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Die Fahrt nach Ubatschna

Der Zug war sonderbar. Es war eigentlich gar kein Zug, vielmehr ein Triebwagen. Ein moderner Triebwagen, der aus einem Raum bestand. In diesem Raumwagen kauerte ich nun und ich besaß einen Fensterplatz. Mit mir fuhren lauter mir fremde Menschen in diesem Wagen. Wie viele? Genau erinnere ich mich nicht mehr. Aber sie zählten so um die vierzig. Einige standen am Anfang.

Ich hatte kein Zeitgefühl, wie lange ich schon reiste, nur: Es schien mir seit Urzeiten. Wieso fuhr ich nach Ubatschna? Was beabsichtigte ich dort? Ich hatte es niemals überlegt. Plötzlich stellte ich mir die Frage: Was lockt mich nach oder in Ubatschna?

Ich hatte keine Ahnung, wo und wann ich eingestiegen war. Mir war nur bekannt, dass dieser Zug nach Ubatschna fährt. Woher wusste ich es? – Es hatte sich in mir eingefressen wie der Rost in einen Brückenpfeiler: – Du fährst nach Ubatschna!

Aber wo lag meine Heimat, mein Ausgangspunkt? Mir fiel ein, es auf der Fahrkarte nachzulesen. Doch ich fand keine in meinen Taschen. Keiner besaß anscheinend ein Ticket. Wem gehörte diese Schienenbahn? Sie glitt lautlos dahin, fast schwebend und rasend schnell. Oder hatte sie gar keine Gleise. Aber sie fuhr wie auf Schienen.

Ich hätte auf der nächsten Station aussteigen können, wenn mir bis dahin nicht eingefallen war, warum ich nach Ubatschna fuhr. Jedoch verspürte ich keine Lust den Wagen zu verlassen. Mich trieb es dorthin! Ich hätte die Notbremse ziehen können. Ich war zu faul aufzustehen; außerdem hätte sich einer der anderen Fahrgäste auf meinen Fensterplatz setzen können. Ich hatte einfach keinen Bock mich zu streiten.

Zudem schien die Notbremse völlig verrostet zu sein, obwohl sonst alles wie neu glänzte. Wer garantierte, ob sie überhaupt funktionierte? Das Risiko blieb für mich unberechenbar. Abgesehen davon, dass es bei Strafe untersagt war und ich wollte ja nach Ubatschna. – Aber die Frage blieb: Warum?

Mittlerweile dämmerte der Abend. Die Sonne hing schräg vor mir über den Bergen und war so groß und rot wie eine aufgeschnittene, runde Wassermelone, die man sich mit ausgespreizten Armen vor die Augen hält. Sogar einige braune Kerne bemerkte ich inmitten.

Vielleicht war es auch eine Frucht! – Die Strahlen schimmerten wässrig rot wie der Saft einer Melone. Ich empfand den Eindruck, diese Sonnenmelone würde mit einer unvorstellbaren Kraft ungeheuerlich gepresst. Ihre Strahlen waren die Zeitlupenaufnahmen des nach allen Seiten spritzenden Melonensaftes. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Ich entwickelte einen unheimlichen Appetit auf Melonen …

Ob in Ubatschna Melonen wachsen? Fahre ich deswegen eine so mörderische Strecke?

Die Nacht zuckte blaugrün und starrte voller senkrechter Schatten. Das Licht strahlte von vorne. Es wurde stetig greller. Dann ruckelte der Zug einige Male, als ob er über Weichen schwenkte. Eine rustikale Blockstelle tauchte auf. In Neonbuchstaben, auch blaugrün, vibrierte der Name „Vivillye“. – Ein komischer Name und am Ende des Wortes mit „y-e“ geschrieben. –

Der Zug stoppte danach in Vivillye. Aber es kreischten keine Bremsen, auch verlangsamte sich die Geschwindigkeit nicht merkbar. Auf dem Bahnsteig hielt er.

Grell helles Licht blendete, sodass die Augen schmerzten. Alles in blaugrün oder grünblau. Dicht über der Erde, irgendwo auf dem Bahnsteig – diese blaugrüne oder grünblaue Lichtquelle, die stärker als die Sonne heizte. Da sie so niedrig installiert war, schleuderte sie Schatten, die unendlich ihre Zungen reckten. Dadurch konnte keiner die Länge des Bahnsteigs abschätzen.

Auf dem Bahnsteig lungerten einundzwanzig schwarz gekleidete Herren mit Frack und Zylinder herum. Dazu trugen sie Hemden mit schwarz gestreiften weißen Stehkrägen, die blaugrün phosphoreszierten und dazu riesige blutrote, schlampig gebundene Sambaschleifen.

Ein Herr in grauem Ulster, schwarzer Aktenmappe, Nickelbrille, elliptisch halbiert für Fern- und Nahsicht, ohne Hut, sicherlich eine hohe politische Persönlichkeit, stieg in Vivillye aus. Die einundzwanzig salutierten und johlten militärmäßig: „Hosianna!“

Sie ergriffen den im grauen Ulster und knüpften ihm eine Schlinge um den Hals und hängten ihn an einen schwebenden Balken. Der Nickelbebrillte brüllte erst, dann zappelte er noch einige Male, bis ihm eine helle Flüssigkeit von seinen Gamaschen tropfte. Dann hing er reglos an einem braunen Seil.

Der Zug huschte weiter, doch die Nacht döste blaugrün dahin. Der Morgen gebar, nachdem sich das blaugrüne Licht verflüchtigt hatte, ein Grau-Gelb und es presste, als wäre die Morgenfrühe bleischwer. Ich spürte diesen Druck durch die Abteilscheiben. Er lastete auf mir wie ein praller Sack voller Getreidekörner, doch es tat wohl.

Nach Vivillye vertieften sich alle Reisenden in ein Gespräch. Es wurde laut und heiß disputiert. Jeder hatte eigene Hypothesen entwickelt. Einige gestikulierten wild dazu. Auch ich ließ mich von ihnen hinreißen. Leider verstand keiner den anderen. Zäh vagabundierende Laute, die wirr im Innenraum herumschwirrten gleich einem wohnungsuchenden Bienenschwarm, bis sie endlich, sich durch Ritzen quetschend, ins Freie entwischten.

Jeder referierte individuelle Gedankengänge zum Geschehenen, doch völlig abweichend von den Äußerungen der anderen. Es war wie das Läuten verschiedener Glocken, nur disharmonischer, divergierend.

Ich hatte mich geärgert, überhaupt das Wort ergriffen zu haben, da ich im Voraus die Gewissheit fühlte, unverstanden zu bleiben, unverständlich zu formulieren. Doch eine diabolische Lust trieb mich dazu. Sie war stark! Ich machtlos, sie zu verhindern. Dann endlich erstarben die letzten Gesprächsfetzen und fielen zu Boden.

Wenn ich jetzt darüber meditiere und das Akustische weglasse, war dieser Vorfall ein geisterhaft, dämonisches, unverständliches Pantomimen-Theater. Ich musste unwillkürlich, ohne es zu wollen, lächeln.

Nachträglich bleibt mir einzufügen, dass ich in der blaugrünen Nacht keine Sterne gesehen hatte.

Der schweigende Druck, der jetzt im Abteil zitterte, wurde durch die Bewegungen von zwei Herren zerbrochen, die ihre Koffer aus den Gepäcknetzen stemmten und sich zum Aussteigen vorbereiteten. Zur selben Zeit tauchten am Horizont Türme auf. Spitze, runde, dreieckige, viereckige, vieleckige Türme, die in ihren mattvioletten Farben einen Wald vortäuschten. Eine aus Türmen erbaute Stadt. Nur Türme!

Der Zug näherte sich ihr geisterhaft, schon glitt er zwischen den Türmen. Es gab keinen Namen zu lesen, soweit ich auch spähen mochte. Es war die Turmstadt ohne Namen. Die beiden Herren waren bereits auf den Bahnsteig geklettert und äugten hilflos suchend herum. Sie blickten die engen Turmgassen entlang, hoben die Augen zu den Türmen empor – kein Lebewesen machte sich auf der Haltestelle bemerkbar.

Mit scharfem Knallen ratterte eine Garbe Maschinengewehrfeuer, unbestimmbar aus welcher Richtung. Sie fielen zusammen, Schulter an Schulter, und bildeten ein spitzes Dreieck. Solange das Echo andauerte, verharrten sie regungslos, dann sackten sie auf den Bahnsteig.

Ein Koffer schnappte auf und über dem Trottoir verstreut lagen Rasierklingen, Schnürsenkel und kleine golden glänzende Kreuzchen. Im Weiterfahren entdeckte ich noch, dass eine Lache aus zäh roter Flüssigkeit, wie Ölfarbe, sich kriechend um sie sammelte.

Die violetten Türme wurden blasser, dann grau, hellgrau, weiß und lösten sich auf in Dunst. Ich blickte aus dem Fenster, ohne wahrzunehmen, völlig taub.

Durch ein überlautes Niesen einer der Mitreisenden im Abteil gewahrte ich draußen in der glatten Landschaft ein schwarzes Segel mit der Aufschrift: „E MC2“, das in entgegengesetzter Richtung des rollenden Zuges vorbeizog. Ein schwarzes Segel ohne Mast, ohne Taue, ohne Schiff. Ein surrealistisch-innovativer Anblick, über den ich mir unvoreingenommen Gedanken machte.

Spontan packte mich wieder das Bedürfnis, mich zu unterhalten. Ich wendete den Kopf zu meinem Nachbar, als der Zug unerwartet zum dritten Mal nach kurzer Fahrt Station machte.

Vor uns lag verstepptes, freies Feld ohne Bahnsteig. Einige Meter vom Zug entfernt klebte schwebend eine Blockhütte sichtbar im Nichts, deren Türen verriegelt und deren Fensterläden geschlossen waren. Über der Tür in verwaschenen Lettern, der Name Perdutz. Aus dem Schornstein der Hütte quoll anthrazitfarbener, schwerer Rauch, der sich auf den Boden drückte und dort wie eine Schlange entlang kroch.

Ein junger Mann, typisch Filmschauspieler, sprang ab. Er stand da, gerade, aufrecht an seiner Pfeife saugend. Dann drehte er sich, um einen Gegenstand zu finden, an dem er seine Tabakpfeife real ausklopfen konnte. Doch es existierte nur die schwebende Blockhütte mit dem verwaschenen Namen Perdutz. Daraufhin klopfte er sie auf seinem Handteller aus und stützte sich auf seinen Regenschirm. Es schien, als wüsste er, wo er sich befand. Man merkte an seiner Körpersprache, er war ein Idol.

Die Tür der Schwebehütte krachte aus den Angeln und klatschte auf den Acker. Über sie strömten bunt gekleidete, fanatische Anhänger auf den Jüngling los. Sie steckten ihm Süßigkeiten in den Mund, liebkosten ihn, hoben ihn auf ihre Schultern und wanden ihm geschickt einen Lorbeerkranz um sein Haupt. Unter Johlen und Toben mit Hurrarufen trugen sie ihn im Triumphzug in die Hütte. Ich hörte noch Fetzen bombastischer Filmmusik, die schwach durch das Fenster drangen.

Einige Reisende griffen zu ihren Sachen und wollten auch schnell aussteigen, den Zug verlassen, doch als sie zu den Wagentüren stürmten, waren diese erneut verriegelt und der Zug zischte wieder in voller Fahrt vorwärts.

Gegen Mittag keilten Wildgänse sauber geordnet über den Himmel. Ihr langsamer Flügelschlag stimmte mich melancholisch. Ich versuchte nachzudenken. Unklar, verwirrend und zusammenhanglos irrten meine letzten Erinnerungen in meinem Kopf ziellos kreisend herum. Zukünftige Vorstellungen: schwindsüchtig – imaginär, vielstellig. Die Gegenwart tropfte teilnahmslos in meine Augen. – Dann begann ich, die Gesichter meiner ratlos blickenden noch verbliebenen Fahrgäste zu studieren.

Es war abzulesen: Nur wenige glaubten zu wissen, wo sie aussteigen wollten. Wo sie ihre Zustimmung zu dieser Fahrt erteilt hatten, dies schien keiner von ihnen zu wissen. Sie lebten im Zug und mussten irgendwo, irgendwann abspringen. Aber die Frage war, wo?

Auf ihren Gesichtern zeichnete sich immer mehr die Furcht ab, die zur Angst wurde, eine für sie ungünstige Station zu erwischen. Warum schweben diese Leute in Angst? Aussteigen mussten wir ja alle. Würfelte hier der Zufall, das einer Glück loste, der andere aber nicht? – Man wird ihn auf der nächsten Station erknüppeln oder auf der übernächsten erwürgen oder … Zum Fahren zwang es einen jeden. Diese Kleingläubigkeit von den Mitreisenden. Ich bedauerte sie beinahe, wendete den Kopf und starrte wieder aus dem Fenster.

Steil im Himmel, ich musste den Kopf dicht an die Scheibe pressen, war ein schwarzes, gleichschenkliges, rechtwinkliges Dreieck zu sehen mit einem weißen Auge in der Mitte. Scharf umrandet mit einer feuerroten Iris und starrer tiefdunkler Pupille. Drumherum ein Strahlenkranz aus gleichmäßigen Lichtlinien in alle Richtungen fließend. Darunter stand in vergänglicher bläulicher Rauchschrift: TRANS. Dieser Name, sfumato in den Äther, befand sich sozusagen über uns. Hier hielt der Zug nicht. Und wie hätte man auch aussteigen sollen? Denn die Station wäre im Himmel gewesen.

Draußen stach jetzt eine Mauer diagonal durch die Landschaft. Später zweigten von dieser neue ab und von den Neuen neue und wieder neue. Bald umengte ein Labyrinth von glatten, fensterlosen Mauern den Zug. Wie von einer Höhe stieß er in dieses verschachtelte Chaos, wobei die Mauern immer höher wurden, sodass sie jeden Einund Überblick versperrten.

Als der Triebwagen pausierte, blieb nur noch eine Tür breiter Raum zu beiden Seiten übrig. Auf dem Gehsteig, der höchstens vier Fuß maß, winselten sieben Greise, mit den Knien und der Stirn auf den Zementfliesen, regungslos dicht an der Mauer.

Eine jüngere, elegant gekleidete Frau tippelte aus dem Zug heraus. Sie tuschierte mit musternden Blicken die am Boden liegenden Greise. Diese erhoben ungewiss nacheinander ihre verwitterten Köpfe und flehten die junge Frau mit scheuen Blicken an. Sie stemmte ihre Arme in die Hüften und kniff den Mund zusammen. So verharrte sie einen Augenblick. Sie schien etwas Anderes bei ihrer Ankunft erwartet zu haben.

Die Greise wurden unsicher, blickten verstört und wollten ihre Köpfe wieder senken. Da schlug sie eine herrschende Handbewegung, die bedeutete: Alle!

Sie eilte voran. Die Greise hatten sich mit freudig devotem Lächeln aufgerafft, ergriffen ihr Gepäck und trotteten im Gänsemarsch hinter ihr her. Um eine Mauerecke verschwanden sie in einer Seitengasse.

Wieder wagten, versuchten einige Reisende auszusteigen, aber der Zug stöhnte abermals in voller Fahrt davon. Und das streifige Geflimmer der Einfriedung splitterte mit einem Schattenspiel durch die Scheiben. Dann verjüngten sich langsam die Mauern, wurden weniger, bis nur noch eine die Landschaft diagonal teilte. Auf dieser stand in flüchtig handgeschriebener Schrift, wie eine Parole, der Name – „Lüstiwol“.

Die Nervosität im Abteil knisterte, wurde unerträglich. Man lutschte Bonbons, rauchte Zigaretten in kurzatmigen Zügen. Und etliche der Reisenden kauten nervös an ihren Fingernägeln. Keiner von den Reisenden hielt ein Smartphone in Händen und spielte damit, wie man es doch eigentlich hätte erwarten dürfen.

Es zeigte ungefähr dreizehn Uhr und ich hätte normalerweise zu Mittag gegessen. Sonderbar, ich verspürte keinen Hunger. Ich lehnte meinen Kopf zurück an das Polster. Meine Augen verfingen sich im Gepäcknetz und wanderten dort entlang. Wo war mein Gepäck? Ich war außer Stande mich zu erinnern, ob ich welches, außer meinem Regenmantel, der mich immer auf Reisen begleitete, mit in den Zug genommen hatte. Ich war also gepäcklos. Dies freute mich, denn warum sollte ich mich auf der Reise mit dem Ballast eines Koffers oder gar eines Rucksacks herumplagen.

Ein klappendes, schnappendes Geräusch unterbrach mein Sinnieren. Mein Visavis, Fensterplatzpartner, hatte sein Buch energisch zugeschlagen. Sein Gesicht war entschlossen. Mit einem Ruck hatte er es zugeklappt, obwohl er während der doch interessanten Fahrt fast immer gelesen hatte. Er verstaute sein Buch umständlich in seiner Aktentasche. Ein Theoretiker oder ein Philosoph, schoss es mir durch den Kopf.

Baumgruppen tauchten auf neben dem Zug, bildeten sporadisch Haine, verdichteten sich. Bald durchgeisterte der Triebwagen einen vielstämmigen Wald. Mein Visavis grüßte und schritt zur Tür am anderen Ende des Wagens. Der Zug schlich, ruckte, hielt.

Auf einem zwei Zoll dicken Brett eingekerbt in rustikalen, verschnörkelten, handgeschnitzten Buchstaben stand das kurze Wort: Woda. In Woda ersetzte ein Waldweg aus Knüppeln den Bahnsteig. Auf dem Waldweg wartete eine Frau in einem flaschengrünen Lodenkostüm.

Mein früherer Visavis stieß die Abteiltür auf. Er betrachtete misstrauisch die Frau. Sie lächelte ihn an. Er streckte mit der linken Hand seine Aktentasche wie einen Schild von sich. In der rechten Hand verbarg er ein Stilett seitlich hinter seinem Rücken. Er wirkte unschlüssig, denn sein Fensterplatz war günstig für Beobachtungen gewesen trotz des Lesens. Die Flaschengrüne lächelte ihn dabei ununterbrochen an. –

Da wurde von der gegenüberliegenden Seite ein Schatten sichtbar, der eine ausholende Schleuderbewegung machte. Eine Lanze bohrte sich durch den Rücken in die Herzgegend meines früheren Visavis. Er kippte nach vorn, Holz splitterte, der Schaft der Lanze brach. Er schlug mit dem Gesicht auf dem Waldweg auf. Der abgebrochene Lanzenschaft ragte schräg aus seinem Rücken. Unbeweglich wie eine Figur aus dem Panoptikum verharrte die Flaschengrüne und lächelte unentwegt. Aus der Aktentasche war das Buch herausgefallen und deutlich entzifferte ich den Titel: La nuova vita.

Nach Woda wird ein Teil der Weiterfahrt unbestimmt, verschwommen, als wäre ich unter Wasser. Ich musste ein Nickerchen gehalten haben. Ich entsinne mich nur daran, dass der Zug noch einmal an einem strahlendblauen Meer Station machte. Auf dem Wasser schwamm eine weiße Tonne, eine einzige gewöhnliche Blechtonne mit einem roten, schrägen Streifen. Auf der Oberfläche waren die Buchstaben „NTG/CESA“ in Schablonenschriftzeichen aufgespritzt. Niemand stieg am Steg aus.

Danach habe ich zwei oder drei Stunden traumlos geschlafen. Als ich schlaftrunken erwachte, mochte es ungefähr sechzehn Uhr sein. Meine Uhr war bereits gestern stehengeblieben. Wissbegierig hätte ich gerne jemanden gefragt, wie viele Stunden es noch bis nach Ubatschna wären, aber es kontrollierte kein Schaffner noch tönte eine Auskunft, weder in unserem Triebwagen noch auf den Bahnsteigen war eine Ansage zu hören gewesen.

Die Landschaft draußen erweckte einen freundlichen Eindruck. Kühe grasten. Obstbäume standen in Alleen, bewaldete Hügel im Dunst in der Ferne. Der Triebwagen kroch jetzt schwerfällig einen Berg hinauf und überquerte ein Viadukt. Vorn, unten im Tal, träumte ein vorwitziges Kirchlein mit giftgrünem Zwiebelturm, pittoresk umlagert von niedrigen Häusern mit ziegelroten Dächern. Wir näherten uns einer Station. Auf dem Bahnsteig zuckte Farbengewirr. Der Wagen schwenkte eine Schleife und schoss talwärts mitten hinein. Die Leute im Abteil wurden unruhig. Wohin wollten sie? In diesen Ort oder etwa auch wie ich nach Ubatschna?

Schon von Weitem vernahm ich die Musikfetzen einer Bläserkapelle. Der Zug bummelte mit ruckeln zögernd langsam ein. Eine gedrängte Menschenmenge in einheitlichen Uniformen und Trachtengewändern schwenkte bunte Fähnlein und Taschentücher. Kinder standen zu Reihen gruppiert mit strahlenden Gesichtern, übergroße Blumensträuße in ihren Armen haltend. Ein Rednerpult mit schwarzem Samt ausgekleidet und von Blumen flankiert prangte noch leer in der Mitte. Die Kapelle musizierte ausdauernd, den Refrain pausenlos wiederholend, mit fast unmerklichen, unwichtigen Variationen.

Mich würgte ein engstirniges Gefühl, das einen stets bei demagogischen Veranstaltungen befällt. Girlanden schmückten den Namen dieser Station, sodass er nur noch mühsam zu lesen war. Endlich hatte ich ihn wie beim Rätsel raten entziffert.

Immwieda! Diese Ortschaft nannte sich so für alle verständlich: Immwieda. Transparente, aus roten und weißen Nelken gesteckt, grüßten mehrfach: Herzlich willkommen! Herzlich willkommen!

Im Zug entstand fast eine Panik. Alle noch im Abteil verbliebenen stürzten zu den Türen. Man hatte sich zugewinkt und zugelacht. Sie grüßten durch die Scheiben die Wartenden draußen. Ich erstaunte, ich blieb allein im Wagen. Mehrere hatten sogar ihr Gepäck vergessen.

Ich dachte an den Beamten vom Fundbüro, wie er fluchte, wenn er diese Gepäckstücke ein Jahr lang aufbewahren musste, die doch nie abgeholt werden würden, ehe er sie versteigern durfte. Schrecklich! –

Alle Ausgestiegenen hatten inzwischen von den Kindern einen Blumenstrauß überreicht bekommen, ausgenommen Ehepaare, die erhielten nur ein Bukett. Das Rednerpult gähnte noch immer unbetreten.

Dann fingen sie an zu jubeln und klatschten frenetisch mit den Händen im Takt. Von den Blumensträußen, das konnte ich bei denen feststellen, die sich glücklich und freudetrunken in den Armen lagen, hing ein Schlauch herab. In ihrer Begeisterung hatten sie ihn übersehen. Aus diesem Schlauch war Demagogie geströmt. Ob sie daran gestorben sind? Ich weiß es nicht! Jedenfalls standen sie in Reih und Glied mit glänzenden Augen.

Durch ein offenes Fenster war eine hellrosa Federnelke geflogen. Ich freute mich wohl eine Viertelstunde über ihre Schönheit. Mich verlangte begierig an ihr zu riechen; doch ich streifte einen Handschuh auf, packte sie unbarmherzig mit zwei Fingern und schnippte sie aus dem Fenster, um mir eine ungetrübte Erinnerung an sie zu speichern. Der Zug zuckelte jetzt langsam, ja er bummelte. Ich war Herr des ganzen Abteils.

Auf dem Fensterbrett klebte ein sichtbar angelutschtes Bonbon. Eine Fliege krabbelte auf ihm herum und tippte ihren kurzen, mörserartigen Rüssel mal hierhin mal dorthin. Ich scheuchte sie weg. Sie flog aufgeregt durch das Abteil. Es war jetzt so still, dass ich das Surren ihrer Flügel hörte. Dann landete sie in einem eleganten Bogen über dem Platz meines früheren Visavis auf dem Platznummernschild mit der Zahl einundsiebzig. Sie lauerte still und putzte sich die Flügel mit den Hinterbeinen darüberstreichend, wurde unruhig und schwupp, krabbelte sie wieder über das klebrige Bonbon.

Ich gewährte ihr einige Male zu nippen und scheuchte sie abermals weg. Sie surrte aufgeregt mehrmals durch das Abteil, bis sie sich dann erneut auf dem weißen Platznummernschild meines Ex-Visavis ausruhte.

Sie wurde unruhig, Schwupp! Ich scheuchte sie. Aufgeregt, sitzen, schwupp, scheuchen. Aufgeregt, sitzen, schwupp, scheuchen. Bs - sch - up - st, Bs-sch-up-st! Eine Stunde lang, dann war sie satt und blieb auf dem Platznummernschild sitzen.

Die Sonne neigte sich schon beachtlich tief, als ich wieder aus dem Fenster schaute. Am Horizont ragten schemenhafte Silhouetten riesiger, würfelförmiger Häuser empor. Langsam rückten sie näher. Grasgrüne Vierecke wie Fenster in regelmäßigen Abständen angeordnet blickten einladend auf den Betrachter.

Dazwischen, inmitten dieser Kuben, überragten sie spitze Schornsteine, die aussahen wie moderne Kirchtürme. In ihrem krankhaften, sakralen Violett wirkten sie auf mich wie Fremdkörper, ein lästiger Störenfried im übrigen Naturgrün dieser paradiesischen Imitation.

Auf dem höchsten Kubus entzifferte ich das in Versalien geschriebene Wort: UBATSCHNA! – Und darunter ganz klein: Endstation.

Ich hatte alle Vorstellungen vermischt, verloren, die mich früher bei diesem Namen bestürmten. Jetzt, da ich damit konfrontiert war, kam mir alles fremd, unbekannt und unerwartet vor. Der Zug kreischte geradeaus mitten hinein in die Kästen.

Ich schlüpfte in meinen Mantel. Die Fliege verdaute noch immer auf dem Nummernschild sitzend. Mit der linken Hand vollführte ich eine schnelle wischende Bewegung. Im Hohlraum der Hand hatte ich sie gefangen. Sie summte. Ich wollte ihr nichts antun.

Mein Gedanke war – nicht überraschungslos auszusteigen. Ich musterte nochmals das Abteil, in dem ich hierhergereist war und gelangte zur Tür.

Dabei sah ich die Gepäckstücke, die einige Reisende in der Eile vergessen hatten. Ob ich mir nicht das eine oder andere als Andenken mitnehmen sollte? Ich verwarf aber sofort den Gedanken. Besser weiterhin frei und gepäcklos bleiben. Denn warum sollte ich mich damit belasten. Sicher waren in ihnen unnötige Sachen und Gegenstände, die man geschenkt bekommen hatte. Der Zug bremste und stockte inmitten der Würfel.

Am Bahnsteig warteten ein Mann und eine Frau, in Apfelgrün gekleidet, auf mich, denn außer mir gab es ja keinen anderen Reisenden mehr. Ich öffnete mit der rechten Hand forsch die Tür, sprang auf den Bahnsteig und warf sie mit einem Ruck geräuschvoll ins Schloss.

Ich stand unmittelbar vor den beiden Wartenden. Ihr Größenwuchs war aus meiner Sicht unerwartet klein. Zwischen ihren Köpfen hindurch verfolgte ich eine breite, unendlich anmutende Straße, die zu beiden Seiten von giftgrünen Kästen mit Tausenden jetzt stumpf dunkelgrünen Vierecken besprenkelt waren. Dicht über dem Asphalt der Straße schwebte melonenhaft die Sonne mich blendend. Die Straße führte geradeaus bergab.

Der Mann griff in seine Brusttasche. Ich streckte ihm die linke Faust unter die Nase und öffnete sie.

Bss – die Fliege schwirrte davon. Beide erschraken und lächelten dann dümmlich. Der Herr griff wieder, jetzt behutsam, in die Brusttasche seines Jacketts. Ich schoss viermal durch meine Manteltasche. Woher hatte ich den Revolver? Die beiden Wartenden langten sich gleichzeitig zum Leib. Der Mann stürzte vornüber, die Frau nach hinten auf den grasgrünen Zement.

Der mattgrüne Glaskasten, den die Frau mit beiden Händen getragen hatte, zersplitterte klirrend auf dem Boden. Eine Fußball große, grüngestreifte, runde Wassermelone, jetzt aus dem Gefängnis befreit, rollte die abschüssige Straße abwärts. Sie prallte gegen den Pfahl des Straßenschildes „Einbahnstraße“ auf der rechten Seite, zerplatzte in zwei Hälften, die auseinanderrollten, um sich im Halbkreis torkelnd wieder anzunähern.

Für einen kurzen Augenblick standen drei Sonnen über dem moosgrünen Straßenbelag.

Mit dem linken Fuß drehte ich den toten Mann auf den Rücken. Die Leichen bluteten nicht. Ich streifte mir wieder meinen Handschuh über und fischte in der Brusttasche des Toten. Aus ihr zog ich einen lindgrünen Zettel hervor. Auf dem mühsam entfalteten Stück Papier stand in klaren, fetten Druckbuchstaben:

Gegrüßt in deiner Heimat UBATSCHNA!

Zwischen Eden und Trans

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