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I.

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Als am Ende des Sees der Zug hielt, stieg Leo Cro­mer, ohne die Ge­dan­ken an die ge­hab­te Be­ra­tung ab­zu­bre­chen, aus, ging in dem Mond­licht um den Schup­pen her­um, der eine Bahn­hofs­hal­le be­deu­te­te, und be­trat den dunklen Baum­gang. Ein­mal er­hob er den Kopf; hin­ter den Stäm­men das Was­ser lag weiß wie Ge­we­be des Lichts, die Ufer schie­nen un­wirk­lich, die Stil­le ein Ge­schrei von Geis­tern … Dies war der dich­te­re Schat­ten sei­nes ei­ge­nen Grun­des, er stand und at­me­te die ver­bor­ge­ne Wär­me, das tie­fe Al­lein­sein. Da­hin­ten, zu Wol­ken ver­sil­ber­ten Lau­bes hin­ab, stieg die flim­mern­de Trep­pe sei­nes Hau­ses, die Va­sen ran­nen über von Licht, die Stu­fen her­nie­der ging es wie eine Schlep­pe. Sie ward be­wegt! Aus ih­ren Fal­ten neig­te sich ein Fuß! … »Was heißt das?« dach­te Cro­mer. »Jetzt habe ich also Ge­sich­te? Ich schei­ne nicht eben glück­lich zu sein – wenn ge­ra­de sie sich mir zeigt?« Er frag­te noch: »Wäre ich es denn zu­frie­den, dass sie, wie frü­her, wenn ich aus der Stadt heim­kam, bei dem Busch dort auf mich zu­trä­te? Bin ich schon alt und müde ge­nug, um bil­lig zu sein und mich zu be­schei­den? … Sie hat wohl ge­büßt«, sag­te er; aber er hob die Schul­tern. »Buße? Ein We­sen wie sie, stirbt aus Zorn, sei­ner Selb­st­ach­tung zu­lie­be, oder ein­fach um des gu­ten Ab­gangs wil­len. Nicht für mich ist sie ge­stor­ben! Ich habe ihr nicht zu dan­ken ge­habt. Ich habe nichts be­reut.«

Auf der Ter­ras­se an­ge­langt, wen­de­te er sich noch­mals um; er sah auf­wärts und hin­ab, zu dem Gar­ten, der dun­kel duf­te­te, und in die brei­ten Ster­nen­strö­me des Au­gust­him­mels. »Wer schla­fen geht, ver­säumt viel, – aber auch, wer den­ken und han­deln geht … Un­serei­ner weiß dies von vor­mals; ganz er­fass­lich sind sol­che Näch­te nicht mehr für uns … Was für Ge­dan­ken üb­ri­gens bei je­mand, der ge­ra­des­wegs aus ei­ner Ver­samm­lung von Macht­men­schen kommt! Ich ken­ne mich längst, die Fra­gen sind er­le­digt, ich habe nichts ver­säumt, was mir ge­ge­ben war. Er­fol­ge: ich habe sie ge­kannt. Ich habe mit Men­schen über­ge­nug zu tun ge­habt, ich habe Frau­en und Män­ner er­obert und nie­der­ge­kämpft, habe vie­len die Spur mei­nes Da­seins auf­ge­drückt, die mich has­sen oder lie­ben muss­ten. Ich habe selbst ge­hasst, selbst ge­liebt.«

Er zog sich ge­gen die Fassa­de zu­rück, in den Schat­ten ei­nes Pi­las­ters. »Wie dies al­les schal wird, so­bald man es sich rüh­men möch­te! Wie es zer­rinnt! Men­schen: habe ich denn mehr bei ih­nen er­fah­ren, als ein kraft­lo­ses und schmerz­li­ches an­ein­an­der Hinglei­ten? Das Le­ben ist ver­gan­gen wie eine Dis­kus­si­on im Klub; man hat ein­an­der amü­siert oder weh ge­tan, zum Schluss aber steht je­der auf, mit sei­ner Mei­nung. In Wahr­heit habe ich kei­nen Mann über­zeugt, kei­ne Frau ganz ge­won­nen, habe nie­mand je zu mir her­über­ge­bracht.«

Angst­voll folg­te sein Blick der Bahn der Ster­ne, die her­ab­stürz­ten aus dem wim­meln­den Schein, und die, be­vor das Auge sie er­fass­te, schon im Dun­kel wa­ren. »Die Men­schen hal­ten ein­an­der nicht. Ich habe Lida nicht ge­hal­ten. Wo­her der bit­te­re Geist, der See­len neh­men will und doch nicht an sie glaubt! Ich habe lie­ber ver­wor­fen als stand­ge­hal­ten, und bes­se­re Au­gen für den Ver­rat ge­habt als für die Hin­ga­be. Lida we­nigs­tens ist mir die Ant­wort nicht schul­dig ge­blie­ben, die To­ten ha­ben das letz­te Wort. Da ste­he ich nun …«

Und er dach­te an die längst Ver­gan­ge­ne, so nahe, als trie­be der Geis­ter­strom des Mond­lichts, in das er hin­aus­starr­te, ihn bis zu dem Ufer, wo ihr Schat­ten war­te­te. Sie war das glän­zen­de Glück sei­ner ers­ten rei­fen Jah­re ge­we­sen. Er hat­te Er­fol­ge ge­habt, die be­kannt wur­den; die­se Lie­be, die er ent­ge­gen­nahm, trug zum ers­ten Mal Zei­chen von Tri­but und Lohn. Aber auch er hul­dig­te ih­rer welt­li­chen Gel­tung, dem Reich­tum an Be­wun­de­rung, dem die schö­ne Schau­spie­le­rin ge­bot. Sie lieb­ten ein­an­der, wie Geist und Sin­ne den Voll­be­sitz des Le­bens lie­ben. Ihre Be­zie­hun­gen wa­ren un­sen­ti­men­tal und dar­um ge­fähr­det bei je­dem Ver­sa­gen. Mo­na­te lang ge­trennt durch ihre Gast­spie­le und sei­ne po­li­ti­schen oder Ge­schäfts­rei­sen, er­war­te­ten sie ein­an­der im­mer nur auf der Höhe und den Er­eig­nis­sen über­le­gen. Pro­ble­me? Je­der von ih­nen hat­te sie bei an­de­ren ab­tun kön­nen; zwi­schen ih­nen bei­den la­gen kei­ne, sie hät­ten sonst, an­statt ihre Hei­rat zu er­wä­gen, einen ra­schen Strich ge­zo­gen. Wa­rum nur, bei sol­chem Ein­ver­ständ­nis, die un­ver­mit­tel­te Be­fan­gen­heit seit ih­rem letz­ten Gast­spiel, das Erzwun­ge­ne je­nes Brie­fes, und als sie zu­rück­kam, das un­kla­re We­sen? Er glaub­te an Mis­ser­folg, Krank­heit, Geld­ver­lus­te, nur nicht an das, was dann in der Ab­schieds­sze­ne wund und ver­wor­ren end­lich aus ihr her­vor­kam, weil er es her­vor­zerr­te. Sie hat­te ihn be­tro­gen. Wozu be­tro­gen? Sie war frei, war stolz, nichts nö­tig­te sie, zu be­rech­nen und zu lü­gen. Sie war vor ihm zu­sam­men­ge­bro­chen und wein­te – und er emp­fand, was er mit ihr, mit ihr nie hät­te emp­fin­den dür­fen, Mit­leid, ein ver­ach­tungs­vol­les Mit­leid. Er dreh­te ihr den Rücken. Gleich nach­dem er ihre Woh­nung ver­las­sen hat­te, ge­sch­ah das Un­glück.

Ein ge­wöhn­li­cher Un­glücks­fall. Die Frau, die nun nicht mehr da war, hat­te sich selbst ver­lo­ren, be­vor er sie ver­lor. Ihr Ende war äu­ßer­lich, schat­ten­haft; ihn, der als Freund ei­ner be­lieb­ten Künst­le­rin an ih­rem Sar­ge re­prä­sen­tier­te, ging es noch we­ni­ger an als die an­de­ren. Was ihm üb­rig blieb, war Bit­ter­keit, Zorn und eine Ver­meh­rung sei­ner Zwei­fel am Le­ben selbst. Man konn­te noch ge­win­nen, man konn­te nicht mehr glau­ben, zu be­sit­zen … Den­noch hat­te er wie­der ge­liebt, Zwi­schen­fäl­le, die auch schon da­hin wa­ren. »Eben­so gut könn­te ich der oder je­ner ge­den­ken, warum ih­rer? Ist es, weil sie ster­ben muss­te, und weil sol­che süße und wei­ße Nacht wer­ben möch­te für den Tod? Es ist wahr, sie kam als Letz­te, be­vor ich al­ter­te. Aber noch jetzt bin ich weit von fünf­zig.«

Er trat in das Haus; es schi­en ihm er­füllt von ei­nem Duft, wie wenn das Mond­licht ge­duf­tet hät­te. Durch das of­fe­ne Fens­ter sei­nes Zim­mers fiel es auf die Wand, scharf ab­ge­grenzt und weiß wie ein Spie­gel. Er ging im Dun­keln zu Bett, such­te aber nicht ein­zu­schla­fen. Es schi­en ihm ei­gen­tüm­lich nutz­los, Ver­zicht zu leis­ten auf die­ses un­ge­woll­te Le­ben­dig­wer­den to­ter Stun­den, to­ter Au­gen. Sie wa­ren da, viel eher konn­ten Stun­den und Ge­sich­ter des be­vor­ste­hen­den Ta­ges aus­blei­ben als sie. Sie war da! Ihre Au­gen wa­ren da, ihr Lä­cheln kühn und lo­ckend wie je! Aus der Tür ih­res Zim­mers her­vor­ge­tre­ten, stand sie in ei­ner frem­den Hel­lig­keit ihm wirk­lich ge­gen­über und sah ihn an! Er fuhr auf: »Lida!« – und ihm setz­te das Herz aus. Da be­griff er, dass es nichts war als ihr Bild, die große Fo­to­gra­fie, die er nach ih­rem Tod aus sei­ner Nähe ent­fernt hat­te. Das Mond­licht war dort­hin ge­rückt, scharf be­grenz­te es das Bild. Wie aber kam das Bild auf die Ta­pe­ten­tür, ge­nau auf die Tür? Cro­mer sah nach; Das Bild war un­be­weg­lich; un­ten ver­sperr­te es den Tür­griff, man konn­te nicht öff­nen. Er dreh­te die Be­leuch­tung auf. Durch zwei klei­ne Lö­cher in der Ta­pe­te lief eine Schnur hin und zu­rück und in die Rin­ge am Rah­men. Er woll­te einen der Kno­ten lö­sen: da war es kei­ne Schnur, es wa­ren vie­le Fä­den, selt­sam weich und zäh. Er riss; das Bild stürz­te, und in der Hand hielt Cro­mer eine lan­ge gold­blon­de Haar­sträh­ne.

Da­rauf sah er in das Ge­sicht der To­ten. Er frag­te: »Wozu dies, da es un­mög­lich ist. Wozu Rät­sel auf­ge­ben, die kei­ne sein kön­nen …« Den­noch zö­ger­te sein Ge­dan­ke, nicht an­ders als sie, die Tote, da­stand und zö­ger­te. Sie hielt eine Hand, eine ih­rer viel­sa­gen­den Hän­de am Saum ei­nes Vor­han­ges, den sie nicht öff­ne­te. Den Kopf ver­hei­ßend zur Schul­ter ge­neigt, die Au­gen so wis­send in ih­rer Um­schat­tung, und die­ses Lä­cheln der ge­lös­ten Lip­pen, – aber sie öff­ne­te nicht den Vor­hang. Er zuck­te die Ach­seln. Die Haar­sträh­ne ließ er noch­mals sach­lich durch die Fin­ger glei­ten, dann warf er sie zu dem Bild. Moch­ten es Frau­en­haa­re sein, so wa­ren es doch nicht ihre. Er hat­te sich kei­ne von ihr zu­rück­be­hal­ten, er war weit da­von ent­fernt ge­we­sen. Sein Die­ner, ein eif­ri­ger Mensch, hat­te in der kur­z­en Zeit sei­nes Hier­seins schon meh­re­re Zei­chen von Selbst­stän­dig­keit ge­ge­ben. »Er hat es rich­tig ge­fun­den, mich mit die­ser Neue­rung zu über­ra­schen. Die Art der. Be­fes­ti­gung ist auf­fal­lend. Im­mer­hin ist er jung und of­fen­bar ro­man­tisch. Ich wer­de ihn auf­for­dern müs­sen, es we­ni­ger zu sein.« Er woll­te läu­ten, zog aber die Hand zu­rück. »Bin ich denn neu­gie­rig? Wel­chen Zweck hät­te es, in der Nacht ein Ge­spräch vor die­sem Bild zu füh­ren?« Er zuck­te die Ach­seln, stär­ker als das ers­te Mal, und ging ernst­lich schla­fen.

Die Tote

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