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II.

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Er reinigte sich notdürftig und kehrte um. Auf einer Bank sass eine Dame; Diederich ging ungern vorüber. Noch dazu starrte sie ihm entgegen. „Gans“, dachte er zornig. Da sah er, dass sie ein tief erschrockenes Gesicht hatte, und dann erkannte er Agnes Göppel.

„Eben bin ich dem Kaiser begegnet“, sagte er sofort.

„Dem Kaiser?“ fragte sie, wie aus einer anderen Welt. Er begann, unter grossen, ungewohnten Gesten herauszujagen, was ihn erstickte. Unser herrlicher junger Kaiser, ganz allein unter rasenden Aufrührern! Ein Café hatten sie demoliert, Diederich selbst war drin gewesen! Unter den Linden hatte er blutige Kämpfe bestanden für seinen Kaiser! Kanonen sollte man aufsahren!

„Die Leute hungern wohl“, sagte Agnes schüchtern. „Es sind ja auch Menschen.“

„Menschen?“ Diederich rollte die Augen. „Der innere Feind sind sie!“

Da er Agnes wieder erschrecken sah, beruhigte er sich etwas.

„Wenn es Ihnen Vergnügen macht, dass wegen des Packs alle Strassen abgesperrt werden müssen.“

Nein, das kam Agnes sehr ungelegen. Sie hatte in der Stadt Besorgungen gehabt, und wie sie zurück nach der Blücherstrasse wollte, ging kein Omnibus mehr, und nirgends kam man durch. Sie war zurückgedrängt worden bis hierher. Es war kalt und nass, ihr Vater würde sich ängstigen; was sollte sie tun? Diederich verhiess ihr, er werde es schon machen. Sie gingen zusammen weiter. Er wusste auf einmal nichts mehr zu sagen und wendete den Kopf umher, als suchte er den Weg. Sie waren allein zwischen kahlen Bäumen und nassem alten Laub. Wo waren die männlichen Hochgefühle von vorhin? Diederich empfand Beklommenheit, wie auf seinem letzten Spaziergang mit Agnes, als er, von Mahlmann gewarnt, auf einen Omnibus sprang, ausriss und verschwand. Gerade sagte Agnes: „Sie haben sich aber sehr, sehr lange nicht bei uns sehen lassen. Papa hat Ihnen doch geschrieben?“

Sein eigener Vater sei gestorben, sagte Diederich, betreten. Jetzt musste Agnes zuerst ihr Beileid ausdrücken, dann fragte sie weiter: warum er damals plötzlich fortgeblieben sei, vor drei Jahren.

„Nicht wahr? Es sind schon fast drei Jahre:“

Diederich bekam Festigkeit. Das Verbindungsleben habe ihn völlig in Anspruch genommen. Dort herrsche nämlich eine verdammt strenge Zucht. „Und dann habe ich meiner Wehrpflicht genügt.“

„Oh!“ — Agnes sah ihn an, „was aus Ihnen alles geworden ist! Und jetzt sind Sie wohl schon Doktor?“

„Das soll jetzt kommen.“

Er sah unzufrieden geradeaus. Seine Schmisse, seine stattliche Breite, alle seine wohlerworbene Männlichkeit: für sie war das nichts? Sie bemerkte es gar nicht?

Aber Sie“, sagte er plump. In ihr blasses, so schmales Gesicht stieg eine ganz dünne Röte, bis auf den Sattel der kleinen eingedrückten Nase mit den Sommersprossen.

„Ja. Mir geht es manchmal nicht gut, aber es wird schon wieder besser werden.“

Diederich bereute.

„Ich meinte doch natürlich, dass Sie noch hübscher geworden sind“ — und er betrachtete ihr rotes Haar, das unter dem Hut hervorquoll; noch dicker als früher, weil ihr Gesicht so klein geworden war. Dabei erinnerte er sich seiner Demütigungen von damals und wie anders, die Dinge jetzt lagen. Herausfordernd sagte er:

„Wie geht es denn Herrn Mahlmann?“

Agnes bekam eine wegwerfende Miene.

„Denken Sie-an den noch? Wenn ich den mal wiedersähe, wär’s mir gleich.“

„So? Aber er hat ein Patentbureau und könnte ganz gut heiraten.“

„Wennschon.“

„Früher interessierten Sie sich doch für ihn.“

„Woraus schliessen Sie das?“

„Er schenkte Ihnen immer etwas.“

„Ich hätte es lieber nicht angenommen; aber dann —“ sie sah auf den Weg, auf das nasse Laub vom Vorjahr, „dann hätte ich auch Ihre Geschenke nicht annehmen dürfen.“

Darauf schwieg sie erschrocken. Diederich fühlte, dass etwas Schweres geschehen war, und schwieg auch.

„Das war doch nicht der Rede wert,“ stiess er endlich heraus, „ein paar Blument.“ Und mit wiedergekehrter Entrüstung: „Mahlmann hat Ihnen sogar ein Armband geschenkt.“

„Ich trage es niemals“, sagte Agnes. Er hatte auf einmal Herzklopfen, er brachte hervor: „Und wenn es von mir gewesen wäre?“

Stille; er hielt den Atem an. Ganz leise kam es von ihr her:

„Dann ja.“

Darauf gingen sie plötzlich rascher und ohne mehr zu sprechen. Sie kamen vor das Brandenburger Tor, sahen die Linden bedrohlich von Polizei erfüllt, eilten vorbei und bogen in die Dorotheenstrasse. Hier war es wenig belebt, Diederich verlangsamte den Schritt, er fing an zu lachen.

„Das ist eigentlich hochkomisch. Was Mahlmann Ihnen nämlich schenkte, war mit meinem Geld bezahlt. Er nahm mir ja alles ab, ich war noch ein ganz grüner Junge.“

Sie blieb stehen. „Oh!“ — und sie sah ihn an, ihre goldbraunen Augen zitterten. „Das ist schrecklich. Können Sie mir das verzeihen?“

Er lächelte überlegen. Das seien alte Geschichten, Jugendtorheiten.

„Nein, nein“, sagte sie verstört.

Die Hauptsache, meinte er, sei jetzt, wie sie nach Hause komme. Hier ging es schon wieder nicht weiter. Omnibusse waren auch nicht zu sehen. „Es tut mir leid, aber Sie werden sich meine Gesellfchaft noch länger gefallen lassen müssen. Übrigens wohne ich gleich hier. Sie könnten mit hinaufkommen, da wären Sie wenigstens im Trockenen. Aber natürlich, eine junge Dame darf das nicht.“

Sie hatte noch immer diesen flehenden Blick.

„Sie sind so gut“, sagte sie, stärker atmend. „Sie sind so edel.“ Und da sie schon das Haus betraten: „Zu Ihnen kann ich doch Vertrauen haben?“

„Ich weiss, was ich der Ehre meiner Korporation schulde“, erklärte Diederich.

Sie mussten an der Küche vorbei, aber es war niemand darin. „Legen Sie doch so lange ab“, sagte Diederich gnädig. Er stand da, ohne Agnes anzusehen, und trat, während sie den Hut abnahm, von einem Fuss auf den anderen.

„Ich muss die Wirtin suchen, damit sie Tee macht.“ Er wandte sich schon nach der Tür, zuckte aber zurück: Agnes hatte seine Hand ergriffen und küsste sie! „Aber Fräulein Agnes“, murmelte er, furchtbar erschrocken, und legte ihr, wie tröstend, den Arm um ihre Schulter; da sank sie gegen die seine. Er drückte seinen Mund in ihr Haar, ziemlich tief, weil er sich dazu verpflichtet fühlte. Unter seinem Druck bebte und flog ihr Körper, als würde er geschlagen. Er fühlte sich in der dünnen Bluse lau und feucht an. Diederich ward es heiss, er küsste Agnes auf den Hals. Und plötzlich kam ihr Gesicht auf ihn zu: mit offenem Mund, halbgeschlossenen Augen und mit einem Ausdruck, den er nie gesehen hatte und der ihm schwindlig machte. „Agnes! Agnes, ich liebe dich“, sagte er wie aus tiefer Not. Sie antwortete nicht, aus ihrem offenen Mund kamen kleine warme Atemstösse, und er kühlte sie fallen, er trug sie, die zu zerfliessen schien.

„Dann sass sie auf dem Diwan und weinte. „Sei mir nicht bös, Agnes“, bat Diederich. Sie sah ihn an mit ihren nassen Augen.

„Ich meine doch vor Glück“, sagte sie. „Ich hab’ so lange auf dich gewartet.“

„Warum?“ fragte sie, da er ihre Bluse schliessen wollte. „Warum deckst du es schon zu? Findest du es schon nicht mehr schön?“

Er vermahrte sich. „Ich bin mir der übernommenen Verantwortung vollkommen bewusst.“

„Verantwortung?“ sagte Agnes. „Wer hat die? Ich habe dich drei Jahre lang geliebt. Du wusstest es ja nicht. Es war wohl das Schicksal!“

Diederich, die Hände in den Taschen, bedachte, dass dics das Schicksal der leichtsinnigen Mädchen sei. Andererseits empfand er das Bedürfnis, sich ihre Versicherungen wiederholen zu lassen. „Also wirklich mich, nur mich hast du geliebt?“

„Ich sah, dass du mir nicht glaubtest. Es war schrecklich, als ich merkte, du kamst nicht mehr, und es war aus. Es war ganz schrecklich. Ich wollte dir schreiben, ich wollte zu dir gehen. Jedesmal verlor ich den Mut, weil du mich doch nicht mehr mochtest. Ich kam so herunter, dass Papa eine Reise mit mir machen musste.“

„Wohin denn?“ fragte Diederich. Aber Agnes antwortete nicht, sie zog ihn wieder an sich.

„Sei lieb mit mir! Ich hab’ nur dich!“

Diederich dachte verlegen: „Dann hast du nicht viel.“ Agnes schien ihm verkleinert und sehr im Wert gesunken, seit er den Beweis hatte, dass sie ihn liebte. Auch sagte er sich, einem Mädchen, das so etwas tat, dürfe man nicht alles glauben.

„Und Mahlmann?“ fragte er höhnisch. „Ein bisschen war doch wohl los mit ihm.“ — „Na lass nur“, sagte er, da sie sich mit starrem Entsetzen aufrichtete. Er suchte gutzumachen. Er sei doch auch noch ganz benommen von seinem Glück.

Sehr langsam zog sie sich an. „Dein Vater wird aber gar nicht wissen, was los ist“, meinte Diederich. Sie hob nur die Schultern. Als sie fertig war und er schon die Tür geöffnet hatte, blieb sie noch stehen und sah in das Zimmer zurück, mit einem langen, angstvollen Blick.

„Vielleicht“, sagte sie, wie zu sich selbst, „komme ich nie wieder. Mir ist, als sollte ich heute nacht sterben.“

„Wieso denn?“ sagte Diederich, peinlich berührt. Statt einer Antwort liess sie sich noch einmal an ihn hinsinken, den Mund auf seinem, die Brust auf seiner und von den Hüften zu den Füssen wie mit ihm verwachsen. Diederich wartete geduldig. Dann löste sie sich, öffnete die Augen und sagte:

„Du musst nicht denken, dass ich etwas von dir verlange. Ich hab’ dich geliebt, nun ist alles gleich.“

Er bot ihr einen Wagen an, aber sie wollte gehen. Unterwegs fragte er nach ihrer Familie und nach anderen Bekannten. Erst am Belle-Alliance-Platz ward er unruhig, und etwas heiser brachte er hervor:

„Natürlich denke ich nicht daran, mich meinen Verpflichtungen dir gegenüber zu entziehen. Nur vorläufig: du verstehst, ich verdiene noch nichts, ich muss erst fertig sein und zu Hause mich in den Betrieb einleben . . .“

Agnes erwiderte dankbar und ruhig, als habe man ihr ein Kompliment gemacht:

„Es wäre schön, wenn ich später einmal deine Frau werden könnte.“

Da sie in die Blücherstrasse einbogen, blieb er stehen. Unsicher meinte er, es sei jetzt wohl besser, wenn er umkchre. Sie sagte:

„Weil uns jemand sehen könnte? Das würde gar nichts machen, denn ich muss zu Hause doch erzählen, dass ich dir begegnet bin und dass wir im Café zusammen gewartet haben, bis die Strassen wieder frei waren.“

„Na, die kann lügen“, dachte Diederich. Sie setzte hinzu:

„Für Sonntag bist du zu Mittag geladen, du musst bestimmt kommen.“

Diesmal war es ihm zuviel, er fuhr auf. „Ich soll —? Bei euch soll ich —?“

Sie lächelte sanft und schlau. „Es geht doch nicht anders. Wenn man uns einmal sähe —: willst du denn nicht, dass ich wiederkomme?“

O ja, das wollte er. Trotzdem musste sie ihm zureden, bis er sein Erscheinen versprach. Vor ihrein Hause verabschiedete er sich mit einer formellen Verbeugung, kehrte rasch um und dachte: „So ein Weib ist scheusslich raffiniert. Lange tu’ ich da nicht mit.“ Indes bemerkte er mit Unluft, dass es Zeit sei, auf die Kneipe zu gehen. Es verlangte ihn nach Hause, er wusste nicht, warum. Als er dann die Tür seines Zimmers hinter sich zugezogen hatte, blieb er davor stehen und starrte in die Dunkelheit. Plötzlich reckte er die Arme in die Höhe, wandte das Gesicht nach oben und sagte in einem langen Aufatmen:

„Agnes!“

Er fühlte sich verwandelt, leicht, wie vom Boden gehoben. „Ich bin ganz furchtbar glücklich“, dachte er, und: „So schön kommt es im ganzen Leben nicht wieder!“ Er hatte die Gewissheit, dass er bis jetzt, bis zu dieser Minute, alle Dinge falsch angesehen, falsch bewertet hatte. Dort hinten kneipten sie nun und machten sich wichtig. Juden oder Arbeitslose, was gingen einen die an, warum sollte man sie hassen? Diederich fühlte sich bereit, sie zu lieben! Hatte er denn wirklich, er selbst, den Tag in einem Gewühl von Menschen verbracht, die er für Feinde gehalten hatte? Sie waren Menschen: Agnes hatte recht! War er selbst es, der jemand um einiger Worte willen geschlagen hatte, geprahlt, gelogen, sich töricht abgearbeitet und endlich, zerrissen und sinnlos, sich in den Schmutz geworfen hatte vor einem Herrn zu Pferd, dem Kaiser, der ihn auslachte? Er erkannte, dass er, bis Agnes kam, ein hilfloses, bedeutungsloses und armes Leben geführt habe. Bestrebungen wie die eines Fremden, Gefühle, die ihn beschämten, und niemand, den er liebte — bis Agnes kam! „Agnes! Süsse Agnes, du weisst ja gar nicht, wie ich dich liebhabe!“ Aber sie sollte es wissen. Er fühlte, dass er es nie wieder so werde sagen können wie in dieser Stunde, und er schrieb einen Brief. Er schrieb, dass auch er diese drei Jahre immer auf sie gewartet habe, und dass er keine Hoffnung gehabt habe, weil sie zu schön für ihn sei, zu sein und zu gut; dass er sich das mit Mahlmann nur eingeredet habe aus Feigheit und aus Trotz; dass sie eine Heilige sei, und nun sie zu ihm herabgestiegen, liege er zu ihren Füssen. „Hebe mich auf, Agnes, ich kann stark sein, ich fühle es, und ich will Dir mein ganzes Leben weihen!“ — Er weinte, drückte das Gesicht in das Diwankissen, worin er ihren Duft noch spürte, und unter Schluchzen, wie als Kind, schlief er ein.

Am Morgen freilich war er erstaunt und befremdet, sich nicht im Bett zu finden. Sein grosses Erlebnis fiel ihm ein, ein süsser Stoss ging durch sein Blut, bis zum Herzen. Aber auch der Verdacht kam ihm, dass er sich peinliche Übertreibungen habe zuschulden kommen lassen. Er las den Brief wieder durch: das war alles recht schön, und es konnte einen auch wirklich, aus der Fassung bringen, wenn man auf einmal mit so einem grossartigen Mädel ein Verhältnis hatte. Wäre sie jetzt nur dagewesen, er hätte zärtlich sein wollen! Aber den Brief schickte man doch besser nicht ab. Es war unvorsichtig in jeder Beziehung. Am Ende fing Vater Göppel ihn ab . . . Diederich verschloss den Brief im Schreibtisch. „An das Essen hab’ich gestern überhaupt nicht gedacht!“ Er liess sich ein ausgiebiges Frühstück bringen. „Und rauchen wollte ich nicht, damit ihr Geruch nicht verginge. Das ist doch Blödsinn. So darf man nicht sein.“ Er zündete eine Zigarre an und ging ins Laboratorium Was er auf dem Herzen hatte, beschloss er statt in Worte — denn so hohe Worte waren unmännlich und unbequem — lieber in Musik auszuströmen. Er mietete ein Klavier und versuchte sich plötzlich mit viel mehr Glück als in ber Kavierstunde an Schubert und Beethoven.

Am Sonntag, wie er bei Göppels klirigelte, machte Agnes selbst ihm auf. „Das Mädchen kann nicht vom Herd fort“, sagte sie; aber den wahren Grund sagte ihr Blick. Aus Ratlosigkeit senkte Diederich die Augen auf das silberne Armband, womit sie klapperte, als sollte er hinsehen.

„Kennst du es nicht?“ flüsterte Agnes. Er ward rot.

„Das von Mahlmann?“

„Das von dir! Ich trag’ es zum erstenmal.“

Rasch und heiss drückte sie ihm die Hand, dann ging die Tür zum Berliner Zimmer auf. Herr Göppel wandte sich um. „Na, da ist wohl unser Ausreisser?“ Aber kaum erblickte er Diederich, änderte sich seine Miene, er bereute seine Vertraulichkeit.

„Ich hätte Sie, weiss Gott, nicht wiedererkannt, Herr Hessling!“

Diederich sah zu Agnes hinüber, wie um ihr zu sagen: „Siehst du? Der merkt es, dass ich kein dummer Junge mehr bin.“

„Bei Ihnen ist ja alles unverändert“, stellte Diederich fest und begrüsste Herrn Göppels Schwestern und Schwager. In Wahrheit aber fand er alle beträchtlich gealtert, besonders Herrn Göppel, der sich weniger munter benahm und dem ein kummervolles Fett von den Wangen hing die Kinder waren nun grösser, und irgendwo im Zimmer schien eine Person zu fehlen.

„Ja, ja,“ so schloss Herr Göppel die einleitende Unterhaltung, „die Zeit vergeht, aber gute Freunde finden sich immer wieder.“

„Wenn du wüsstest, wie“, dachte Diederich verlegen und mit Geringschätzung, indes man zu Tisch ging. Beim Kalbsbraten fiel ihm endlich ein, wer damals ihm gegenüber gesessen hatte. Es war die Tante, die ihn so hochtrabend gefragt hatte, was er denn studiere, und die nicht gewusst hatte, dass Chemie etwas anderes war als Physik. Agnes, die er zu seiner Rechten hatte, erklärte ihm, dass diese Tante schon seit zwei Jahren tot sei. Diederich murmelte sein Beileid, im stillen aber sagte er sich: „Die quatscht also auch nicht mehr.“ Ihm kam es vor, als ob hier alle bestraft und niedergedrückt seien, ihn selbst nur hatte das Schicksal, seinem Wert entsprechend, erhöht. Und er streifte Agnes, von oben herab, mit dem Blick des Besitzers.

Die süsse Speise liess auf sich warten, gerade wie damals. Agnes wandte unruhig den Kopf nach der Tür, Diederich sah ihre schönen blonden Augen verdunkelt, als sei etwas Ernstes geschehen. Er hatte plötzlich tiefes Mitgefühl mit ihr, eine grosse Zärtlichkeit. Er stand auf und rief aus der Tür:

„Marie! Der Krehm!“

Wie er zurückkam, trank Herr Göppel ihm zu. „Das haben Sie früher auch schon gemacht. Sie sind doch hier wie’s Kind im Hause. Nicht, Agnes?“ Agnes dankte Diederich mit einem Blick, der sein ganzes Herz aufrührte. Er musste sich zusammennehmen, um nicht feuchte Augen zu bekommen. Wie wohlwollend die Verwandten ihm zulächelten! Der Schwager stiess mit ihm an. Was für gute Menschen! Und Agnes, die süsse Agnes, liebte ihn! Er verdiente so viel nicht! Das Gewissen schlug ihm laut, er nahm sich dunkel vor, nachher mit Herrn Göppel zu sprechen.

Leider fing Herr Göppel nach dem Essen wieder von den Krawallen an. Wenn wir endlich den Druck der Bismarckschen Kürassierstiefel los waren, brauchte man die Arbeiter nun nicht mit Dicktun in Reden zu reizen. Der junge Mann (so nanute Herr Göppel dei Kaiser!) redet uns noch die Revolution an den Hals . . . Diederich sah sich veranlasst, im Namen der Jugend, die fest und treu zu ihrem herrlichen jungen Kaiser stehe, solche Nörgeleien auf das schärfste zurückzuweisen. Seine Majestät hatten es selbst gesagt: „Diejenigen, welche mir behilflich sein wollen, herzlich willkommen. Die sich mir entgegenstellen, zerschmettere ich.“ Dabei versuchte Diederich zu blitzen. Herr Göppel erklärte, er warte es ab.

„In dieser harten Zeit“, fügte Diederich hinzu, „muss jeder seinen Mann stehen.“ Und er setzte sich in Positur vor Agnes, die ihn bewunderte.

„Wieso harte Zeit?“ sagte Herr Göppel. „Sie ist doch nur hart, wenn wir uns gegenseitig das Leben schwer machen. Ich hab’ mich mit meinen Arbeitern noch immer vertragen.“

Diederich zeigte sich entschlossen, daheim in seinem Betrieb eine ganz andere Zucht einzuführen. Sozialdemokraten wurden nicht mehr geduldet, und Sonntags gingen die Leute zur Kirche! — Das auch noch? meinte Herr Göppel. Das könne er von seinen Leuten nicht verlangen, wenn er selbst doch bloss am Karfreitag gehe. „Soll ich sie beschmindeln? Christentum ist gut; aber was der Pastor alles redet, glaubt doch kein Mensch mehr.“ Da sah man Diederichs Miene hoch überlegen werden.

„Mein lieber Herr Göppel, ich kann Ihnen nur sagen: Was die Herren da oben und besonders mein verehrter Freund, der Assessor von Barnim, zu glauben für richtig halten, das glaub’ ich auch — unbesehen. Das kanın ich Ihnen nur sagen.“

Der Schwager, der Beamter war, schlug sich plötzlich auf Diederichs Seite. Herr Göppel hatte schon einen roten Kops, Agnes trat mit dem Kaffee dazwischen. „Na, schmecken Ihnen meine Zigarren?“ Herr Göppel klopfte Diederich aufs Knie. „Sehen Sie wohl, im Menschlichen sind wir einig.“

Diederich dachte: „Da ich sozusagen zur Familie gehöre.“

Er liess von seiner strammen Haltung einiges nach, es war noch sehr gemütlich. Herr Göppel wollte wissen, wann Diederich „fertig“ werde und Doktor sei, er begriff nicht, dass eine chemische Arbeit zwei Jahre und länger brauche. Diederich verbreitete sich in Ausdrücken, die niemand verstand, über die Schwierigkeiten, zu einer Lösung zu gelangen. Er hatte die Empfindung, Herr Göppel warte zu einem bestimmten Zweck auf seine Promovierung. Auch Agnes schien es zu fühlen, denn sie griff ein und lenkte das Gespräch ab. Als Diederich sich verabschiedet hatte, ging sie mit hinaus und flüsterte ihm zu:

„Morgen um drei bei dir.“

Bor jäher Freude griff er nach ihr und küsste sie, zwischen den Türen, während gleich daneben das Mädchen mit dem Geschirr rasselte. Sie fragte traurig: „Denkst du denn gar nicht daran, was mir passiert, wenn jetzt jemand kommt?“ Er war betroffen und verlangte als Zeichen ihrer Verzeihung noch einen Kuss. Sie gab ihn.

Um drei Uhr pflegte Diederich aus dem Café ins Laboratorium zurückzukehren. Statt dessen war er schon um zwei Uhr wieder in seinem Zimmer. Richtig kam sie noch vor drei. „Wir haben es beide nicht erwarten können! Wie wir uns liebhaben!“ Es war schöner als das erstemal, viel schöner. Keine Träne mehr, keine Furcht; und die Sonne schien herein. Diederich, breitete Agnes’ Haar in der Sonne aus und badete sein Gesicht darin.

Sie blieb, bis es fast schon zu spät war, die Einkäufe zu machen, die sie zu Hause vorgeschützt hatte. Sie musste laufen. Diederich, der mitlief, war sehr besorgt, dass es ihr schaden könne. Aber sie lachte, sah rosig aus und nannte ihn ihren Bären. Immer endeten nun so die Tage, an denen sie kam. Immer waren sie glücklich. Herr Göppel stellte fest, dass es Agnes besser gehe als je, und das verjüngte ihn selbst. Daher wurden auch die Sonntage jedesmal heiterer. Es dauerte bis abends, dann ward Punsch gemacht, Diederich musste Schubert spielen, oder er und der Schwager sangen Burschenlieder und Agnes begleitete sie, Manchmal sahen sie sich nacheinander um, beiden war zumut, als werde ihr Glück gefeiert.

Es kam vor, dass im Laboratorium der Diener zu Diederich hintrat und ihm meldete, draussen sei eine Dame. Er stand sofort auf, stolz errötend unter den verständnisvollen Blicken der Kollegen. Und dann bummelten sie, gingen ins Café, ins Panoptikum; und da Agnes gern Bilder sah, erfuhr Diederich auch, dass es Kunstausstellungen gab. Agnes liebte es, vor einem Bild, das ihr gefiel, einer sansten, festtägigen Landschaft aus schöneren Ländern, lange stehenzubleiben, mit halbgeschlossenen Augen, und Träume auszutauschen mit Diederich.

„Sieh nur recht hin, dann merkst du, das ist kein Rahmen, es ist ein Tor mit goldenen Stufen, die gehen wir hinunter und über den Weg, und biegen die Weissdornbüsche weg und steigen in den Kahn. Fühlst du wohl, wie er schaukelt? Das kommt, weil wir die Hand durch das Wasser schleifen, es ist so warm. Drüben am Berg, der weisse Punkt, du weisst schon, es ist unser Haus, dahin fahren wir. Siehst du, siehst du?“

„Ja, ja“, sagte Diederich voll Eifer. Er kniff die Lider ein und sah alles, was Agnes wollte. Er geriet so sehr in Feuer, dass er ihre Hand nahm, um sie zu trocknen. Dann setzten sie sich in einen Winkel und sprachen von den Reisen, die sie machen wollten, dem sorgenlosen Glück in sonniger Ferne, von Liebe ohne Ende. Diederich glaubte, was er sagte im Grunde wusste er wohl, dass er bestimmt sei, zu arbeiten und ein praktisches Leben zu führen, ohne viel Musse für Überschwenglichkeiten. Aber was er hier sagte, war von einer höheren Wahrheit als alles, was er wusste. Der eigentliche Diederich, der, der er hätte sein sollen, Sprach wahr. — Aber Agnes: wie sie nun aufstanden und gingen, war sie blass und schien müde. Ihre schönen blonden Augen hatten einen Glanz, der Diederich beklommen machte, und sie fragte leise und zitternd:

„Wenn unser Kahn nun umgeschlagen wäre?“

„Dann hätte ich dich gerettet!“ sagte Diederich entschlossen.

„Aber es ist weit vom Ufer, und das Wasser ist schrecklich tief.“

Da er ratlos war:

„Wir hätten ertrinken müssen. Sag’, wärst du gern mit mir gestorben?“

Diederich sah sie an, dann schloss er die Augen.

„Ja“, sagte er mit einem Seufzer.

Nachher aber bereute er ein solches Gespräch. Er hatte wohl gemerkt, warum Agnes plötzlich in eine Droschke steigen und heimfahren musste. Sie hatte krampfhafte Röte bis in die Stirn gehabt, und er sollte nicht sehen, wie sie hustete. Den ganzen Nachmittag bereute Diederich nun. Solche Sachen waren ungesund, führten zu nichts und machten Ungelegenheiten. Sein Professor hatte schon von den Besnchen der Dame ersahren. Es ging nicht länger, dass sie ihn wegen jeder Laune von seiner Arbeit wegholte. Er fetzte es ihr schonend auseinander. „Du hast wohl recht“, sagte sie darauf. „Ordentliche Menschen brauchen feste Stunden. Aber wenn ich nun um halb sechs zu dir kommen soll, und am meisten geliebt hab’ ich dich schon um vier?“

Er fühlte Spott heraus, vielleicht sogar Geringschätzung, und Mard grob. Eine Geliebte, die ihn an seiner Karriere hindern wollte, körine er überhaupt nicht brauchen. So habe er sich die Sache nicht vorgestellt. Da bat Agnes um Verzeihung. Sie wollte ganz bescheiden werden und in seinem Zimmer auf ihn warten. Wenn er noch zu tun hatte, oh! er brauchte keine Rücksicht zu nehmen. Das beschämte Diederich, er ward weich und überliess sich, zusammen mit Agnes, den Klagen über eine Welt, in der es nicht nur Liebe gab. „Muss es denn sein?“ fragte Agnes. „Du hast ein wenig Geld, ich auch. Warum Karriere machen und dich abhetzen? Wir könnten es so gut haben.“ Diederich sah es ein — nachträglich aber nahm er ihr es übel. Nun liess er sie warten, halb mit Absicht. Sogar den Besuch politischer Versammlungen erklärte er für eine Pflicht, die der Zusammenkunft mit Agnes vorangehe. Eines Abends im Mai, wie er verspätet heimkam, traf er vor der Tür einen jungen Mann in Einjährigenuniform, der ihn zögernd ansah. „Herr Diederich Hessling?“ — „Ach ja,“ stammelte Diederich, „Sie — du — Sie sind wohl Herr Wolfgang Buck?“

Der jüngste Sohn des grossen Mannes von Netzig hatte sich endlich entschlossen, dem Befehl seines Vaters zu folgen und Diederich aufznsuchen. Diederich nahm ihn mit hinauf, er fand so schnell keinen Vorwand, um ihn zu entfernen, und drinnen sass Agnes! Im Flur sprach er laut, damit sie es höre und sich verstecke. Mit Bangen öffnete er. Im Zimmer war niemand; auch ihr Hut lag nicht auf dem Bett; aber Diederich wusste wohl: sie wer noch soeben dagewesen. Er sah es dem Stuhl an, der nicht ganz am Fleck stand, er fühlte es an der Luft, die noch leise zu schwingen schien vom Hindurchstreifen ihres Kleides. Sie musste in dem fensterlosen kleinen Gelass sein, wo sein Waschtisch stand. Er schob einen Sesscl davor und murrte, unwirsch vor Verlegenheit, über die Wirtin, die nicht aufräume. Wolfgang Buck meinte, er komme wohl ungelegen. „O nein?“ versicherte Diederich. Er lud den Gast zum Sitzen ein und brachte Kognak. Buck entschuldigte sich wegen der ungewöhnlichen Stunde; der Dienst lasse ihm keine Wahl. „Das kennen mir“, sagte Diederich; und um Fragen zuvorzukommen, berichtete er sofort, dass ein Jahr schon hinter ihm liege. Er sei begeistert vom Militär, es sei das Wahre. Wer ganz dabei bleiben könnte! Leider riefen ihn Familienpflichten. Buck lächelte, ein weiches, skeptisches Lächeln, das Diederich missfiel. „Nun ja, die Offiziere: man ist menigstens unter Leuten mit guten Manieren.“

„Sie verkehren mit ihnen?“ fragte Diederich, und er meinte es höhnisch. Aber Buck erklärte einfach, dass er zuweilen in die Offiziersmesse geladen werde. Er zuckte die Achseln. „Ich gehe hin, weil ich es für nützlich halte, mich in allen Lagern umzusehen. Andererseits verkehre ich viel mit Sozialistein.“ Er lächelte wieder. „Manchmal möchte ich nämlich General werden und manchmal Arbeiterführer. Auf welche Seite ich schliesslich fallen werde, darauf bin ich selbst neugierig.“ Und er trank das zweite Glas Kognak aus. „Ein ekelhaster Mensch“, dachte Diederich. „Und Agnes in der Dunkelkammer.“ Er sagte: „Mit Ihren Mitteln steht es Ihnen ja frei, sich in den Reichstag wählen zu lassen oder was Ihnen sonst Spass macht. Ich bin auf praktische Arbeit angewiesen. Die Sozialdemokratie betrachte ich übrigens als meinen Feind, denn sie ist der Feind des Kaisers.“

„Wissen Sie das ganz genau?“ fragte darauf Buck. „Ich traue eher dem Kaiser eine heimliche Liebe für die Sozialdemokratie zu. Er wäre gern selber der erste Arbeiterführer geworden. Sie haben nur nicht gewollt.“

Diederich empörte sich. Das sei beleidigend für Seine Majestät. Aber Buck liess sich nicht stören. „Erinnern Sie sich nicht, wie er Bismarck gegenüber gedroht hat, er wolle den reichen Leuten seinen militärischen Schutz entziehen? Er hat, wenigstens anfangs, gerade solche Rancüne gegen die Reichen gehabt wie die Arbeiter — wenn auch natürlich aus, abweichenden Gründen, weil er sich nämlich schwer damit abfindet, dass auch andere Macht haben.“

Den Ausrufen, die in Diederichs Mienen standen, kam Buck zuvor. „Glauben Sie bitte nicht,“ sagte er lebhafter, „dass Antipathie aus mir spricht. Es ist im Gegenteil Zärtlichkeit: eine Art feindlicher Zärtlichkeit, wenn Sie wollen.“

„Verstehe ich nicht“, sagte Diederich.

„Nun ja: wie man sie für jemand hat, bei dem man seine eigenen Fehler wiederfindet, oder nennen Sie es Tugenden. Jedenfalls sind wir jungen Leute jetzt alle so wie unser Kaiser, dass wir nämlich unsere Persönlichkeit ausleben möchten und doch ganz gut fühlen, Zukunft hat nur die Masse. Einen Bismarck wird es nicht mehr geben und auch keinen Lassalle mehr. Vielleicht sind es die Begabteren unter uns, die sich das heute noch ableugnen möchten. Er jedenfalls möchte es sich ableugnen. Und wenn einem solche Unmenge Macht in den Schoss gefallen ist, wäre es auch wirklich Selbstmord, sich nicht zu überschätzen. Aber in tiefster Seele hat er sicher seine Zweifel an der Rolle, die er sich zumutet.“

„Rolle?“ fragte Diederich. Buck merkte es gar nicht.

„Denn die kann ihn weit führen, da sie in der Welt, wie sie heute nun einmal ist, verdammt paradox wirken muss. Diese Welt erwartet von keinem einzelnen irgend mehr als von seinem Nachbarn. Auf Niveau kommt es an, nicht auf Auszeichnung, und am allerwenigsten auf grosse Männer.“

„Erlauben Sie!“ Diederich warf sich in die Brust. „Und das Deutsche Reich, hätten wir das ohne grosse Männer? Hohenzollern sind immer grosse Männer.“ — Buck verzog schon wieder den Mund, wehmütig und skeptisch. „Dann müssen sie sich in acht nehmen. Und wir anderen auch. Der Kaiser steht, auf seine Verhältnisse üdertragen, vor derselben Frage wie ich. Soll ich General werden und mein ganzes Leben auf einen Krieg einrichten, der voraussichtlich nie mehr geführt werden wird? Oder ein womöglich genialer Volksführer, während das Volk doch schon so weit ist, dass es auf die Genies verzichten kann? Beides wäre Romantik, und Romantik führt bekanntlich zum Bankerott.“ Buck trank zwei Kognaks nacheinander.

„Was soll ich also werden?“

„Ein Alkoholiker“, dachte Diederich. Er fragte sich, ob es nicht seine Pflicht sei, Buck einen Krach zu machen. Aber Buck trug Uniform! Auch würde der Lärm vielleicht Agnes hervorgescheucht haben, und was konnte dann alles entstehen! Immerhin beschloss er, sich Bucks Ausserungen genau zu merken. Dachte der Mensch mit solchen Gesinnungen Karriere zu machen? Diederich erinnerte sich, dass auf der Schule Bucks deutsche Aufsätze, die zu geistreich waren, ihm ein unerklärtes, aber tiefes Misstrauen eingegeben hatten. „Sbimmt,“ dachte er, „so ist er geblieben. Ein Schöngeist. Die ganze Famikie ist so.“ Die Frau des alten Buck war eine Jüdin gewesen, die Theater gespielt hatte. Und Diederich fühlte sich nachträglich gedemütigt durch das herablassende Wohlwollen des alten Buck beim Begräbnis seines Vaters. Auch der junge demütigte ihn, fortwährend und mit allem: mit seinen überlegenen Redensarten, seinen Manieren, seinem Berkehr bei den Offizieren. War er ein Herr von Barnim? Ex war auch nur aus Retzig. „Ich hasse die ganze Familie!“ Und Diederich betrachtete aus gekniffenen Lidern dies fleischige Gesicht mit der weich gebogenen Nase und den feucht glänzenden Augen, die sannen. Buck stand auf. „Nun, wir sehen uns zu Hause wieder. Nächstes oder übernächstes Semester mache ich mein Examen, und was bleibt dann weiter übrig, als Rechtsanwalt spielen in Netzig . . . Und Sie?“ fragte er. Diederich erklärte streng, dass er seine Zeit nicht zu verlieren und noch im Sommer seine Doktorarbeit abzuschliessen denke. Damit führte er Buckhinaus. „Ein dummer Kerlbist du doch nur“, dachte er. „Merkst gar nicht, dass ich ein Mädchen bei mir habe.“ Er kehrte zurück, froh seiner Überlegenheit über Buck und auch über Agnes, die im Dunkeln gewartet und nicht gemuckt hatte.

Wie er aber die Tür öffnete, hing sie über einem Stuhl, ihre Brust ging heftig, und mit dem Taschentuch unterdrückte sie das Kellchen Sie sah ihm entgegen, aus geröteten Augen. Er sah: sie war da drinnen fast erstickt, und sie hatte geweint — indes er hier draussen getrunken und unnützes Zeug geredet hatte. Seine erste Regung war masslose Reue. Sie liebte iha! Da sass sie und liebte ihn sehr, dass sie alles ertrug! Er war im Begriff, die Arme zu erheben, vor sie hinzustürzen und sie weinend um Verzeihung zu bitten. Rechtzeitig hielt er sich zurück aus Furcht vor der Szene und der sentimentalen Stimmung nachher, die ihn wieder mehrere Arbeitstage kostete und ihr die Oberhand gab. Er tat ihr nicht den Willen! Denn natürlich übertrieb sie absichtlich. So küsste er sie flüchtig auf die Stirn und sagte: „Du bist schon da? Ich hab’ dich gar nicht kommen gesehen.“ Sie zuckte auf, wie um etwas zu erwidern, aber sie schwieg. Darauf erklärte er, es sei gerade jemand fortgegangen. „So ein Judenbengel, der sich aufspielt! Einfach ekelhaft!“ Diederich lief im Zimmer umher. Um Agnes nicht anfehen zu müssen, lief er immer schneller und redete immer heftiger. „Das sind unsere schlimmsten Feinde! Die mit ihrer sogenannten seinen Bildung, die alles antasten, was uns Deutschen heilig ist! Solch ein Judenbengel kann froh sein, dass wir ihn dulden. Soll er seine Pardekken büffeln und die Schnauze halten. Auf seine schörgeistigen Schmöker huste ich!“ schrie er noch lauter, mit der Absicht, auch Agnes zu kränken. Da sie nicht antwortete, nahm er einen neuen Anlauf. „Das kommt aber alles, weil jeder mich jetzt zu Hause findet. Jmmer muss ich deinetwegen auf der Bude hocken!“

Agnes sagte schüchtern: „Wir haben uns schon sechs Tage nicht gesehen. Sonntag bist du wieder nicht gekommen. Ich fürchte, du haft mich nicht mehr lieb.“ Er blieb vor ihr stehen. Von oben herab: „Mein liebes Kind, dass ich dich liebhabe; brauch’ ich dir wohl wirklich nicht mehr zu versichern. Aber eine andere Frage ist es, ob ich darum auch Luft habe, jeden Sonntag, deinen Tanten beim Häkeln zuzusehen und mit deinem Vater über Politik zu reden, wovon er nichts versteht.“ Agnes senkte den Kopf. „Früher war es so schön. Du standest dich schon so gut mit Papa.“ Diederich drehte ihr den Rücken zu und sah aus dem Fenster. Das war es eben: er fürchtete zu gut zu stehen mit Herrn Göppel. Durch seinen Buchhalter, den alten Sötbier, wusste er, dass Göppels Geschäft bergab ging. Seine Zellulose taugte nichts mehr, Sötbier bezog sie nicht mehr von ihm. Da wäre ein Schwiegersohn wie Diederich ihm freilich gelegen gekommen. Diederich fühlte sich umgarnt von diesen Leuten. Auch von Agnes! Er hatte sie im Verdacht, mit dem Alten zusammenzustecken. Entrüstet wandte er sich ihr wieder zu. „Und dann, liebes Kind, ehrlich gestanden: was wir beide tun, nicht wahr, das ist unsere Sache, aber deinen Vater lassen wir lieber aus dem Spiel. Beziehungen wie die unseren soll man mit Familienfreundschaft nicht verquicken. Mein sittliches Gefühl verlangt da reinliche Scheidung.“

Ein Augenblick verging, dann stand Agnes auf, als habe sie jetzt begriffen. Sie war tief errötet. Sie ging zur Tür. Diederich holte sie ein. „Aber Agnes, so hab’ ich es doch nicht gemeint. Es war doch nur, weil ich dich viel zu sehr achte —. Und ich kann ja auch wiederkommen Sonntag.“ Sie liess ihn reden, mit unbewegter Miene. „Nun sei doch wieder gemütlich“, bat er. „Du hast noch nicht mal deinen Hut abgenommen.“ Sie tat es. Er verlangte, sie solle sich auf den Diwan setzen, und sie setzte sich. Sie küsste ihn auch, wie er es wollte. Aber indes ihre Lippen lächelten und küssten, blieben ihre Augen starr und unbeteiligt. Plötzlich riss sie ihn in ihre Arme: er erschrak, er wusste nicht, ob es Hass war. Aber dann fühlte er sich heisser, geliebt als je.

„Heute war es aber wirklich schön. Was, meine kleine süsse Agnes?“ sagte Diederich, zufrieden und gutmütig.

„Adieu“, sagte sie, hastend nach Schirm und Beutel, während er sich erst ankleidete.

„Du hast es aber eilig.“ — „Weiter kann ich wohl nichts für dich tun.“ Sie war schon bei der Tür — plötzlich fiel sie mit der Schulter gegen den Pfosten und rührte sich nicht mehr. „Was ist denn los?“ Wie Diederich näher kam, sah er sie schluchzen. Er berührte sie. „Ja, was hast du denn?“ Da ward ihr Weinen laut und krampfhaft. Es hörte nicht auf. „Aber Agnes,“ sagte Diederich von Zeit zu Zeit, „was ist auf einmal geschehen, wir waren doch so vergnügt.“ Und ganz ratlos: „Hab’ ich dir was getan?“ Zwischen den Krisen und halb erstickt, brachte sie hervor: „Ich kann nicht. Entschuldige.“ Er trug sie auf den Diwan. Als es endlich vorbei war, schämte Agnes sich. „Verzeih! Ich kann nicht dafür.“ — „Kann denn ich dafür?“ — „Nein, nein. Es sind die Nerven. Verzeih!“ Mitleidig und geduldig brachte er sie bis zu einem Wagen. Nachträglich aber erschien ihm auch der Anfall als halbe Komödie und als eins der Mittel, die ihn endgültig einfangen sollten. Das Gefühl verliess ihn nicht mehr, dass Ränke gesponnen wurden gegen seine Freiheit und seine Zukunft. Er wehrte sich dagegen vermittels schroffen Auftretens, Betonung seiner männlichen Selbständigkeit und durch Kälte, sobald die Stimmung weich ward. Sonntags bei Göppels war er auf seiner Hut, wie in Feindesland; korrekt und unzugänglich. Wann seine Arbeit denn nun fertig werde? fragten sie. Er könne die Lösung morgen finden oder erst in zwei Jahren, das wisse er selbst nicht. Er betonte, dass er auch künftig finanziell abhängig von seiner Mutter bleibe. Er werde noch lange für nichts Zeit haben als einzig für das Geschäft. Und da Herr Göppel die idealen Werte des Lebens zu bedenken gab, lehnte Diederich barsch ab. „Noch gestern hab’ ich meinen Schiller verkauft. Denn ich habe keinen Sparren und lass mir nichts vormachen.“ Wenn er nach solchen Worten Agnes’ stummen und betrübten Blick auf sich fühlte, hatte er wohl einen Augenblick die Empfindung, als habe nicht er selbst gesprochen, als gehe er im Nebel, rede falsch und handle mider Willen. Aber das verging.

Agnes kam, sooft er sie bestellte, und ging fort, wenn es Zeit für ihn war, zu arbeiten oder zu kneipen. Sie verführte ihn nicht mehr zu Träumereien vor Bildern, seit er einmal an einem Wurstgeschäft angehalten und ihr erklärt hatte, das sei für ihn der schönste Kunstgenuss. Ihm selbst fiel es endlich auf das Herz, wie selten sie sich nur noch sahen. Er warf ihr vor, dass sie nicht darauf dringe, öster zu kommen. „Früher warst du ganz anders.“ „Ich muss warten“, sagte sie. „Worauf?“ „Dass auch du wieder so wirst. Oh! Ich weissganz sicher, es wird kommen.“

Er schwieg aus Furcht vor Auseinandersetzungen. Dennoch kam es, wie sie gesagt hatte. Seine Arbeit war endlich beendet und gutgeheissen, er hatte nur noch eine belanglose mündliche Prüfung zu bestehen und war in der gehobenen Stimmung einer Lebenswende. Wie Agues ihm ihren Glückwunsch brachte und Rosen dazu, brach er in Tränen aus und sagte, dass er sie immer, immer liebhaben werde. Sie berichtete, dass Herr Göppel soeben eine mehrtägige Geschäftsreise antrete. „Und nun ist das Wetter so wunderschön . . .“ Diederich fiel sofort ein: „Das müssen wir benutzen! Solche Gelegenheit haben wir noch nie gehabt!“ Sie beschlossen, aufs Land hinaus zu fahren. Agnes wusste von einem Ort namens Mittenwalde; es musste einsam dort sein und wmantisch wie der Name: „Den ganzen Tag werden wir beifammen sein!“ — „Und die Nacht auch“, setzte Diederich hinzu.

Schon der Bahnhof, von dem man abfuhr, war entlegen und der Zug ganz klein und altmodisch. Sie blieben allein in ihrem Wagen; es dunkelte langsam, der Schaffner zündete ihnen eine trübe Lampe an, und sie sahen, eng umschlungen, stumm und mit grossen Augen hinaus in das flache, eintönige Ackerland. Da hinausgehen, zu Fuss, weit fort, und sich verlieren in der guten Dunkelheit! Bei einem Dorf mit einer Handvoll Häuser wären sie fast ausgestiegen. Der Schaffner holte sie jovial zurück; ob sie denn auf Stroh übernachten wollten. Und dann langken sie an. Das Wirtshaus hatte einen grossen Hof, ein weites Gastzimmer mit Petroleumlampen unter der Balkendecke und einen biederen Wirt, der Agnes „gnädige Frau“ nannte und schlaue slawische Augen dazu machte. Sie waren voll heimlichen Einverständnisfes und befangen. Nach dem Effen wären sie gern gleich hinaufgegangen, wagten es aber nicht und blätterten gehorsam in den Zeitschriften, die der Wirt ihren hinlegte. Wie er den Rücken wandte, werfen sie einander einen Blick zu, und, husch, waren sie auf der Treppe. Noch war kein Licht im Zimmer, die Tür stand noch offen, und schon lagen sie einander in den Armen.

Ganz früh am Morgen schien die Sonne herein. Im Hof drunten pickten Hühner und flatterten auf den Tisch vor der Laube. „Dort wollen wir frühstüden!“ Sie gingen hinab. Wie herrlich warm! Aus der Scheuer duftete es köstlich nach Heu. Kaffee und Brot schmeckten ihnen frischer als sonst. So frei war einem um das Herz, das ganze Leben stand offen. Stundenweit wollten sie gehen; der Wirt musste die Strassen und Dörfer nennen. Sie lobten freudig sein Haus und seine Betten. Sie seien wohl auf der Hochzeitsreise? „Stimmt“ — und sie lachten herzhaft.

Die Pflastersteine der Hauptstrasse streckten ihre Spitzen nach oben, und die Julisonne färbte sie bunt. Die Häuser waren höckrig, schief und so klein, dass die Strasse zwischen ihnen sich ausnahm wie ein Feld mit Steinen. Die Glocke des Krämers klapperte lange hinter den Fremden her. Wenige Leute, halb städtisch gekleidet, schlichen durch den Schatten und wandten sich um nach Agnes und Diederich, die stolze Gesichter machten, denn sie waren die Elegantesten hier. Agnes entdeckte das Modengeschäft mit den Hüten der feinen Damen. „Nicht zu glauben! Das hat man in Berlin vor drei Jahren getragen!“ Dann traten sie durch ein Tor, das wacklig aussah, in das Land hinaus. Die Felder wurden gemäht. Der Himmel war blau und schwer, die Schwalben schwammen darin wie in trägem Wasser. Die Bauernhäuser dort drüben waren eingetaucht in heisses Flimmern, und ein Wald stand schwarz, mit blauen Wegen. Agnes und Diederich fassten sich bei den Händen, und ohne Verabredung fingen sie zu singen an: ein Lied für wandernde Kinder, das sie noch aus der Schule kannten. Diederich machte seine Stimme tief, damit Agnes ihn bewundere. Als sie nicht weiter wussten, wandten sie einander die Gesichter zu und küssten sich, im Gehen.

„Jetzt seh’ ich erst recht, wie hübsch du bist“, sagte Diederich und sah zärtlich in ihr rosiges Gesicht, mit den blönden Wimpern um diese blonden, goldgestirnten Augen. „Der Sommer steht mir gut“ — und Agnes atmete frei auf, dass ihre Hemdbluse geschwellt ward. Schlank ging sie dahin, mit schmalen Hüften und dem blauen Schleier, der ihr nachwehte. Diederich hatte es zu warm, er zog den Rock aus, dann auch die Weste, und endlich gestand er, dass er sich Schatten wünsche. Sie fanden welchen, am Rand eines Feldes, worauf noch das Korn stand, und unter einem Akazienbusch, der noch duftete. Agnes setzte sich und legte Diederichs Kopf in ihren Schoss. Sie spielten noch miteinander und scherzten: plötzlich merkte sie, dass er einschlief.

Er wachte auf, sah um sich, und als er Agnes’ Gesicht fand, erglänzte er selig. „Lieber“, sagte sie. „Was du für ein gutes, dummes Gesicht machst.“ — „Erlaub’ mal! Ich habe doch höchstens fünf Minuten — nein, wahrhaftig, eine Stunde hab’ ich geschlafen. Hast du dich gelangweilt?“ Aber sie war erstaunter als er, dass so viel Zeit vergangen war. Seinen Kopf zog er unter der Hand hervor, die sie ihm auf das Haar gelegt hatte, als er einschlief.

Zwischen den Feldern gingen sie zurück. In einem lag eine dunkle Masse; und als sie durch die Halme spähten, war es ein alter Mann mit einer Pelzkappe, rostroter Jacke und Samthosen, die auch schon rötlich waren. Seinen Bart hatte er sich, zusammengekrümmt, um die Knie gewickelt. Sie bückten sich tiefer, um ihn zu erkennen. Da bemerkten sie, dass er sie schon längst aus schwarzen Funkelaugen ansah. Unwillkürlich schritten sie schneller aus, und in den Blicken, die sie einander zuwandten, stand Märchengrauen. Sie blickten umher: sie waren in einem weiten, fremden Land, die kleine Stadt dort hinten schlief fremdartig in der Sonne, und der Himmel sah ihnen aus, als seien sie Tag und Nacht gereist.

Wie abenteuerlich das Mittagessen in der Laube des Wirtshauses, mit der Sonne, den Hühnern, dem offenen Küchenfenster, aus dem Agnes sich die Teller reichen liess. Wo war die bürgerliche Ordnung der Blücherstrasse, wo Diederichs angestammter Kneiptisch? „Ich gehe nicht wieder fort von hier“, erklärte Diedericht. „Dich lass’ ich auch nicht fort.“ Und Agnes: „Warum denn auch? Ich schreibe meinem Papa und lass’ es ihm durch meine Freundin i schicken, die in Küstrin verheiratet ift. Dann glaubt er, ich bin dort.“

Später gingen sie nochmals aus, nach der anderen Seite, wo Wasser floss und der Horizont von den Flügeln dreier Windmühlen umsegelt ward. Im Kanal lag ein Boot; sie mieteten es und schwammen dahin. Ein Schwan kam ihnen entgegen. Der Schwan und ihr Boot glitten lautlos aneinander vorüber. Unter herniederhängenden Büschen legte es von selbst an — und Agnes fragte unvermittelt nach Diederichs Mutter und seinen Schwestern. Er sagte, dass sie immer gut zu ihm gewesen seien, und dass er sie liebhabe. Er wollte sich die Bilder der Schwestern schicken lassen, sie waren hübsch geworden; oder vielleicht nicht hübsch, aber so anständig und sanft. Die eine, Emmi, las Gedichte, wie Agnes. Diederich wollte für beide sorgen und sie verheiraten. Seine Mutter aber, die behielt er bei sich, denn ihr hatte er alles Gute im Leben verdankt, bis Agnes gekommen war. Und er erzählte von den Dämmerstunden, den Märchen unter den Weihnachtsbäumen seiner Kindheit und sogar von dem Gebet „aus dem Herzen“. Agnes hörte zu, ganz versunken. Endlich seufzte sie auf. „Deine Mutter möchte ich kennenlernen. Meine hab’ ich nicht gekannt.“ Er küsste sie, mitleidig, achtungsvoll und mit einer dunklen Empfindung von schlechtem Gewissen. Er fühlte: jetzt hatte er ein Wort zu sprechen, das sie ganz und gar für immer trösten musste. Aber er schob es hinaus, er konnte nicht. Agnes sah ihn tief an. „Ich weiss,“ sagte sie langsam, „dass du im Herzen ein guter Mensch bist. Du musst nur manchmal anders tun.“ Darüber erschrak er. Dann sagte sie, als entschuldigte sie sich: „Heute hab ich gar keine Furcht vor dir.“

„Hast du denn sonst Furcht?“ fragte er reumütig. Sie sagte:

„Ich habe mich immer gefürchtet, wenn die Leute recht hochgemut und lustig waren. Bei meinen Freundinnen früher war es mir oft, als könnte ich mit ihnen nicht Schritt halten, und sie müssten es merken und mich verachten. Sie merkten es aber nicht. Schon als Kind: ich hatte eine Puppe mit grossen blauen Glasaugen, und als meine Mutter gestorben war, musste ich nebenan bei der Puppe sitzen. Sie sah mich immer starr an mit ihren aufgerissenen harten Augen, die sagten mir: Deine Mutter ist tot, jetzt werden dich alle so ansehen wie ich. Gerne hätte ich sie auf den Rücken gelegt, damit sie die Augen schloss. Aber ich wagte es nicht. Hätte ich denn auch die Menschen auf den Rücken legen können? Alle haben solche Augen, und manchmal —“ sie verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter, „manchmal sogar du.“

Der Hals mar ihm zugeschnürt, er tastete über ihren Nacken, und seine Stimme schwankte. „Agnes! Süsse Agnes, du weisst gar nicht, wie ich dich liebhabe . . . Ich hab’ Furcht vor dir gehabt, ja, ich! Drei Jahre lang hab’ ich mich nach dir gesehnt, abet du warst zu schön für mich, zu fein, zu gut . . .“ Sein ganzes Herz schmolz; er sagte alles, was er ihr nach ihrem ersten Besuch geschrieben hatte, in dem Brief, der noch in seinem Schreibtisch lag. Sie hatte sich aufgerichtet und hörte ihm zu, entzückt, die Lippen geöffnet. Sie jubelte leise: „Ich wusste es, so bist du, du bist wie ich!“

„Wir gehören zusammen“, sagte Diederich und presste sie an sich; aber er war erschrocken über seinen Ausruf: „Jetzt wartet sie;“ dachte er, jetzt soll ich sprechen.“ Er wollte es, aber er fühlte sich gelähmt. Der Druck seiner Arme auf ihrem Rücken ward immer kraftloser . . . Sie bewegte sich: er wusste, nun wartete sie nicht mehr. Und sie lösten sich voneinander, ohne sich anzusehen. Diederich schlug plötzlich die Hände vor das Gesicht und schluchzte. Sie fragte nicht, weshalb; sie strich ihm tröstend über das Haar. Das währte lange.

Über ihn hinweg, ins Leere, sagte Agnes: „Hab’ ich denn geglaubt, dass es dauern würde? Es musste schlimm enden, weil es so schön war.“

Er fuhr auf, verzweifelt. „Es ist doch nicht aus!“ Sie fragte:

„Glaubst du an das Glück?“

„Wenn ich dich verlieren soll, nicht mehr!“

Sie murmelte: „Du wirst fortgehen, hinaus in das Leben und mich vergessen.“

„Lieber sterben!“ — und er zog sie an sich. Sie flüsterte an seiner Wange:

„Sieh, wie breit hier das Wasser ist, ein See. Unser Boot hat sich von selbst losgemacht und uns hinausgeführt. Weisst du noch, jenes Bild? Und der See, auf dem wir schon einmal im Traum fuhren? Wohin wohl?“ Und noch leiser: „Wohin mit uns?“

Er antwortete nicht mehr. Ganz umschlungen und die Lippen aufeinander, senkten sie sich rückwärts immer tiefer über das Wasser. Drängte sie ihn? Zog er sie? Niemals waren sie so sehr eins gewesen. Diederich fühlte: nun war es gut. Er war, mit Agnes zu leben, nicht edel genug gewesen, nicht gläubig, nicht tapfer genug. Jetzt hatte er sie eingeholt, nun war es gut.

Plötzlich, ein Stoss: sie schnellten in die Höhe. Diederich hatte so viel Kraft gebraucht, dass Agnes von ihm fort und zu Boden fiel. Er strich sich über die Stirn. „Was haben wir denn da?“ — Noch kalt vom Schrecken und als sei er beleidigt, sah er weg von ihr. „So unvorsichtig darf man nicht sein beim Bootfahren.“ Er liess sie allein aufstehen, griff sogleich nach den Rudern und fuhr zurück. Agnes hielt das Gesicht nach dem Ufer gewendet. Einmal wollte sie zu ihm hinsehen; aber sein Blick traf sie so misstrauisch und hart, dass sie zusammenfuhr.

In der sinkenden Dämmerung gingen sie, immer schneller, die Landstrasse zurück. Zuletzt liefen sie fast. Und erst als es dunkel genug war, dass sie ihre Gesichter nicht mehr deutlich erkannten, sprachen sie. Morgen früh kam Herr Göppel vielleicht heim. Agnes musste heim . . . Wie sie beim Wirtshaus ankamen, pfiff in der Ferne schon der Zug. „Nicht mal mehr essen kann man!“ sagte Diederich mit künstlicher Unzufriedenheit. Hals über Kopf die Sachen holen, zahlen und fort. Der Zug fuhr ab, kaum dass sie drin waren. Ein Glück, dass sie Atem zu schöpfen und die eiligen Geschäste der letzten Viertelstunde zu besprechen hatten. Das letzte Wort darüber war gefallen, und nun sass jeder da, allein bei trüber Lampe und betäubt wie nach einem grossen Misserfolg. Das dunkle Land da draussen, hatte es einmal gelockt und Gutes versprochen? Das sollte erst gestern gewesen sein? Man fand nicht zurück. Kamen nicht endlich die Lichter der Stadt und befreiten einen?

Bei der Ankunft waren sie darüber einig, dass es sich nicht verlohne, in denselben Wegen zu steigen. Diederich nahm die Trambahn. Hände und Augen streisten sich nur.

„Uff!“ machte Diederich, als er allein war. „Das wäre erledigt.“ Er sagte sich: „Es hätte ebensogut schief gehen können.“ Und mit Empörung: „So eine hysterische Person!“ Sich selbst würde sie sicher am Boot festgehalten haben. Er hätte das Bad allein nehmen müssen. Auf den ganzen Trick war sie doch nur verfallen, weil sie durchaus geheiratet werden wollte! „Die Weiber sind zu gerissen, und sie haben keine Hemmungen, da kommt unsereiner nun mal nicht mit. Diesmal hat sie mich, weiss Gott, noch ärger an der Nase herumgeführt als damals mit Mahlmann. Na, mir soll es eine Lehre für das Leben sein. Nun aber Schluss!“ Und festen Schrittes ging er zu den Neuteutonen. Fortan verbrachte er jeden Abend dort, und am Tage büffelte er für das mündliche Examen, aber zur Vorsicht nicht zu Hause, sondern im Laboratorium. Wenn er dann heimkam, ward ihm das Steigen der Stockwerke schwer, er musste sich gestehen, dass er Herzklopfen habe. Zögernd öffnete er die Zimmertür: — nichts; und nachdem ihm anfangs leichter geworden war, kam es schliesslich doch jedesmal dazu, dass er die Wirtin fragte, ob jemand dagewesen sei. Niemand war dagewesen.

Nach vierzehn Tagen aber kam ein Brief. Er hatte ihn geöffnet, bevor er es bedachte. Dann wollte er ihn ungelesen in den Schreibtisch werfen — zog ihn aber wieder hervor und hielt ihn weit fort vom Gesicht. Hastig, mit misstrauischen Augen griff er hier und da eine Zeile heraus. „Ich bin so unglücklich . . .“ „Kennen wir!“ antwortete Diederich. „Ich wage mich nicht zu Dir . . .“ „Dein Glück!“ „Es ist schrecklich, dass wir uns fremd geworden sind . . .“ „Wenigstens siehst du es ein.“ „Verzeih mir, was geschehen ist, oder ist nichts geschehen? . . .“ „Gerade genug!“ „Ich kann nicht weiterleden . . .“ „Fängst du schon wieder an?“ Und er schleuderte das Blatt endgültig in die Lade, zu jenem anderen, das er in einer zuchtlosen Nacht mit Überschwenglichkeiten bedeckt und zum Glück nicht abgeschickt hatte.

Eine Woche später aber, wie er in der Nacht heimkam, hörte er hinter sich Schritte, die besonders klangen. Er fuhr herum: eine Gestalt blieb stehen, die Hände ein wenig erhoben und leer vor sich hingehalten. Noch während er das Haustor aufschloss und eintrat, sah er sie im Halbdunkel dastehen. Im Zimmer machte er kein Licht. Er schämte sich, indes sie aus dem Dunkel hinaufspähte, das Zimmer zu beleuchten, das ihr gehört hatte. Es regnete. Wie viele Stunden hatte sie gewartet? Gewiss stand sie noch immer dort, mit ihrer letzten Hoffnung. Das war nicht auszuhalten! Er wollte das Fenster aufreissen — und wich zurück. Einmal fand er sich plötzlich auf der Treppe, mit dem Hausschlüssel in der Hand. Gerade gelang es ihm noch, umzukehren. Darauf schloss er ah und zog sich aus. „Mehr Haltung, mein Lieber!“ Denn diesmal wäre man aus der Sache nicht mehr leicht herausgekommen. Das Mädel war zweifellos zu bedauern, aber schliesslich hatte sie es gewollt. „Vor allem habe ich Pflichten gegen mich selbst.“ — Am Morgen, schlecht ausgeschlafen, nahm er es ihr sogar sehr übel, dass sie noch einmal dersucht hatte, ihn aus seiner Bahn zu reissen. Jetzt, da sie wusste, dass die Prüfung bevorstand! Solche Gewissenlosigkeit sah ihr ähnlich. Und durch die nächtliche Szene, diese Bettlerrolle im Regen, hatte ihre Gestalt nachträglich etwas Verdächtiges und Unheimliches bekommen. Er betrachtete sie als endgültig gesunken. „Auf keinen Fall mehr das geringste!“ beteuerte er sich, und er beschloss, noch für den kurzen Rest seines Aufenthaltes die Wohnung zu wechseln: „selbst wenn es mit einem Geldopfer verbunden sein solite“. Glücklicherweise suchte ein Kollege grade ein Zimmer; Diederich verlor nichts und zog sofort um, weit hinauf nach dem Norden. Kurz darauf bestand er sein Examen. Die Neuteutonia feierte ihn mit einem Frühschoppen, der bis gegen Abend dauerte. Zu Hause ward ihm gesagt, dass in seinem Zimmer ein Herr auf ihn warte. „Es wird Wiebel sein,“ dachte Diederich, „er muss mir doch Glück wünschen.“ Und von Hoffnung geschwellt: „Vielleicht ist es der Assessor von Barnim?“ Er öffnete, und er prallte zurück. Denn da stand Herr Göppel.

Auch er fand nicht gleich Worte. „Nanu, im Frack?“ sagte er dann, und zögernd: „Waren Sie vielleichtbeimir?“

„Nein“, sagte Diederich und erschrak aufs neue. „Ich habe nur meine Doktorprüfung gemacht.“

Göppel erwiderte: „Ach so, ich gratuliere.“ Dann brachte Diederich hervor: „Wie haben Sie denn meine neue Adresse gefunden?“ Und Göppel antwortete: „Ihrer früheren Wirtin haben Sie sie allerdings nicht gesagt. Aber es gibt ja auch sonst noch Mittel.“ Darauf sahen sie einander an. Göppels Stimme war ruhig gewesen, aber Diederich fühlte schreckliche Drohungen darin. Er hatte den Gedanken an die Katastrophe immer hinausgeschoben, und jetzt war sie da. Er musste sich setzen.

„Nämlich,“ begann Göppel, „ich komme, weil es Agnes gar nicht gut geht.“

„Oh!“ machte Diederich mit verzweifelter Heuchelei. „Was fehlt ihr denn?“ Herr Göppel wiegte bekümmert den Kopf. „Das Herz will nicht; aber es sind natürlich nur die Nerven . . . Natürlich“, wiederholte er, nachdem er vergeblich gewartet hatte, dass Diederich es wiederhole. „Und nun wird sie mir melancholisch vor Langeweile, und ich möchte sie aufheitern. Ausgehen darf sie nicht. Aber kommen Sie doch mal wieder zu uns, morgen ist Sonntag.“

„Gerettet!“ fühlte Diederich. „Er weiss nichts.“ Vor Freude ward er zum Diplomaten, er kratzte sich den Kops „Ich hatte es mir schon fest vorgenommen. Aber jetzt muss ich dringend nach Haus, unser alter Geschäftsführer ist krank. Nicht mal meinen Professoren kann ich Abschiedsbesuche machen, morgen früh reise ich gleich ab.“

Göppel legte ihm die Hand auf das Knie. „Sie sollten es sich überlegen, Herr Hessling. Seinen Freunden schuldet man manchmal auch was.“

Er sprach langsam und hatte einen so eindringlichen Blick, dass Diederich wegsehen musste. „Wenn ich nur könnte“, stammelte er; Göppel sagte:

„Sie können. Überhaupt können Sie alles, was hier in Frage kommt.“

„Wieso?“ Diederich erstarrte im Innern. „Sie wissen wohl, wieso“, sagte der Vater; und nachdem er seinen Stuhl ein Stück zurückgeschoben haste: „Sie denken doch hoffentlich nicht, dass Agnes mich hergeschickt hat? Im Gegenteil, ich hab’ ihr versprechen müssen, dass ich garnichts tue und Sie ganz in Ruhe lasse. Aber dann hab’ ich mir überlegt, dass es doch eigentlich zu dumm wäre, wenn wir beide noch lange umeinander herum gehen wollten, so wie wir uns kennen, und wie ich Ihren seligen Vater gekannt habe, und bei unserer Geschäftsverbindung und so weiter.“

Diederich dachte: „Die Geschäftsverbindung ist gelöst, mein Bester.“ Er wappnete sich.

„Ich gehe gar nicht um Sie herum, Herr Göpper.“

„Na also. Dann ist ja alles in Ordnung. Ich verstehe wohl: der Sprung in die Ehe, den tut kein junger Mann, besonders heute, ohne erst mal zu scheuen. Aber wenn die Geschichte so glatt liegt wie hier, nicht wahr? Unsere Branchen greifen ineinander, und wenn Sie Ihr väterliches Geschäft ausdehnen wollen, kommt Ihnen Agnes’ Mitgift sehr gelegen.“ Und in einem Atem weiter, indes seine Augen adirrten: „Momentan kann ich zwar nur zwölftausend Mark flüssig machen, aber Zellulose kriegen Sie, soviel Sie wollen.“

„Siehst du wohl?“ dachte Diederich. „Und die zwölftausend müsstest du dir auch pumpen — wenn du sie noch kriegst.“ — „Sie haben mich missverstanden, Herr Göppel“, erklärte er. „Ich denke nicht ans Heiraten. Dazu wären zu grosse Geldmittel nötig.“

Herr Göppel sagte mit angstvollen Augen und lachte dabei: „Ich kann noch ein übriges tun . . .“

„Lassen Sie nur“, sagte Diederich, vornehm abwehrend.

Göppel ward immer ratloser.

„Ja, was wollen Sie dann überhaupt?“

„Ich? Gar nichts. Ich dachte, Sie wollten was, weil Sie mich besuchen.“

Göppel gab sich einen Ruck. „Das geht nicht, lieber Hessling. Nach dem, was nun mal vorgefallen ist. Und besonders, da es schon so lange dauert.“

Diederich mass den Vater, er zog die Mundwinkel herab. „Sie wussten es also?“

„Nicht sicher“, murmelte Göppel. Und Diederich, von oben:

„Das hätte ich auch merkwürdig gefunden.“

„Ich habe eben Vertrauen gehabt zu meiner Tochter.“

„So irrt man sich“, fagte Diederich, zu allem entschlossen, womit er sich wehren konnte. Göppels Stirn fing an, sich zu röten. „Zu Ihnen hab’ ich nämlich auch Vertrauen gehabt.“

„Das heisst: Sie hielten mich für naiv.“ Diederich schob die Hände in die Hosentaschen und lehnte sich zurück.

„Nein!“ Göppel sprang auf. „Aber ich hielt Sie nicht für den Schubbejack, der Sie sind!“

Diederich erhob sich mit formvoller Ruhe. „Geben Sie Satisfaktion?“ fragte er. Göppel schrie:

„Das möchten Sie wohl! die Tochter verführen und den Vater abschiessen! Dann ist Ihre Ehre komplett!“

„Davon verstehen Sie nichts!“ Auch Diederich fing an, sich aufzuregen. „Ich habe Ihre Tochter nicht verführt. Ich habe getan, was sie wollte, und dann war sie nicht mehr loszuwerden. Das hat sie von Ihnen.“ Mit Entrüstung: „Wer sagt mir, dass Sie sich nicht von Anfang an mit ihr verabredet haben? Dies ist eine Falle!“

Göppel hatte ein Gesicht, als wollte er noch lauter schreien. Plötzlich erschrak er, und mit seiner gewöhnlichen Stimme, nur dass sie zitterte, sagte er: „Wir geraten zu sehr in Feuer, dafür ist die Sache zu wichtig. Ich habe Agnes versprochen, dass ich ruhig bleiben will.“

Diederich lachte höhnisch auf. „Sehen Sie, dass Sie schwindeln? Vorhin sagten Sie, Agnes weiss gar nicht, dass Sie hier sind.“

Der Vater lächelte entschuldigend. „Im guten einigt man sich schliesslich immer. Nicht wahr, mein lieber Hess ling?“

Aber Diederich fand es gefährlich, wieder gut zu werden.

„Der Teufel ist Ihr lieder Hessling!“ schrie er. „Für Sie heiss’ ich Herr Doktor!“

„Ach so“, machte Göppel, ganz start. „Es ist wohl das erstemal, dass jemand Herr Doktor zu Ihnen sagen muss? Na, auf die Gelegenheit können Sie stolz sein.“

„Wollen Sie vielleicht auch noch meine Standesehre antasten?“ Göppel wehrte ab.

„Gar nichts will ich antasten. Ich frage mich nur, was wir Ihnen getan haben, meine Tochter und ich. Müssen Sie denn wirklich so viel Geld mithaben?“

Diederich fühlte sich erröten. Um so entschlossener ging er vor.

„Wenn Sie es durchaus hören wollen: mein moralisches Empfinden verbietet mir, ein Mädchen zu heiraten, das mir ihre Reinheit nicht mit in die Ehe bringt.“

Sichtlich wollte Göppel sich nochmals empören; aber er konnte nicht mehr, er konnte nur noch das Schluchzen unterdrücken.

„Wenn Sie heute nachmittag den Jammer gesehen hätten! Sie hat es mir gestanden, weil sie es nicht mehr aushielt. Ich glaube, nicht mal mich liebt sie mehr: nur Sie. Was wollen Sie denn, Sie sind doch der erste.“

„Weiss ich das? Vor mir verkehrte bei Ihnen ein Herr namens Mahlmann.“ Und da Göppel zurückwich, als sei er vor die Brust gestossen:

„Nun ja, kann man das wissen? Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.“

Er sagte noch: „Kein Mensch kann von mir verlangen, dass ich so eine zur Mutter meiner Kinder mache. Dafür hab’ ich zuviel soziales Gewissen.“ Damit drehte er sich um. Er hockte nieder und legte Sachen in den Koffer, der geöffnet dastand.

Hinter sich hörte er den Vater nun wirklich schluchzen — und Diederich konnte nicht hindern, dass er selbst gerührt ward: durch die edel männliche Gesinnung, die er ausgesprochen hatte, durch Agnes’ und ihres Vaters Unglück, das zu heilen ihm die Pflicht verbot, durch die schmerzliche Erinnerung an seine Liebe und all diese Tragik des Schicksals . . . Er hörte, gespannten Herzens, wie Herr Göppel die Tür öffnete und schloss, hörte ihn über den Korridor schleichen und das Geräusch der Flurtür. Nun war es aus — und da liess Diederich sich vornüber fallen und weinte heftig in seinen halbgepackten Koffer hinein. Am Abend spielte er Schubert.

Damit war dem Gemüt Genüge getan, man musste stark sein. Diederich hielt sich vor, ob etwa Wiebel jemals so sentimental geworden wäre. Sogar ein Knote ohne Komment, wie Mahlmann, hatte Diederich eine Lektion in rücksichtsloser Energie erteilt. Dass auch die anderen in ihrem Innern vielleicht doch weiche Stellen haben könnten, erschien ihm im höchsten Grade unwahrscheinlich. Nur er war, von seiner Mutter her, damit behaftet; und ein Mädel wie Agnes, die gerade so verrückt war wie seine Mutter, würde ihn ganz untauglich gemacht haben für diese harte Zeit. Diese harte Zeit: bei dem Wort sah Diederich immer die Linden mit dem Gewimmel von Arbeitslosen, Frauen, Kindern, von Not, Angst, Aufruhr — und das alles gebändigt, bis zum Hurraschreien gebändigt durch die Macht, die allumfassende, unmenschliche Macht, die mitten darin ihre Hufe wie auf Köpfe setzte, steinern und blitzend.

„Nichts zu machen“, sagte er sich, in begeisterter Unterwerfung. „So muss man sein!“ Um so schlimmer für die, die nicht so waren: sie kamen eben unter die Hufe. Hatten Göppels, Vater und Tochter, irgendeine Forderung an ihn? Agnes war grossjährig, und ein Kind hatte er ihr nicht gemacht. Also? „Ich wäre ein Narr, wenn ich zu meinem Schaden etwas täte, wozu ich nicht gezwungen werden kann. Mir schenkt auch keiner was.“ Diederich empfand stolze Freude, wie gut er nun schon erzogen war. Die Korporation, der Waffendienst und die Luft des Imperialismus hatten ihn erzogen und tauglich gemacht. Er versprach sich, zu Haus in Netzig seine wohlerworbenen Grundsätze zur Geltung zu bringen und ein Bahnbrecher zu sein für den Geist der Zeit. Um diesen Vorsatz auch äusserlich an seiner Person kenntlich zu machen, begab er sich am Morgen darauf in die Mittelstrasse zum Hofriseur Haby und nahm eine Veränderung mit sich vor, die er an Offizieren und Herren von Rang jetzt immer, häufiger beobachtete. Sie war ihm bislang nur zu vornehm erschienen, um nachgeahmt zu werden. Er liess vermittels einer Bartbinde seinen Schnurrbart in zwei rechten Winkeln hinaufführen. Als es geschehen war, kannte er sich im Spiegel kaum wieder. Der von Haaren entblösste Mund hatte, besonders wenn man die Lippen herabzog, etwas katechaft Drohendes, und die Spitzen des Bartes starrten bis in die Augen, die Diederich selbst Furcht erregten, als blitzten sie aus dem Gesicht der Macht.

Der Untertan

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