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3. Die Übernahme der Macht

Nachdem Göring es ihm befohlen hatte, fuhr sein Fahrer Willi Schulz vor dem Hintereingang der Reichskanzlei vor.

„Besser zum Lieferanteneingang hinein, als später dort hinausgeworfen werden“, brummte Generalmajor Bodenschatz seinem Freund aus Weltkriegstagen zu.

Da keine Wache vor diesem Eingang stand, versuchte der neue „Führer“ unbeholfen, selbst den Schlag der Limousine zu öffnen. Bodenschatz gelang dies schneller und konnte so seinem Chef zuvorkommen. Er versuchte, die schwere Eichentüre zur Reichskanzlei mit Brachialgewalt zu öffnen. Aber diese war verschlossen. Wütend trat Bodenschatz gegen das Holz, entsicherte seine Dienstpistole und feuerte auf das eisenbeschlagene Schloss. Ein lauter Schrei folgte dem Schuss, Bodenschatz umfasste seinen rechten Unterarm mit der linken Hand und ging zu Boden. Sein blutiger Ärmel verdeutlichte, dass ihn das zurückprallende Geschoss verletzt haben musste.

„Arbeite ich denn nur mit Dilettanten? Kann man dem Reichskanzler nicht einmal den Eingang zur Reichskanzlei offen halten? Schulz, rufen Sie einen Sanitäter und fahren Sie mich schnellstens zum Haupteingang. Schwachköpfe ...“ Göring schäumte.

Bodenschatz gelang es gerade noch, den Wagen zu besteigen, und kauerte sich schmerzverzerrt neben Göring in den Fond.

Rasant fuhr Schulz vor dem Haupteingang der Neuen Reichskanzlei vor. Neben einem Aufnahmewagen des Reichsrundfunks hatten sich zahlreiche Schaulustige versammelt. Göring streckten sich zahlreiche Hände entgegen: „Heil, Heil, mein Führer!“

Göring schüttelte sich kurz, sprang dann erstaunlich schnell aus dem Wagen und eilte ohne zu grüßen an den Jubelnden vorbei zum Haupteingang.

In der Eingangshalle der Reichskanzlei begrüßte Herbert Engler, der Intendant des Fernsehens des Großdeutschen Rundfunks, den Reichsmarschall: „Mein Führer, Sie können sich auf unsere Unterstützung vollständig verlassen ...“

Göring winkte ab. „Ich dachte Ihr Sender sei schon seit August abgeschaltet?“

Engler wand sich: „Ja und nein, wir halten das Fernsehen für kriegswichtig und bitten Sie daher um Ihre Unterstützung ...“ Göring blickte entgeistert ins Leere: „Das kann heute kein vorrangiges Problem sein! Nach meiner Machtübernahme können wir über alles sprechen.“

„Natürlich, natürlich, mein Führer“, antwortete ihm Engler servil.

„Aber ... Sie mögen, möchten doch bitte möglichst bald eine Rundfunkrede halten, da es bereits in einigen Städten zu Unruhen gekommen sein soll! Eine solche Rede beruhigt die Menschen ...“

Göring wandte sich Bodenschatz zu, der sich seinen rechten Arm hielt und eng neben ihm stand: „Hältst du das für wahrscheinlich? Nach dieser kurzen Phase des Krieges, hm ..., du kennst ja meine Meinung.“

Bodenschatz zuckte mit den Schultern, dann hielt er Göring am rechten Arm fest und drängte ihn zur Seite: „Du willst den Krieg beenden, ja, sag das den Menschen aber auch deutlich. Ich weiß noch genau, bei welcher Gelegenheit du ihm vor Kriegsbeginn sagtest: ‚Wir wollen doch nicht Vabanque spielen!‘ “

Göring drängte weiter: „Ja, das wissen wir natürlich. Aber wie soll ich das abrupte Kriegsende nach zwei Monaten kriegerischer Erfolge den Menschen vermitteln? Wie soll ich etwa einen Rückzug aus Polen erklären ...“

„Du musst irgendwie ... ! Du weißt doch genau, wie es um unsere wirtschaftliche Situation bestellt ist. Wie lange sollen wir denn einen Zweifrontenkrieg gegen England und Frankreich durchhalten? Alles ist doch nur auf Pump aufgebaut.“

„Leise!“, zischte ihm Göring zu. „Was meinst du mit Zweifrontenkrieg? Im Osten befindet sich doch alles in trockenen Tüchern. Oder glaubst du an einen polnischen Aufstand?“

„Hitler hätte irgendwann auch Russland angegriffen. Die Pläne kennt Keitel doch genau. ‚Lakeitel‘ hätte auch diesen Unfug mitgemacht. Diese Kreise müssen wir als Erstes ausschalten, schnell, bevor sie das Heft in die Hand nehmen können. Derzeit sind sie mit Sicherheit noch paralysiert.“

„Und außerdem“, fuhr Bodenschatz flüsternd fort, „außerdem siehst du doch an diesem Attentat, dass die Bevölkerung keinesfalls einen Krieg will. Lies nur die letzten Berichte des SD!“

Göring blieb erneut stehen und sah seinen Freund groß an: „Du weißt schon, dass diese Einrichtung inzwischen anders heißt?“

„Natürlich, aber im Reichssicherheitshauptamt steckt doch der SD weiterhin drin, die Arbeit bleibt dieselbe. – Aber zurück zu deiner Rede: Der SD hat in allen Berichten seit Kriegsbeginn festgehalten, dass die Bevölkerung – anders als zum Beginn des Weltkriegs – keinerlei Kriegsbegeisterung an den Tag legt.“

Göring brummte daraufhin etwas Unverständliches und wandte sich erneut Engler zu: „Ich kann hier und heute keine lange Ansprache halten. Die Bevölkerung muss zunächst nur beruhigt werden. Vielleicht sollte ich Friedensgespräche andeuten; aber meine Kontaktpersonen in Schweden sollte man keinesfalls durch Indiskretionen verärgern. Hier muss ich sehr sorgsam und langsam vorgehen. Eile könnte hier viel zerstören.“

„Mein Führer, wir müssen leider in den zweiten Stock hinauf, im ersten haben wir keine geeigneten Räume für unsere Tonaufnahmen gefunden!“

„Macht doch nichts“, entgegnete Göring jovial, „das ist doch eine Kleinigkeit für uns Sportsleute!“

Oben angekommen, wirkte der Generalfeldmarschall nach Luft ringend nicht mehr so dynamisch.

Bodenschatz flüsterte: „Nun mach doch langsam, Hermann. Du hast doch selbst noch eben davon gesprochen, dass wir die Probleme langsam angehen müssen.“

„Wir?“, antwortete der Angesprochene prustend. „Ich allein muss doch jetzt die Suppe auslöffeln. Wer hat denn sonst noch das Profil eines Staatsmannes in Deutschland? Schau dir doch nur unsere Verluste an: Goebbels, Heß, Himmler, Bormann, Frick, Ley, Rosenberg, Ritter von Epp, Speer, Schaub, Todt, Brückner, Dietrich, Frank, von Ribbentrop, Julius Streicher ... von meinen besonderen Freunden will ich gar nicht reden ...“

„Hier hinein, in den Besprechungsraum. Bitte, mein Führer, bitte“, ließ Engler fast flehend verlauten. „Wie viel Zeit benötigen Sie, mein Führer, für Ihre Vorbereitungen?“

„Ich benötige gar keine Vorbereitung, mein Bester, ich habe alles Wichtige im Kopf. Ich werde frei, aber kurz reden!“, sagte Göring, während er seine Hose hochzog und den Gürtel enger schnallte.

„Aber, mein Führer, bitte entschuldigen Sie, wir benötigen eine Tonprobe, um unsere Geräte auf Ihre Stimme einzuregeln!“

„Verstehe, dann machen Sie mal zu! Wir haben heute noch wichtige Entscheidungen zu fällen und Gespräche vorzubereiten.“

„Selbstverständlich, mein Führer. Bitte setzen Sie sich auf diesen Stuhl.“

Göring ließ sich erleichtert auf seinem vorgesehenen Platz nieder, der mit seinen gedrechselten hölzernen Armlehnen an einen mittelalterlichen Thronsessel erinnerte. Aus welchem Theaterfundus mag der wohl stammen?, dachte Bodenschatz, wagte aber nichts mehr zu sagen.

Während die Tontechniker Mikrofon und Aufnahmegeräte einstellten, sinnierte Göring vor sich hin, während sein Kopf immer mehr in Richtung seiner Knie sackte. Immer wieder wischte er sich mit einem großen Stofftuch über die schweißnasse Stirn.

Bei der Anrede „Mein Führer, wir sind bereit“ fuhr er auf seinem Sitz hoch und nahm Haltung an. „Bitte zählen Sie doch bis sechs!“ Engler klopfte kurz mit einem goldenen Stab auf das Mikrofon. Dann zählte er: „Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs ...“

„Volksgenossen, uns hat ein unvorstellbarer Verlust ereilt: Unser Führer Adolf Hitler ist heute in München, der Hauptstadt unserer Bewegung, einem feigen Mordanschlag mit einer Höllenmaschine zum Opfer gefallen. Mit ihm starben die Treuesten unserer Bewegung und unseres Volkes.“ Göring schluckte laut hörbar und versuchte, sich zu sammeln. „Ja, meine Volksgenossen, der Verlust ist groß und wird auch durch unsere größten Bemühungen nicht gemildert werden können.

Unser Führer Adolf Hitler hat mich bereits im Dezember 1934 gesetzlich zu seinem Nachfolger bestimmt. So schwer die Last auch drückt, ich werde sie zu tragen wissen. Nur, meine lieben Volksgenossen, nicht alle Pläne unseres großen Verblichenen werde ich ausführen können. Hierzu wird mir bei all den Verlusten an so großartigen Menschen die Kraft fehlen ... Mit Gottes Hilfe jedoch werde ich meine Aufgaben erfüllen können. Gott segne Sie alle!“

Englers Handzeichen ließ die Aufnahmegeräte stocken. Göring schaute hilflos und fragend in die Gesichter der Umstehenden.

„Gut, Hermann,“ unterbrach Bodenschatz die angespannte Stille. „Du hättest nur das Wort ‚Frieden‘ einfließen lassen können ... Aber das kannst du ja bei der nächsten Rede nachholen. Vielleicht in der Krolloper oder im Sportpalast?“

„Das hat Zeit. Zunächst einmal werden wir würdige Beisetzungsfeierlichkeiten planen müssen. Und Bodenschatz, dich mache ich hiermit zum ... Reichszeremonienmeister für diese Trauerfeier. Mach dir Gedanken, wo wir das Mausoleum errichten können, provisorisch natürlich. – Und einbalsamiert werden müssen sie natürlich, zunächst der Führer, dann alle anderen Opfer!“

„Ja, einbalsamieren“, wiederholte Bodenschatz. „Ich kenne an der Münchner Pathologie einen Prosektor, alter Kamerad aus dem Weltkrieg ...“

„Komm mir nur nicht mit diesem Trunkenbold“, polterte Göring. „Ich weiß doch genau, wen du da im Auge hast!“

„Gut, ich denke auch eher an Eberhard von ...“

„Nein!“, unterbrach ihn Göring sogleich.

„Frau Dr. Sassenhoff vom Veterinärlazarett am Oberwiesenfeld würde dir aber wohl zusagen? Du weißt ja, die Veterinärmedizinische Fakultät ist seit Kriegsbeginn geschlossen ...“, änderte Bodenschatz geschmeidig seine Meinung.

„Frau Dr. Sassenhoff macht dort weiterhin eine großartige Arbeit. Sie hat vor Jahren schon unseren Schäferhund einbalsamiert. Nun steht er zwar im Keller, aber es war eine ganz großartige Arbeit!“

„Du bist mein Reichszeremonienmeister für all‘ diese Angelegenheiten. Und wenn alles dennoch schiefgehen sollte, mein Lieber, dann fliegen wir sofort nach Schweden!“ Görings Gesicht wandelte sich grinsend zu alter Fröhlichkeit.

„Ja, Schweden, du solltest sofort ...“

Göring hielt seinem Weltkriegsfreund seine fleischige Rechte vor den Mund: „Nun aber ab in unser neues Arbeitszimmer, bevor du noch alle Geheimnisse ausplauderst.“

In Hitlers Arbeitszimmer herrschte eisige Leere. Die Schreibtischoberfläche war völlig nackt, ein schwerer Kristallaschenbecher nur Staffage.

„Gut, Hermann, diese Rede war nur ein Anfang. Du musst nun sofort in diese Räume hier einziehen, damit niemand auf die Idee kommt, hier stünde irgendetwas zur Disposition. Es wäre übrigens auch zu gefährlich, sofort nach Schweden zu fliegen, auch dann, wenn einer von uns alleine fliegen würde. Auf wen willst du dich denn dann hier in Berlin verlassen? Warte nur, bis die Wühlmäuse aufsteigen ... das wird nicht lange dauern!“

Wenn Hitler 13 Minuten länger geblieben wäre

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