklich, du könntest mich in meinem eigenen Bau besiegen?« Langsam setzten sich die Schritte wieder in Bewegung, hallten von den Basaltwänden wider, schienen von überall zu kommen. »Ich weiß nicht, wer dich geschickt hat, aber es wäre gut, wenn du es mir sagst, bevor ich dich töte. Damit ich ihm deinen Kopf schicken kann.«

Saids Finger schlossen sich fester um den Griff seines Dolchs. Sein Herz raste, dass er meinte, der Meuchler müsste es in der Stille des finsteren Kellers sicher hören. Er wusste, schon der zweite Versuch würde viel schwieriger werden als der erste. Und einen dritten würde ihm ein Agent der Hand Borons mit Sicherheit nicht gewähren.

Er spürte die Bewegung mehr, als dass er sie sah. Im letzten Augenblick fuhr er zur Seite, spürte einen scharfen Schmerz an der Schulter. Ein erstickter Fluch ertönte, als die Klinge abglitt und an die Wand schlug. Funken sprühten, und für die Dauer eines Herzschlags hatte Said eine Ahnung, wo sich sein Gegner befand.

Doch er saß wie gelähmt, und der Moment ging vorüber, und Said erwachte erst aus seiner Starre, als er vor sich den Dolch durch die Luft zischen hörte. Mit einem erschrockenen Satz tauchte er zur Seite, rollte sich ab und spürte mit einem Mal die warme Basaltwand in seinem Rücken. Seine Kehle war wie zugeschnürt, während er sich innerlich verfluchte, dass er die Gelegenheit hatte verstreichen lassen. Seine Hand tastete nach der Verletzung an der Schulter. Ein kleiner Schnitt, nicht viel mehr, aber er sandte ein Stoßgebet zu Boron, dass der Wirt keine Gelegenheit gefunden hätte, die Klinge zu vergiften. Sonst wäre die Jagd schneller beendet als ihm lieb war.

Er fuhr zusammen, als er vor sich ein Geräusch hörte, und sprang zur Seite. Mit dem Knie stieß er gegen etwas Hartes, Holz und dazwischen ein Tau, eine Kiste und etwas Längliches. Er musste in den Nebenraum gelangt sein, ohne dass er es bemerkt hatte. Hier könnte er sich vielleicht verstecken und auf eine Gelegenheit warten, dass dem Wirt ein Fehler unterlief.

Lautlos kam er auf die Füße und lauschte in die Dunkelheit. Um ihn herum herrschte bleierne Stille. Wie in einem Grab, ging ihm durch den Kopf, aber er schüttelte den Gedanken gleich wieder ab. Er hatte noch zu viel vor, um hier zu sterben. Und vor allem hatte er ein Ziel.

Vorsichtig bewegte er sich in die Richtung, in der er den Haufen mit den beschädigten Kisten vermutete, langsam und nach jeder Bewegung innehaltend. So fiel er auch nicht über den umgekippten Stuhl, der mitten im Raum lag und an den er nicht mehr gedacht hatte. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass das Holz über den Basaltboden schabte. Ein winziges Stück nur, aber das Geräusch zerriss die Stille wie Trommeln in der Arena.

Said fuhr herum, als hinter ihm ein Licht aufflammte. Für einen Moment starrte er auf die Lichtkugel, die auf ihn zuflog. Dann hechtete er zur Seite.

Noch ehe er aufkam, zischte etwas an seinem Ohr vorbei. Schwer prallte er gegen eine Kiste, die Nadel entglitt seinen Fingern und fiel mit leisem Klappern zur Seite zwischen die Trümmer. Said wusste, dass er sie verloren hatte, noch ehe sie zum Liegen kam. Hastig brachte er sich außerhalb der Reichweite des Lichts, das von einer kleinen Kugel ausging, dort, wo er gerade noch gestanden hatte. Ein magisches Licht, wie es schien, und auch, wenn es kaum mehr als zwei Schritt der Umgebung ausleuchtete, nahm es der Dunkelheit den schützenden Mantel.

»Wollen wir dieses Spiel nicht langsam beenden?« Die Stimme des Wirts klang spöttisch von einer Stelle außerhalb des Lichtkegels. »Ich werde dich sowieso finden. Und dann werde ich dich nehmen und anschließend töten.« Seine Schritte klangen dumpf auf dem Basaltboden. »Komm heraus, dann werde ich mir vielleicht überlegen, es schnell und schmerzlos tun.«

Said kauerte sich hinter einem Fass zusammen, wagte kaum zu atmen, während er spürte, wie Panik ihre tückischen Klauen um seinen Hals legte. Wie konnte er nur seine einzige Waffe verlieren? Wenn der Wirt ihn jetzt fand, hatte er nichts, was er ihm entgegensetzen konnte.

Er schloss die Augen und versuchte, sein rasendes Herz zur Ruhe zu zwingen. Er musste atmen, sein Gleichgewicht wiederfinden. Panik war der falsche Weg. Sie machte kopflos, ließ vergessen, was zu tun war. Er musste ruhig bleiben, nachdenken. Seinen Verstand gebrauchen und sich seiner Stärken besinnen.

Said spürte, wie die Luft durch seine Lungen zog, seine Gedanken langsam klärte. Es war seine letzte Prüfung, also musste er sich darauf besinnen, was er gelernt hatte. Eine Klinge war dann am gefährlichsten, wenn sie mit kalter Ruhe geführt wurde. Doch der Zweite Finger Tsas brauchte keine Klinge, um zu töten. In kundigen Händen war jeder Gegenstand ein geeignetes Werkzeug, und nur der Narr setzte sein Gedeih und Verderben auf eine Karte.

Said öffnete die Augen, starrte in die vom Licht der Kugel aufgewühlte Dunkelheit, während er sich daran zu erinnern versuchte, was er sich vorhin erst eingeprägt hatte. Jeden Winkel des Raumes rief er sich ins Gedächtnis zurück, bis er wusste, was er zu tun hatte.

Sein Körper spannte sich, während er nach dem Meuchler lauschte. Das Licht war weit genug entfernt, dass es seinen Winkel nicht erreichte, aber es half ihm, die Richtung abzuschätzen. Er hatte einen Versuch. Seine letzte Prüfung.

Mit einem Hechtsprung setzte er über das Fass hinweg, rollte sich auf der anderen Seite ab und kam zwischen zwei Kisten wieder auf die Beine. Noch in der Bewegung warf er sich zur Seite. Keinen Augenblick zu früh, denn im gleichen Moment krachte die Faust mit dem Dolch dorthin, wo eben noch sein Brustkorb gewesen war. Said ließ sich fallen und versuchte, seinem Gegner mit einem gezielten Tritt die Beine wegzufegen. Er trat ins Leere, aber der Fluch und das Poltern verrieten ihm, dass der Wirt beim Zurückweichen gestolpert sein musste.

Das war die Zeit, die Said brauchte. Mit einigen wenigen Sätzen war er an dem Hauklotz mit den Schweinegedärmen. Zielsicher griff er den Eimer mit den stinkenden Innereien und schleuderte herum, gerade rechtzeitig, um vor dem Licht der magischen Kugel die Gestalt auszumachen, die auf ihn zustürmte. Der Bottich traf den Meuchler am Kopf, Gedärm platzte auf und spritzte umher. Erschrocken prallte der Wirt zurück, fuhr sich mit einem Arm über das Gesicht, um die glibberigen Innereien wegzuwischen.

Es waren nur ein, vielleicht zwei Herzschläge, aber Said wusste, was er tun musste. Noch während der Eimer ganz in der Luft war, riss er das Schlachtmesser aus dem Block. »Begegne der Schwester«, zischte er und schlug zu.

Die Klinge glitt überraschend geschmeidig in die Kehle des Wirts, und erst, als Said sie mit einem Ruck zur Seite zog, spritzte das warme Blut hervor. Selbst im Halbdunkel konnte er den Unglauben erkennen, der sich auf dem Gesicht des Meuchlers ausbreitete. Ein röchelnder Laut versuchte, sich einen Weg durch die Kehle zu bahnen, doch es war nur Blut, das über seine Lippen trat. Dann sackte er auf die Knie, kippte langsam zur Seite und blieb schließlich regungslos liegen.

Said schloss die Augen, während er im Stillen Boron dankte. Bis zuletzt hatte der Agent der Hand ihn unterschätzt, und das war sein Todesurteil gewesen.

Er schlug ein Boronsrad über der Leiche und ging dann zu dem Licht hinüber, um es aufzunehmen. Neugierig betrachtete er die silberne Kugel, die aus zahllosen Poren heraus leuchtete. Er verstand leider viel zu wenig von Magie, um zu verstehen, wie sie wirkte, aber so etwas war praktisch. Vielleicht würde es ihm eines Tages auch möglich sein, sich ein solches Artefakt anfertigen zu lassen.

Er trug es wie eine Lampe vor sich her, während er zwischen dem Gerümpel nach der Nadel suchte. Als er schließlich das Auge des Wirts aus dem Schädel löste, flackerte das Licht bereits und erlosch kurz darauf.

Vorsichtig tastete Said sich zurück zur Treppe, die zum Schankraum führte, aber er stieg nicht hinauf, sondern klaubte das Zunderkästchen aus der Nische im Fels, um eine zweite Öllampe zu entzünden. Dann suchte er einige Flaschen Reisbrand aus den Regalen und leerte sie über der Leiche und im hinteren Raum aus. Die Zecher oben im Schankraum hatten oft geprahlt, der Brand aus dem Durstigen Hai stelle jedes Drachenfeuer in den Schatten. Als die Öllampe fiel, zeigte sich, dass sie recht hatten.

***

Die Brabaker Baracken waren eng, und sie stanken. Marode Mietskasernen boten hier all jenen ein Zuhause, die es sich nicht leisten konnten, in die höher gelegenen Viertel zu ziehen. Leinen mit zerschlissener Wäsche überspannten die Straßen, manchmal so tief, dass man sich bücken musste, um darunter hinweg zu tauchen. Selemferkel und halbnackte Kinder wühlten im Schlamm, Bettler hockten im Schatten und reckten ihre Schalen den Vorbeieilenden entgegen. Der Gestank von Unrat und billigem Rauschkraut hing in der Luft, deren schwüle Hitze das Atmen schwermachte. Hier hatte sich all das Treibgut gesammelt, das im Laufe von Jahrzehnten und Jahrhunderten in Al’Anfas Hafen angeschwemmt worden war. Ein Teil davon waren die Maraskaner, die von ihrer Insel geflohen waren und seitdem im Exil ausharrten. Sie gehörten zum Bild der Brabaker Baracken wie der Rabenfelsen zum Silberberg – bunt gekleidete Gestalten, die selbst im ärgsten Schmutz die Schönheit der Welt priesen und beiläufig den Besen zückten, um Rurs Schöpfung vom Dung eines Selemferkels zu befreien. Hier lag auch der Tempel der Zwillingsgötter Rur und Gror, und hier befand sich jenes Haus, in dem Said bald die Hälfte seines Lebens verbracht hatte, seit sein Vater ihn in Meister Darjins Obhut übergeben hatte.

Ein sternenklarer Nachthimmel stand über der Stadt, als Said den Hai verließ und sich auf den Rückweg machte. Er hatte die Spelunke unbemerkt durch ein Hinterfenster verlassen, während sich das Feuer hinter ihm langsam durch die Dielen des Schankraums fraß. Wenn er Glück hatte, reichte der Brand aus, um zu verschleiern, was geschehen war. Wenn nicht, würde die Hand Rache nehmen, doch darüber mochte er jetzt nicht nachdenken. Niemand wusste, wer er war, und er hatte nichts zurückgelassen, was ihn oder Meister Darjin verraten konnte. Dafür hatte er das Auge in der Tasche, das ihn endlich frei machen würde.

Öllampen brannten hinter den Fenstern der Mietskasernen und warfen ihr schummriges Licht hinaus auf die Gassen, als er schließlich in die Baracken eintauchte. Aus einer Taverne tönte lautes Lachen und Johlen, vom Hafen her klangen die Peitschenhiebe der Vorarbeiter, die die Lastsklaven zur nächtlichen Arbeit antrieben. Said zog den Mantel tiefer ins Gesicht, während er den stinkenden Pfützen auswich, die der nächste Regen ins Meer spülen würde. In den Baracken fragte niemand nach dem Woher und Wohin, und dennoch hatte er es sich angewöhnt, Betrunkenen und anderen Nachtschwärmern aus dem Weg zu gehen. Unauffälligkeit war seine wichtigste Waffe, und wenn er schon kein Allerweltsgesicht hatte wie der unglückliche Agent der Hand, so musste er umso mehr achtgeben, nicht unnötig aufzufallen.

Billige Huren und eine Handvoll betrunkener Gaukler hatten sich auf dem Platz vor dem Tempel eingefunden und krakeelten trunken in die Nacht, als Said sich an ihnen vorbeischob und in einer der dunklen Seitengassen verschwand. Meister Darjin lebte im Hinterhaus einer alten Mietskaserne, die fast ausschließlich von Maraskanern bewohnt war. Die meisten waren miteinander auf irgendeine Weise verwandt, auch wenn Said bald aufgegeben hatte, die Beziehungen nachvollziehen zu wollen. Die Verbundenheit unter den Exilanten sorgte jedoch dafür, dass nichts von dem, was im Hinterhaus geschah, nach außen drang. Das war auch gut so, denn Meister Darjin gehörte einst zur Bruderschaft vom Zweiten Finger Tsas, jener maraskanischen Meuchlergilde, die die Hand Borons in ihrer Stadt mit Stumpf und Stiel ausgerottet zu haben glaubte. Said wusste nicht, was damals genau geschehen war, aber er war sich sicher, dass die Hand nicht zögern würde, auch die letzte Saat zu vernichten, sollte sie von ihr erfahren.

Said durchquerte den düsteren Innenhof und stieg die hölzernen Stufen empor, die an der Außenwand des Gebäudes angebracht waren. Vereinzelt drang Licht aus den Fensteröffnungen, die wegen der mittäglichen Hitze kaum breiter waren als ein Spann. Oben angekommen verharrte er kurz und lauschte hinab in den Hof, ehe er zwei Mal klopfte und die Tür einen Spalt weit aufschob, um hineinzuschlüpfen.

Drinnen empfing ihn das Licht einer einzelnen Öllampe, die den Raum nur spärlich ausleuchtete. Entlang der Wände hatte man eine schmale Bank angebracht und davor einige Sitzkissen. Zerschlissene Vorhänge versperrten den Blick auf die angrenzenden Räume, aus denen das Gemurmel mehrerer Stimmen drang. Der Geruch nach gewürztem Reis, Konchsoße und Ingrim hing in der Luft wie ein schweres Parfüm, ein vertrauter Geruch über die Jahre, die er in diesem Haus verbracht hatte.

»Saidjian.« Rureschas dunkle Stimme erklang hinter einem der Vorhänge, der im nächsten Moment zur Seite geschoben wurde. Ein Lächeln lag auf ihren herben Zügen, als sie hindurchtrat und ihn einen Moment lang musterte. »Nuradjian hatte Zweifel, dass du es schaffen würdest. Aber ich sehe, du hast die Beute mitgebracht.«

Said warf einen Blick auf den Beutel an seinem Gürtel. »Du hast doch hoffentlich nicht daran gezweifelt?«, fragte er und hob einen Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. »Ich habe dir etwas versprochen. Du weißt, dass ich Wort halte.«

»Ich weiß. Und Meister Darjin weiß es auch. Nur Nuradjian, dieser dumme Schazak, nicht.« Rureschas Lächeln vertiefte sich, als sie auf ihn zutrat, und zauberte kleine Grübchen in ihre Wangen. »Ich könnte nie an dir zweifeln«, raunte sie an seinem Ohr und legte die Hand an seine Wange, um ihn im nächsten Moment innig zu küssen.

Said zog sie an sich heran, während er den Kuss ebenso stürmisch erwiderte. Die junge Maraskanerin teilte seit einem guten Jahr sein Lager, und auch, wenn sie nie darüber gesprochen hatten, spürte Said, dass es ihr mehr bedeutete als flüchtiges Vergnügen oder der Wunsch, nicht allein zu sein.

»Ich freue mich, dass ich dich überzeugen konnte«, flüsterte er atemlos an ihren Lippen, nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten. »Ist Meister Darjin da? Ich sollte ihn nicht warten lassen.«

Rurescha nickte. Ihre Hand ruhte noch einen Moment auf seiner Wange, ehe sie sie sinken ließ. Sie wies mit einer Kopfbewegung auf den Durchlass gegenüber der Eingangstür. »Die hohen Geschwister waren vorhin bei ihm, aber nun ist er alleine.« Ein wissendes Lächeln strich über ihr Gesicht. »Er wird erfreut sein.«

Das hoffte Said. Es war schließlich Meister Darjins Rache, die er verübt hatte. Der Agent der Hand hatte vor vielen Jahren Darjins rechtes Auge genommen, und dafür musste er bezahlen. Ein Auge für ein Auge, um die Dinge wieder ins Gleichgewicht zu bringen und die Schönheit der Welt zu wahren. Nur der Tod des Wirts passte nicht ins Bild, aber Said hatte diese Disharmonie bereitwillig in Kauf genommen. Er war kein Maraskaner, und auch, wenn er im Laufe der Jahre viel über die Philosophie und das Wesen seiner Umgebung gelernt hatte, drehte sich die Welt für ihn auch dann weiter, wenn sie einmal nicht im Gleichgewicht war.

Der angrenzende Raum war eine niedrige Halle mit Dachgebälk und einigen aranischen Wänden aus Holz oder Flechtwerk, die einzelne Bereiche abtrennten. Das Haus war früher einmal in viele, kleine Verschläge unterteilt gewesen, die für wenige Oreal an jene Verzweifelte vermietet wurden, die froh waren, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Die Maraskaner hatten es ihren Bedürfnissen angepasst und die Räume erweitert, um sie je nach Bedarf zu unterteilen. Bis zu dreißig Menschen lebten hier, aber im Gegensatz zu der drückenden Enge der Mietskasernen gelang es ihnen, das Zusammenleben harmonisch zu gestalten. Während tagsüber unentwegt Leute kamen und gingen und ein stetes Surren und Brummen der Stimmen so allgegenwärtig war, dass man es kaum noch wahrnahm, war es jetzt am späten Abend ruhig geworden. Auf einer Palmmatte saß eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern auf dem Schoß. Sie schaute auf, als Said eintrat, und lächelte kurz, fuhr dann aber fort, in einem hölzernen Mörser Gewürze zu zerreiben. Ihr gegenüber hockte ein hagerer Mann, der an einem Stück Treibholz schnitzte. Sein Blick heftete sich einen Moment lang an Saids Gesicht, ehe er kaum merklich nickte.

Said erwiderte den Gruß des Wächters mit einer angedeuteten Kopfbewegung und trat an ihm vorbei zu der Wand, die den hinteren Bereich abtrennte.

Meister Darjins Reich war das Herz des Hinterhauses, jener Ort, wo man zusammenkam und wo man Hilfe und Rat fand, wenn man danach suchte. Es gab kaum Möbel, nur zwei niedrige Tische und eine Unzahl an Sitzkissen. Der alte Maraskaner saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem der zerschlissenen Kissen, dessen Farben im Laufe der Jahre ihre Leuchtkraft eingebüßt hatten. Sein Gesicht war eingefallen, sodass Wangenknochen und Kinn spitz hervorstanden. Die Haare waren an den Schläfen bereits ergraut und am Hinterkopf hochgebunden, den schütteren Bart hatte er in dürre Zöpfe geflochten. Eine Stoffbinde verbarg die leere Augenhöhle, während das andere Auge Said wach und aufmerksam entgegenblickte. Er war nicht allein, zu seinen Füßen kauerte das blutjunge Mädchen, das er erst kürzlich zur Frau genommen hatte, und neben ihm hockte Nuradjian, der Said neugierig entgegensah.

Meister Darjin wartete, bis Said sich ehrerbietig verbeugt hatte. Erst dann wies er auf eins der Kissen. »Du lebst, also warst du erfolgreich.« Es war keine Frage, lediglich eine Feststellung. »Du hast mir gebracht, worum ich dich gebeten habe?«

Said nickte und löste den Beutel vom Gürtel, um ihn vor dem alten Meister abzulegen. Dann ließ er sich nieder, die Beine untergeschlagen. »Er ist der Schwester entgegengetreten.«

»In aller Stille, hoffe ich?« Darjin hob fragend die schütteren Brauen, zog dann aber den Beutel zu sich heran und öffnete ihn. Ein zufriedener Zug glitt über sein Gesicht, ehe er ihn wieder sorgsam verschloss und zur Seite legte. »Preiset die Schönheit der Welt, der du das Gleichgewicht zurückgegeben hast. Ich bin zufrieden mit dir, Said. Sehr zufrieden.«

Said nickte erneut. Seine Mundwinkel zuckten, als er vergeblich versuchte, das stolze Grinsen zu unterdrücken. »Ich freue mich, dass ich Eure Erwartungen erfüllen konnte, Meister Darjin.«

»Mehr als das.« Der alte Maraskaner legte die Handflächen auf die untergeschlagenen Knie, als er den Blick seines wachen Auges wieder auf Saids Gesicht richtete. »Als dein Herr und Vater dich zu mir brachte, war es ein Gefallen, den ich ihm schuldete. Er kam zu mir, weil einige meinten, dass Bande zum Silberberg wertvoll für uns seien. Er wusste, was ich war, ehe die Hand uns jagte und vernichtete, und dennoch verriet er uns nicht. Deshalb habe ich ihm vertraut und dich zu mir aufgenommen. Zwölf Jahre bist du nun bei uns, zwei Mal vier und zwei Mal zwei Jahre. Du hast dich in allen Prüfungen bewiesen, die ich dir aufgetragen habe. Nun hast du den Kreis geschlossen, den die Hand vor vielen Jahren aufgerissen hat.« Sein Blick wanderte zu dem Beutel, ehe er zu Said zurückkehrte. »Es war die letzte aller Prüfungen. Ich habe dir alles beigebracht, was ich weiß. Daher entlasse ich dich nun als ehrbares Mitglied der Bruderschaft und verneige mich vor dir, Said mein Schüler.« Er bewegte den Oberkörper feierlich vor und verharrte einen Moment lang in der Verbeugung. »Deine Reise ist damit vollendet, aber jedes Ende ist nur der Beginn von etwas Neuem. Ruhe nun. Morgen werden wir über deine Abreise sprechen.«

Das Lächeln, das sich gerade noch mit jedem Wort mehr auf Saids Gesicht ausgebreitet hatte, erstarrte. Er blinzelte irritiert. »Abreise? Aber ...«

»Du wirst die Stadt verlassen.« Meister Darjin blickte freundlich, als habe er Saids Erschrecken nicht bemerkt. »In zwei Tagen fährt ein Schiff nach Khunchom. Ich werde dir eine Nachricht an den dortigen Ast des Zweiten Fingers mitgeben. Du wirst von unseren Mühen berichten und davon, dass es mir gelungen ist, Schüler zu unterweisen und einen neuen Ast zu begründen, der grünen wird und stark ist und nicht noch einmal abgeschnitten wird wie ein Blatt vom Stamme eines Axorda-Baumes.«

»Aber ...«, begann Said wieder, räusperte sich dann, um sich zu sammeln. Das durfte nicht sein. Er hatte in den letzten Jahren auf diesen Tag hingearbeitet, um endlich frei zu sein und sein Erbe anzutreten. Es war kein leichtes Erbe als Bastard eines Verräters, aber er war trotz allem der Sohn eines Granden. Der einzige, den sein Vater jemals anerkannt hatte. »Ich kann nicht gehen«, sagte er bestimmt. Erleichtert stellte er fest, dass seine Stimme ihm gehorchte. »Ihr habt selbst gesagt, meine Reise sei vollendet. Ihr habt mich entlassen. Damit kann ich selbst entscheiden, wohin mein Weg mich führt. Ich habe eine Aufgabe, die hier auf mich wartet.«

Meister Darjin lächelte mild. »Das Einzige, was in Al’Anfa auf dich wartet, sind die Dolche der Hand Borons, die dich jagen wird.«

»Und wenn schon.« Said machte eine abwehrende Geste. »Es gab kurz vorher einen Streit in der Taverne. Wahrscheinlich machen sie irgendwelche Seeleute für den Brand verantwortlich. Niemand wird glauben, dass ein verschreckter Schankbursche so etwas tun könnte.«

»Hochmut.« Meister Darjin hob tadelnd den Finger. »Begehe nicht den Fehler, die Hand zu unterschätzen. Das haben wir bereits einmal getan, und wenn auch kein Ding allein dastehen sollte, ist der Irrtum eine Ausnahme. Du wirst nach Khunchom gehen und meine Nachricht überbringen. Vielleicht wirst du eine Weile unter ihnen leben. Du bist zwar ein Fremdijin, aber du bist auch mein Schüler, und das macht dich zu einem von uns.«

Said starrte ihn an, einen langen Herzschlag lang. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich kann nicht gehen. Ihr sagt es selbst, ich bin ein Fremdijin, kein Maraskaner. Ich stamme von hier, aus Al’Anfa. Ich habe keine Verpflichtung mehr Euch gegenüber. Alles, was es gab, habt Ihr mit meinem Vater ausgemacht, und das ist nun abgegolten. Lasst mich gehen.«

»Nein.« Noch immer ruhte dieses freundliche Lächeln auf Meister Darjins Gesicht, aber es wirkte mit einem Mal entschlossen und gleichzeitig bedauernd. »Als dein Vater zu uns kam, übergab er uns nicht nur seinen Sohn, sondern auch einen Sklaven. Dein Vater ist tot, und daher bin ich es, der nun die Fürsorge für dich trägt. Du gehörst mir, wie du zuvor deinem Vater gehörtest. Du warst ein Sklave, und es gibt keinen Grund, warum du jetzt kein Sklave mehr sein solltest. Niemand hat dich freigelassen, törichter Bursche. Und deshalb wirst du mir gehorchen und in zwei Tagen abreisen. Das ist mein letztes Wort.«

Es dauerte einen Moment, bis Darjins Worte ihren Weg in Saids Geist gefunden hatten, aber noch immer weigerte er sich zu glauben, was er gehört hatte. Seine Hände zitterten, während er sich zur Ruhe zwang und beschwor, sitzen zu bleiben. Die Rache hatte er hingenommen, im Grunde auch verstanden, auch wenn es ihm schwergefallen war, sie mit den Lehren des alten Meisters in Einklang zu bringen. Aber er hatte niemals erwartet, dass Darjin ihm auf diese Weise seinen Willen aufzwingen würde. Maraskaner waren stolz auf ihre Freiheit und nicht bereit, das Joch zu tragen, das ihnen erst die Garether und später die Dämonenbuhlen aufzwingen wollten. Dass ausgerechnet Meister Darjin das Sklavenband erneuerte, riss etwas in ihm auf und hinterließ ein dumpfes Gefühl der Enttäuschung. Kalte Wut, die er lange unterdrückt hatte, drängte jetzt umso schmerzhafter in seinem Inneren empor. Er hatte geglaubt, unter den Maraskanern etwas anderes zu sein als der Sohn einer Mohasklavin, der zwar anerkannt, aber nie akzeptiert worden war. Ein Sklave am lockeren Zügel, aber trotz allem ein Sklave.

»Ich habe verstanden«, sagte Said und senkte den Kopf, um Darjins Blick auszuweichen. Er wollte nicht, dass der Meister in ihm las wie in einem offenen Buch. Er sah immer noch auf die Strohmatten, die den Boden bedeckten, als er sich erhob. Seine Worte klangen seltsam hohl in seinen Ohren, als er wieder zu sprechen anhob. »Erlaubt, dass ich mich zurückziehe. Ich bin müde.«

»Geh nur.« Meister Darjin machte eine freundliche Geste mit der Hand, um ihn zu entlassen. »Du wirst morgen noch einige Besorgungen erledigen, ehe du aufbrichst. Ruhe dich aus, mein Junge. Rurescha ist erfreut, dass du wieder bei ihr bist. Aber höre.« Er hob den knochigen Finger. »Solltest du daran denken zu fliehen oder dich mir zu entziehen, werde ich Nuradjian anweisen, dich zu töten. Dies wird er auch tun, sollte er den Eindruck gewinnen, dass es notwendig ist.«

»Es wird nicht notwendig sein«, antwortete Said leise. Er neigte den Kopf und drehte sich um, ohne den alten Maraskaner noch einmal anzusehen. Er sollte sich ausruhen, aber nicht, um sich auf die Reise vorzubereiten. Stattdessen würde er darüber nachdenken, was er tun sollte.

DSA: Rabenerbe

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