Heinrich Mann: Professor Unrat

Heinrich Mann: Professor Unrat
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"Professor Unrat", diese bitterböse Satire auf einen kleinen Spießer, der aus abgründigem Hass auf diejenigen, die genauso verkommen und obrigkeitshörig sind wie er selbst, über einige Umwege schließlich zu genau demjenigen Anarchisten wird, der er innerlich schon immer war, ohne es zu wissen, wurde beim Erscheinen 1905 eher totgeschwiegen und brachte Heinrich Mann erst 25 Jahre später Weltruhm ein durch die, allerdings in großen Teilen vom Buch abweichende, UFA-Verfilmung «Der blaue Engel» mit der zuvor noch gänzlich unbekannten Marlene Dietrich, die damit zum «einzigen deutschen Weltstar» der damaligen Zeit aufstieg.

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Heinrich Mann. Heinrich Mann: Professor Unrat

Heinrich Mann. Professor Unrat

I

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XIII

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XVI

XVII

Impressum

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Da er Raat hieß, nannte die ganze Schule ihn Unrat. Nichts konnte einfacher und natürlicher sein. Der und jener Professor wechselten zuweilen ihr Pseudonym. Ein neuer Schub Schüler gelangte in die Klasse, legte mordgierig eine vom vorigen Jahrgang noch nicht genug gewürdigte Komik an dem Lehrer bloß und nannte sie schonungslos bei Namen. Unrat aber trug den seinigen seit vielen Generationen, der ganzen Stadt war er geläufig, seine Kollegen benutzten ihn außerhalb des Gymnasiums und auch drinnen, sobald er den Rücken drehte. Die Herren, die in ihrem Hause Schüler verpflegten und sie zur Arbeit anhielten, sprachen vor ihren Pensionären vom Professor Unrat. Der aufgeweckte Kopf, der den Ordinarius der Untersekunda hätte neu beobachten und nochmals abstempeln wollen, wäre nie durchgedrungen; schon darum nicht, weil der gewohnte Ruf auf den alten Lehrer noch so gut seine Wirkung übte wie vor sechsundzwanzig Jahren. Man brauchte nur auf dem Schulhof, sobald er vorbeikam, einander zuzuschreien: „Riecht es hier nicht nach Unrat?“ Oder: „Oho! Ich wittere Unrat!“

Und sofort zuckte der Alte heftig mit der Schulter, immer mit der rechten, zu hohen, und sandte schief aus seinen Brillengläsern einen grünen Blick, den die Schüler falsch nannten, und der scheu und rachsüchtig war: der Blick eines Tyrannen mit schlechtem Gewissen, der in den Falten der Mäntel nach Dolchen späht. Sein hölzernes Kinn mit dem dünnen, graugelben Bärtchen daran klappte herunter und hinauf. Er konnte dem Schüler, der geschrien hatte, „nichts beweisen“ und musste weiterschleichen auf seinen magern, eingeknickten Beinen und unter seinem fettigen Maurerhut.

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Manche in der Klasse erinnerten sich des zehnten Auftritts im ersten Aufzug und kannten beiläufig die zwei ersten Gebete Karls. Vom dritten wussten sie nichts mehr, es war, als hätten sie es nie gelesen. Der Primus und noch zwei oder drei, darunter Lohmann, waren sogar sicher, sie hätten es nie gelesen. Der Dauphin ließ sich ja von der Prophetin nur zwei seiner nächtlichen Bitten wiederholen; das genügte ihm, um an Johannas Gottgesandtheit zu glauben. Das dritte stand schlechterdings nicht da. Dann stand es gewiss an einer andern Stelle oder ergab sich irgendwo mittelbar aus dem Zusammenhang; oder es ging gar ohne weiteres in Erfüllung, ohne dass man wissen konnte, hier ging etwas in Erfüllung? Dass es einen Punkt geben konnte, wo er niemals aufgemerkt hatte, das gab auch der Primus Angst im stillen zu. Auf alle Fälle musste über dieses dritte Gebet, ja selbst über ein viertes und fünftes, wenn Unrat es verlangt hätte, irgendetwas zu sagen sein. Über Gegenstände, von deren Vorhandensein man nichts weniger als überzeugt war, etwa über die Pflichttreue, den Segen der Schule und die Liebe zum Waffendienst, eine gewisse Anzahl Seiten mit Phrasen zu bedecken, dazu war man durch den deutschen Aufsatz seit Jahren erzogen. Das Thema ging einen nichts an; aber man schrieb. Die Dichtung, der es entstammte, war einem, da sie schon seit Monaten dazu diente, einen „hineinzulegen“, auf das gründlichste verleidet; aber man schrieb mit Schwung.

Mit der „Jungfrau von Orleans“ beschäftigte die Klasse sich seit Ostern, seit dreiviertel Jahren. Den Sitzengebliebenen war sie sogar schon aus dem Vorjahr geläufig. Man hatte sie vor- und rückwärts gelesen, Szenen auswendig gelernt, geschichtliche Erläuterungen geliefert, Poetik an ihr getrieben und Grammatik, ihre Verse in Prosa übertragen und die Prosa zurück in Verse. Für alle, die beim ersten Lesen Schmelz und Schimmer auf diesen Versen gespürt hatten, waren sie längst erblindet. Man unterschied in der verstimmten Leier, die täglich wieder einsetzte, keine Melodie mehr. Niemand vernahm die eigen weiße Mädchenstimme, in der geisterhafte, strenge Schwerter sich erheben, der Panzer kein Herz mehr deckt und Engelflügel, weit ausgebreitet, licht und grausam dastehn. Wer von diesen jungen Leuten später einmal unter der fast schwülen Unschuld jener Hirtin gezittert hätte, wer den Triumph der Schwäche in ihr geliebt hätte, wer um die kindliche Hoheit, die, vom Himmel verlassen, zu einem armen, hilflos verliebten kleinen Mädel wird, je geweint hätte, der wird nun das alles nicht so bald erleben. Zwanzig Jahre vielleicht wird er brauchen, bis Johanna ihm wieder etwas anderes sein kann als eine staubige Pedantin.

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