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Der Seefahrer-Roman – Kapitel 1 – In Bilgen, Bars und Betten
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Roman von Hein Bruns
Das Bürohaus der Reederei Balduin Bollage brennt in der Januarsonne. Das Bürohaus der Reederei Balduin Bollage sieht protzig und neureich auf den alten konservativen Hafen. Das Haus ist fest gebaut, aus Beton und Stahl, als wolle es Generationen überdauern. Bis an die Fenster des Erdgeschosses prahlt es in Marmormosaik, als Schutz gegen den Urin der Hafenhunde und der Schauer- und Seeleute.
Die große zweiflügelige Tür aus edlem Holz und reliefeingearbeiteten Hafen- und Schiffsmotiven sagt dem Besucher und Bittsteller, Lieferanten und Laufjungen: Hier bin Ich, hier ist mein Reich, hier regiere Ich. Ich, der Reeder Balduin Bollage. Besitzer einer Schiffswerft, Eigner von zwanzig Schiffen. Befehlshaber über tausend Angestellte und Arbeiter, Kapitäne, Offiziere, Steuerleute, Ingenieure, Maschinisten, Köche, Stewards, Matrosen, Leichtmatrosen, Jungmänner, Decksjungen und Gastarbeiter. Seht her, ihr, das bin Ich, der Reeder Balduin Bollage. So sagt die Tür aus edlem Holz. Die Fenster des Reedereigebäudes werfen den fahlen Sonnenbrand der Januarsonne über den Hafen wie Straßenjungen, die mit Spiegeln Passanten ärgern.
Der Hafen brummt wie ein Bär. Giraffenhalsig schwingen die Kräne von den Schiffen zu den Schuppen, von den Schuppen zu den Schiffen. Ein- und ausgehende Ladung. Der Hafen stinkt. Polizei- und Zollboote dümpeln langweilig. Ein Pegel zeigt den Wasserstand an. Besoffene Seeleute den Alkoholstand. Hell ist der Januarhimmel.
Die Schneelaken auf den Lagerschuppen sind dreckig. In den Büroräumen der Reederei Balduin Bollage klappern die Schreibmaschinen, ratschen die Rechenmaschinen. Flinke Mädchenfinger spielen das Klavier der Zeit. Vom Erdgeschoß bis in die oberen Stockwerke läuft ein endloses Fahrstuhlband und betet einen endlosen Rosenkranz.
Im Hafen gellt eine Sirene. Anbiet. Die Kaffeeklappen füllen sich mit Hafenarbeitern. Kräne schwingen nicht mehr, auch die Kranführer machen Anbiet. Der Hafen ist tot. Und auch im Personalbüro der Reederei Balduin Bollage ist Anbiet. Aus ihren Schreibtischfächern kramen die Mädchen belegte Brote. Kaffee ist schon vorher gekocht. (Es wird überhaupt viel Kaffee gekocht und getrunken hier im Personalbüro. Kein Wunder, zollfrei.) Herr Seifert in seinem Glaskasten, Personalchef des Reeders Balduin Bollage und die Schlange genannt, trinkt eine Flasche Bier, die er sich aus der Aktentasche hantelt. Seifert kam eben von einem eingehenden Schiff der Reederei und so ging auch die Flasche Bier ein. Es scheppert so verdächtig, hat Herr Seifert noch „harte Sachen“ in seiner Aktentasche? Herr Seifert muss sich ein bisschen vor Herrn Wagenfeld in Acht nehmen; denn Herr Wagenfeld, die Wanze genannt, ist nicht echt. Herr Wagenfeld spekuliert auf den Posten des Personalchefs und hat dementsprechend auch schon beim Chef ganz gute Anläufe gefahren: Herr Seifert ist nicht pünktlich. Herr Seifert war gestern und vorgestern und davor auch betrunken. Herr Seifert war mit Kapitän Suhrmann unterwegs. Herr Seifert hat Nutten an Bord der TORNADO gesehen und nichts unternommen. Herr Seifert hat... Herr Seifert hat... und was Herr Seifert alles noch nicht hat. Herr Wagenfeld, die Wanze, blinzelt in die Sonne, kaut an seiner Stulle, blinzelt auch zum Glaskasten hin und lässt dann die Augen auf den Knien eines Büromädchens weiden. Die Wanze ist Junggeselle und kennt nur das örtliche Bordell, aber das ausgiebig. Herr Dohle, der Wurm, ist harmlos, er kümmert sich weiter um nichts und schlängelt sich so durch. Die Hauptsache ist, dass seine Kasse stimmt. Die Glaskastenempfangsdame im Erdgeschoß macht auch Anbiet. Blättert dabei in der Boulevardzeitung. Sie ist blond und hübsch.
Grün und üppig sind die Gewächse in den großen Fenstern. Blank sind die Anker, Bullaugen, Drähte und Relinge der Schiffsmodelle, die in Luftaquarien auf schmiedeeisernen Beinen die Vor- und Empfangshalle möblieren. Und warm, schön warm ist es hier auch. Die Empfangsdame sieht ein wenig unwillig auf, ein etwa dreißigjähriger großer, breitschultriger Mann steht am Glaskasten und wartet, bis das Fräulein sich bequemt. Und es bequemt sich: „Wohin möchten Sie?“ und sieht in ein unfarbiges Gesicht und in feste graue Augen. „Zur Personalabteilung!“ – „Wie ist Ihr Name... und in welcher Angelegenheit?“ – „Mein Name ist Meiler, genügt Ihnen das? …denn die Angelegenheit soll Sie nicht interessieren!“ Eigentlich ja, wenn man’s genau nimmt; denn letzten Endes ist das Mädchen ja dafür da, und es hätte wohl auch eine Antwort bereit gehabt, aber die festen grauen Augen ließen das nicht zu. „Nehmen Sie einen Augenblick dort drüben Platz... ich melde Sie an. Die Herren haben gerade eine Besprechung.“ Schöne Besprechung, Anbiet haben die. Meiler setzte sich in einen der Sessel, die sich anbieten wie Hoheklassenutten, steckte sich eine Zigarette an, und blätterte gelangweilt in den ausliegenden Prospekten und Zeitschriften.
Soll er getrost eine Weile braten, der da drüben im Sessel, denkt die Blonde, allein schon für die Antwort: Angelegenheit soll Sie nicht interessieren. Außerdem ist Anbiet. Hin und wieder schielt sie über die Boulevardzeitung zu ihm hin, aber der junge Mann macht keine Anstalten, den Blick zu erwidern. Und sie ist es doch so gewohnt, dass die Männer ihr Stielaugen zuwerfen. Der ist sauer, denkt sie. Was er wohl ist? Offizier oder Ingenieur?
Die Sirene schwingt ihren Ton durch den Hafen. Anbiet beendet. Jetzt, denkt Meiler, wird sich auch die Pflanze da drüben in ihrem Affenkäfig rühren. „Sie können nach oben gehen, Herr Meiler, die Besprechung ist beendet!“ Meiler legt die Prospekte und Zeitschriften wieder ordnungsgemäß zusammen, zerdrückt die Zigarette im Aschenbecher und geht mit einem Kopfnicken, das wohl ein kurzer Dank sein soll, an dem Glaskasten vorbei, nach oben.
Nur zur Aushilfe, so hatten sie doch gesagt, nur eine kurze Vertretung als Dritter Ingenieur. Und ob er das machen wolle, so fragten sie ihn, und so war ’s doch, nicht? Eine Reise nur… nur eine Reise. Aber Reisen können verflucht lang sein. Jawohl, sehr lang. Es gibt Reisen von vier Wochen und von sechs Wochen. Reisen, die vier Monate und sechs Monate dauern. Jahresreisen, Zweijahresreisen und Fünfjahresreisen. Es gibt auch Reisen ohne Ende, und das sind die längsten. Es kommt nur darauf an, was man unter Reisen versteht. O ja, Reisen können verdammt lang sein. Sie fragten ihn (das war doch erst gestern), sie: die „Wanze“, der „Wurm“ und die „Schlange“, die verfluchten Handlanger des Reeders mit Inspektorenallüren. So ist es aber, dessen Brot ich ess’, dessen Lied ich sing. Ja, ja, sie fragten ihn, und er sagte zu, weil ihm das Wasser bis zum Halse stand. Das mit dem Wasser, das sagt man so. Was ist das für Wasser? Ach so, Wasser und Strohhalm, so war das doch, nicht? Die Wanze drückte ihm 50 Mark in die Hand, beim Wurm musste er unterschreiben und sich von der Schlange verabschieden und aufgetragen wurde ihm noch, dem Kapitän an Bord Grüße vom Kontor auszurichten. „Die fünfzig Mark sind für die Reise, rechnen Sie darüber mit dem Kapitän ab; ja?“ Das sagten sie auch noch. Lächerliche fünfzig Mark, damit sollte er 200 Kilometer reisen. Und rasch reisen solle er, sich nirgends aufhalten, und nicht etwa in Hamburg noch einen Reeperbahnbummel machen und sich auch nicht besaufen. Das letzte rief die Wanze noch hinter Meiler her und wanzte sich wieder in seinen Büroschemel, und der Strahl der Wintermorgensonne traf falsche Augen und brandrote Haare. Arschlöcher die; besaufen, wovon wohl? Aber die können sich jeden Abend besaufen, diese Heinis, die können klug schnacken. Trotzdem, das mit dem Besaufen, das lass man meine Sorge sein, dreckige Wanze, du. Über die fünfzig Mark will man eine Abrechnung, und genau, versteht sich, auf den Pfennig genau. Fünfzig Mark, er hätte sie ja tatsächlich versaufen können, also waren sie doch großzügig. Vertrauen ehrt.
Kurz grüßend, abwesend und schon vorwesend, ging Meiler an der Blondine im Glaskasten vorüber und trat aus der Wärme des Reedereigebäudes in den kalten Januartag. Mit Hassaugen sah Meiler auf die Schiffe, die vertäut an der Pier lagen. Morgen, ja, ja, morgen. Scheiße! Aber noch ist heute, noch eine Nacht mit Mira. Die Nacht, die letzte Nacht mit Mira. Wohl eine Nacht mit Höhen und Tiefen, mit Gipfeln und Tälern. Eine Nacht, die schon mit Vorschau auf Schiff und Wasser und Weite geschwängert sein wird, die schon den Lärm der Maschinen und Motoren in sich trägt und das Jaulen der Pumpen, das Singen der Generatoren und Heulen der Turbinen.
Und sie trägt weiter in sich das Wissen um den Alltag, um die Trennung, um die Probleme und was es auch immer sei, was den Menschen rüttelt, bewegt, anspricht, so zwei Menschen, Mann und Frau, die sich trennen müssen. Menschen, die sich dann eine Zeitspanne nicht sehen und fühlen. Wieso aber die letzte Nacht? Es gibt keine letzte Nacht, außer der letzten Nacht vor dem Tod, worauf die endgültig letzte Nacht folgt.
Meiler hatte seinen Mantelkragen hochgeschlagen, als wolle er sich einkapseln, isolieren. Meiler ging am Zollposten vorüber. „Nichts dabei!“ Meiler. „Danke!“ Der Zöllner. Da, eine Telefonzelle, innen verkippt und vermatscht. Die Vermittlung im Krankenhaus meldete sich. „Kann ich Schwester Mira sprechen?“ – „Einen Moment, verbinde zur Männerstation!“ „Du, Mira, morgen geht’s los!“ – „Ach, morgen schon?“ – „Ja, leider... morgen früh... aber nur für eine Reise!“ – „Wie lange dauert die Reise, Mel?“ – „Ja, wie lange dauern Reisen? ... Och, nicht lange, Mira, ich mache nur eine Vertretung!“ – „Wann sehen wir uns, Mel, Liebling? Ich komme um fünf von der Station!“ – „Dann komm zu mir für die letzte Nacht! Sieh, ich muss noch packen und habe sonst noch allerhand zu tun. Im Schwesternheim ist zuviel Rummel, dort bist du mir zu kabbelig. Du kannst mich ja morgen früh zur Bahn bringen, wenn du willst. Ist es dir so recht, Mira? Kleines, liebes Mädchen, du!“ – „Ach ja, mir ist alles recht. Morgen, morgen, gäbe es doch nur kein Morgen, Mel!“
Nun hat der Abend seine Augen aufgetan. Die Ruhe in der Winternacht ist wie ein dunkler Vorhang, dahinter quälen oder beglücken sich Menschen. Alle Konturen sind verwischt. Nicht aber die Konturen von Miras Gedanken, auf ihnen zeichnet sich die Landschaft seines Gesichtes, das wie die See ist, lebendig, stürmisch bewegt und manchmal zerrissen. Und nur manchmal, so sein Gesicht ganz still ist, spricht aus dem Innern die See. Dabei kennt sie die See nicht, aber sie versteht die Sprache so gut, und sie findet sich darin zurecht. In dreimonatigem Zusammensein, in dreimal dreißig Nächten hat sie die Sprache der See erlernt… „Du, deinen Schlafanzug habe ich nicht mitgebracht, er bleibt in meinem Zimmer im Schwesternheim... so habe ich noch etwas von dir!“
Die Weggefährten auf dieser Nachtstrecke wirken zunächst nichtssagend, da aber auch das Nichts etwas aussagt, sagten auch die Nichtssagenden etwas aus - alles aus. Zusammengekuschelt und zusammengeglückt liegen sie auf der geflachten Schlafcouch, ohne Bewegung, nur in der Bewegung ihres Atems, ihres Herzschlages, der von Hand zu Hand leise pocht und pulst. Von der Straße her kriechen weiter Geräusche, die sie berühren. Der Warnruf eines Wintervogels. Das Gekreisch eines Gatters. Der Fall einer zuschlagenden Tür. Der Start eines Kraftwagens.
Und Melchior Meiler richtete sich auf, werbend umflüsterte er ihr Gesicht. Umfasste zärtlich ihre nackten Schultern, zeichnete ihre Augenbögen, ihre Ohrmuscheln mit seinen Fingernerven. Vier Augen hielten einander fest und dunkle glitzernde Sonnen sprühten, versprühten Lust und Zärtlichkeit. Sie sahen und hörten und spürten nicht mehr die Nacht, die kalte und helle und geräuscharme, sahen, hörten und spürten nur sich. Sahen die Lust in dem anderen, so unbekümmert wie die Natur, rein und schön. Ein feines Sirren steigt auf, es ist der Sekt, der zart das geschliffene Glas harft. Sie umarmen sich noch einmal, liegen Leib an Leib, Mund in Mund. Augen in Augen. Versunken, vertieft... ineinander. Eingekapselt im Abschiedsschmerz, dann einsam, verloren. Und doch bot der Herold des Abschieds abschneidend Liebe und Freude und Schmerzesstunde, bot er Wärme und eine unausgesprochene Aussage ihr beider Innern. Mira war wie eingeschlossen in einem Traum, in dem sie hätte eingeschlossen sein mögen für immer. Niemals mehr auftauchen. Niemals mehr denken müssen an das Gewesene, an das Kommende... nie mehr an morgen. Ob er wohl im Abschnitt des Abschieds etwas von allem, was in ihr war oder ist oder sein wird, spürt oder gespürt hat? Oder ist sie allein in ihrem Denken und Fühlen? Einen Augenblick glaubte sie es nicht zu sein. Es war der Augenblick. War es eine Illusion? Gott, was weiß man schon in Wirklichkeit von dem anderen? Man legt Gutes oder Schlechtes in einen Menschen hinein und weiß nichts von dem, was wirklich in ihm ist. Vielleicht darum, weil man stets sich selbst in den anderen hineinlegt und glaubt, sich selbst im anderen zu begegnen. Selbst Menschen, die sich sehr nahe sind, begegnen sich in ihrem Innern nur selten. Aber dass sie sich manchmal begegnen im Zentrum ihres Soseins, im Mittelpunkt ihres Fühlens, im Zenit ihrer Erfüllung, so glaubt Mira, das sei der Liebe höchste Form... der so vielen Arten der Liebe. Nur Stunden der Nacht bleiben ihnen, knappe, karge Stunden, die auch ein wenig das Gesicht des Schlafes tragen müssen. Alles Ungesagte sollte gesagt werden, alles Ungesagte der verflossenen Monate. Alles Ungesagte wurde nicht gesagt. Menschen wollen das aber immer. Menschen wollen anders sein als in Briefen. Menschen wollen im Abschied, in der Trennungsspanne nachholen, wollen überholen, verbessern, ja, das wollen die Menschen. Tun sie es? Das dunkle Tuch der Trennung, der schwarze Schleier des Scheidens lässt Gedanken und Worte in Höhlen und Irrgärten der Hirne. Gedanken und Worte nähern sich nur wie Tropfsteine und berühren sich nur manchmal, wie es Tropfsteine auch nur manchmal tun. Ist es in einem Irrgarten anders? Die Gedanken eilen voraus, eilen in Maschinenräume und Operationssäle und an Seziertische. Hängen in Schiffsbetriebsgängen und auf Männerstationen. Sind und verweilen bei kranken Maschinen und bei kranken Menschen.