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I. Hassende, Liebende

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Die Kin­der schri­en to­send vor dem großen Ar­bei­ter­haus von Gau­sen­feld; hun­der­te von Kin­dern, her­vor­ge­quol­len aus dem über­füll­ten Haus, worin sie alle ge­bo­ren wa­ren, rann­ten, zap­pel­ten, prü­gel­ten sich auf der grau­en Wie­se. Alte Män­ner, die nicht mehr ar­bei­te­ten, stan­den, wenn sie be­sonnt war, an der Mau­er und sa­hen ih­nen zu. Die Kleins­ten fie­len un­auf­hör­lich in den Gra­ben, der die Wie­se von der Land­stra­ße trenn­te, im­mer eil­ten Müt­ter oder Schwes­tern zum Ret­ten her­bei. Die Grö­ße­ren spran­gen hin­über, am liebs­ten auf der Sei­te, wo der Gra­ben ne­ben dem Weg zum Fried­hof lief; und drü­ben war­fen sie ein­an­der ge­gen den wack­li­gen Zaun der Vil­la Klin­ko­rum. Brach ein Brett her­aus, dann rasch hin­ein und Äp­fel ho­len. Der Be­sit­zer hör­te mit Zorn und Ent­set­zen das Knacken der Zwei­ge, die sie mit­ris­sen, aber auf sei­nen stei­fen Bei­nen kam er im­mer zu spät, sie wa­ren schon drau­ßen und zeig­ten ihm aus ei­ni­ger Ent­fer­nung das un­rei­fe Obst, es sei auf der Stra­ße ge­le­gen. Dann hielt er ih­nen eine Rede über das Ei­gen­tum und die Bil­dung, im­mer die­sel­be Rede, denn nie­mals merk­te er, dass er es mit den­sel­ben Jun­gen zu tun hat­te. Klin­ko­rum war Schul­leh­rer ge­we­sen, aber ei­ner für die Rei­chen; und weil ihm schon die Zäh­ne aus­ge­fal­len wa­ren, woll­te er nun hier sich mau­sig ma­chen. Kaum war er fort, pol­ter­ten alle ge­gen sei­nen Zaun, und ir­gend­ei­ner kroch hin­ein und setz­te ihm et­was auf den Gar­ten­weg. Der alte Ma­ler­meis­ter, der un­ten im Haus wohn­te, durf­te es se­hen, er lach­te, wenn er auch schalt. Nur den klei­nen Mäd­chen war es von ih­ren Müt­tern streng ver­bo­ten, ihm zu nahe zu kom­men.

Dies war nicht al­les, was Pro­fes­sor Klin­ko­rum zu er­dul­den hat­te. Kehr­te er aus der Stadt heim, zu­wei­len schon ganz nahe bei sei­nem Grund­stück über­hol­te ihn, wie er auch has­te­te, das Heß­ling­s­che Au­to­mo­bil und be­deck­te ihn mit Staub oder Schmutz. Ge­ne­ral­di­rek­tor Ge­hei­mer Kom­mer­zi­en­rat Dr. Heß­ling in sei­nem Staub­man­tel blick­te un­er­bitt­lich ge­ra­de­aus, und Klin­ko­rum, von au­ßen ge­gen sei­nen ei­ge­nen Zaun ge­drängt, äug­te mit ohn­mäch­ti­gem Hass, bis er, ganz in ei­ner stin­ken­den Wol­ke be­fan­gen, die Au­gen schloss. In­ner­lich hielt er in sol­chen Mi­nu­ten sei­ne zwei­te Rede über das Ei­gen­tum, die Rede da­ge­gen, – wenn es näm­lich schran­ken­los und über­heb­lich war. Die Bil­dung war das Ers­te und muss­te es blei­ben.

Da­mit ging er hin­auf in sein Stu­dier­zim­mer. Von hier über­sah er ganz Gau­sen­feld, hin­ter den Ar­bei­ter­häu­sern das wüs­te Ge­län­de, bis zum Wald, bis zur Fa­brik. Es ward Nacht, an der Fried­hofs­mau­er die Lam­pe leuch­te­te nahe, und weit dort­hin­ten die ge­reih­ten Lich­ter der Fa­brik.

Aus der Fa­brik kehr­ten die Ar­bei­ter heim; ihr Mas­sen­schritt dröhn­te, von fer­ne fühl­bar, bis in das Stu­dier­zim­mer; und Klin­ko­rum dach­te nicht ohne Ach­tung an den Herrn der Mas­sen, ihn, Heß­ling, Be­sit­zer Gau­sen­felds, großen Reich­tums und man­cher Wür­den. Wie hat­te er es da­hin ge­bracht, als Che­mi­ker und Pa­pier­fa­bri­kant? Durch Ma­chen­schaf­ten und Kunst­grif­fe ge­schäft­li­cher wie po­li­ti­scher Art, über die es auch nach sech­zehn Jah­ren in der Stadt noch nicht still war. Der selbst­ge­mach­te Mann frei­lich blieb zu ach­ten. Er wie­der aber ach­te noch hö­he­re Rech­te! Klin­ko­rum hat­te ge­spart, bis er weit drau­ßen an der Land­stra­ße dies ein­sa­me klei­ne Haus er­ste­hen konn­te, die Freu­de sei­nes letz­ten Le­bens­drit­tels. Ge­pflegt und lau­schig, ein Sitz der Muse, ruh­te es im Grü­nen, un­auf­ge­stört von Wei­he­lo­sen; denn nur lang­sa­me Bau­ern­wa­gen zo­gen, mit Och­sen, breit­stir­ni­gen, schweraus­schrei­ten­den be­spannt, vor­über, und Gau­sen­feld, das ein­zi­ge grö­ße­re An­we­sen in der Wei­te, die­se Stät­te der Pa­pier­fa­bri­ka­ti­on lag jen­seits von Fel­dern und Wald, man sah, hör­te und roch sie nicht. Da aber, was ge­sch­ah? Der neue Herr von Gau­sen­feld ver­grö­ßer­te sei­ne Fa­brik­an­la­gen. Er leg­te den Wald so weit nie­der, als er jene un­ed­len Bau­lich­kei­ten dem Blick ent­zo­gen hat­te. Die Ar­bei­ter-Fa­mi­li­en­häu­ser wuch­sen über das Feld her­an, im­mer nach Wes­ten, im­mer auf Klin­ko­rum zu. Auch kam es da­hin, dass gleich hin­ter sei­nem Zaun dies Volk sich be­gra­ben ließ. Und dem Fried­hof, als vor­letz­tem Streich, folg­ten die Ka­ser­nen der Pro­le­ta­ri­er, Un­ge­heu­er von Häu­sern, hin­schat­tend über Klin­ko­rum und sei­nen be­schei­de­nen Ru­he­sitz, ihn mit Gerü­chen be­drän­gend, in Ruß ver­schüt­tend so Gar­ten wie Haus und um es her eine Zone brei­tend des Ge­stamp­fes, Ge­schreis, Tot­schla­ges und der bil­dungs­feind­li­chen Ro­heit!

Nun wa­ren die Lich­ter aus­ge­löscht in der Fa­brik und ent­zün­det in den Ka­ser­nen, in der Kan­ti­ne an ih­rem Flü­gel. Dor­ther kam Lärm. Der Ar­bei­ter Karl Bal­rich aber, still in sei­nem Zim­mer 101 des Ar­bei­ter­hau­ses B, stand am Fens­ter, sah vor sich das­sel­be wie der Be­sit­zer der Vil­la Klin­ko­rum und dach­te nach, auch er, über die Welt, die ihn um­gab. Frei­lich, die vie­len Geräusche des Hau­ses selbst, von rechts, links, oben, un­ten über­tön­ten bei Wei­tem sei­ne Ge­dan­ken an das Fer­ne­re. Er hör­te um sich her, des Sonn­tags wenn er ruh­te und jetzt am Abend be­vor er schlief, Streit, Küs­se, Ge­sprä­che über Geld und Es­sen, die Prü­gel für die Kin­der, hör­te durch das hal­len­de und zit­tern­de Haus al­les was vor­ging, was das Le­ben der Men­schen war und was es schon nicht mehr war: ihr letz­tes Wim­mern, ihr Ab­schieds­ge­stöhn. Aber öf­ter als Ster­ben hör­te er Ge­bä­ren. Er sag­te sich dann, je nach­dem ihm an dem Abend zu Sinn war: »Wie­der ein Mann für die Ar­bei­ter­ba­tail­lo­ne« oder: »Heß­ling kann la­chen; wie­der ein Dum­mer.«

Denn der Ar­bei­ter Bal­rich sah, wie die Din­ge la­gen, in der Per­son des Ge­ne­ral­di­rek­tors Heß­ling den höchs­ten Zweck und das letz­te Er­geb­nis des ihn um­ge­ben­den Le­bens, al­ler die­ser Mü­hen, Auf­re­gun­gen und Schmer­zen – und nicht nur die­ser hier. Von Gau­sen­feld zu schwei­gen, die Stadt, wie sie war, ar­bei­te­te für den Rei­chen und fris­te­te sich nur durch ihn. Das Land selbst dreh­te sich wahr­schein­lich nur um sei­nes­glei­chen. Ihm zu­lie­be das Mi­li­tär; und der Kö­nig so­gar ei­gent­lich sein Narr. Den hielt er sich aus, er aber ver­dien­te. Auf das Geld kam es an.

»Wenn es auf das Geld an­käme,« sag­te an sei­nem Fens­ter der Pro­fes­sor, »dann wür­de die­ser Heß­ling mit Recht die Um­stän­de mei­nes Le­bens auf jene Stu­fe hin­ab­drücken, wo sei­ne Lohns­kla­ven schmach­ten, – in­des er selbst –.« Hin­ter dem Wald wohn­te er selbst. Über dem von ihm be­bau­ten Tal der Ar­mut und des Un­ra­tes, aber be­wahrt vor sei­nem Duft und An­blick, hin­ter ei­ge­nem Wald auf grü­nem Hü­gel, in sei­ner hel­len und blu­menum­leuch­te­ten »Vil­la Höhe« haus­te leich­ten Her­zens mit den hoch­ge­mu­ten Sei­nen der Ei­gen­tü­mer, An­stif­ter und Nutz­nie­ßer die­ser gan­zen so­zia­len Schmut­ze­rei. Das Wort fiel. Zwei Freun­de tra­ten ein bei Klin­ko­rum, und so­wohl der Arzt Dr. Heu­teu­fel wie der Kon­sis­to­ri­al­rat Zil­lich wie­der­hol­ten das Wort. Je hö­her die Bil­dung, umso ent­wi­ckel­ter der so­zia­le Sinn – und mit ihm das Fein­ge­fühl für die Her­aus­for­de­run­gen des Ka­pi­tals, dies Hin­brei­ten des aus­schwei­fends­ten Lu­xus gleich ne­ben dem Schau­spiel des Elends, die­ses Au­to­ja­gen an den Ent­erb­ten vor­bei, dies Hu­pen­ge­heul.

Die Schwes­ter des Ar­bei­ters Bal­rich be­kam dro­ben von Dinkl, ih­rem Mann, eine Ohr­fei­ge, die bis her schall­te, und sie selbst hieb die Kin­der. Als alle ge­nug ge­schri­en und die Nach­barn ge­nug ge­lacht hat­ten, mach­te sie sich plär­rend an das Nacht­ge­bet. Karl Bal­rich dach­te noch im­mer: »Auf das Geld kommt es an.« Da zog links drun­ten der Her­bes­dör­fer sei­ne Har­mo­ni­ka lang aus, und Bal­rich merk­te es nun, dass er mit dem Den­ken nicht vor­wärts kam. Schwer war es, von dem wirk­li­chen Gang der Welt, ih­ren Zu­sam­men­hän­gen und Ge­set­zen et­was Deut­li­ches zu er­fah­ren. Die Red­ner in den Ver­samm­lun­gen re­de­ten von weit her; um sie an­ders zu ver­ste­hen als bloß mit un­se­rem Hass­ge­fühl, muss­ten wir uns bis da­hin durch­schla­gen, wo sie zu­meist von Ge­burt schon stan­den. Und wie jetzt noch zu so viel Bil­dung kom­men?

Die Her­ren im Stu­dier­zim­mer murr­ten: »Den Bau der elek­tri­schen Bahn nach Gau­sen­feld hat er hin­ter­trie­ben. Er scheut den Ver­kehr der Welt mit sei­nem Jam­mer­tal, er wünscht kei­ne Ein­bli­cke und ist ge­gen einen häu­fig wie­der­hol­ten Be­such sei­ner Leu­te in der Stadt, bei ih­ren Ge­nos­sen, auf den Ver­samm­lun­gen. Am Sonn­tag will er sie in sei­ne Kan­ti­ne zwin­gen. Wie in ei­nem Ghet­to sol­len sie sich fort­pflan­zen und nichts von al­lem was sie sind und leis­ten, ihm ver­lo­ren­ge­hen. Die Fol­gen er­mes­se man! Was mich be­trifft, ist es mir be­kannt, dass die Gau­sen­fel­der Kör­per­ver­let­zun­gen um vie­le Pro­zent un­se­re sons­ti­gen über­stei­gen. Nie­mand wun­de­re sich, wenn ich, Klin­ko­rum, ei­nes Mor­gens in ei­ner Blut­la­che auf­ge­fun­den wer­de! Wäre ich nicht der Ord­nungs­mann, der ich bin, ich wüss­te die Stel­le zu fin­den, wo die Öf­fent­lich­keit sich pa­cken lie­ße.« – Ja, die mur­ren­den Ge­bil­de­ten war­fen bei ei­ner neu­en Fla­sche Wein so­gar die Fra­ge auf, ob ein Mann von mitt­le­rem Ein­kom­men, aber ei­ner ge­wis­sen geis­ti­gen Höhe, mit sei­nem Glück und Da­sein denn wirk­lich ge­bun­den sei an den Be­stand der jet­zi­gen Din­ge. Als die Fla­sche leer war, sa­hen sie das Schlimms­te vor­aus, eine Ka­ta­stro­phe, ein Wel­te­nen­de. »Ich sehe es,« rief Klin­ko­rum, vom Geist be­rührt. »Ich sehe, dass ei­ner auf­ste­hen wird und mich rä­chen!« – wo­bei er sich fes­ter in die Ecke setz­te.

Der Ar­bei­ter sag­te, drü­ben im Hof­zim­mer, sei­nen bei­den jun­gen Brü­dern gute Nacht; und be­vor er sein Fens­ter schloss, stand er dann im Wind, quer über die brei­te Stirn lie­fen ihm die zu­sam­men­ge­wach­se­nen Brau­en, er mach­te Fäus­te, stemm­te die Schul­tern hin­auf, als höbe er eine Last, – und dach­te müh­se­lig wei­ter, tas­te­te sich im Dun­keln ein Stück an sei­nem Schick­sal hin, wie es denn aus­se­he, wo­hin es denn ver­lau­fe mit den an­de­ren in der Welt. Ihm schi­en es dun­kel und win­dig, wie das öde Feld, auf das er hin­aus­sah und das en­de­te mit dem Fried­hof. Zwi­schen sich und dem Fried­hof fand er nichts als Un­ge­rech­tig­keit und Hass.

Beim Ab­schied lenk­ten die Stu­dier­ten ein. Die rei­chen Leu­te hat­ten na­tür­lich ihre un­er­mess­li­che so­zia­le Nütz­lich­keit. Und nach au­ßen ver­bürg­ten sie un­ser An­se­hen, un­se­re Schlag­kraft, die Er­wei­te­rung un­se­rer Gren­zen. Üb­ri­gens wa­ren nicht alle rei­chen Leu­te wie Heß­ling, – und selbst Heß­ling, war sei­ne Tüch­tig­keit denn zu ver­ach­ten? Im Ge­gen­teil zog ganz Net­zig Nut­zen aus ihr. Die we­ni­gen Gau­sen­fel­der Ak­ti­en, die er da­mals bei sei­ner großen Ope­ra­ti­on, als er Ge­ne­ral­di­rek­tor wur­de, in frem­den Hän­den ge­las­sen hat­te, wa­ren sel­te­ne Kost­bar­kei­ten ge­wor­den, sie ver­erb­ten sich vom Va­ter auf den Sohn. Je­der der drei Her­ren ver­mu­te­te von den an­de­ren, dass sie wel­che hät­ten, und da sie es nicht ge­stan­den, ge­stand auch er es nicht. Beim Ab­schied frag­te je­der, mit un­be­tei­lig­tem Ge­ha­ben: »Wie ste­hen sie denn jetzt?«

Der Hass! fühl­te der Ar­bei­ter Bal­rich. Mit ihm gehst du schla­fen und stehst wie­der auf mit ihm. Vor sechs, den Rock­kra­gen hin­auf und los, den frös­teln­den grau­en Weg nach der Fa­brik, zu Hun­der­ten schwei­gend und tra­bend, Trab hin­ter sich, vor sich, in sich, Trab wie Ma­schi­nen­lauf. Alle ver­schrie­ben der Un­ge­rech­tig­keit, alle un­ter dem un­abläs­si­gen Druck des Has­ses, ge­wohnt wie schlech­te Luft und Lärm von Ma­schi­nen. Und da­bei, wel­cher war der är­ge­re Feind? Heß­ling, für den man sich krumm ra­cker­te, oder die­ser Si­mon Jau­ner, der es auch tat, – aber seit heu­te stand er bei der Pa­pier­ma­schi­ne am Plat­ze Bal­richs, un­ten, wo die fer­ti­gen Bo­gen an­ka­men und wo man von der Tür her Luft hat­te. Den bes­ten Platz her­ge­ben müs­sen, an einen, der frü­her ein­mal et­was ge­habt hat­te mit der Frau des Ma­schi­nen­meis­ters Pols­ter! Noch dazu war sie die Schwes­ter sei­nes Schwa­gers Dinkl. Bal­rich schwitz­te den gan­zen Mor­gen mehr von Wut als von der Hit­ze. Als aber der In­spek­tor vor­über­kam und ihn frag­te wie­so, biss er die Zäh­ne zu­sam­men. Das war un­se­re Sa­che und nichts für die Her­ren oben! Der In­spek­tor frei­lich wuss­te Be­scheid, denn mit der Frau des Ma­schi­nen­meis­ters hat­te er jetzt selbst et­was. Da­her mel­de­te er sich auch bei dem Herrn Obe­rin­spek­tor, und bei­de gin­gen, als es Mit­tag läu­te­te, so­gar zum Ge­ne­ral­di­rek­tor hin­ein. Dann ward der Ma­schi­nen­meis­ter hin­ein­ge­ru­fen und kam so­gleich wie­der her­aus­ge­flo­gen, der di­cke Hahn­rei, rot bis auf die Glat­ze. Und dann hat­te Bal­rich sei­nen Platz zu­rück, Heß­ling war ge­recht ge­we­sen.

Dar­über spra­chen alle auf dem Weg zum Es­sen. Kam ein Be­am­ter vor­bei, sag­ten man­che recht laut, Heß­ling sei ge­recht ge­we­sen, – auch Jau­ner sag­te es, denn so war er. Bal­rich, an den sich vie­le von ih­nen her­an­ma­ch­ten heu­te, dach­te den gan­zen Tag über die Sa­che nach, denn Heß­ling war ge­recht ge­we­sen, und das ging nicht. Erst am Abend, vor sei­nem Fens­ter, hat­te er es. Ge­wiss hat­te auch Heß­ling von den Lie­bes­ge­schich­ten der Pols­ter et­was er­fah­ren und ihm lag nur an der Ord­nung, sei­nem ei­ge­nen Vor­teil. Umso schlim­mer, dann konn­te er ge­recht sein, weil es sein Vor­teil war, und die Rei­chen wur­den rei­cher so­gar durch ihre Tu­gend … So stand es, dach­te er gleich am Mor­gen wie­der, denn es war Sonn­tag. Da be­gann aber schon, dro­ben in der Fer­ne, das Ge­bet­plär­ren sei­ner Schwes­ter Mal­li, und kaum dass es aus war, ein großes Ge­keif.

Dies­mal hör­te er auch Leni, sei­ne jün­ge­re Schwes­ter, mit­schrei­en, wes­halb er schnell hin­ging um nach­zu­se­hen. Es gab einen gan­zen Kü­bel voll Dreck. Mal­li woll­te Dinkl er­tappt ha­ben bei Leni hin­ter dem Bret­ter­ver­schlag; und hin­weg über ih­ren großen Bauch, wor­an drei Kin­der sich fest­hiel­ten, schrie sie ihm zu, er sol­le sich nichts ein­bil­den, er sei nicht der ein­zi­ge, – in­des Leni auf­heul­te und Dinkl aus Ver­le­gen­heit sei­ne ko­mi­schen Ge­sich­ter schnitt.

»Schäm’ dich!« sag­te Bal­rich zu der ver­hei­ra­te­ten Schwes­ter. »Ich weiß ganz ge­nau, dass das wie­der nur ein Schwin­del von dir ist.« Und er zog Leni an sei­ne Schul­ter. Denn ob­wohl er gar nichts wuss­te, war es un­mög­lich, dass sie so et­was tat. Er hat­te sie lieb. Er hat­te sie so viel lie­ber als Mal­li, dass er ein schlech­tes Ge­wis­sen fühl­te und nichts mehr sa­gen moch­te. Leni durf­te noch hübsch, leicht und sau­ber sein, Mal­li, die ärms­te, ward es nie wie­der. »Und ich, wenn ich erst ver­hei­ra­tet bin, wer­de aus­se­hen wie Dinkl.« Mal­li hat­te frü­her nicht ge­lo­gen. Jetzt ward nach dem Auf­ste­hen ge­be­tet, und dann so­fort eine Klatsch­ge­schich­te, die das gan­ze Haus durch­ein­an­der brach­te. Alle hier wa­ren gute Leu­te, und han­del­ten in­fol­ge ih­rer Ar­mut als sei­en sie böse Leu­te, – in­des Rei­che, die nicht gut wa­ren, so­gar ge­recht sein durf­ten.

Schön, jetzt trat die Pols­ter auf und be­haup­te­te, Dinkls hät­ten ihr Milch ge­stoh­len. Neu­er Krach, neue Trä­nen, und durch die Auf­re­gung ka­men bei Mal­li die We­hen. Die Pols­ter half ihr so­fort wie eine wah­re Schwes­ter, zog sie aus, bet­te­te sie, ver­sprach ih­rem Bru­der Dinkl sein Es­sen und nahm die drei Kin­der mit sich. Sie selbst hat­te kei­ne, dar­um konn­ten Pols­ters sich zwei schö­ne Zim­mer hal­ten. In dem einen stan­den Plüschmö­bel, Blatt­pflan­zen und ein Fo­no­graf, es kam wohl auch von den Freund­schaf­ten der Frau. Aber wenn man das hät­te ge­nau neh­men wol­len! Dinkl hat­te noch die be­son­de­re Freu­de, dass das Fa­mi­li­e­ner­eig­nis auf den Sonn­tag fiel und Mal­li vor­aus­sicht­lich nicht mehr als zwei Ar­beits­ta­ge ver­lor. Nach­mit­tags, ge­ra­de als Bal­rich wie­der nach­frag­te, kam ho­her Be­such, Frau Ge­ne­ral­di­rek­tor Heß­ling und ihre Schwä­ge­rin Buck. In der Tür blie­ben sie ste­hen, sie mach­ten Ge­sich­ter, als ob es ih­nen an die Gur­gel gin­ge. Wahr­schein­lich wirk­te die Luft hier so, wenn du sie nicht ge­wöhnt warst. Sie aber schie­nen sich des­we­gen zu ge­nie­ren und fin­gen an, auf Mal­li ein­zu­re­den wie auf einen kran­ken Ka­na­ri­en­vo­gel. Mit der Heb­am­me flüs­ter­ten sie und zo­gen die Brau­en hoch. Bal­rich sah sich so lan­ge und ge­nau die Buck an, bis die Heß­ling es merk­te und halb­laut: »Emmi!« rief, wo­bei sie sie streng am Arm pack­te. Da­bei ließ die Buck ihre Ta­sche fal­len und Bal­rich, mit ei­nem Sprung, hob sie auf. Als er sie ihr hin­hielt, zog sie zu­erst die Hand zu­rück, dann erst un­ter dem Blick ih­rer Schwä­ge­rin griff sie zu. In­zwi­schen beroch er sie, denn sie roch nach Veil­chen. Sie war noch hübsch, die Fi­gur war, wie un­se­re Mäd­chen sie nur bis zwan­zig ha­ben. Auch Leni hat­te so gold­blon­des Haar, aber das der Buck war nicht ver­staubt. End­lich, wäh­rend sie die Ta­sche nahm, sah sie ihn so­gar an und lä­chel­te, et­was schüch­tern und so­zu­sa­gen be­sänf­ti­gend. Vor sei­nen zu­sam­men­ge­wach­se­nen Brau­en mach­te ihr Lä­cheln aber so­gleich kehrt. Da­rauf trat Bal­rich hin­ter den Bret­ter­ver­schlag Le­nis.

Dinkl kam zu ihm, stieß ihn in die Sei­te und wis­per­te, warum er sich ver­krie­che. Die eine sei scharf auf ihn, da habe er einen schö­nen Pos­ten in Aus­sicht. Dinkl mach­te Wit­ze, weil es ihn nichts an­ging. Bal­rich, den es an­ging, hat­te ein Ge­fühl in der Brust, wie er es ein­mal ge­habt hat­te, als er ent­las­sen wor­den war. Die Buck hat­te ihn be­han­delt wie ein Tier, – man fürch­tet es und nimmt es doch nicht ernst; nicht aber wie einen Mann.

Nun gin­gen sie, Dinkl, schar­wen­zelnd, brach­te sie hin­aus, da ge­sch­ah ein Un­glück. Aus sei­nem tie­fen Bück­ling war Dinkl noch nicht wie­der auf­ge­kom­men, als sie es schon hat­ten und auf der Trep­pe la­gen, die Heß­ling ver­lor den Hut samt der Hälf­te ih­rer wei­ßen Haa­re. Über dem Ge­län­der hoch dro­ben wälz­ten die Dinklschen Kin­der sich vor La­chen, – wor­auf der Va­ter zu be­grei­fen an­fing. Mit ge­schwun­ge­ner Faust ver­jag­te er die Kin­der und half dann den Da­men. Zum Glück nah­te von un­ten der Her­bes­dör­fer, so brach­te man sie bald wie­der auf die Füße. »Mein Gott, was war denn das!« rie­fen sie, auf ein­mal mit un­ge­zwun­ge­nen Stim­men. »Ist hier auf den Stu­fen nicht Sei­fe?« Dinkl woll­te es leug­nen oder un­be­greif­lich fin­den, Her­bes­dör­fer er­hob sei­ne ein­ge­ros­te­te Stim­me nur zu ei­nem »Ach­tung!« und brei­te­te die star­ken Arme aus, für alle Fäl­le. Sie aber ba­ten die bei­den Ar­bei­ter, nach­zu­se­hen, wie es rück­wärts um sie ste­he, und als Dinkl durch­aus kei­ne Sei­fe an ih­nen fand, fan­den sie selbst sie.

»Was jetzt! Wir müs­sen doch zum Tee in die Stadt. Noch ein­mal nach Hau­se und uns um­klei­den?«

Dinkl riet hier­zu, sie wie­der mein­ten: »Das kos­tet eine hal­be Stun­de, und was sagt die Ge­ne­ra­lin!«

An­ge­le­gent­lich wand­ten sie sich an Her­bes­dör­fer, um auch sei­ne An­sicht zu er­fah­ren, frei­lich ohne Er­folg, er mach­te ein bar­sches Ge­sicht. Die Pols­ter kam her­zu, schlug die Hän­de zu­sam­men und er­bot sich, von den Klei­dern al­les ab­zu­wa­schen, – wor­auf eine tech­ni­sche Ver­hand­lung folg­te. Sie blieb ohne Er­geb­nis; so drang Dinkl durch, mit sei­nem Hin­weis auf die be­son­de­re Leis­tungs­fä­hig­keit des Heß­ling­s­chen Au­tos.

»Das muss wahr sein,« sag­te Frau Ge­ne­ral­di­rek­tor Heß­ling, »es ist ein Char­ron.«

Dinkl gab zu be­den­ken, ob nicht die deut­sche In­dus­trie den Vor­zug ver­die­ne, selbst wenn sie nicht ganz so leis­tungs­fä­hig sein soll­te. Erns­te Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten er­wuch­sen hieraus nicht, un­ter dem Ent­ge­gen­kom­men bei­der Tei­le setz­te die Un­ter­hal­tung sich fort bis vor das Haus. Erst beim An­blick ih­res Chauf­feurs ging durch die Da­men ein sicht­ba­rer Ruck, und als sie gar im Auto sa­ßen, er­wi­der­ten sie den Gruß der Ar­bei­ter nur noch aus den Au­gen­win­keln, ohne den Kopf zu rüh­ren.

Dinkl fand sich da­mit ab, er stand, als das Auto fort war, und lach­te, dass sein Gerüst wa­ckel­te. Die Kin­der, die nach­ge­schli­chen wa­ren, be­ka­men vom Va­ter ihre Ohr­fei­gen, aber er lach­te da­bei, und alle mit, die Pols­ter samt den Nach­ba­rin­nen.

Als die Ban­de wie­der hin­auf­stürm­te, wür­de sie den Karl Bal­rich über­rannt ha­ben. Er stand auf dem Trep­pen­ab­satz und schi­en ver­tieft in den Sei­fen­fleck. Er mach­te ih­nen Platz, lach­te aber nicht wie sie, son­dern fal­te­te die Brau­en … Sein Schwa­ger klopf­te ihn auf die Schul­ter und nahm ihn mit in die Kan­ti­ne; der Mal­li sei­en sie doch bloß läs­tig in ih­rem Be­trieb.

Die Kan­ti­ne war voll, von al­len Ti­schen wur­den Fra­gen ge­schri­en we­gen des ho­hen Be­su­ches und der Sei­fe. Der Vor­fall mit der Sei­fe be­schäf­tig­te alle. Sei­fe war das Stich­wort für Wit­ze, die sich alle ähn­lich sa­hen, und je­der er­reg­te das glei­che Ge­brüll.

Zu Bal­rich, Dinkl und Her­bes­dör­fer setz­te sich stumm der alte Ma­ler­meis­ter, der seit kur­z­em im Kel­ler bei Klin­ko­rum wohn­te. Er war um­her­ge­zo­gen und hat­te sich eben durch­ge­schla­gen, ein un­ru­hi­ger Tau­ge­nichts, bis er es gut fand, sei­ne alt­ge­wor­de­nen Kno­chen an den Ort zu tra­gen, wo er Hei­mats­recht und Ver­wand­te hat­te. Er und Bal­rich sag­ten nichts, – bis Her­bes­dör­fer sie et­was frag­te. Er hat­te eine Auss­pra­che wie ein Wil­der und äu­ßer­te sich so an­ge­strengt, als ver­lern­te er das Spre­chen von Tag zu Tag. Er frag­te: was den rei­chen Wei­bern denn ein­fal­le, dass sie un­ge­be­ten eine Ar­bei­te­rin in den We­hen zu be­gaf­fen kämen, wie eine Kuh. Dinkl stieß ihn heim­lich an, und un­ter dem Tisch zeig­te er ihm das Zwan­zig­mark­stück, das die Be­su­che­rin­nen da­ge­las­sen hat­ten. Laut sag­te er: »Sie ha­ben Lan­ge­wei­le ge­habt. Das Tee­was­ser bei der Ge­ne­ra­lin hat noch nicht ge­kocht.«

Bal­rich in­zwi­schen at­me­te schnel­ler. Er war im Be­griff, sich auf­zu­rich­ten und zu be­ken­nen, dass auch die Rei­chen ein Herz ha­ben könn­ten! Denn vor sich hat­te er das schüch­ter­ne Lä­cheln der Emmi Buck, und mit­ten in dem Qualm hier be­rühr­te ihn ihr Veil­chen­ge­ruch. Da sah der alte Ma­ler ihn an mit sei­nem Grin­sen im Bocks­bart und nahm ihm das Wort weg.

»Ich weiß Be­scheid, – seit ich ein rei­ches Lu­der habe lau­fen ge­se­hen, weil eine Ar­bei­te­rin mit dem Arm in der Ma­schi­ne hing. Sie hat­te vor­ge­sorgt, dass ihr so et­was gleich ge­mel­det wer­de.«

»Das hast du selbst ge­se­hen, On­kel Gel­lert?« frag­te Bal­rich dro­hend. Denn er dach­te an die klei­nen Mäd­chen, die der Alte an sich lock­te.

»Ich selbst, – und die Ar­bei­te­rin war spä­ter mei­ne Frau, dei­ne Groß­tan­te.«

»Ja, dann,« mur­mel­te Bal­rich und sah den Tisch an. »Nicht hin­se­hen wo Geld ist, das ist das bes­te.« Und in­ner­lich bat er es sei­ner Schwes­ter Leni ab, dass er ihr, fast eine Stun­de lang, die Rei­che vor­ge­zo­gen hat­te.

Si­mon Jau­ner schlich her­bei; was Bal­rich ganz lei­se sprach, hat­te er doch ge­hört; und er schlug auf den Tisch, als habe er Wut. An­se­hen das Geld, sei zweck­los. Aber so! Und mit krum­men Fin­gern graps­te er über den Tisch hin. Bal­rich, der ihn kann­te, sag­te ge­las­sen: »Ich esse lie­ber mein selbst­ver­dien­tes Brot,« – und schnitt aus sei­nem Brot einen Wür­fel. Da ließ Jau­ner sich in die Bank glei­ten, gra­de ne­ben Bal­rich. Nun er Bal­rich von sei­nem Platz an der Ma­schi­ne nicht hat­te ver­drän­gen kön­nen, fand er es wohl ge­ra­ten, sich an­zunä­hern. Er fass­te so­gar treu­her­zig den Arm des an­de­ren und sag­te ein­dring­lich:

»Dein Brot? Heß­ling­s­ches Brot, willst du sa­gen! Denn in sei­ner Fa­brik ver­dienst du nur ge­ra­de so viel, dass du in sei­ner Ka­ser­ne woh­nen und in sei­ner Kan­ti­ne es­sen kannst. Was dar­über ist, ist vom Übel,« schloss er hä­misch, und zeig­te zu­erst Bal­rich, dann den an­de­ren sei­ne gel­ben Zäh­ne und sei­ne gel­ben Au­gen. Sie wuss­ten wohl, sie wür­den kein Wort spre­chen, das der In­spek­tor nicht er­füh­re; denn er hat­te dem Jau­ner ge­scha­det, wer muss­te also be­flis­se­ner ge­gen ihn sein als Jau­ner. Den­noch hiel­ten sie nicht an sich. Kan­ti­ne und Ka­ser­ne, zu wahr, brach­ten dem Heß­ling mit Zins wie­der zu­rück, was er ih­nen zahl­te. Der Strom des Gel­des roll­te end­los un­wei­ger­lich in die eine Ta­sche, sie aber mit ih­ren Schwie­len stan­den lech­zend da­ne­ben, sie, ihre Frau­en, ihre Kin­der. Sie mach­ten ihre Kin­der für Heß­ling, wie sie für Heß­ling die Ware mach­ten, wie sie für Heß­ling aßen und tran­ken. »Prost Hass­ling!« rief Dinkl, und an al­len Ti­schen rie­fen sie mit; denn gut war es, den Hass in ein Wort zu fas­sen, den Hass ein­mal deut­lich aus den Zäh­nen zu las­sen und bit­ter im Glas zu schme­cken. Man ging mit ihm schla­fen und stand auf mit ihm, – nur Ge­stalt fehl­te ihm, Fäus­te hat­te er nicht. Wir ha­ben je­den Au­gen­blick, je­den von al­len, die wir er­le­ben, al­les im Be­wusst­sein: die un­ge­rech­te Ge­walt, un­ter der wir ste­hen, be­nach­tei­ligt auf Schritt und Tritt, beim Einat­men und beim Au­sat­men, miss­braucht, ver­ach­tet, hin­ter das Licht ge­führt. Ihr bil­det euch ein, wir ver­gä­ßen? Ja­wohl, ihr denkt, wir rie­chen un­se­re schlech­te Luft nicht mehr, in den über­füll­ten Stu­ben der Ka­ser­nen, die ihr uns baut. Ar­bei­ter­häu­ser A und B, das heißt nicht ar­bei­te und bete, wie der Kon­sis­to­ri­al­rat Zil­lich bei der Ein­wei­hung er­zählt hat­te; es heißt Af­fen­bu­de oder al­les be–. Wir rie­chen, und wir ver­ges­sen nicht. Sehr be­greif­lich, be­merk­te Bal­rich, dass den Da­men Heß­ling und Buck, wie sie ein­tra­ten, der Ge­stank an die Gur­gel ging, und ko­misch bloß, dass sie sich des­halb zu ge­nie­ren schie­nen. »Hät­ten wir sie in der Ge­walt, wie sie uns ha­ben, wir wür­den nicht so vie­le Um­stän­de ma­chen!« Dinkl und Jau­ner er­klär­ten auf das deut­lichs­te, was sie mit den rei­chen Wei­bern heu­te ge­macht ha­ben wür­den, trotz den wei­ßen Haa­ren der einen. Ei­nen Laut aber, der Schlim­me­res ver­hieß, stieß Her­bes­dör­fer aus. In sei­nem ge­röte­ten Kopf war die Kar­tof­fel­na­se weiß wie der nack­te plum­pe Hals, und die Au­gen hin­ter den run­den Bril­lenglä­sern starr­ten blind, als hät­te er Ge­sich­te.

Dinkl in­zwi­schen war in die Mit­te ge­tre­ten, schob die Dau­men in die Ach­sellö­cher sei­nes gelb­ka­rier­ten Röck­chens und mach­te vor, wie er spa­zie­ren­ge­he. Ein fei­ner Fatz­ke be­geg­ne­te ihm. Den fei­nen Fatz­ke muss­te Jau­ner ma­chen; er nahm sein stei­fes Hüt­chen vom Re­chen und drück­te die Beu­len her­aus. Bei ihm an­ge­langt, schleu­der­te Dinkl ihm die Faust bis nahe un­ter das Kinn, wo­bei Jau­ner über­mä­ßig er­schrak. Dinkl aber tat, als habe er nur die Zi­ga­ret­te an den Mund füh­ren wol­len. Alle lärm­ten Bei­fall. So war es! Je­den Rei­chen konn­te man mit ei­nem Fin­ger er­schre­cken, dass er in Ohn­macht fiel, denn sie schlie­fen im­mer. Sie gin­gen in den Stra­ßen und merk­ten nicht, wie sie un­ter uns Ar­bei­tern ver­ein­samt wa­ren – bloß noch die Po­li­zei war da –, und wie ihre Pelz­män­tel sich ver­lo­ren zwi­schen den vie­len ge­flick­ten Som­mer­ja­cken. Sie mer­ken nichts, sie schla­fen. Nie, den­ken sie, kommt es an­ders. Denn sie sind es ge­wöhnt, sie hat­ten es leich­ter als wir, sich zu ge­wöh­nen.

Hier war Her­bes­dör­fer fer­tig mit sei­nen Vor­be­rei­tun­gen, aus­zu­spre­chen, was er sah. Er zeig­te sei­ne rie­si­gen Hän­de her, ein Fin­ger war weiß ver­bun­den, – öff­ne­te und schloss sie, dass sie knack­ten, und sag­te müh­sam vor Kraft:

»Das Gan­ze kommt an­ders!«

Bal­rich, ge­gen­über, hör­te ihm ach­tungs­voll zu. Da­durch ent­ging es ihm fast, dass der alte Gel­lert ihn lei­se in die Sei­te stieß und ihm et­was an­ver­trau­te. Er schi­en es lan­ge in sich un­ter­drückt zu ha­ben, und nur die ge­stei­ger­te Stim­mung der Um­ge­bung be­wirk­te es, dass sein letz­ter al­ter Zahn sich auf­hob und et­was her­ausließ.

»Längst schon könn­te es an­ders sein,« wis­per­te er. »Auch um­ge­kehrt wär’ ein Schuh ge­wor­den. Hab’ ich Heß­ling mit ge­grün­det, was fehlt dann viel, und ich wäre, was er ist.«

Sein Groß­nef­fe sah ihn an; der Alte kniff die Lip­pen und mach­te sich klein, als habe er nichts ge­sagt. Bal­rich stutz­te kurz; schon zuck­te er die Ach­seln, Ge­schwätz ohne Kraft war nicht acht­bar.

Auch ka­men eben jetzt die Ge­nos­sen auf die Par­tei zu spre­chen. Die Par­tei war mit nich­ten ein­wand­frei, sie ent­hielt Ele­men­te, die mehr an sich dach­ten, als an die ar­bei­ten­de Klas­se. Jau­ner, als der Miss­ver­gnüg­tes­te, kenn­zeich­ne­te den Ge­nos­sen Na­po­le­on Fi­scher, un­se­ren Ab­ge­ord­ne­ten, der Ge­schäf­te ge­macht hat­te, aber bes­se­re für sich als für uns. Er stand gut mit Heß­ling und wuss­te auch der Re­gie­rung nichts mehr ab­zu­schla­gen. Was be­kam er für die Un­men­ge Mi­li­tär, die er be­wil­lig­te? Wie­der eine Ver­si­che­rung, wie­der eine Für­sor­ge. Und hat­te doch ge­ar­bei­tet, so­gar bei Heß­ling. Was hof­fen von den an­de­ren, mit den wei­chen Hän­den.

Dies war wohl rich­tig; den­noch wag­te sich der Bei­fall viel we­ni­ger ent­schie­den her­aus, als vor­hin, ge­gen Ar­beit­ge­ber und be­sit­zen­de Klas­se. Hier­mit war nicht zu spa­ßen, und was Jau­ner dem Par­tei­be­am­ten wie­der er­zähl­te, konn­te dir schlech­ter be­kom­men als sein Be­richt an den Heß­ling­s­chen Herrn Obe­rin­spek­tor. So viel ließ sich wohl sa­gen, dass die Ver­si­che­run­gen und Für­sor­gen ihre zwei gu­ten Sei­ten hat­ten, eine für uns und eine für die Rei­chen, de­nen sie zu ei­nem bes­se­ren Schlaf ver­hal­fen. Dinkl, als der Un­vor­sich­tigs­te, ging wei­ter und be­haup­te­te, das zwei­te sei die Haupt­sa­che, und der alte Ar­bei­ter, der von dem Pen­si­ons­plun­der le­ben kön­ne, sei noch nicht ge­bo­ren.

»Mein ei­ge­ner Va­ter, wie oft ich ihm ins Ge­wis­sen rede, vor Mit­tag, wenn wir Män­ner noch nicht aus der Fa­brik zu­rück sind, geht er mit sei­ner Ess­schüs­sel bei den Nach­ba­rin­nen um­her.«

Hier­zu war der Alte ge­nö­tigt, weil sei­ne Kin­der ihm das Geld sei­ner Al­ters­ver­sor­gung ab­nah­men und ihm nicht satt da­für zu es­sen ga­ben. Dies wuss­te man; aber wel­cher Vor­wurf traf einen Ka­me­ra­den, der Frau und vier Kin­der hin­durch­brach­te. Bes­ser, es hun­ger­te ein Al­ter.

Her­bes­dör­fer, längst nicht mehr wild, hat­te ein von der Furcht zu­sam­men­ge­zo­ge­nes Ge­sicht und jam­mer­te in rau­en Lau­ten vor sich hin. Er be­klag­te sich über den Kas­sen­arzt, der ihn schon wie­der zur Ar­beit schick­te, ob­wohl er im Knie seit sei­nem Un­fall noch im­mer eine Schwä­che hat­te. Er hat­te die Schwä­che nicht, wenn er drau­ßen um­her­ging; aber kaum in der Fa­brik, hat­te er sie; und die Furcht, hin­ein­zu­fal­len zwi­schen die Mühl­rä­der und zer­mah­len zu wer­den mit dem Holz­stoff, mach­te ihm Schwin­del.

»Das ken­ne ich,« sag­ten sie an den an­de­ren Ti­schen. Denn sie kann­ten es.

»Man hat doch nur sei­ne Glied­ma­ßen. Frau und Kin­der ha­ben nur mei­ne Glied­ma­ßen. So ein Dok­tor tut im­mer, als wach­sen sie nach.«

»Der wächst nicht nach!« schnaub­te dort hin­ten ei­ner, und reck­te in den Schein der Lam­pe sei­ne Hand, der ein Fin­ger fehl­te. Da hob auch Her­bes­dör­fer, rau win­selnd, sei­nen ver­bun­de­nen Fin­ger zum Licht hin­auf; und über zwei Ti­sche, und dann ne­ben­an, und dann an je­dem ka­men Fin­ger ans Licht, dick um­wi­ckelt und weiß in­mit­ten ei­ner Hand, die dun­kel be­fleckt war von den un­ver­gäng­li­chen Spu­ren der Ar­beit. Wie alle die­se ver­bun­de­nen Wun­den durch die Luft ge­schwenkt wur­den, roch man auf ein­mal deut­lich den dün­nen schar­fen Ge­ruch, der un­ter den Aus­düns­tun­gen der Kör­per und dem Ta­baks­qualm, halb­ver­ges­sen im­mer da war, den Ge­ruch des Kar­bols.

Auch Karl Bal­rich sah einen sei­ner Fin­ger in Lei­nen ge­wi­ckelt, er prüf­te ihn, die Brau­en ge­fal­tet, un­ter dem Tisch. Je­der in die­sem Au­gen­blick hat­te ein Ge­sicht, das den al­ler­tiefs­ten Ernst des Le­bens trug. Da, in ei­ner Stil­le, sag­te Bal­rich:

»Das hat sei­ne Zeit, und dann kommt die Ge­rech­tig­keit.«

»So ist es!« sag­ten sie, und ein Ge­schwirr ent­stand, aus lei­sen Zu­stim­mun­gen, den hal­b­en Lau­ten der Gläu­big­keit. Auf dem Wege sind wir, zur Ge­rech­tig­keit, – und sä­hest du täg­lich mehr, dass er lang ist, ge­zählt sind die Tage der Rei­chen. Wir wer­den, mit dem was jetzt sie uns kos­ten, selbst reich sein, alle; wer­den in ge­lüf­te­ten Sä­len ge­mein­sam un­ser gu­tes Es­sen ha­ben, und Ma­schi­nen, die uns ge­hö­ren, ar­bei­ten für uns. Mit je­nen aber wird es aus sein. Wäre dem an­ders, warum säuft man nicht, oder bricht ein.

Das tun wir nicht, weil wir ver­nünf­ti­ger sind als sie. Wir kön­nen frei auf­at­men, so, ganz frei, mit­ten in un­se­rer Stick­luft, denn bei uns sind Ver­nunft und Zu­kunft. Ihr dort seid er­blin­det durch den Be­sitz, ihr wisst nicht ein­mal mehr, was ihr in Hän­den habt. Wer un­ter euch schätzt das Wis­sen, den Geist, gleich uns? Ihr habt ihn ver­ges­sen, in eu­rem Fett. Wir, wir be­grei­fen, dass er es ist, der die Welt er­obert, und dass er auch wie­der ihr Ziel ist. Jede Biblio­thek, die wir zu­sam­men­brin­gen oder ab­rin­gen eu­rem Geiz, ist ein Weg­mal für un­se­re Her­auf­kunft und eu­ren Un­ter­gang.

Dinkl, mit ei­nem Luft­sprung von sei­nem Sitz auf, rief aus:

»Nichts freut mich, wie die hun­dert­tau­send Mark, die ihn die Biblio­thek kos­tet!«

Und alle frohlock­ten über die­se Nie­der­la­ge des Ge­ne­ral­di­rek­tors. Kämp­fe frei­lich kos­te­te noch die Ver­wal­tung der Biblio­thek, denn sat­zungs­ge­mäß stimm­ten auch Be­am­te beim An­kauf der Bü­cher, und ver­hin­der­ten, so viel sie konn­ten, die Auf­nah­me der Par­tei­sch­rif­ten. Her­bes­dör­fer schmun­zel­te, tief be­frie­digt. Seit ges­tern hat­te er, si­cher ver­schlos­sen in sei­nem Zim­mer, »das Ka­pi­tal«.

Da be­trach­te­te Bal­rich ihn, sein ar­mes gro­bes Ge­sicht, das ver­rie­gelt aus­sah und hin­ter sei­ner großen Bril­le im­mer in An­stren­gung und Angst schi­en, ob es nicht end­lich sich öff­nen, klar­se­hen und be­grei­fen wer­de, sein tap­fe­res, ver­geb­lich rin­gen­des Ge­sicht.

»So steht es um uns,« fühl­te Bal­rich. »Wir sind zu schwach, ob­wohl wir die Stär­ke­ren schei­nen. Die Bü­cher, mit de­nen Aus­beu­tung und Elend zu be­sie­gen wä­ren, lie­gen in un­se­rer Lade, wir aber sit­zen hier, ver­braucht vom Knecht­stum der gan­zen Wo­che und ohne Hand­ha­be, um un­se­re Waf­fen nut­zen zu ler­nen. Kommt den­noch ei­ner von uns da­hin, die wis­sen­schaft­li­chen Wer­ke zu er­fas­sen, sei­nen Kin­dern kann er es dar­um nicht leich­ter ma­chen. Wir blei­ben, wo wir sind. Trach­ten wir das Glück zu ge­nie­ßen, das Ar­mut uns er­laubt!«

Hier er­in­ner­te er sich, dass ein Mäd­chen auf ihn war­te­te – sein Mäd­chen, wenn er woll­te. Aber woll­te er, und muss­te es die­se sein? Er stieg aus der Bank ohne Eile, trat noch an den Tisch drü­ben, hät­te sich fast dar­an nie­der­ge­las­sen, – und als er dann hin­aus­ge­lang­te, stand dort hin­ten un­ter der Fried­hof­mau­er schon das Mäd­chen. Sie stand in ih­rem brau­nen Tuch ein we­nig ge­beugt, als war­te­te sie seit ei­ni­ger Zeit, und sah ihn erst, als er schon nahe war.

»Thil­de!« rief er auf­mun­ternd, wor­auf sie ihm ein Ge­sicht zeig­te, das voll Gram war. Er kam aber so mu­tig her­bei, breit, spann­kräf­tig und fest, mit dem dun­keln Schopf un­ter der Müt­ze her­vor, so wohl­ge­ra­ten kam er, dass sie ihm den­noch ent­ge­gen­lä­chel­te.

»Warst du schon drin­nen?« frag­te er ge­dämpft und wies nach der Fried­hof­pfor­te.

Sie nick­te. »Mein Klei­nes hat al­les was es braucht. Wenn auch wir das hät­ten.«

»Das sollst du nicht sa­gen,« ver­lang­te er; und zar­ter: »Ge­hen wir noch ein­mal hin­ein?«

Da sie den Kopf schüt­tel­te, be­stand er nicht dar­auf. Es mach­te nur trau­rig, und hat­ten sie nicht bei­de mehr vor als hin­ter sich? »Komm fort!« sag­te er be­stimmt, nahm ih­ren Arm und ging schnel­ler. Im Schat­ten der Mau­er, von der Bü­sche hin­gen, dräng­te sie sich an ihn mit den Hüf­ten. Sie wa­ren breit, die Brust voll, und dazu das ma­ge­re Ge­sicht, aus dem sie ban­ge zu ihm auf­sah.

Am Ende der Mau­er pfiff so­gleich der Wind. Bal­rich wi­ckel­te Thil­de fes­ter ein. Erst März; kahl däm­mern­des Feld; und sie stapf­ten durch Re­gen­la­chen. Rechts zwi­schen dür­ren Bäum­chen die Vil­len, ge­nannt Ar­bei­ter­vil­len; aber fast nur noch Be­am­te wohn­ten dar­in. Als Ar­bei­ter muss­te man sehr wohl ge­lit­ten sein. »Der Jau­ner wird her­ein­kom­men, wir nicht.«

Und we­gen der Pfüt­zen bald ge­trennt, bald wie­der bei­sam­men, be­gan­nen sie zu rech­nen. Bal­rich hat­te sei­ne zwei jun­gen Brü­der, der eine noch schul­pflich­tig, der an­de­re un­be­zahlt. Das klei­ne Mäd­chen Thil­des war kei­ne Last mehr, sag­te Bal­rich. Nur noch ihre Mut­ter, zu schwach um zu ar­bei­ten, hing an ihr. »Wäre das nicht,« sag­te er, im Drang sie zu schüt­zen, »du soll­test gar nicht mehr ar­bei­ten, du Ärms­te, und ich für zwei.«

Hier­auf sah sie ihn an, bit­ter und miss­trau­isch, und mit ei­ner hö­he­ren, schär­fe­ren Stim­me sag­te sie, dass sie nichts brau­che und ihre Mut­ter sei ihr so we­nig zur Last, wie frü­her das Kind. »Du möch­test wohl, auch sie läge schon drau­ßen!«

Da merk­te Bal­rich, dass sie ein­an­der nicht ver­stan­den, – und woll­ten ein­an­der doch lie­ben? Er hät­te dar­auf be­ste­hen sol­len, dass sie zu­sam­men an das Grab gin­gen. Nun arg­wöhn­te sie, dass er ihr das Kind ver­den­ke, viel­leicht im­mer es ihr ver­den­ken wer­de. »Das nicht,« fühl­te er. »Das wirk­lich nicht. Aber sie hat ihr Le­ben ge­habt, be­vor ich da war. Sie hat einen an­de­ren ge­kannt, und ich glau­be zwei. Nun denkt sie von mir bis­wei­len nicht gut.«

Sie war zwan­zig, so alt wie er; und auch er hat­te schon zwei Mäd­chen ge­habt. Ihm aber war nichts zu­rück­ge­blie­ben, er hät­te lie­ben kön­nen wie das ers­te Mal. Nur, warum denn die­se, die manch­mal so fremd schi­en, als sei sie aus ei­nem an­de­ren Land. Durch sie hin­durch er­blick­te er plötz­lich sei­ne Schwes­ter Leni, un­be­rührt, un­be­schwert und ver­trau­end auf das Glück. Das war sein Blut, sein Land, war die gute Zu­kunft. Die­se hier, wie müde!

Fühl­te sie denn, was er dach­te? An­kla­gend er­hob sie noch­mals das Ge­sicht ge­gen ihn und sag­te in ei­nem Ton, der weh tun woll­te: »Gib acht auf dei­ne Schwes­ter Leni! Sie ist vor dem Kind nicht si­che­rer als wir an­de­ren.«

Bal­rich ließ sich aber nicht weh­tun. Er nahm fest ih­ren Arm in den sei­nen und sag­te sanft:

»Dein Kind war ein gu­tes und lie­bes Kind.«

Er er­laub­te ihr nicht, sich los­zu­ma­chen, und am Ende gab sie nach, sank lei­se ge­gen ihn, und aus ih­ren ge­schlos­se­nen Au­gen ran­nen Trä­nen. Lang­sam, in der Däm­me­rung und im Wind, er­reich­ten sie den »Ar­bei­ter­wald«, der Bän­ke hat­te. Um­schlun­gen setz­ten sie sich auf eine feucht­kal­te Bank, un­ter großen schwar­zen Äs­ten ohne Blät­ter. Vor ih­nen die Fa­brik, und hin­ter den drei Rei­hen der Fa­brik­ge­bäu­de ging die Son­ne un­ter, von Wol­ken­strei­fen über­zo­gen wie von Rauch. Sie starr­ten in die Röte und dach­ten bei­de, dass es gut wäre, warm zu ha­ben. In ih­rem Rücken, hin­ter ho­hen Plan­ken, lag der »Herr­schafts­wald«, be­gann hier wild, und im­mer ge­pfleg­ter, blu­mi­ger und ge­schütz­ter ge­gen den Wind und ge­gen die bö­sen, sehn­süch­ti­gen Bli­cke, um­gab er end­lich als sü­ßer Gar­ten die Vil­la Höhe, das ver­bo­te­ne Pa­ra­dies.

»Dort friert es kei­nen,« sag­te das Mäd­chen. Der Ar­bei­ter sag­te:

»Dort kön­nen sie er­näh­ren, wen sie lie­ben.«

Da die Son­ne fort war, der Wind käl­ter blies und es an­fing zu reg­nen, stan­den sie auf. Thil­de woll­te um­keh­ren, Bal­rich aber streb­te der Fa­brik zu. Er wis­se eine Un­ter­kunft beim Re­gen. Auch Thil­de sah sie wohl, es wa­ren die Wag­g­ons, die von der Fa­brik zum Bahn­hof fuh­ren. Dort hiel­ten sie, ei­ner mit of­fe­ner Tür. Das Mäd­chen sträub­te sich, hin­ein­zu­stei­gen.

»Weil die Lum­pen dar­in so schlecht rie­chen?« frag­te er. Sie ant­wor­te­te:

»Was soll mir das ma­chen. Ich ste­he mein gan­zes Le­ben in ei­nem Lum­pen­saal.«

Und sie ließ sich hin­ein­hel­fen.

»Es ist doch tro­cken hier auf den Lum­pen,« sag­te er.

»Und so­gar warm,« flüs­ter­te sie und über­ließ sich sei­nen be­gehr­li­chen Hän­den.

Da sie an sei­ne Brust ge­drängt im Dun­keln nach sei­nen Au­gen such­te, schloss er sie, al­lein mit sei­nen Ge­dan­ken. Dies war das Bes­te was wir hat­ten – und mach­te doch al­les nur schlim­mer. Die Lie­be war ein­ge­setzt, da­mit es mehr Pro­le­ta­ri­er gebe. »Für Heß­ling ar­bei­ten wir, selbst hier, – und frei­lich auch für un­se­re Füh­rer. Heß­ling und un­se­re Füh­rer sind dar­in ei­nig, dass wir nicht zahl­reich ge­nug sein kön­nen. Denn bei­de brau­chen sie Men­schen­ma­te­ri­al.«

Das Mäd­chen sag­te:

»Dies ha­ben wir doch. Dies nimmt uns kei­ner. Küß’ mich, du Lie­ber!«

Aber sie fuh­ren aus­ein­an­der, ein Schlag dröhn­te an der Wa­gen­wand, und in die Tür trat ein großer Um­riss. Der Auf­se­her! Er schalt auf das Ge­sin­del, das in den schö­nen Lum­pen sei­ne Schmut­ze­rei­en trei­be. Als Bal­rich her­vor­kam, hielt der Be­am­te ihn fest und such­te ihm mit sei­ner Ta­schen­lam­pe in das Ge­sicht zu leuch­ten. Bal­rich stieß ihn aber zu­rück, zog auch Thil­de her­aus, und schon lie­fen sie. Ver­folgt von Schimpfre­den lie­fen sie durch den Re­gen, je­der für sich, und wuss­ten schon nicht mehr im Dun­keln, wo ist der an­de­re. Nahe beim Fried­hof erst fan­den sie sich wie­der. Da sah er un­ter der La­ter­ne, wie durch­nässt sie war, denn beim Flie­hen hat­te sie ihr Tuch in den Hän­den des Auf­se­hers ge­las­sen. Er zog so­gleich sei­ne Ja­cke aus und häng­te sie um sie und sich. Ganz auf­ein­an­der ge­neigt gin­gen sie nun, ein Kleid, und man konn­te den­ken, ein Herz. Sie aber zit­ter­te vor Käl­te und er vor Zorn.

Die Kan­ti­ne war nur noch schwach er­hellt, kein Laut drang her­aus, vor der Tür nur er­kann­ten sie Si­mon Jau­ner – und bei ihm, an der Mau­er, zwei Schat­ten, die aus­sa­hen wie Her­ren.

War dies nicht der Herr Obe­rin­spek­tor selbst – und je­ner gar, o Gott! Ge­duckt schli­chen sie vor­über, ein Kleid, ein Herz. Hin­ter ih­nen sag­te die Stim­me ei­nes Herrn:

»So gut ha­ben es nur sol­che Leu­te.«

Die Armen

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