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1. Einleitung

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Was ist Wirklichkeit? Diese Frage ist eine der wichtigsten und spannendsten Fragen in vielen Wissenschaftsdisziplinen, auch in den Neurowissenschaften. In den Neurowissenschaften werden interdisziplinär mit physikalischen, biochemischen und psychologischen Methoden die Grundlagen von Wahrnehmungsprozessen untersucht, beginnend bei den Sinnesorganen bis hin zu höheren neuronalen Verarbeitungsprozessen und schließlich der bewussten Wahrnehmung. Zur Klärung der Frage „Was ist Wirklichkeit?“ interagieren die Neurowissenschaften nicht nur intensiv mit naturwissenschaftlichen Disziplinen, wie vor allem der Biologie, Chemie und Physik, sondern in den letzten Jahren auch vermehrt mit den geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Dabei bieten die Neurowissenschaften im Vergleich zu den Geisteswissenschaften den großen Vorteil, dass viele ungelöste Fragen und Probleme im Allgemeinen experimentell zugänglich sind und mit den o. g. Methoden empirisch untersucht werden können. Es werden Arbeitshypothesen aufgestellt, experimentell untersucht und dann bestätigt oder verworfen.

Bei der Bearbeitung der Frage „Was ist Wirklichkeit?“ treffen jedoch auch die Neurowissenschaften auf ein grundsätzliches und ganz erhebliches Problem. Wir wollen unser eigenes Gehirn untersuchen und verstehen und können dabei neben technologischen Hilfsmitteln nur auf unser eigenes Gehirn als erkenntnisgewinnenden Apparat zurückgreifen. Ist das möglich? Kann ein System sich selbst verstehen ohne die Möglichkeit der Außenbetrachtung. Nicht wenige Neurowissenschaftler sind skeptisch und halten es für schlicht unmöglich, dass wir unser Gehirn in seiner Funktionsweise verstehen werden. „Ignoramus et ignorabimus“ (lat. „Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen“) war im Jahre 1872 die kategorische und aufsehenerregende Antwort des renommierten Berliner Physiologen Emil Heinrich du Bois-Reymond auf die Frage, wie aus unbelebter Materie, „einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- usw. Atomen“, Sinnesempfindungen, Gefühle und Bewusstsein entstehen können. Dieser Disput setzt sich bis zum heutigen Tage über verschiedene Wissenschaftsdisziplinen, von der Physik bis zur Philosophie, fort und hat in den vergangenen Jahren in Anbetracht neuester neurowissenschaftlicher Erkenntnisse und provokanter Hypothesen an Intensität zugenommen.

Wie können wir uns der Frage „Was ist Wirklichkeit?“ aus neurowissenschaftlicher Sicht nähern? Wir benötigen zuallererst Kenntnisse über den Aufbau und die Funktionsweise des Gehirns und seiner kleinsten funktionellen Einheiten, den Nervenzellen. Des Weiteren sind Kenntnisse über die Beschaffenheit und Funktionsweise unserer Sinnesorgane und der nachgeschalteten neuronalen Strukturen erforderlich, um zu verstehen, wie Reize aus der Umwelt von den Sinnesorganen aufgenommen, im Gehirn weiterverarbeitet und schließlich von uns bewusst wahrgenommen werden. Diese Aufgabe erfüllt das Kapitel 2 bzw. das Kapitel 3 am Beispiel des Sehsystems. Das Kapitel 4 beschreibt zwei Hirnstrukturen, die für die Wahrnehmung von zentraler Bedeutung sind, den Thalamus und den Neocortex. Der Thalamus dient als wichtige neuronale Schaltstation zwischen den Sinnesorganen und dem Neocortex, dem Ort der bewussten Wahrnehmung von Sinneserfahrungen und höherer kognitiver Leistungen. Die beiden Kapitel 5 und 6 stellen Änderungen der Wirklichkeit dar, wie sie physiologisch auftreten können bzw. pathophysiologisch nach Hirnschädigungen bei Patienten zu beobachten sind. Kapitel 7 gibt schließlich einen Ausblick in neuropharmakologische und technologische Entwicklungen, die zukünftig unsere kognitiven Leistungen elementar verändern könnten. In jedem Kapitel werden einige der jüngsten und überaus spannenden Erkenntnisse der Neurowissenschaften zum jeweiligen Thema genauer dargestellt. Technologische Neuentwicklungen in den vergangenen Jahren erlauben einerseits auf zellulärer Ebene hochpräzise Analysen von einzelnen Nervenzellen und kleinen neuronalen Netzwerken, andererseits mittels bildgebender Verfahren erstaunliche Einblicke in die Struktur und Funktionsweise des Gesamthirns.

In diesem Buch sollen kapitelweise die folgenden sechs Fragenkomplexe zum Thema Wirklichkeit aus neurowissenschaftlicher Sicht behandelt, aber nicht notwendigerweise abschließend beantwortet werden. Unser heutiger Kenntnisstand und die aktuelle Datenlage in den Neurowissenschaften erlauben häufig (noch) keine zufriedenstellende und keineswegs endgültige Antwort auf die folgenden Fragen.

1. Wie ist die Struktur und die Funktion der Elemente, die im Gehirn Wirklichkeit abbilden? Wie ist eine Nervenzelle aufgebaut und wie funktioniert sie? Welche Wechselwirkungen finden in einem neuronalen Netzwerk statt?

2. Wie werden Sinnesreize aufgenommen und im Gehirn zu einer Gesamtwahrnehmung der inneren und äußeren Welt abgebildet? Wie zuverlässig ist diese neuronale Verarbeitung?

3. Welche Hirnstrukturen sind an der Erschaffung von Wirklichkeit beteiligt? Erleben wir im Schlaf eine andere Wirklichkeit? Verarbeiten wir im Schlaf zuvor aufgenommene Informationen oder erschaffen wir vollkommen neue Wirklichkeiten?

4. Welche Änderungen in der Wahrnehmung von Wirklichkeit treten bei Halluzinationen, Meditation oder Anästhesie auf? Wie verändern Drogen und körpereigene Opiate die Wirklichkeit? Was sind die Ursachen von Synästhesie und außerkörperlichen Erfahrungen?

5. Welche Störungen in der Wahrnehmung von Wirklichkeit können bei Erkrankungen und Schädigungen des Gehirns auftreten?

6. Können wir zukünftig unsere kognitiven Leistungen pharmakologisch oder mittels technologischer Fortschritte erweitern?

Viele der hier gestellten Fragen sind auch für andere Wissenschaftsdisziplinen von zentralem Interesse. Die Darstellungen und Diskussionen dieser Fragen beschränken sich jedoch überwiegend auf die neurowissenschaftliche Perspektive.

Bei der Lektüre dieses Buches wird im zunehmenden Maße deutlich, dass unsere Wahrnehmung und Vorstellung von Wirklichkeit durch die Beschaffenheit und Funktionsweise unserer Sinnesorgane und unseres Gehirns determiniert ist. Wir erleben die Welt nicht wie sie wirklich ist, sondern so, wie wir sind! Unsere Sinnesorgane und unser Gehirn erschaffen eine individuelle Abbildung der Wirklichkeit und diese neuronale Abbildung stellt nur eine von sehr vielen Möglichkeiten dar. Wirklichkeit ist ein individuelles neuronales Konstrukt, jedes Gehirn erschafft in jedem Moment seine eigene Form von Wirklichkeit. Der von uns als Wirklichkeit wahrgenommene Zustand ist daher nur eine neuronale Illusion!

Diese individuelle Konstruktion von Wirklichkeit kann durch physiologische Prozesse, wie bspw. Träumen oder fokussierte Aufmerksamkeit beim Meditieren, oder durch pathophysiologische Prozesse, wie bspw. Sauerstoffmangel oder Halluzinationen während eines epileptischen Anfalls, stark verändert sein. Des Weiteren können Änderungen in der Neurochemie des Gehirns durch den Einfluss von körpereigenen Opiaten oder durch den Konsum von halluzinogenen Drogen unsere jeweilige Wahrnehmung und Vorstellung von Wirklichkeit ganz erheblich modifizieren.

Dieses Buch soll durch eine Vielzahl von Beispielen und den Ergebnissen aktueller neurowissenschaftlicher Forschungsarbeiten zeigen, dass die Wahrnehmung von Wirklichkeit selbst ein konstruktiver Prozess ist, der nicht nur von den Eigenschaften des Reizes, sondern auch von der jeweiligen Struktur und Funktion des Wahrnehmenden, also seiner Sinnesorgane und seines Gehirns, abhängt. Um den Text lesbar zu gestalten, konnte die ausgiebige Originalliteratur nicht in vollem Umfang zitiert werden. Die Literaturliste enthält aktuelle, überwiegend englischsprachige Übersichtsartikel. Auf Hinweise zu sehr anspruchsvoller, schwieriger Originalliteratur wurde weitgehend verzichtet. Wenn möglich, werden deutschsprachige Übersichtsartikel und internationale Fachzeitschriften genannt, die im Internet frei zugänglich sind. Der Leser erhält über viele der im Buch zitierten Publikationen einen Zugang zur Originalliteratur, die im Internet zum Teil frei verfügbar ist.

Boxtexte begleiten die jeweiligen Kapitel und geben einen kurzen Überblick zu speziellen Themen und neurowissenschaftlichen Methoden. Die wichtigsten und wiederholt auftretenden Fachbegriffe sind im Text fett markiert und in einem umfangreichen Glossar kurz erklärt, um dem Leser das langwierige Suchen und Nachblättern von relevanten Begriffen zu ersparen. Im Anhang werden schließlich eine Reihe von öffentlich zugänglichen Wissenschaftszeitschriften und interessante Internetseiten genannt, die zumindest zum Zeitpunkt des Drucks dieses Buches hilfreiche und weiterführende Quellen zu den jeweils genannten Themen bieten. Für den Inhalt dieser im Anhang genannten Quellen übernehmen der Autor und der Verlag keine Verantwortung.

Die Neurowissenschaften sind überaus spannend und ihre Erkenntnisse sind für viele andere Wissenschaftsdisziplinen überaus interessant und relevant. Dieses Buch soll informieren, neugierig machen und zum „Suchen“ in Büchern und im Internet, zum Besuch von Vorträgen, Museen und Ausstellungen anregen. Viel Spaß dabei!

Mainz, im Mai 2015

Heiko Luhmann

Alles Einbildung!

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