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I

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Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt. Ungern verließ er im Winter die warme Stube, im Sommer den engen Garten, der nach den Lumpen der Papierfabrik roch und über dessen Goldregen- und Fliederbäumen das hölzerne Fachwerk der alten Häuser stand. Wenn Diederich vom Märchenbuch, dem geliebten Märchenbuch, aufsah, erschrak er manchmal sehr. Neben ihm auf der Bank hatte ganz deutlich eine Kröte gesessen, halb so groß wie er selbst! Oder an der Mauer dort drüben stak bis zum Bauch in der Erde ein Gnom und schielte her!

Fürchterlicher, als Gnom und Kröte war der Vater, und obendrein sollte man ihn lieben. Diederich liebte ihn. Wenn er genascht oder gelogen hatte, drückte er sich so lange schmatzend und scheu wedelnd am Schreibpult umher, bis Herr Heßling etwas merkte und den Stock von der Wand nahm. Jede nicht herausgekommene Untat mischte in Diederichs Ergebenheit und Vertrauen einen Zweifel. Als der Vater einmal mit seinem invaliden Bein die Treppe herunterfiel, klatschte der Sohn wie toll in die Hände – worauf er weglief.

Kam er nach einer Abstrafung mit gedunsenem Gesicht und unter Geheul an der Werkstätte vorbei, dann lachten die Arbeiter. Sofort aber streckte Diederich nach ihnen die Zunge aus und stampfte. Er war sich bewusst: „Ich habe Prügel bekommen, aber von meinem Papa. Ihr wäret froh, wenn ihr auch Prügel von ihm bekommen könntet. Aber dafür seid ihr viel zu wenig.“

Er bewegte sich zwischen ihnen wie ein launenhafter Pascha; drohte ihnen bald, es dem Vater zu melden, dass sie sich Bier holten, und bald ließ er kokett aus sich die Stunde herausschmeicheln, zu der Herr Heßling zurückkehren sollte. Sie waren auf der Hut vor dem Prinzipal: Er kannte sie, er hatte selbst gearbeitet. Er war Büttenschöpfer gewesen in den alten Mühlen, wo jeder Bogen mit der Hand geformt ward; hatte dazwischen alle Kriege mitgemacht und nach dem letzten, als jeder Geld fand, eine Papiermaschine kaufen können. Ein Holländer und eine Schneidemaschine vervollständigten die Einrichtung. Er selbst zählte die Bogen nach. Die von den Lumpen abgetrennten Knöpfe durften ihm nicht entgehen. Sein kleiner Sohn ließ sich oft von den Frauen welche zustecken, dafür, dass er die nicht angab, die einige mitnahmen. Eines Tages hatte er so viele beisammen, dass ihm der Gedanke kam, sie beim Krämer gegen Bonbons umzutauschen. Es gelang – aber am Abend kniete Diederich, indes er den letzten Malzzucker zerlutschte, sich ins Bett und betete, angstgeschüttelt, zu dem schrecklichen lieben Gott, er möge das Verbrechen unentdeckt lassen. Er brachte es dennoch an den Tag. Dem Vater, der immer nur methodisch, Ehrenfestigkeit und Pflicht auf dem verwitterten Unteroffiziersgesicht, den Stock geführt hatte, zuckte diesmal die Hand, und in die eine Bürste seines silberigen Kaiserbartes lief, über die Runzeln hüpfend, eine Träne. „Mein Sohn hat gestohlen“, sagte er außer Atem, mit dumpfer Stimme, und sah sich das Kind an wie einen verdächtigen Eindringling. „Du betrügst und stiehlst. Du brauchst nur noch einen Menschen totzuschlagen.“

Frau Heßling wollte Diederich nötigen, vor dem Vater hinzufallen und ihn um Verzeihung zu bitten, weil der Vater seinetwegen geweint habe! Aber Diederichs Instinkt sagte ihm, dass dies den Vater nur noch mehr erbost haben würde. Mit der gefühlsseligen Art seiner Frau war Heßling durchaus nicht einverstanden. Sie verdarb das Kind fürs Leben. Übrigens ertappte er sie geradeso auf Lügen wie den Diedel. Kein Wunder, da sie Romane las! Am Sonnabendabend war nicht immer die Wochenarbeit getan, die ihr aufgegeben war. Sie klatschte, anstatt sich zu rühren, mit dem Mädchen ... Und Heßling wusste noch nicht einmal, dass seine Frau auch naschte, gerade wie das Kind. Bei Tisch wagte sie sich nicht satt zu essen und schlich nachträglich an den Schrank. Hätte sie sich in die Werkstätte getraut, würde sie auch Knöpfe gestohlen haben.

Sie betete mit dem Kind „aus dem Herzen“, nicht nach Formeln, und bekam dabei gerötete Wangenknochen. Sie schlug es auch, aber Hals über Kopf und verzerrt von Rachsucht. Oft war sie dabei im Unrecht. Dann drohte Diederich, sie beim Vater zu verklagen; tat so, als ginge er ins Kontor, und freute sich irgendwo hinter einer Mauer, dass sie nun Angst hatte. Ihre zärtlichen Stunden nützte er aus; aber er fühlte gar keine Achtung vor seiner Mutter. Ihre Ähnlichkeit mit ihm selbst verbot es ihm. Denn er achtete sich selbst nicht, dafür ging er mit einem zu schlechten Gewissen durch sein Leben, das vor den Augen des Herrn nicht hätte bestehen können.

Dennoch hatten die beiden von Gemüt überfließende Dämmerstunden. Aus den Festen pressten sie gemeinsam, vermittelst Gesang, Klavierspiel und Märchenerzählen, den letzten Tropfen Stimmung heraus. Als Diederich am Christkind zu zweifeln anfing, ließ er sich von der Mutter bewegen, noch ein Weilchen zu glauben, und er fühlte sich dadurch erleichtert, treu und gut. Auch an ein Gespenst, droben auf der Burg, glaubte er hartnäckig, und der Vater, der davon nicht hören wollte, schien ihm zu stolz, beinahe strafwürdig. Die Mutter nährte ihn mit Märchen. Sie teilte ihm ihre Angst mit vor den neuen, belebten Straßen und der Pferdebahn, die hindurchfuhr, und führte ihn über den Wall nach der Burg. Dort genossen sie das wohlige Grausen.

Ecke der Meisestraße hinwieder musste man an einem Polizisten vorüber, der, wen er wollte, ins Gefängnis abführen konnte! Diederichs Herz klopfte beweglich; wie gern hätte er einen weiten Bogen gemacht! Aber dann würde der Polizist sein schlechtes Gewissen erkannt und ihn aufgegriffen haben. Es war vielmehr geboten, zu beweisen, dass man sich rein und ohne Schuld fühlte – und mit zitternder Stimme fragte Diederich den Schutzmann nach der Uhr.

Nach so vielen furchtbaren Gewalten, denen man unterworfen war, nach den Märchenkröten, dem Vater, dem lieben Gott, dem Burggespenst und der Polizei, nach dem Schornsteinfeger, der einen durch den ganzen Schlot schleifen konnte, bis man auch ein schwarzer Mann war, und dem Doktor, der einen im Hals pinseln dürfte und schütteln, wenn man schrie – nach allen diesen Gewalten geriet nun Diederich unter eine noch furchtbarere, den Menschen auf einmal ganz verschlingende: die Schule. Diederich betrat sie heulend, und auch die Antworten, die er wusste, konnte er nicht geben, weil er heulen musste. Allmählich lernte er den Drang zum Weinen gerade dann auszunützen, wenn er nicht gelernt hatte – denn alle Angst machte ihn nicht fleißiger oder weniger träumerisch –, und vermied so, bis die Lehrer sein System durchschaut hatten, manche üblen Folgen. Dem ersten, der es durchschaute, schenkte er seine ganze Achtung; er war plötzlich still und sah ihn, über den gekrümmten und vors Gesicht gehaltenen Arm hinweg, voll scheuer Hingabe an. Immer blieb er den scharfen Lehrern ergeben, und willfährig. Den gutmütigen spielte er kleine, schwer nachweisbare Streiche, deren er sich nicht rühmte. Mit viel größerer Genugtuung sprach er von einer Verheerung in den Zeugnissen, von einem riesigen Strafgericht. Bei Tisch berichtete er: „Heute hat Herr Behneke wieder drei durchgehauen.“ Und wenn gefragt ward, wen:

„Einer war ich.“

Denn Diederich war so beschaffen, dass die Zugehörigkeit zu einem unpersönlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus, der das Gymnasium war, ihn beglückte, dass die Macht, die kalte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhatte, sein Stolz war. Am Geburtstag des Ordinarius bekränzte man Katheder und Tafel. Diederich umwand sogar den Rohrstock.

Im Lauf der Jahre berührten zwei über Machthaber hereingebrochene Katastrophen ihn mit heiligem und süßem Schauder. Ein Hilfslehrer ward vor der Klasse vom Direktor heruntergemacht und entlassen. Ein Oberlehrer ward wahnsinnig. Noch höhere Gewalten, der Direktor und das Irrenhaus, waren hier grässlich mit denen abgefahren, die bis eben so hohe Gewalt hatten. Von unten, klein, aber unversehrt, durfte man die Leichen betrachten und aus ihnen eine die eigene Lage mildernde Lehre ziehen.

Die Macht, die ihn in ihrem Räderwerk hatte, vor seinen jüngeren Schwestern vertrat Diederich sie. Sie mussten nach seinem Diktat schreiben und künstlich noch mehr Fehler machen, als ihnen von selbst gelangen, damit er mit roter Tinte wüten und Strafen austeilen konnte. Sie waren grausam. Die Kleinen schrien – und dann war es an Diederich, sich zu demütigen, um nicht verraten zu werden.

Er hatte, den Machthabern nachzuahmen, keinen Menschen nötig; ihm genügten Tiere, sogar Dinge. Er stand am Rande des Holländers und sah die Trommel die Lumpen ausschlagen. „Den hast du weg! Untersteht euch noch mal! Infame Bande!“, murmelte Diederich, und in seinen blassen Augen glomm es. Plötzlich duckte er sich; fast fiel er in das Chlorbad. Der Schritt eines Arbeiters hatte ihn aufgestört aus seinem lästerlichen Genuss.

Denn recht geheuer und seiner Sache gewiss fühlte er sich nur, wenn er selbst die Prügel bekam. Kaum je widerstand er dem Übel. Höchstens bat er den Kameraden: „Nicht auf den Rücken, das ist ungesund.“

Nicht, dass es ihm am Sinn für sein Recht und an Liebe zum eigenen Vorteil fehlte. Aber Diederich hielt dafür, dass Prügel, die er bekam, dem Schlagenden keinen praktischen Gewinn, ihm selbst keinen realen Verlust zufügten. Ernster als diese bloß idealen Werte nahm er die Schaumrolle, die der Oberkellner vom Netziger Hof ihm schon längst versprochen hatte und mit der er nie herausrückte. Diederich machte unzählige Male ernsten Schrittes den Geschäftsweg die Meisestraße hinauf und zum Markt, um seinen befrackten Freund zu mahnen. Als der aber eines Tages von seiner Verpflichtung überhaupt nichts mehr wissen wollte, erklärte Diederich und stampfte ehrlich entrüstet auf: „Jetzt wird mir‘s doch zu bunt! Wenn Sie nun nicht gleich herausrücken, sag ich's Ihrem Herrn!“ Darauf lachte Schorsch und brachte die Schaumrolle.

Das war ein greifbarer Erfolg. Leider konnte Diederich ihn nur hastig und in Sorge genießen, denn es war zu fürchten, dass Wolfgang Buck, der draußen wartete, darüber zukam und den Anteil verlangte, der ihm versprochen war. Indes fand er Zeit, sich sauber den Mund zu wischen, und vor der Tür brach er in heftige Schimpf reden auf Schorsch aus, der ein Schwindler sei und gar keine Schaumrolle habe. Diederichs Gerechtigkeitsgefühl, das sich zu seinen Gunsten noch eben so kräftig geäußert hatte, schwieg vor den Ansprüchen des anderen – die man freilich nicht einfach außer acht lassen durfte, dafür war Wolfgangs Vater eine viel zu achtunggebietende Persönlichkeit. Der alte Herr Buck trug keinen steifen Kragen, sondern eine weißseidene Halsbinde und darüber einen großen weißen Knebelbart. Wie langsam und majestätisch er seinen oben goldenen Stock aufs Pflaster setzte! Und er hatte einen Zylinder auf, und unter seinem Überzieher sahen häufig Frackschöße hervor, mitten am Tage! Denn er ging in Versammlungen, er bekümmerte sich um die ganze Stadt. Von der Badeanstalt, vom Gefängnis, von allem, was öffentlich war, dachte Diederich: „Das gehört dem Herrn Buck.“ Er musste ungeheuer reich und mächtig sein. Alle, auch Herr Heßling, entblößten vor ihm lange den Kopf. Seinem Sohn mit Gewalt etwas abzunehmen, wäre eine Tat voll unabsehbarer Gefahren gewesen. Um von den großen Mächten, die er so sehr verehrte, nicht ganz erdrückt zu werden, musste Diederich leise und listig zu Werk gehen.

Einmal nur, in Untertertia, geschah es, dass Diederich jede Rücksicht vergaß, sich blindlings betätigte und zum siegestrunkenen Unterdrücker ward. Er hatte, wie es üblich und geboten war, den einzigen Juden seiner Klasse gehänselt, nun aber schritt er zu einer ungewöhnlichen Kundgebung. Aus Klötzen, die zum Zeichnen dienten, erbaute er auf dem Katheder ein Kreuz und drückte den Juden davor in die Knie. Er hielt ihn fest, trotz allem Widerstand; er war stark! Was Diederich stark machte, war der Beifall ringsum, die Menge, aus der heraus Arme ihm halfen, die überwältigende Mehrheit drinnen und draußen. Denn durch ihn handelte die Christenheit von Netzig. Wie wohl man sich fühlte bei geteilter Verantwortlichkeit und einem Selbstbewusstsein, das kollektiv war!

Nach dem Verrauchen des Rausches stellte wohl leichtes Bangen sich ein, aber das erste Lehrergesicht, dem Diederich begegnete, gab ihm allen Mut zurück; es war voll verlegenen Wohlwollens. Andere bewiesen ihm offen ihre Zustimmung. Diederich lächelte mit demütigem Einverständnis zu ihnen auf. Er bekam es leichter seitdem. Die Klasse konnte die Ehrung dem nicht versagen, der die Gunst des neuen Ordinarius besaß. Unter ihm brachte Diederich es zum Primus und zum geheimen Aufseher. Wenigstens die zweite dieser Ehrenstellen behauptete er auch später. Er war gut Freund mit allen, lachte, wenn sie ihre Streiche ausplauderten, ein ungeübtes, aber herzliches Lachen, als ernster junger Mensch, der Nachsicht hat mit dem Leichtsinn – und dann in der Pause, wenn er dem Professor das Klassenbuch vorlegte, berichtete er. Auch hinterbrachte er die Spitznamen der Lehrer und die aufrührerischen Reden, die gegen sie geführt worden waren. In seiner Stimme bebte, nun er sie wiederholte, noch etwas von dem wollüstigen Erschrecken, womit er sie, hinter gesenkten Lidern, angehört hatte. Denn er spürte, ward irgendwie an den Herrschenden gerüttelt, eine gewisse lasterhafte Befriedigung, etwas ganz unten sich Bewegendes, fast wie ein Hass, der zu seiner Sättigung rasch und verstohlen ein paar Bissen nahm. Durch die Anzeige der anderen sühnte er die eigene sündhafte Regung.

Andererseits empfand er gegen die Mitschüler, deren Fortkommen seine Tätigkeit in Frage stellte, zumeist keine persönliche Abneigung. Er benahm sich als pflichtmäßiger Vollstrecker einer harten Notwendigkeit. Nachher konnte er zu dem Getroffenen hintreten und ihn, fast ganz aufrichtig, beklagen. Einst ward mit seiner Hilfe einer gefasst, der schon längst verdächtig war, alles abzuschreiben. Diederich überließ ihm, mit Wissen des Lehrers, eine mathematische Aufgabe, die in der Mitte absichtlich gefälscht und deren Endergebnis dennoch richtig war. Am Abend nach dem Zusammenbruch des Betrügers saßen einige Primaner vor dem Tor in einer Gartenwirtschaft, was zum Schluss der Turnspiele erlaubt war, und sangen. Diederich hatte den Platz neben seinem Opfer gesucht. Einmal, als ausgetrunken war, ließ er die Rechte vom Krug herab auf die des anderen gleiten, sah ihm treu in die Augen und stimmte in Basstönen, die von Gemüt schleppten, ganz allein an:

„Ich hatt einen Kameraden,

einen bessern findst du nit ...“

Übrigens genügte er bei zunehmender Schulpraxis in allen Fächern, ohne in einem das Maß des Geforderten zu überschreiten, oder auf der Welt irgendetwas zu wissen, was nicht im Pensum vorkam. Der deutsche Aufsatz war ihm das Fremdeste, und wer sich darin auszeichnete, gab ihm ein unerklärtes Misstrauen ein.

Seit seiner Versetzung nach Prima galt seine Gymnasialkarriere für gesichert, und bei Lehrern und Vater drang der Gedanke durch, er solle studieren. Der alte Heßling, der sechsundsechzig und einundsiebzig durch das Brandenburger Tor eingezogen war, schickte Diederich nach Berlin.

Weil er sich aus der Nähe der Friedrichstraße nicht fortgetraute, mietete er sein Zimmer droben in der Tieckstraße. Jetzt hatte er nur in gerader Linie hinunterzugehen und konnte die Universität nicht verfehlen. Er besuchte sie, da er nichts anderes vorhatte, täglich zweimal, und in der Zwischenzeit weinte er oft vor Heimweh. Er schrieb einen Brief an Vater und Mutter und dankte ihnen für seine glückliche Kindheit. Ohne Not ging er nur selten aus. Kaum, dass er zu essen wagte; er fürchtete, sein Geld vor dem Ende des Monats auszugeben. Und immerfort musste er nach der Tasche fassen, ob es noch da sei.

So verlassen ihm um das Herz war, ging er doch noch immer nicht mit dem Brief des Vaters in die Blücherstraße zu Herrn Göppel, dem Zellulosefabrikanten, der aus Netzig war und auch an Heßling lieferte. Am vierten Sonntag besiegte er seine Scheu – und kaum watschelte der gedrungene, gerötete Mann, den er schon so oft beim Vater im Kontor gesehen hatte, auf ihn zu, da wunderte Diederich sich schon, dass er nicht früher gekommen sei. Herr Göppel fragte gleich nach ganz Netzig und vor allem nach dem alten Buck. Denn obwohl sein Kinnbart nun auch ergraut war, hatte er doch, wie Diederich, nur, wie es schien, aus anderen Gründen, schon als Knabe den alten Buck verehrt. Das war ein Mann: Hut ab! Einer von denen, die das deutsche Volk hochhalten sollte, höher als gewisse Leute, die immer alles mit Blut und Eisen kurieren wollten und dafür der Nation riesige Rechnungen schrieben. Der alte Buck war schon achtundvierzig dabei gewesen, er war sogar zum Tode verurteilt worden. „Ja, dass wir hier als freie Männer sitzen können“, sagte Herr Göppel, „das verdanken wir solchen Leuten wie dem alten Buck.“ Und er öffnete noch eine Flasche Bier. „Heute sollen wir uns mit Kürassierstiefeln treten lassen ...“

Herr Göppel bekannte sich als freisinnigen Gegner Bismarcks. Diederich bestätigte alles, was Göppel wollte; er hatte über den Kanzler, die Freiheit, den jungen Kaiser keinerlei Meinung. Da aber ward er peinlich berührt, denn ein junges Mädchen war eingetreten, das ihm auf den ersten Blick durch Schönheit und Eleganz gleich furchtbar erschien.

„Meine Tochter Agnes“, sagte Herr Göppel.

Diederich stand da, in seinem faltenreichen Gehrock, als magerer Kandidat, und war rosig überzogen. Das junge Mädchen gab ihm die Hand. Sie wollte wohl nett sein, aber was war mit ihr anzufangen. Diederich antwortete ja, als sie fragte, ob Berlin ihm gefalle; und als sie fragte, ob er schon im Theater gewesen sei, antwortete er nein. Er fühlte sich feucht vor Ungemütlichkeit und war fest überzeugt, sein Aufbruch sei das einzige, womit er das junge Mädchen interessieren könne. Aber wie war von hier fortzukommen? Zum Glück stellte ein anderer sich ein, ein breiter Mensch namens Mahlmann, der mit ungeheurer Stimme mecklenburgisch sprach, stud. ing. zu sein schien und bei Göppels Zimmerherr sein sollte. Er erinnerte Fräulein Agnes an einen Spaziergang, den sie verabredet hätten. Diederich ward aufgefordert, mitzukommen. Entsetzt schützte er einen Bekannten vor, der draußen auf ihn warte, und machte sich sofort davon. „Gott sei Dank“, dachte er, während es ihm einen Stich gab, „sie hat schon einen.“

Herr Göppel öffnete ihm im Dunkeln die Flurtür und fragte, ob sein Freund auch Berlin kenne. Diederich log, der Freund sei Berliner. „Denn wenn Sie es beide nicht kennen, kommen Sie noch in den falschen Omnibus. Sie haben sich gewiss schon mal verirrt in Berlin.“ Und als Diederich es zugab, zeigte Herr Göppel sich befriedigt. „Das ist nicht wie in Netzig. Hier laufen Sie gleich halbe Tage. Was glauben Sie wohl, wenn Sie von Ihrer Tieckstraße bis hierher zum Halleschen Tor gehen, dann sind Sie ja schon dreimal durch ganz Netzig gestiegen ... Na, nächsten Sonntag kommen Sie nun aber zum Mittagessen!“

Diederich versprach es. Als es soweit war, hätte er lieber abgesagt; nur aus Furcht vor seinem Vater ging er hin. Diesmal galt es sogar, ein Alleinsein mit dem Fräulein zu bestehen. Diederich tat geschäftig und als sei er nicht aufgelegt, sich mit ihr zu befassen. Sie wollte wieder vom Theater anfangen, aber er schnitt mit rauher Stimme ab: Er habe für so etwas keine Zeit. Ach ja, ihr Papa habe ihr gesagt, Herr Heßling studiere Chemie?

„Ja. Das ist überhaupt die einzige Wissenschaft, die Berechtigung hat“, behauptete Diederich, ohne zu wissen, wie er dazu kam.

Fräulein Göppel ließ ihren Beutel fallen; er bückte sich so nachlässig, dass sie ihn wiederhatte, bevor er zur Stelle war. Trotzdem sagte sie danke, ganz weich, fast beschämt – was Diederich ärgerte. „Kokette Weiber sind etwas Grässliches“, dachte er. Sie suchte in ihrem Beutel.

„Jetzt hab ich es doch verloren. Mein englisches Pflaster nämlich. Es blutet wieder.“

Sie wickelte ihren Finger aus dem Taschentuch. Er hatte so sehr die Weiße des Schnees, dass Diederich der Gedanke kam, das Blut, das darauf lag, müsse hineinsickern.

„Ich habe welches“, sagte er, mit einem Ruck.

Er ergriff ihren Finger, und bevor sie das Blut wegwischen konnte, hatte er es abgeleckt.

„Was machen Sie denn?“

Er war selbst erschrocken. Er sagte mit streng gefalteten Brauen: „Oh, ich als Chemiker probiere noch ganz andere Sachen.“

Sie lächelte. „Ach ja, Sie sind eine Art Doktor ... Wie gut Sie das können“, bemerkte sie und sah ihm beim Aufkleben des Pflasters zu.

„So“, machte er, ablehnend, und trat zurück. Ihm war es schwül geworden, er dachte: „Wenn man nur nicht immer ihre Haut anfassen müsste! Sie ist widerlich weich.“ Agnes sah an ihm vorbei. Nach einer Pause versuchte sie: „Haben wir nicht eigentlich in Netzig gemeinschaftliche Verwandte?“ Und sie nötigte ihn, mit ihr ein paar Familien durchzugehen. Es stellte sich Vetternschaft heraus.

„Sie haben auch noch Ihre Mutter, nicht? Dann können Sie sich freuen. Meine ist längst tot. Ich werde wohl auch nicht lange leben. Man hat so Ahnungen“ – und sie lächelte wehmütig und entschuldigend.

Diederich beschloss schweigend, diese Sentimentalität albern zu finden. Noch eine Pause – und wie sie beide eilig zum Sprechen ansetzten, kam der Mecklenburger dazwischen. Die Hand Diederichs drückte er so kraftvoll, dass Diederichs Gesicht sich verzerrte, und zugleich lächelte er ihm sieghaft in die Augen. Ohne weiteres zog er einen Stuhl bis vor Agnes' Knie und fragte heiter und mit Autorität nach allem möglichen, was nur sie beide anging. Diederich war sich selbst überlassen und entdeckte, dass Agnes, so in Ruhe betrachtet, viel von ihren Schrecken verlor. Eigentlich war sie nicht hübsch. Sie hatte eine zu kleine, nach innen gebogene Nase, auf deren, freilich sehr schmalem Rücken Sommersprossen saßen. Ihre gelbbraunen Augen lagen zu nahe beieinander und zuckten, wenn sie einen ansah. Die Lippen waren zu schmal, das ganze Gesicht war zu schmal. „Wenn sie nicht so viel braunrotes Haar über der Stirn hätte und dazu den weißen Teint ...“ Auch bereitete es ihm Genugtuung, dass der Nagel des Fingers, den er beleckt hatte, nicht ganz sauber gewesen war.

Herr Göppel kam mit seinen drei Schwestern. Eine von ihnen hatte Mann und Kinder mit. Der Vater und die Tanten umarmten und küssten Agnes. Sie taten es mit dringlicher Innigkeit und hatten dabei behutsame Mienen. Das junge Mädchen war schlanker und größer als sie alle und blickte ein wenig zerstreut auf die hinab, die eben an ihren schmächtigen Schultern hing. Nur ihrem Vater erwiderte sie langsam und ernst seinen Kuss. Diederich sah dem zu und sah in der Sonne die hellblauen Adern, überzogen von roten Haaren, ihre Schläfe kreuzen.

Er musste eine der Tanten ins Esszimmer führen. Der Mecklenburger hatte Agnes' Arm in den seinen gehängt. Um den langen Familientisch raschelten die seidenen Sonntagskleider. Die Gehröcke wurden über den Knien zusammengelegt. Man räusperte sich, die Herren rieben die Hände. Dann kam die Suppe.

Diederich saß von Agnes weit weg und konnte sie nicht sehen, wenn er sich nicht vorbeugte – was er sorgfältig vermied. Da seine Nachbarin ihn in Ruhe ließ, aß er große Mengen Kalbsbraten und Blumenkohl. Er hörte ausführlich das Essen besprechen und musste bestätigen, dass es schön schmecke. Agnes ward vor dem Salat gewarnt, ihr ward zu Rotwein geraten, und sie sollte Auskunft geben, ob sie heute Morgen Gummischuhe angehabt habe. Herr Göppel erzählte, Diederich zugewendet, dass er und seine Schwestern vorhin in der Friedrichstraße, weiß Gott, auseinandergekommen seien und sich erst im Omnibus wiedergefunden hätten. „So was kann Ihnen in Netzig auch nicht passieren“, rief er voll Stolz über den Tisch. Mahlmann und Agnes sprachen von einem Konzert. Sie wollte bestimmt hin, ihr Papa werde es schon erlauben. Herr Göppel machte zärtliche Einwände, und der Chor der Tanten begleitete sie. Agnes müsse früh schlafen gehen und bald in gute Luft hinaus; sie habe sich im Winter überanstrengt. Sie bestritt es. „Ihr lasst mich niemals aus dem Hause. Ihr seid schrecklich.“

Diederich nahm innerlich Partei für sie. Er hatte eine Wallung von Heldentum: Er hätte machen wollen, dass sie alles dürfte, dass sie glücklich war und es ihm dankte ... Da fragte Herr Goppel ihn, ob er in das Konzert wolle. „Ich weiß nicht“, sagte er verächtlich und sah Agnes an, die sich vorbeugte. „Was ist das für eins? Ich gehe nur in Konzerte, wo ich Bier trinken kann.“

„Sehr vernünftig“, sagte der Schwager des Herrn Göppel.

Agnes hatte sich zurückgezogen, und Diederich bereute seinen Ausspruch.

Aber die Creme, auf die alle gespannt waren, blieb aus. Herr Göppel riet seiner Tochter, einmal nachzudenken. Bevor sie ihren Kompottteller hingesetzt hatte, war Diederich aufgesprungen – sein Stuhl flog an die Wand – und festen Schritts zur Tür geeilt. „Marie! Der Krehm!“, rief er hinaus. Rot und ohne jemand anzusehen, ging er wieder an seinen Platz. Aber er merkte ganz gut, sie blinzelten sich zu. Mahlmann stieß sogar höhnisch den Atem aus. Der Schwager äußerte mit künstlicher Harmlosigkeit: „Immer galant! So soll es sein.“ Herr Göppel lächelte zärtlich zu Agnes hin, die nicht von ihrem Kompott aufsah. Diederich stemmte das Knie gegen die Tischplatte, dass sie anfing sich zu heben. Er dachte: „Gott, o Gott, hätte ich nur das nicht getan!“

Beim Mahlzeitsagen gab er allen die Hand, nur um Agnes drückte er sich herum. Im Berliner Zimmer beim Kaffee wählte er seinen Sitz mit Sorgfalt dort, wo Mahlmanns breiter Rücken sie ihm verdeckte. Eine der Tanten wollte sich seiner annehmen.

„Was studieren Sie denn, junger Mann?“ fragte sie.

„Chemie.“

„Ach so, Physik?“

„Nein, Chemie.“

„Ach so.“

Und so imposant sie angefangen hatte, hierüber kam sie nicht hinweg. Diederich nannte sie im stillen eine dumme Gans. Die ganze Gesellschaft passte ihm nicht. Von feindseliger Schwermut erfüllt, sah er darein, bis die letzten Verwandten aufgebrochen waren. Agnes und ihr Vater hatten sie hinausbegleitet. Herr Göppel kehrte zurück, erstaunt, den jungen Mann allein noch im Zimmer zu finden. Er schwieg forschend, einmal fasste er in die Tasche. Als Diederich unvermittelt, ohne um Geld gebeten zu haben, Abschied nahm, bekundete Göppel große Herzlichkeit. „Meine Tochter werd ich von Ihnen grüßen“, sagte er sogar, und an der Tür, nachdem er ein wenig überlegt hatte: „Kommen Sie doch nächsten Sonntag wieder!“

Diederich war fest entschlossen, das Haus nicht mehr zu betreten. Dennoch ließ er tags darauf alles stehen und liegen, um sich durch die Stadt bis zu einem Geschäft zu fragen, wo er für Agnes das Konzertbillett kaufen konnte. Vorher musste er auf den Zetteln, die dort hingen, den Namen des Virtuosen herausfinden, den Agnes erwähnt hatte. War es der? Hatte er so geklungen? Diederich entschloss sich. Als er dann erfuhr, es koste vier Mark fünfzig, riss er vor Schrecken die Augen weit auf. So viel Geld, um einen zu sehen, der Musik machte! Wenn man nur einfach wieder fortgekonnt hätte! Als er bezahlt hatte und draußen war, entrüstete er sich zunächst über den Schwindel. Dann bedachte er, dass es für Agnes geschehen sei, und ward von sich selbst erschüttert. Immer weicher und glücklicher ging er durch das Gewühl. Es war das erste Geld, das er für einen anderen Menschen ausgegeben hatte.

Er legte das Billett in einen Umschlag, in den er nichts weiter legte, und schrieb die Adresse, um sich nicht zu verraten, mit Schönschrift. Wie er dann am Briefkasten stand, kam Mahlmann daher und lachte höhnisch. Diederich fühlte sich durchschaut; er besah die Hand, die er aus dem Kasten zurückgezogen hatte. Aber Mahlmann bekundete nur die Absicht, sich Diederichs Bude anzusehen. Er fand, es sehe drinnen aus wie bei einer älteren Dame. Sogar die Kaffeekanne hatte Diederich von zu Hause mitgebracht! Diederich schämte sich heiß. Als Mahlmann die Chemiebücher verächtlich auf- und zuklappte, schämte Diederich sich seines Faches. Der Mecklenburger wälzte sich ins Sofa und fragte: „Wie gefällt Ihnen denn die Göppel? Netter Käfer, was? Nun wird er wieder rot! Poussieren Sie doch! Ich trete zurück, wenn Sie Wert darauf legen. Ich habe Aussicht bei fünfzehn verschiedenen.“ Da Diederich nachlässig abwehrte: „Sie, da ist nämlich was zu machen. Ich müsste gar nichts von Weibern verstehen. Die roten Haare! – und haben Sie nicht gemerkt, wie sie einen ansieht, wenn sie meint, man weiß es nicht?“

„Mich nicht“, sagte Diederich noch geringschätziger. „Ich pfeife auch darauf.“

„Ihr Schade!“ Mahlmann lachte tobend – worauf er vorschlug, einen Bummel zu machen. Daraus wurde eine Bierreise. Die ersten Gaslichter sahen sie beide betrunken. Etwas später, in der Leipziger Straße, bekam Diederich ohne Anlass von Mahlmann eine mächtige Ohrfeige. Er sagte: „Au! Das ist aber doch eine –“ Vor dem Wort „Frechheit“ schrak er zurück. Der Mecklenburger klopfte ihm auf die Schulter. „Recht freundlich, Kleiner! Alles bloß Freundschaft!“ – und überdies nahm er Diederich die letzten zehn Mark ab ... Vier Tage später fand er ihn schwach vor Hunger und teilte ihm von dem, was er inzwischen anderswo gepumpt hatte, großmütig drei Mark mit. Am Sonntag bei Göppels – mit weniger leerem Magen wäre Diederich vielleicht nicht hingegangen – erzählte Mahlmann, dass Heßling all sein Geld verlumpt habe und sich heute mal satt essen müsse. Herr Göppel und sein Schwager lachten verständnisvoll, aber Diederich hätte lieber nie geboren sein wollen, als von Agnes so traurig prüfend angesehen werden. Sie verachtete ihn! Verzweifelt tröstete er sich: „Es ist alles eins, sie hat es schon immer getan!“ Da fragte sie, ob das Konzertbillett vielleicht von ihm gewesen sei. Alle wandten sich ihm zu.

„Unsinn! Wie sollte ich dazu wohl kommen“, entgegnete er so unliebenswürdig, dass sie ihm glaubten. Agnes zögerte ein wenig, bevor sie wegsah. Mahlmann bot den Damen Pralinés an und stellte die übrigen vor Agnes hin. Diederich kümmerte sich nicht um sie. Er aß noch mehr als das vorige Mal. Da doch alle meinten, er sei nur deswegen da! Als es hieß, der Kaffee solle im Grunewald getrunken werden, erfand Diederich sofort eine Verabredung. Er setzte sogar hinzu: „Mit jemand, den ich unmöglich warten lassen kann.“ Herr Göppel legte ihm seine gedrungene Hand auf die Schulter, blinzelte ihn aus gesenktem Kopf an und sagte halblaut: „Keine Angst, Sie sind natürlich eingeladen!“ Aber Diederich beteuerte entrüstet, dass es nicht daran liege. „Na, wenigstens kommen Sie wieder, sobald Sie Lust haben“, schloss Göppel, und Agnes nickte dazu. Sie schien sogar etwas sagen zu wollen, aber Diederich wartete es nicht ab. Er ging den Rest des Tages in selbstzufriedener Trauer umher, wie nach Vollziehung eines großen Opfers. Am Abend in einem überfüllten Bierlokal saß er, den Kopf aufgestützt, und nickte von Zeit zu Zeit auf sein einsames Glas hinab, als verstehe er jetzt das Schicksal.

Was war zu machen gegen die gewalttätige Art, in der Mahlmann seine Anleihen aufnahm? Am Sonntag hatte dann der Mecklenburger einen Blumenstrauß für Agnes, und Diederich, der mit leeren Händen kam, hätte sagen können: Der ist eigentlich von mir, Fräulein. Indessen schwieg er, mit noch mehr Groll gegen Agnes als gegen Mahlmann. Denn Mahlmann forderte zur Bewunderung heraus, wenn er des Nachts einem Unbekannten nachlief, um ihm den Zylinder einzuschlagen – obwohl Diederich keineswegs die Warnung verkannte, die solch ein Vorgang für ihn selbst enthielt.

Ende des Monats, zu seinem Geburtstag, bekam er eine unvorhergesehene Summe, die seine Mutter ihm erspart hatte, und erschien bei Göppels mit einem Bouquet, keinem zu großen, um sich nicht bloßzustellen, und auch, um Mahlmann nicht herauszufordern. Das junge Mädchen hatte, wie sie es nahm, ein ergriffenes Gesicht; und Diederich lächelte herablassend und verlegen zugleich. Dieser Sonntag deuchte ihm unerhört festlich; er war nicht überrascht, als man in den Zoologischen Garten gehen wollte.

Die Gesellschaft rückte aus, nachdem Mahlmann sie abgezählt hatte: elf Personen. Alle Frauen unterwegs waren, wie Goppels Schwestern, vollständig anders angezogen als in der Woche: als seien sie heute von einer höheren Klasse oder hätten geerbt. Die Männer trugen Gehröcke: nur wenige in Verbindung mit schwarzen Hosen, wie Diederich, aber viele mit Strohhüten. Kam man durch eine Seitenstraße, war sie breit, gleichförmig und leer, ohne einen Menschen, ohne einen Pferdeapfel. Einmal doch tanzte ein Kreis kleiner Mädchen in weißen Kleidern, schwarzen Strümpfen und ganz behangen mit Schleifen, schrill singend, einen Ringelreihn. Gleich darauf, in der Verkehrsader, stürmten schwitzende Matronen einen Omnibus; und die Gesichter der Kommis, die unnachsichtlich mit ihnen um die Plätze rangen, sahen neben ihren heftig roten zum Umfallen blass aus. Alles drängte vorwärts, alles stürzte einem Ziel zu, wo endlich das Vergnügen anfangen sollte. Alle Mienen sagten hart: Nu los, gearbeitet haben wir genug!

Diederich kehrte vor den Damen den Berliner heraus. In der Stadtbahn eroberte er ihnen mehrere Sitze. Einen Herrn, der im Begriff stand, einen wegzunehmen, hinderte er daran, indem er ihn heftig auf den Fuß trat. Der Herr schrie: „Flegel!“ Diederich antwortete ihm im selben Sinn. Da zeigte es sich, dass Herr Göppel ihn kannte – und kaum einander vorgestellt, bekundeten Diederich und der andere die ritterlichsten Sitten. Keiner wollte sitzen, um den anderen nicht stehen zu lassen.

Am Tisch im Zoologischen Garten geriet Diederich neben Agnes – warum ging heute alles glücklich? –, und als sie gleich nach dem Kaffee zu den Tieren wollte, unterstützte er sie stürmisch. Er war voll Unternehmungslust. Vor dem engen Gang zwischen den Raubtierkäfigen kehrten die Damen um. Diederich trug Agnes seine Begleitung an. „Da nehmen Sie doch lieber mich mit hinein“, sagte Mahlmann. „Wenn wirklich eine Stange losgehen sollte –“

„Dann machen Sie sie auch nicht wieder fest“, entgegnete Agnes und trat ein, während Mahlmann sein Gelächter aufschlug. Diederich blieb hinter ihr. Ihm war bange: vor den Bestien, die von rechts und links auf ihn zustürzten, ohne anderen Laut als den des Atems, den sie über ihn hinstießen – und vor dem jungen Mädchen, dessen Blumenduft ihm voranzog. Ganz hinten wandte sie sich um und sagte: „Ich mag das Renommieren nicht!“

„Wirklich?“ fragte Diederich, vor Freude gerührt.

„Heute sind Sie mal nett“, sagte Agnes; und er: „Ich möchte es eigentlich immer sein.“

„Wirklich?“ – Und jetzt war es an ihrer Stimme, ein wenig zu schwanken. Sie sahen einander an, jeder mit einer Miene, als verdiente er das alles nicht. Das junge Mädchen sagte klagend: „Die Tiere riechen aber furchtbar.“

Und sie gingen zurück.

Mahlmann empfing sie. „Ich wollte nur sehen, ob Sie nicht ausreißen würden.“ Dann nahm er Diederich beiseite. „Na? Was macht die Kleine? Geht es bei Ihnen auch? Ich hab es gleich gesagt, dass es keine Kunst ist.“ Da Diederich stumm blieb: „Sie sind wohl scharf ins Zeug gegangen? Wissen Sie was? Ich bin nur noch ein Semester in Berlin; dann können Sie mich beerben. Aber so lange warten Sie gefälligst –“ Auf seinem ungeheuren Rumpf ward sein kleiner Kopf plötzlich tückisch anzusehen. „– Freundchen!“ Und Diederich war entlassen. Er hatte einen heftigen Schrecken bekommen und wagte sich gar nicht mehr in Agnes' Nähe. Sie hörte nicht sehr aufmerksam auf Mahlmann, sie rief rückwärts: „Papa! Heute ist es schön, heute geht es mir aber wirklich gut.“

Herr Göppel nahm ihren Arm zwischen seine beiden Hände und tat, als wollte er fest zudrücken, aber er berührte sie kaum. Seine blanken Augen lachten und waren feucht. Als die Familie Abschied genommen hatte, versammelte er seine Tochter und die beiden jungen Leute um sich und erklärte ihnen, der Tag müsse gefeiert werden; sie wollten die Linden entlanggehen und nachher irgendwo essen.

„Papa wird leichtsinnig!“, rief Agnes und sah sich nach Diederich um. Aber er hielt die Augen gesenkt. In der Stadtbahn benahm er sich so ungeschickt, dass er weit von den anderen getrennt ward; und im Gedränge der Friedrichstadt blieb er mit Herrn Göppel allein zurück. Plötzlich hielt Göppel an, tastete verstört auf seinem Magen umher und fragte: „Wo ist meine Uhr?“

Sie war fort mitsamt der Kette. Mahlmann sagte: „Wie lange sind Sie schon in Berlin, Herr Göppel?“

„Jawohl!“ – und Göppel wendete sich an Diederich. „Dreißig Jahre bin ich hier, aber das ist mir denn doch noch nicht passiert.“ Und stolz trotz allem: „Sehen Sie, das gibt's in Netzig überhaupt nicht!“

Nun musste man, statt zu essen, auf das Polizeirevier und ein Verhör bestehen. Und Agnes hustete. Goppel zuckte zusammen. „Wir wären jetzt doch zu müde“, murmelte er. Mit künstlicher Jovialität verabschiedete er Diederich, der Agnes' Hand übersah und linkisch den Hut zog. Auf einmal, mit überraschender Geschicklichkeit und ehe Mahlmann begriff, was vorging, schwang er sich auf einen vorbeifahrenden Omnibus. Er war entkommen! Und jetzt fingen die Ferien an! Er war alles los! Zu Hause freilich warf er die schwersten seiner Chemiebände mit Krachen auf den Boden. Er hielt sogar schon die Kaffeekanne in der Hand. Aber bei dem Geräusch einer Tür begann er sofort, alles wieder aufzulesen. Dann setzte er sich still in die Sofaecke, stützte den Kopf und weinte. Wäre es nicht vorher so schön gewesen! Er war ihr auf den Leim gegangen. So machten es die Mädchen: dass sie manchmal mit einem so taten, und dabei wollten sie einen nur mit einem Kerl auslachen. Diederich war sich tief bewusst, dass er es mit so einem Kerl nicht aufnehmen könne. Er sah sich neben Mahlmann und würde es nicht begriffen haben, hätte eine sich für ihn entschieden. „Was hab ich mir nur eingebildet“, dachte er. „Eine, die sich in mich verliebt, muss wirklich dumm sein.“ Er litt große Angst, der Mecklenburger könne kommen und ihn noch ärger bedrohen. „Ich will sie gar nicht mehr. Wäre ich nur schon fort!“ Die nächsten Tage saß er in tödlicher Spannung bei verschlossener Tür. Kaum war sein Geld da, reiste er.

Seine Mutter fragte, befremdet und eifersüchtig, was er habe. Nach so kurzer Zeit sei er kein Junge mehr. „Ja, das Berliner Pflaster!“

Diederich griff zu, als sie verlangte, er solle an eine kleine Universität, nicht wieder nach Berlin. Der Vater fand, dass es ein Für und ein Wider gäbe. Diederich musste ihm viel von Göppels berichten. Ob er die Fabrik gesehen habe. Und war er bei den anderen Geschäftsfreunden gewesen? Herr Heßling wünschte, dass Diederich die Ferien benutze, um in der väterlichen Werkstätte den Gang der Papierverfertigung kennenzulernen. „Ich bin nicht mehr der Jüngste, und mein Granatsplitter hat mich auch schon lange nicht so gekitzelt.“

Diederich entwischte, sobald er konnte, um im Wald von Gäbbelchen oder längs des Nuggebaches bei Gohse spazierenzugehen und sich mit der Natur eins zu fühlen. Denn das konnte er jetzt. Zum ersten Mal fiel es ihm auf, dass die Hügel dahinten traurig oder wie eine große Sehnsucht aussahen, und was als Sonne oder Regen vom Himmel fiel, waren Diederichs heiße Liebe und seine Tränen. Denn er weinte viel. Er versuchte sogar zu dichten.

Als er einmal die Löwenapotheke betrat, stand hinter dem Ladentisch sein Schulkamerad Gottlieb Hornung. „Ja, ich spiel hier den Sommer über 'n bisschen Apotheker“, erklärte er. Er hatte sich sogar schon aus Versehen vergiftet und sich dabei nach hinten zusammengerollt wie ein Aal. Die ganze Stadt hatte davon gesprochen! Aber zum Herbst ging er nun nach Berlin, um die Sache wissenschaftlich anzufassen. Ob denn in Berlin was los sei. Hocherfreut über den Besitz seiner Überlegenheit fing Diederich an, mit seinen Berliner Erlebnissen zu prahlen. Der Apotheker verhieß: „Wir beide zusammen stellen Berlin auf den Kopf.“

Und Diederich war schwach genug, zuzusagen. Die kleine Universität ward verworfen. Am Ende des Sommers – Hornung hatte noch einige Tage zu praktizieren – kehrte Diederich nach Berlin zurück. Er mied das Zimmer in der Tieckstraße. Vor Mahlmann und den Göppels flüchtete er bis nach Gesundbrunnen hinaus. Dort wartete er auf Hornung. Aber Hornung, der seine Abreise gemeldet hatte, blieb aus; und als er endlich kam, trug er eine grün-gelb-rote Mütze. Er war sofort von einem Kollegen für eine Verbindung gekeilt worden. Auch Diederich sollte ihr beitreten; es waren die Neuteutonen, eine hochfeine Korporation, sagte Hornung; allein sechs Pharmazeuten waren dabei. Diederich verbarg seinen Schrecken unter der Maske der Geringschätzung, aber es half nichts. Er solle Hornung nicht blamieren, der von ihm gesprochen habe; einen Besuch wenigstens müsse er machen.

„Aber nur einen“, sagte er fest.

Der eine dauerte, bis Diederich unter dem Tisch lag und sie ihn fortschafften. Als er ausgeschlafen hatte, holten sie ihn zum Frühschoppen; Diederich war Konkneipant geworden.

Und für diesen Posten fühlte er sich bestimmt. Er sah sich in einen großen Kreis von Menschen versetzt, deren keiner ihm etwas tat oder etwas anderes von ihm verlangte, als dass er trinke. Voll Dankbarkeit und Wohlwollen erhob er gegen jeden, der ihn dazu anregte, sein Glas. Das Trinken und Nichttrinken, das Sitzen, Stehen, Sprechen oder Singen hing meistens nicht von ihm selbst ab. Alles ward laut kommandiert, und wenn man es richtig befolgte, lebte man mit sich und der Welt im Frieden. Als Diederich beim Salamander zum ersten Male nicht nachklappte, lächelte er in die Runde, beinahe beschämt durch die eigene Vollkommenheit!

Und das war noch nichts gegen seine Sicherheit im Gesang! Diederich hatte in der Schule zu den besten Sängern gehört und schon in seinem ersten Liederheft die Seitenzahlen auswendig gewusst, wo jedes Lied zu finden war. Jetzt brauchte er in das Kommersbuch, das auf großen Nägeln in der Lache von Bier lag, nur den Finger zu schieben und traf vor allen anderen die Nummer, die gesungen werden sollte. Oft hing er den ganzen Abend mit Ehrerbietung am Munde des Präses: ob vielleicht sein Lieblingsstück darankäme. Dann dröhnte er tapfer: „Sie wissen den Teufel, was Freiheit heißt“, hörte neben sich den dicken Delitzsch brummen und fühlte sich wohlig geborgen in dem Halbdunkel des niedrigen altdeutschen Lokals, mit den Mützen an der Wand, angesichts des Kranzes geöffneter Münder, die alle dasselbe tranken und sangen, bei dem Geruch des Bieres und der Körper, die es in der Wärme wieder ausschwitzten. Ihm war, wenn es spät ward, als schwitze er mit ihnen allen aus demselben Körper. Er war untergegangen in der Korporation, die für ihn dachte und wollte. Und er war ein Mann, durfte sich selbst hochachten und hatte eine Ehre, weil er dazugehörte! Ihn herausreißen, ihm einzeln etwas anhaben, das konnte keiner! Mahlmann hätte sich einmal herwagen und es versuchen sollen: Zwanzig Mann wären statt Diederichs gegen ihn aufgestanden! Diederich wünschte ihn geradezu herbei, so furchtlos war er. Womöglich sollte er mit Göppel kommen, dann mochten sie sehen, was aus Diederich geworden war, dann war er gerächt!

Gleichwohl gab ihm die meiste Sympathie der Harmloseste von allen ein, sein Nachbar, der dicke Delitzsch. Etwas tief Beruhigendes, Vertrauengestattendes wohnte in dieser glatten, weißen und humorvollen Speckmasse, die unten breit über die Stuhlränder quoll, in mehreren Wülsten die Tischhöhe erreichte und dort, als sei nun das Äußerste getan, aufgestützt blieb, ohne eine andere Bewegung als das Heben und Hinstellen des Bierglases. Delitzsch war, wie niemand sonst, an seinem Platz; wer ihn dasitzen sah, vergaß, dass er ihn je auf den Beinen erblickt hatte. Er war ausschließlich zum Sitzen am Biertisch eingerichtet. Sein Hosenboden, der in jedem anderen Zustand tief und melancholisch herabhing, fand nun seine wahre Gestalt und blähte sich machtvoll. Erst mit Delitzschs hinterem Gesicht blühte auch sein vorderes auf. Lebensfreude überglänzte es, und er ward witzig.

Ein Drama entstand, wenn ein junger Fuchs sich den Scherz machte, ihm das Bierglas wegzunehmen. Delitzsch rührte kein Glied, aber seine Miene, die dem geraubten Glase überallhin folgte, enthielt plötzlich den ganzen, stürmisch bewegten Ernst des Daseins, und er rief in sächsischem Schreitenor: „Junge, dass de mir nischt verschüttest! Was entziehst de mir überhaupt mein' Läbensunterhalt! Das ist 'ne ganz gemeine, böswilliche Existenzschädichung, und ich kann dich glatt verklaachen!“

Dauerte der Spaß zu lange, senkten sich Delitzschs weiße Fettwangen, und er bat, er machte sich klein. Sobald er aber das Bier zurück hatte: Welche allumfassende Aussöhnung in seinem Lächeln, welche Verklärung! Er sagte: „De bist doch ä gutes Luder, de sollst läm, prost!“ – trank aus und klopfte mit dem Deckel nach dem Korpsdiener: „Herr Oberkörper!“

Nach einigen Stunden geschah es wohl, dass sein Stuhl sich mit ihm umdrehte und Delitzsch den Kopf über das Becken der Wasserleitung hielt. Das Wasser plätscherte, Delitzsch gurgelte erstickt, und ein paar andere stürzten, durch seine Laute angeregt, in die Toilette. Noch ein wenig sauer von Gesicht, aber schon mit frischer Schelmerei, rückte Delitzsch an den Tisch zurück.

„Na, nu geht's ja wieder“, sagte er; und: „Wovon habt 'r denn geredt, während ich anderweitig beschäftigt war? Wisst ihr denn egal nischt wie Weibergeschichten? Was koof ich mir für die Weiber?“ Immer lauter: „Nich mal ä sauern Schoppen kann ‘ch mir dafür koofen. Sie, Herr Oberkörper!“

Diederich gab ihm recht. Er hatte die Weiber kennengelernt, er war mit ihnen fertig. Unvergleichlich idealere Werte enthielt das Bier.

Das Bier! Der Alkohol! Da saß man und konnte immer noch mehr davon haben, das Bier war nicht wie kokette Weiber, sondern treu und gemütlich. Beim Bier brauchte man nicht zu handeln, nichts zu wollen und zu erreichen, wie bei den Weibern. Alles kam von selbst. Man schluckte: Und da hatte man es schon zu etwas gebracht, fühlte sich auf die Höhen des Lebens befördert und war ein freier Mann, innerlich frei. Das Lokal hätte von Polizisten umstellt sein dürfen: Das Bier, das man schluckte, verwandelte sich in innere Freiheit. Und man hatte sein Examen so gut wie bestanden. Man war „fertig“, war Doktor! Man füllte im bürgerlichen Leben eine Stellung aus, war reich und von Wichtigkeit: Chef einer mächtigen Fabrik von Ansichtskarten oder Toilettenpapier. Was man mit seiner Lebensarbeit schuf, war in tausend Händen. Man breitete sich, vom Biertisch her, in die Welt aus, ahnte große Zusammenhänge, ward eins mit dem Weltgeist. Ja, das Bier erhob einen so sehr über das Selbst, dass man Gott fand!

Gern hätte er es jahrelang so weitergetrieben. Aber die Neuteutonen ließen ihn nicht. Fast vom ersten Tage an hatten sie ihm den moralischen und materiellen Wert einer völligen Zugehörigkeit zur Verbindung geschildert; allmählich aber gingen sie immer unverblümter darauf aus, ihn zu keilen. Vergebens berief sich Diederich auf seine anerkannte Stellung als Konkneipant, in die er sich eingelebt habe und. die ihn befriedige. Sie entgegneten, dass der Zweck des studentischen Zusammenschlusses, nämlich die Erziehung zur Mannhaftigkeit und zum Idealismus, durch das Kneipen allein, soviel es auch beitrage, noch nicht ganz erfüllt werde. Diederich zitterte; nur zu gut erkannte er, worauf dieses hinauslief. Er sollte pauken! Schon immer hatte es ihn unheimlich angeweht, wenn sie mit ihren Stöcken in der Luft ihm die Schläge vorgeführt hatten, die sie einander beigebracht haben wollten; oder wenn einer von ihnen eine schwarze Mütze um den Kopf hatte und nach Jodoform roch. Jetzt dachte er gepresst: „Warum bin ich dabeigeblieben und Konkneipant geworden! Nun muss ich ran.“

Er musste. Aber gleich die ersten Erfahrungen beruhigten ihn. Er war so sorgsam eingewickelt, behelmt und bebrillt worden, dass ihm unmöglich viel geschehen konnte. Da er keinen Grund hatte, den Kommandos nicht gerade so willig und gelehrig nachzukommen wie in der Kneipe, lernte er fechten, schneller als andere. Beim ersten Durchzieher ward ihm schwach: Über die Wange fühlte er es rinnen. Als er dann genäht war, hätte er am liebsten getanzt vor Glück. Er warf es sich vor, dass er diesen gutmütigen Menschen gefährliche Absichten zugetraut hatte. Gerade der, den er am meisten gefürchtet hatte, nahm ihn unter seinen Schutz und ward ihm ein wohlgesinnter Erzieher.

Wiebel war Jurist, was ihm allein schon Diederichs Unterordnung gesichert hätte. Nicht ohne Selbstzerknirschung sah er die englischen Stoffe an, in die Wiebel sich kleidete, und die farbigen Hemden, von denen er immer mehrere abwechselnd trug, bis sie alle in die Wäsche mussten. Das Beklemmendste aber waren Wiebels Manieren. Wenn er mit leichter, eleganter Verbeugung Diederich zutrank, klappte Diederich, und seine Miene war leidend vor Anstrengung, tief zusammen, verschüttete die eine Hälfte und verschluckte sich mit der andern. Wiebel sprach mit leiser, arroganter Feudalstimme.

„Man kann sagen, was man will“, bemerkte er gern, „Formen sind kein leerer Wahn.“

Für das F in „Formen“ machte er seinen Mund zu einem kleinen schwarzen Mausloch und stieß es langsam geschwellt heraus. Diederich unterlag jedes Mal wieder dem Schauer von so viel Vornehmheit. Alles an Wiebel dünkte ihm erlesen: dass die rötlichen Barthaare ganz oben auf der Lippe wuchsen, und seine langen, gekrümmten Nägel – nach unten gekrümmt, nicht, wie bei Diederich, nach oben; der starke männliche Duft, der von Wiebel ausging, auch seine abstehenden Ohren, die die Wirkung des durchgezogenen Scheitels erhöhten, und die katerhaft in Schläfenwulste gebetteten Augen. Diederich hatte das alles immer nur im unbedingten Gefühl des eigenen Unwertes mitangesehen. Seit aber Wiebel ihn anredete und sich sogar zu seinem Gönner machte, war es Diederich, als sei ihm erst jetzt das Recht aufs Dasein bestätigt. Er hatte Lust, dankbar zu wedeln. Sein Herz weitete sich vor glücklicher Bewunderung. Wenn seine Wünsche sich so hoch hinausgewagt hätten, auch er hätte gern solchen roten Hals gehabt und immer geschwitzt. Welch ein Traum, säuseln zu können wie Wiebel!

Und nun durfte Diederich ihm dienen, er war sein Leibfuchs! Stets wohnte er Wiebels Erwachen bei, suchte ihm seine Sachen zusammen – und da Wiebel infolge unregelmäßiger Bezahlung mit der Wirtin schlecht stand, besorgte Diederich ihm den Kaffee und reinigte ihm die Schuhe. Dafür durfte er mitgehn auf allen Wegen. Wenn Wiebel ein Bedürfnis verrichtete, hielt Diederich draußen Wache, und er wünschte sich nur, seinen Schläger dazuhaben, um ihn schultern zu können.

Wiebel hätte es verdient. Die Ehre der Korporation, in der auch Diederichs Ehre und sein ganzes Selbstbewusstsein wurzelten, am glänzendsten vertrat Wiebel sie. Er schlug sich, mit wem man wollte, für die Neuteutonia. Er hatte das Ansehen der Verbindung erhöht, denn er sollte einst einen Vindoborussen koramiert haben! Auch hatte er einen Verwandten beim Zweiten Garde-Grenadierregiment Kaiser Franz Joseph; und sooft Wiebel seinen Vetter von Klappke erwähnte, machte die ganze Neuteutonia eine geschmeichelte Verbeugung. Diederich suchte sich einen Wiebel in der Uniform eines Gardeoffiziers vorzustellen; aber so viel Vornehmheit war nicht auszudenken. Eines Tages dann, wie er mit Gottlieb Hornung, weithin duftend, vom täglichen Frisieren kam, stand an der Straßenecke Wiebel mit einem Zahlmeister. Kein Irrtum: Es war ein Zahlmeister – und als Wiebel ihr Kommen bemerkte, drehte er ihnen den Rücken. Auch sie wendeten und machten sich stumm und stramm davon, ohne einander anzusehen und ohne eine Bemerkung. Jeder vermutete, dass auch der andere die Ähnlichkeit des Zahlmeisters mit Wiebel festgestellt habe. Und vielleicht kannten die übrigen schon längst den wahren Sachverhalt? Aber allen stand die Ehre der Neuteutonia hoch genug, um zu schweigen, ja, um das Erblickte zu vergessen. Als Wiebel das nächste Mal „mein Vetter von Klappke“ sagte, verbeugten Diederich und Hornung sich mit den anderen, geschmeichelt wie je.

Schon hatte Diederich Selbstbeherrschung gelernt, Beobachtung der Formen, Korpsgeist, Eifer für das Höhere. Nur mit Mitleid und Widerwillen dachte er an das elende Dasein des schweifenden Wilden, das früher das seine gewesen war. Jetzt war Ordnung und Pflicht in sein Leben gebracht. Zu genau eingehaltenen Stunden erschien er auf Wiebels Bude, im Fechtsaal, beim Friseur und zum Frühschoppen. Der Nachmittagsbummel leitete zur Kneipe über; und jeder Schritt geschah in Korporation, unter Aufsicht und mit Wahrung peinlicher Formen und gegenseitiger Ehrerbietung, die gemütvolle Derbheit nicht ausschloss. Ein Kommilitone, mit dem Diederich bisher nur offiziellen Verkehr unterhalten hatte, stieß einst mit ihm vor der Toilette zusammen, und obwohl sie beide kaum noch geradestehen konnten, wollte keiner den Vortritt annehmen. Lange komplimentierten sie sich – bis sie plötzlich, im gleichen Augenblick vom Drang überwältigt, wie zwei zusammenprallende Eber durch die Tür brachen, dass ihnen die Schulterknochen knackten. Das war der Beginn einer Freundschaft. In menschlicher Lage einander nähergekommen, rückten sie nachher auch am offiziellen Kneiptisch zusammen, tranken Schmollis und nannten sich „Schweinehund“ und „Nilpferd“.

Nicht immer zeigte das Verbindungsleben seine heitere Seite. Es forderte Opfer; es übte im männlichen Ertragen des Schmerzes. Delitzsch selbst, der Quell so mancher Heiterkeit, verbreitete Trauer in der Neuteutonia. Eines Vormittags, wie Wiebel und Diederich ihn abzuholen kamen: Er stand am Waschtisch und sagte noch: „Na da. Habt 'r heit aach so ä Durscht?“ – plötzlich, ehe sie zugreifen konnten, fiel er hin, mitsamt dem Waschgeschirr. Wiebel befühlte ihn: Delitzsch regte sich nicht mehr.

„Herzklaps“, sagte Wiebel kurz. Er ging stramm zur Klingel. Diederich hob die Scherben auf und trocknete den Boden. Dann trugen sie Delitzsch auf das Bett. Dem formlosen Gejammer der Wirtin gegenüber verharrten beide in streng kommentmäßiger Haltung. Unterwegs zur Erledigung des Weiteren – sie marschierten im Takt nebeneinander – sagte Wiebel mit straffer Todesverachtung: „So was. Kann jedem von uns passieren. Kneipen ist kein Spaß. Das kann sich jeder gesagt sein lassen.“

Und mit allen anderen fühlte Diederich sich gehoben durch Delitzschs treue Pflichterfüllung, durch seinen Tod auf dem Feld der Ehre. Mit Stolz folgten sie dem Sarge; „Neuteutonia sei 's Panier“ stand in jeder Miene. Auf dem Friedhof, die umflorten Schläger gesenkt, hatten alle das in sich vertiefte Gesicht des Kriegers, den die nächste Schlacht dahinraffen kann, wie die vorige den Kameraden; und was der Erste Chargierte von dem Geschiedenen rühmte: Er habe in der Schule der Mannhaftigkeit und des Idealismus den höchsten Preis errungen; das erschütterte jeden, als gelte es ihm selbst.

Hiermit ging Diederichs Lehrzeit zu Ende, denn Wiebel trat aus, um sich auf den Referendar vorzubereiten; und fortan hatte Diederich die von ihm übernommenen Grundsätze selbständig zu vertreten und sie den Jüngeren einzupflanzen. Er tat es im Gefühl hoher Verantwortlichkeit und mit Strenge. Wehe dem Fuchs, der es verdient hatte, in die Kanne zu steigen. Keine fünf Minuten vergingen, und er musste sich an den Wänden hinaustasten. Das Schreckliche geschah, dass einer vor Diederich aus der Tür ging. Seine Buße waren acht Tage Bierverschiß. Nicht Stolz oder Eigenliebe leiteten Diederich: einzig sein hoher Begriff von der Ehre der Korporation. Er selbst war nur ein Mensch, also nichts; jedes Recht, sein ganzes Ansehen und Gewicht kamen ihm von ihr. Auch körperlich verdankte er ihr alles: die Breite seines weißen Gesichts, seinen Bauch, der ihn den Füchsen ehrwürdig machte, und das Privileg, bei festlichen Anlässen in hohen Stiefeln, mit Band und Mütze aufzutreten, den Genuss der Uniform! Wohl hatte er noch immer einem Leutnant Platz zu machen, denn die Körperschaft, der der Leutnant angehörte, war offenbar die höhere; aber wenigstens mit einem Trambahnschaffner konnte er furchtlos verkehren, ohne Gefahr, von ihm angeschnauzt zu werden. Seine Männlichkeit stand ihm mit Schmissen, die das Kinn spalteten, rissig durch die Wangen fuhren und in den kurz geschorenen Schädel hackten, drohend auf dem Gesicht geschrieben – und welche Genugtuung, sie täglich und nach Belieben einem jeden beweisen zu können! Einmal bot sich eine unerwartet glänzende Gelegenheit. Zu dritt, mit Gottlieb Hornung und dem Dienstmädchen ihrer Wirtin, waren sie beim Tanz in Halensee. Seit einigen Monaten teilten die Freunde sich eine Wohnung, mit der ein ziemlich hübsches Dienstmädchen verbunden war, machten ihr beide kleine Geschenke und gingen des Sonntags gemeinsam mit ihr aus. Ob Hornung es so weit bei ihr gebracht hatte wie er selbst, darüber hatte Diederich seine privaten Vermutungen. Offiziell und von Verbindungs wegen war es ihm unbekannt.

Rosa war nicht übel angezogen, auf dem Ball fand sie Bewerber. Damit Diederich noch eine Polka bekam, war er genötigt, sie daran zu erinnern, dass er ihr die Handschuhe gekauft habe. Schon machte er zur Einleitung des Tanzes seine korrekte Verbeugung, da drängte sich unversehens ein anderer dazwischen und polkte mit Rosa von dannen. Betreten sah Diederich ihnen nach, im dunklen Gefühl, dass er hier werde einschreiten müssen. Bevor er sich aber regte, war ein Mädchen durch die tanzenden Paare gestürzt, hatte Rosa geohrfeigt und sie in unzarter Weise von ihrem Partner getrennt.

Dies sehen, und auf Rosas Räuber losmarschieren, war für Diederich eins.

„Mein Herr“, sagte er und sah ihm fest in die Augen, „Ihr Benehmen ist unqualifizierbar.“

Der andere erwiderte: „Wenn schon.“

Überrascht von dieser ungewöhnlichen Wendung eines offiziellen Gesprächs, stammelte Diederich: „Knote.“

Der andere erwiderte prompt: „Schote“ – und lachte dabei. Durch so viel Formlosigkeit vollends aus der Fassung gebracht, wollte Diederich sich schon verbeugen und abtreten; aber der andere stieß ihn plötzlich vor den Bauch und gleich darauf wälzten sie sich zusammen am Boden. Umringt von Gekreisch und anfeuernden Zurufen kämpften sie, bis man sie trennte. Gottlieb Hornung, der Diederichs Klemmer suchen half, rief: „Da reißt er aus“ – und war schon hinterher. Diederich folgte. Sie sahen den anderen mit einem Begleiter gerade noch in eine Droschke steigen und nahmen die nächste. Hornung behauptete, die Verbindung dürfe das nicht auf sich sitzen lassen. „So was kneift und bekümmert sich nicht mal mehr um die Dame.“

Diederich erklärte: „Was Rosa betrifft, die ist für mich erledigt.“

„Für mich auch.“

Die Fahrt war aufregend. „Ob wir nachkommen? Wir haben einen lahmen Gaul.“ – „Wenn der Prolet nun nicht satisfaktionsfähig ist?“ Man entschied: „Dann hat die Sache offiziell nicht stattgefunden.“

Der erste Wagen hielt im Westen vor einem anständigen Haus. Diederich und Hornung trafen ein, wie das Tor zugeschlagen ward. Entschlossen postierten sie sich davor. Es ward kühl, sie marschierten hin und her vor dem Hause, zwanzig Schritte nach links, zwanzig Schritte nach rechts, behielten immer die Tür im Auge und wiederholten immer dieselben ernsten und weittragenden Reden. Nur Pistolen kamen hier in Frage! Diesmal war die Ehre der Neuteutonia teuer zu bezahlen! Wenn es nur kein Prolet war!

Endlich kam der Portier zum Vorschein, und sie nahmen ihn ins Verhör. Sie suchten ihm die Herren zu beschreiben, fanden aber, dass die beiden keine besonderen Kennzeichen hatten. Hornung, noch leidenschaftlicher als Diederich, blieb dabei, dass man warten müsse, und noch zwei Stunden lang marschierten sie hin und her, dann bogen aus dem Hause zwei Offiziere. Diederich und Hornung rissen die Augen auf, ungewiss, ob hier nicht ein Irrtum vorlag. Die Offiziere stutzten. Einer schien sogar zu erbleichen. Da entschloss Diederich sich. Er trat vor den Erbleichten hin.

„Mein Herr –“

Die Stimme versagte ihm. Der Leutnant sagte, verlegen: „Sie irren sich wohl.“

Diederich brachte hervor: „Durchaus nicht. Ich muss Genugtuung fordern. Sie haben sich –“

„Ich kenne Sie ja gar nicht“, stammelte der Leutnant. Aber sein Kamerad flüsterte ihm etwas zu. „So geht das nicht“ – er ließ sich von dem anderen die Karte geben, legte seine eigene dazu und überreichte sie Diederich. Diederich gab die seine her; dann las er: „Albrecht Graf Tauern-Bärenheim“. Da nahm er sich nicht mehr die Zeit, auch die andere zu lesen, sondern begann kleine, eifrige Verbeugungen zu vollführen. Der zweite Offizier wandte sich inzwischen an Gottlieb Hornung.

„Mein Freund hat den Scherz natürlich ganz harmlos gemeint. Er wäre selbstverständlich zu jeder Genugtuung bereit; ich will nur feststellen, dass eine beleidigende Absicht nicht vorliegt.“

Der andere, den er dabei ansah, hob die Schultern. Diederich stammelte: „O danke sehr.“

„Damit ist die Sache wohl erledigt“, sagte der Freund; und die beiden Herren entfernten sich.

Diederich stand noch da, die Stirne feucht und mit befangenen Sinnen. Plötzlich seufzte er tief auf und lächelte langsam.

Nachher auf der Kneipe war die Rede nur von diesem Vorfall. Diederich rühmte den Kommilitonen das wahrhaft ritterliche Verhalten des Grafen.

„Ein wirklicher Edelmann verleugnet sich doch nie.“

Er machte den Mund klein wie ein Mausloch und stieß, in langsamer Schwellung, die Worte hervor: „F-Formen sind doch kein leerer Wahn.“

Immer wieder rief er Gottlieb Hornung als Zeugen seines großen Augenblickes auf.

„So gar nichts Steifes, wie? Oh! Auf einen doch immerhin gewagten Scherz kommt es solchem Herrn nicht an. Eine Haltung dabei: t-hadellos, kann ich euch sagen. Die Erklärungen Seiner Erlaucht waren so durchaus befriedigend, dass ich meinerseits unmöglich -: Ihr begreift, man ist kein Rauhbein.“

Alle begriffen es und bestätigten Diederich, dass die Neuteutonia in dieser Sache durchaus anständig abgeschnitten habe. Die Karten der beiden Edelleute wurden bei den Füchsen umhergereicht und zwischen den gekreuzten Schlägern am Kaiserbild befestigt. Kein Neuteutone, der sich heute nicht betrank.

Damit endete das Semester; aber Diederich und Hornung hatten für die Heimreise kein Geld. Das Geld fehlte ihnen schon längst für fast alles. Mit Rücksicht auf die Pflichten des Verbindungslebens war Diederichs Wechsel auf zweihundertfünfzig Mark erhöht worden; und doch übermannten ihn die Schulden. Alle Quellen schienen ausgepumpt, nur dürres Land sah man, verschmachtend, sich dahindehnen – und endlich musste man wohl, so wenig dies Rittern angestanden hätte, über die Zurückforderung dessen beraten, was sie selbst im Lauf der Zeiten an Kommilitonen verliehen hatten. Gewiss war mancher Alte Herr inzwischen zu großen Geldern gelangt. Hornung fand keinen; Diederich verfiel auf Mahlmann.

„Bei dem geht es“, erklärte er. „Der war bei gar keiner Verbindung: ein ganz gemeiner Ruppsack. Dem werd ich mal auf die Bude steigen.“

Aber als Mahlmann ihn erblickte, brach er ohne weiteres in sein riesenhaftes Lachen aus, das Diederich fast vergessen hatte und das ihn sofort unwiderstehlich herabstimmte. Mahlmann war taktlos! Er hätte doch fühlen sollen, dass hier in seinem Patentbüro mit Diederich die ganze Neuteutonia moralisch zugegen war, und hätte Diederich um ihretwillen Achtung erweisen sollen. Diederich hatte den Eindruck, als sei er aus der kraftspendenden Gesamtheit jäh herausgerissen und stehe hier als einzelner Mensch vor einem anderen. Eine nicht vorgesehene, unliebsame Lage! Umso unbefangener trug er seine Sache vor. Oh! Er wolle kein Geld zurück, das würde er einem Kameraden niemals zugemutet haben! Mahlmann möge nur so gefällig sein, ihm für einen Wechsel zu bürgen. Mahlmann lehnte sich in seinen Schreibsessel zurück und sagte breit und selbstverständlich: „Nein.“

Diederich, betroffen: „Wieso, nein?“

„Bürgen ist gegen meine Prinzipien“, erklärte Mahlmann.

Diederich rötete sich vor Entrüstung. „Aber ich habe doch auch für Sie gebürgt, und dann ist der Wechsel an mich gekommen, und ich musste für Sie die hundert Mark blechen. Sie haben sich gehütet!“

„Sehen Sie wohl? Und wenn ich jetzt für Sie bürgen wollte, würden Sie auch nicht bezahlen.“

Diederich riss nur noch die Augen auf.

„Nein, Freundchen“, schloss Mahlmann; „wenn ich Selbstmord begehen will, brauch ich Sie nicht dazu.“

Diederich fasste sich, er sagte herausfordernd: „Sie haben wohl keinen Komment, mein Herr.“

„Nein“, wiederholte Mahlmann und lachte ungeheuerlich.

Mit äußerstem Nachdruck stellte Diederich fest: „Dann scheinen Sie überhaupt ein Schwindler zu sein. Es soll ja gewisse Patentschwindler geben.“

Mahlmann lachte nicht mehr; die Augen in seinem kleinen Kopf waren tückisch geworden, und er stand auf. „Nun müssen Sie rausgehen“, sagte er, ohne Erregung. „Unter uns wäre es wohl Wurst, aber nebenan sitzen meine Angestellten, die dürfen so was nicht hören.“

Er packte Diederich an den Schultern, drehte ihn herum und schob ihn vor sich her. Für jeden Versuch, sich loszumachen, bekam Diederich einen mächtigen Knuff.

„Ich fordere Genugtuung“, schrie er. „Sie müssen sich mit mir schlagen!“

„Ich bin schon dabei. Merken Sie es nicht? Dann will ich noch einen rufen.“ Er öffnete die Tür. „Friedrich!“ Und Diederich ward einem Packer überliefert, der ihn die Treppe hinabbeförderte. Mahlmann rief ihm nach: „Nichts für ungut, Freundchen. Wenn Sie ein andermal was auf dem Herzen haben, kommen Sie ruhig wieder!“

Diederich brachte sich in Ordnung und verließ das Haus in guter Haltung. Umso schlimmer für Mahlmann, wenn er sich so aufführte! Diederich hatte sich nichts vorzuwerfen; vor einem Ehrengericht wäre er glänzend dagestanden. Etwas höchst Anstößiges blieb es, dass ein einzelner sich so viel erlauben konnte; Diederich war gekränkt im Namen sämtlicher Korporationen. Andererseits war es nicht zu leugnen, dass Mahlmann Diederichs alte Hochachtung wieder beträchtlich aufgefrischt hatte. „Ein ganz gemeiner Hund“, dachte Diederich. „Aber so muss man sein ...“

Zu Hause lag ein eingeschriebener Brief.

„Nun können wir fortmachen“, sagte Hornung.

„Wieso wir? Ich brauch mein Geld selbst.“

„Du machst wohl Spaß. Ich kann hier doch nicht allein sitzenbleiben.“

„Dann such dir Gesellschaft!“

Diederich schlug ein solches Gelächter auf, dass Hornung ihn für verrückt hielt. Darauf reiste er wirklich.

Unterwegs sah er erst, dass der Brief von seiner Mutter adressiert war. Das war ungewöhnlich ... Seit ihrer letzten Karte, sagte sie, sei es mit seinem Vater noch viel schlimmer geworden. Warum Diederich nicht gekommen sei.

„Wir müssen uns auf das Entsetzlichste gefasst machen. Wenn du unsern innigstgeliebten Papa noch einmal sehen willst, o dann säume nicht länger, mein Sohn.“

Bei dieser Ausdrucksweise ward es Diederich ungemütlich. Er entschloss sich, seiner Mutter einfach nicht zu glauben. „Weibern glaub ich überhaupt nichts, und mit Mama ist es nun mal nicht richtig.“

Trotzdem tat Herr Heßling bei Diederichs Ankunft gerade die letzten Atemzüge.

Von dem Anblick überwältigt, brach Diederich gleich auf der Schwelle in ein ganz formloses Geheul aus. Er stolperte zum Bett, sein Gesicht war im Augenblick nass wie beim Waschen; und mit den Armen tat er lauter kurze Flügelschläge und ließ sie, machtlos, gegen die Hüften klappen. Plötzlich erkannte er auf der Decke des Vaters rechte Hand, kniete hin und küsste sie. Frau Heßling, ganz still und klein selbst noch bei den letzten Atemzügen ihres Herrn, tat drüben dasselbe mit der linken. Diederich dachte daran, wie dieser verkümmerte schwarze Fingernagel auf seine Wange zugeflogen war, wenn der Vater ihn ohrfeigte; und er weinte laut. Die Prügel gar, als er von den Lumpen die Knöpfe gestohlen hatte! Diese Hand war schrecklich gewesen; Diederichs Herz krampfte sich, nun er sie verlieren sollte. Er fühlte, dass seine Mutter das gleiche im Sinn hatte, und sie ahnte seine Gedanken. Auf einmal sanken sie einander, über das Bett hinweg, in die Arme.

Bei den Kondolenzbesuchen hatte Diederich sich zurück. Er vertrat vor ganz Netzig, stramm und formensicher, die Neuteutonia, sah sich angestaunt und vergaß darüber fast, dass er trauerte. Dem alten Herrn Buck ging er bis zur äußeren Tür entgegen. Die Beleibtheit des großen Mannes von Netzig ward majestätisch in seinem glänzenden Gehrock. Würdevoll trug er den umgewendeten Zylinderhut vor sich her; und die andere, vom schwarzen Handschuh entblößte Hand, die er Diederich reichte, fühlte sich überraschend zartfleischig an. Seine blauen Augen drangen warm in Diederich ein, und er sagte: „Ihr Vater war ein guter Bürger. Junger Mann, werden Sie auch einer! Haben Sie immer Achtung vor den Rechten Ihrer Mitmenschen! Das gebietet Ihnen Ihre eigene Menschenwürde. Ich hoffe, wir werden hier in unserer Stadt noch zusammen für das Gemeinwohl arbeiten. Sie werden jetzt wohl fertig studieren?“

Diederich konnte kaum das Ja herausbringen, so sehr verstörte ihn die Ehrfurcht. Der alte Buck fragte in leichterem Ton: „Hat mein Jüngster Sie in Berlin schon aufgesucht? Nein? Oh, das soll er tun. Er studiert jetzt auch dort. Wird aber wohl bald sein Jahr abdienen. Haben Sie das schon hinter sich?“

„Nein“ – und Diederich ward sehr rot. Er stammelte Entschuldigungen. Es sei ihm bisher ganz unmöglich gewesen, das Studium zu unterbrechen. Aber der alte Buck zuckte die Achseln, als sei der Gegenstand unerheblich.

Durch das Testament des Vaters war Diederich neben dem alten Buchhalter Sötbier zum Vormund seiner beiden Schwestern bestimmt. Sötbier belehrte ihn, dass ein Kapital von siebzigtausend Mark da sei, das als Mitgift der Mädchen dienen solle. Nicht einmal die Zinsen durften angegriffen werden. Der Reingewinn aus der Fabrik hatte in den letzten Jahren durchschnittlich neuntausend Mark betragen. „Mehr nicht?“ fragte Diederich. Sötbier sah ihn an, zuerst entsetzt, dann vorwurfsvoll. Wenn der junge Herr sich vorstellen könnte, wie sein seliger Vater und Sötbier das Geschäft heraufgearbeitet hätten! Gewiss war es ja noch ausdehnungsfähig ...

„Na, is jut“, sagte Diederich. Er sah, dass hier vieles geändert werden müsse. Von einem Viertel von neuntausend Mark sollte er leben? Diese Zumutung des Verstorbenen empörte ihn. Als seine Mutter behauptete, der Selige habe auf dem Sterbebette die Zuversicht geäußert, in seinem Sohn Diederich werde er fortleben, und Diederich werde sich niemals verheiraten, um immer für die Seinen zu sorgen, da brach Diederich aus: „Vater war nicht so krankhaft sentimental wie du“, schrie er, „und er log auch nicht.“ Frau Heßling glaubte den Seligen zu hören und duckte sich. Dies benutzte Diederich, um seinen Monatswechsel um fünfzig Mark erhöhen zu lassen.

„Zunächst“, sagte er rauh, „hab ich mein Jahr abzudienen. Das kostet, was es kostet. Mit euren kleinlichen Geldgeschichten könnt ihr mir später kommen.“

Er bestand sogar darauf, in Berlin einzutreten. Der Tod des Vaters hatte ihm wilde Freiheitsgefühle gegeben. Nachts freilich träumte er, der alte Herr trete aus dem Kontor, mit dem ergrauten Gesicht, das er als Leiche gehabt hatte – und schwitzend erwachte Diederich.

Er reiste, versehen mit dem Segen der Mutter. Gottlieb Hornung und ihre gemeinsame Rosa konnte er fortan nicht brauchen und zog um. Den Neuteutonen zeigte er in angemessener Form seine veränderten Lebensumstände an. Die Burschenherrlichkeit war vorüber. Der Abschiedskommers! Trauersalamander wurden gerieben, die für Diederichs alten Herrn bestimmt waren, aber die auch ihm und seiner schönsten Blütezeit gelten konnten. Vor lauter Hingabe gelangte er unter den Tisch, wie am Abend seiner Aufnahme als Konkneipant; und war nun Alter Herr.

Arg verkatert stand er tags darauf, inmitten anderer junger Leute, die alle, wie er selbst, ganz nackt ausgezogen waren, vor dem Stabsarzt. Dieser Herr sah angewidert über all das männliche Fleisch hin, das ihm unterbreitet war; an Diederichs Bauch aber ward sein Blick höhnisch. Sofort grinsten alle ringsum, und Diederich blieb nichts übrig, als auch seinerseits die Augen auf seinen Bauch zu senken, der errötet war ... Der Stabsarzt hatte seinen vollen Ernst zurück. Einem, der nicht so scharf hörte, wie es Vorschrift war, erging es schlecht, denn man kannte die Simulanten! Ein anderer, der noch dazu Levysohn hieß, bekam die Lehre: „Wenn Sie mich wieder mal hier belästigen, dann waschen Sie sich wenigstens!“ Bei Diederich hieß es: „Ihnen wollen wir das Fett schon wegkurieren. Vier Wochen Dienst, und ich garantiere Ihnen, dass Sie aussehen wie ein Christenmensch.“

Damit war er genommen. Die Ausgemusterten fuhren so schnell in ihre Kleider, als brennte die Kaserne. Die für tauglich Befundenen sahen einander prüfend von der Seite an und entfernten sich zaudernd, als erwarteten sie, dass eine schwere Hand sich ihnen auf die Schulter lege. Einer, ein Schauspieler mit einem Gesicht, als sei ihm alles eins, kehrte um, stellte sich nochmals vor den Stabsarzt hin und sagte laut, mit sorgfältiger Aussprache: „Ich möchte noch hinzufügen, dass ich homosexuell bin.“

Der Stabsarzt wich zurück, er war ganz rot. Stimmlos sagte er: „Solche Schweine können wir allerdings nicht brauchen.“

Diederich drückte den künftigen Kameraden seine Entrüstung aus über ein so schamloses Verfahren. Dann sprach er noch den Unteroffizier an, der vorher an der Wand seine Körperlänge gemessen hatte, und beteuerte ihm, dass er froh sei. Trotzdem schrieb er nach Netzig an den praktischen Arzt Doktor Heuteufel, der ihn als Jungen im Hals gepinselt hatte: Ob der Doktor ihm nicht bescheinigen wolle, dass er skrofulös und rachitisch sei. Er könne sich doch nicht ruinieren lassen mit der Schinderei. Aber die Antwort lautete, er solle nur nicht kneifen, das Dienen werde ihm trefflich bekommen. So gab Diederich denn sein Zimmer wieder auf und fuhr mit seinem Handkoffer in die Kaserne. Wenn man schon vierzehn Tage dort wohnen musste, konnte man so lange die Miete sparen.

Sofort ging es mit Reckturnen, Springen und anderen atemraubenden Dingen an. Kompanieweise ward man in den Korridoren, die „Rayons“ hießen, „abgerichtet“. Leutnant von Kullerow trug eine unbeteiligte Hochnäsigkeit zur Schau, die Einjährigen betrachtete er nie anders als mit einem zugekniffenen Auge. Plötzlich schrie er: „Abrichter!“ und gab den Unteroffizieren eine Instruktion, worauf er sich verachtungsvoll abwandte. Beim Exerzieren im Kasernenhof, beim Gliederbilden, Sichzerstreuen und Platzwechseln ward weiter nichts beabsichtigt, als die „Kerls“ umherzuhetzen. Ja, Diederich fühlte wohl, dass alles hier, die Behandlung, die geläufigen Ausdrücke, die ganze militärische Tätigkeit vor allem darauf hinzielte, die persönliche Würde auf ein Mindestmaß herabzusetzen. Und das imponierte ihm; es gab ihm, so elend er sich befand, und gerade dann, eine tiefe Achtung ein und etwas wie selbstmörderische Begeisterung. Prinzip und Ideal war ersichtlich das gleiche wie bei den Neuteutonen, nur ward es grausamer durchgeführt. Die Pausen der Gemütlichkeit, in denen man sich seines Menschentums erinnern durfte, fielen fort. Jäh und unabänderlich sank man zur Laus herab, zum Bestandteil, zum Rohstoff, an dem ein unermesslicher Wille knetete. Wahnsinn und Verderben wäre es gewesen, auch nur im geheimsten Herzen sich aufzulehnen. Höchstens konnte man, gegen die eigene Überzeugung, sich manchmal drücken. Diederich war beim Laufen gefallen, der Fuß tat ihm weh. Nicht, dass er gerade hätte hinken müssen, aber er hinkte und durfte, wie die Kompanie „ins Gelände“ marschierte, zurückbleiben. Um dies zu erreichen, war er zunächst an den Hauptmann selbst herangetreten. „Herr Hauptmann, bitte -“ Welche Katastrophe! Er hatte, in seiner Ahnungslosigkeit, vorwitzig das Wort an eine Macht gerichtet, von der man stumm und auf den Knien des Geistes Befehle entgegenzunehmen hatte! Der man sich nur „vorführen“ lassen konnte! Der Hauptmann donnerte, dass die Unteroffiziere zusammenliefen, mit Mienen, in denen das Entsetzen vor einer Lästerung stand. Die Folge war, dass Diederich stärker hinkte und einen Tag länger vom Dienst befreit werden musste.

Unteroffizier Vanselow, der für die Untat seines Einjährigen verantwortlich war, sagte zu Diederich nur: „Das will ein gebildeter Mensch sein!“ Er war es gewohnt, dass alles Unheil von den Einjährigen kam. Vanselow schlief in ihrem Mannschaftszimmer hinter einem Verschlag. Nach dem Lichtlöschen zoteten sie, bis der Unteroffizier empört dazwischenschrie: „Das wollen gebildete Leute sein!“ Trotz seiner langen Erfahrung erwartete er immer noch von den Einjährigen mehr Geist und gute Haltung als von den andern Leuten und war immer neu enttäuscht. In Diederich sah er keineswegs den Schlimmsten. Das Bier, das einer zahlte, entschied nicht allein über Vanselows Meinung. Noch mehr sah Vanselow auf den soldatischen Geist freudiger Unterwerfung, und den hatte Diederich. In der Instruktionsstunde konnte man ihn den andern als Muster vorhalten. Diederich zeigte sich ganz erfüllt von den militärischen Idealen der Tapferkeit und der Ehrliebe. Was die Abzeichen und die Rangordnung betraf, so schien der Sinn dafür ihm angeboren. Vanselow sagte: „Jetzt bin ich der Herr Kommandierende General“, und auf der Stelle benahm Diederich sich, als glaubte er es. Wenn es aber hieß: „Jetzt bin ich ein Mitglied der Königlichen Familie“, dann war Diederichs Verhalten so, dass es dem Unteroffizier ein Lächeln des Größenwahns abnötigte.

Im Privatgespräch in der Kantine eröffnete Diederich seinem Vorgesetzten, dass er vom Soldatenleben begeistert sei. „Das Aufgehen im großen Ganzen!“, sagte er. Er wünsche sich nichts auf der Welt, als ganz dabeizubleiben. Und er war aufrichtig – was aber nicht hinderte, dass er am Nachmittag, bei den Übungen „im Gelände“, keinen anderen Wunsch mehr kannte, als sich in den Graben zu legen und nicht mehr vorhanden zu sein. Die Uniform, die ohnedies, aus Rücksichten der Strammheit, zu eng geschnitten war, ward nach dem Essen zum Marterwerkzeug. Was half es, dass der Hauptmann, bei seinen Kommandos, sich unsäglich kühn und kriegerisch auf dem Pfad herumsetzte, wenn man selbst, rennend und schnaufend, die Suppe unverdaut im Magen schlenkern fühlte. Die sachliche Begeisterung, zu der Diederich völlig bereit war, musste zurücktreten hinter der persönlichen Not. Der Fuß schmerzte wieder; und Diederich lauschte auf den Schmerz, in der angstvollen, mit Selbstverachtung verbundenen Hoffnung, es möchte schlimmer werden, so schlimm, dass er nicht wieder „ins Gelände“ hinaus musste, dass er vielleicht nicht einmal mehr im Kasernenhof üben konnte und dass man genötigt war, ihn zu entlassen!

Es kam dahin, dass er am Sonntag den alten Herrn eines Korpsbruders aufsuchte, der Geheimer Sanitätsrat war. Er müsse ihn um seinen Beistand bitten, sagte Diederich, rot vor Scham. Er sei begeistert für die Armee, für das große Ganze, und wäre am liebsten ganz dabeigeblieben. Man sei da in einem großartigen Betrieb, ein Teil der Macht sozusagen, und wisse immer, was man zu tun habe: Das sei ein herrliches Gefühl. Aber der Fuß tue nun einmal weh. „Man darf es doch nicht so weit kommen lassen, dass er unbrauchbar wird. Schließlich habe ich Mutter und Geschwister zu ernähren.“ Der Geheimrat untersuchte ihn. „Neuteutonia sei 's Panier“, sagte er. „Ich kenne zufällig Ihren Oberstabsarzt.“ Hiervon war Diederich durch seinen Korpsbruder unterrichtet. Er empfahl sich, voll banger Hoffnung.

Die Hoffnung bewirkte, dass er am nächsten Morgen kaum noch auftreten konnte. Er meldete sich krank. „Wer sind Sie, was belästigen Sie mich“ – und der Stabsarzt maß ihn. „Sie sehen aus wie das Leben, Ihr Bauch ist auch schon kleiner.“ Aber Diederich stand stramm und blieb krank; der Vorgesetzte musste sich zu einer Untersuchung herbeilassen. Als er den Fuß zu Gesicht bekam, erklärte er, wenn er sich nicht eine Zigarre anzünde, werde ihm unwohl werden. Trotzdem war nichts zu finden an dem Fuß. Der Stabsarzt stieß ihn entrüstet vom Stuhl. „Macht Dienst, Schluss, abtreten“ – und Diederich war erledigt. Mitten im Exerzieren aber schrie er plötzlich „Au“ und fiel um. Er ward ins „Revier“ gebracht, den Aufenthalt der Leichterkrankten, wo es nach Volk roch und nichts zu essen gab. Denn die Selbstbeköstigung, die dem Einjährigen zustand, war hier nur schwer zu bewerkstelligen, und von den Rationen der anderen bekam er nichts. Vor Hunger meldete er sich gesund. Abgeschnitten von menschlichem Schutz, von allen sittlichen Rechten der bürgerlichen Welt, trug er sein düsteres Geschick – eines Morgens aber, als alle Hoffnung schon dahin war, holte man ihn vom Exerzieren weg auf das Zimmer des Oberstabsarztes. Dieser hohe Vorgesetzte wünschte ihn zu untersuchen. Er hatte einen verlegen menschlichen Ton und schlug dann wieder in militärische Schroffheit um, die gleichfalls nicht unbefangen wirkte. Auch er schien nichts Rechtes zu finden, das Ergebnis seines Eingreifens aber klang trotzdem anders. Diederich sollte nur „vorläufig“ weiter Dienst machen, das Weitere werde sich schon ergeben. „Bei dem Fuß ...“

Einige Tage später trat ein „Revier“-Gehilfe an Diederich heran und fertigte auf geschwärztem Papier einen Abdruck des verhängnisvollen Fußes. Diederich ward genötigt, im Revierzimmer zu warten. Der Stabsarzt ging eben umher und nahm Gelegenheit, ihm seine volle Verachtung auszudrücken. „Nicht mal Plattfuß! Stinkt vor Faulheit!“ Da aber ward die Tür aufgestoßen, und der Oberstabsarzt, die Mütze auf dem Kopf, hielt seinen Einzug. Sein Schritt war fester und zielbewusster als sonst, er sah nicht rechts noch links, wortlos stellte er sich vor seinem Untergebenen auf, den Blick finster und streng auf dessen Mütze. Der Stabsarzt stutzte, er musste sich in eine Lage finden, die ersichtlich die gewohnte Kollegialität nicht mehr zuließ. Nun hatte er sie erfasst, nahm die Mütze herunter und stand stramm. Darauf zeigte der Vorgesetzte ihm das Papier mit dem Fuß, sprach leise und mit einer Betonung, die ihm befahl, etwas zu sehen, was nicht da war. Der Stabsarzt blinzelte abwechselnd den Vorgesetzten, Diederich und das Papier an. Dann zog er die Absätze zusammen: Er hatte das Befohlene gesehen.

Als der Oberstabsarzt fort war, näherte der Stabsarzt sich Diederich. Höflich, mit einem leisen Lächeln des Einverständnisses, sagte er: „Der Fall war natürlich von Anfang an klar. Man musste nur der Leute wegen – Sie verstehen, die Disziplin –“.

Diederich bekundete durch Strammstehen, dass er alles verstehe.

„Aber“, wiederholte der Stabsarzt, „ich habe natürlich gewusst, wie Ihr Fall lag.“

Diederich dachte: „Wenn du es nicht gewusst hast, jetzt weißt du es.“ Laut sagte er: „Gestatte mir gehorsamst zu fragen, Herr Stabsarzt: Ich werde doch weiterdienen dürfen?“

„Dafür kann ich Ihnen nicht garantieren“, sagte der Stabsarzt und machte kehrt.

Vom schweren Dienst war Diederich fortan befreit, das „Gelände“ sah ihn nicht mehr. Umso williger und freudiger war sein Verhalten in der Kaserne. Wenn des Abends beim Appell der Hauptmann, die Zigarre im Munde und leicht angetrunken, aus dem Kasino kam, um für Stiefel, die nicht geschmiert, sondern gewichst waren, Mittelarrest zu verhängen: An Diederich fand er nichts auszusetzen. Umso unerbittlicher übte er seine gerechte Strenge an einem Einjährigen, der nun schon im dritten Monat strafweise im Mannschaftszimmer schlafen musste, weil er einst, während der ersten vierzehn Tage, nicht dort, sondern zu Hause geschlafen hatte. Er hatte damals vierzig Grad Fieber gehabt und wäre, wenn er seine Pflicht getan hätte, vielleicht gestorben. Dann wäre er eben gestorben! Der Hauptmann hatte, sooft er diesen Einjährigen ansah, ein Gesicht voll stolzer Genugtuung. Diederich dahinten, klein und unversehrt, dachte: „Siehst du wohl? Die Neuteutonia und ein Geheimer Sanitätsrat sind mehr wert als vierzig Grad Fieber ...“ Was Diederich betraf, so waren die amtlichen Formalitäten eines Tages glücklich erfüllt, und der Unteroffizier Vanselow verkündete ihm seine Entlassung. Diederich hatte sofort die Augen voll Tränen; er drückte Vanselow warm die Hand.

„Grade muss mir das passieren, und ich hatte doch“ – er schluchzte – „so viel Freudigkeit.“

Und dann war er „draußen“.

Vier Wochen lang blieb er zu Hause und büffelte. Wenn er zum Essen ging, sah er sich um, ob ein Bekannter ihn bemerkte. Endlich musste er sich den Neuteutonen wohl zeigen. Er trat herausfordernd auf.

„Wer von euch noch nicht dabei war, hat keine Ahnung. Ich sage euch, da sieht man die Welt von einem andern Standpunkt. Ich wäre überhaupt dabeigeblieben, meine Vorgesetzten rieten es mir, ich sei hervorragend qualifiziert. Na und da –“

Er starrte schmerzlich vor sich hin.

„Das Unglück mit dem Gaul. Das kommt davon, wenn man ein zu guter Soldat ist. Der Hauptmann lässt einen in seinem Dogcart fahren, damit der Gaul mal bewegt wird, und da ist das Unglück passiert. Natürlich habe ich den Fuß nicht geschont und zu früh wieder Dienst gemacht. Die Sache verschlimmerte sich erheblich, der Stabsarzt gab mir anheim, für jede Eventualität meine Angehörigen zu benachrichtigen.“

Dies sagte er knapp und männlich.

„Da hättet ihr nun den Hauptmann sehen sollen. Täglich kam er selbst, nach den größten Märschen, mit bestaubter Uniform, wie er war. So was gibt es auch nur beim Militär. Wir sind in den bösen Tagen wahre Kameraden geworden. Hier die Zigarre ist noch von ihm. Und als er mir dann eingestehen musste, der Stabsarzt wolle mich fortschicken, ich kann euch versichern, das war einer der Augenblicke im Leben, die man nicht vergisst. Der Hauptmann und ich, wir kriegten beide gleichzeitig feuchte Augen.“

Alle waren erschüttert. Diederich sah tapfer um sich.

„Na, jetzt soll man sich also wieder in das bürgerliche Leben hineinfinden. Prost.“

Er büffelte weiter; und am Sonnabend kneipte er mit den Neuteutonen. Auch Wiebel erschien wieder. Er war Assessor, auf dem Wege zum Staatsanwalt und sprach nur noch von „subversiven Tendenzen“, „Vaterlandsfeinden“ und auch vom „christlich-sozialen Gedanken“. Er erklärte den Füchsen, es sei an der Zeit, sich mit Politik zu beschäftigen. Er wisse wohl, dass es nicht für vornehm gelte, aber die Gegner zwängen einen dazu. Hochfeudale Herren, wie sein Freund, der Assessor von Barnim, seien in der Bewegung. Herr von Barnim werde demnächst den Neuteutonen die Ehre geben.

Er kam, und er gewann alle Herzen, denn er benahm sich wie gleich zu gleich. Er hatte dunkles, glatt gescheiteltes Haar, das Wesen eines pflichteifrigen Beamten, sprach sachlich – aber am Schluss seines Vortrages bekam er Schwärmeraugen und verabschiedete sich rasch, mit warmen Händedrücken. Die Neuteutonen stimmten nach seinem Besuch alle darin überein, dass der jüdische Liberalismus die Vorfrucht der Sozialdemokratie sei und dass die christlichen Deutschen sich um den Hofprediger Stöcker zu scharen hätten. Diederich verband, wie die anderen, mit dem Wort „Vorfrucht“ keinen deutlichen Sinn und verstand unter „Sozialdemokratie“ nur eine allgemeine Teilerei. Das genügte ihm auch. Aber Herr von Barnim hatte jeden, der nähere Aufklärung wünschte, zu sich eingeladen, und Diederich würde es sich nicht verziehen haben, wenn er eine so schmeichelhafte Gelegenheit versäumt hätte.

In seiner kalten, altmodischen Junggesellenwohnung hielt Herr von Barnim ihm ein Privatissimum. Sein politisches Ziel war eine ständige Volksvertretung, wie im glücklichen Mittelalter: Ritter, Geistliche, Gewerbetreibende, Handwerker. Das Handwerk musste, der Kaiser hatte es mit Recht gefordert, wieder auf die Höhe kommen wie vor dem Dreißigjährigen Krieg. Die Innungen hatten Gottesfurcht und Sittlichkeit zu pflegen. Diederich äußerte sein wärmstes Einverständnis. Es entsprach seinen Trieben, als eingetragenes Mitglied eines Standes, einer Berufsklasse, nicht persönlich, sondern korporativ im Leben Fuß zu fassen. Er sah sich schon als Abgeordneten der Papierbranche. Die jüdischen Mitbürger freilich schloss Herr von Barnim von seiner Ordnung der Dinge aus; waren sie doch das Prinzip der Unordnung und Auflösung, des Durcheinanderwerfens, der Respektlosigkeit: das Prinzip des Bösen selbst. Sein frommes Gesicht zog sich zusammen vom Hass, und Diederich fühlte ihn mit.

„Schließlich“, meinte er, „haben wir doch die Gewalt und können sie hinauswerfen. Das deutsche Heer –“

„Das ist es eben“, stieß Herr von Barnim aus, der durch das Zimmer lief. „Haben wir darum den ruhmreichen Krieg geführt, dass mein väterliches Gut an einen Herrn Frankfurter verkauft wird?“

Während Diederich noch erschüttert schwieg, klingelte es, und Herr von Barnim sagte: „Es ist mein Barbier, den will ich mir auch mal vornehmen.“

Er bemerkte Diederichs Enttäuschung und setzte hinzu: „Natürlich rede ich mit solch einem Mann anders. Aber jeder von uns muss an seinem Teil der Sozialdemokratie Abbruch tun und die kleinen Leute in das Lager unseres christlichen Kaisers hinüberziehen. Tun auch Sie das Ihre!“

Damit war Diederich entlassen. Er hörte den Barbier noch sagen: „Schon wieder ein alter Kunde, Herr Assessor, der zu Liebling hinübergeht, bloß weil Liebling jetzt Marmor hat.“

Wiebel sagte, als Diederich ihm berichtete: „Das ist alles schön und gut, und ich habe eine ganz bedeutende Verehrung für die ideale Gesinnung meines Freundes von Barnim, aber auf die Dauer kommen wir damit nicht mehr weiter. Sehen Sie mal, auch Stöcker hat im Eispalast seine verdammten Erfahrungen gemacht mit der Demokratie, ob sie sich nun christlich nennt oder unchristlich. Die Dinge sind zu weit gediehen. Heute heißt es bloß noch losschlagen, solange wir die Macht haben.“

Und Diederich stimmte erleichtert bei. Herumgehen und Christen werben, war ihm gleich ein wenig peinlich erschienen.

„Die Sozialdemokratie nehme ich auf mich, hat der Kaiser gesagt.“ Wiebels Augen drohten katerhaft. „Nun, was wollen Sie mehr? Das Militär ist darüber instruiert, es könne vorkommen, dass es auf die lieben Verwandten schießen muss. Also? Ich kann Ihnen mitteilen, mein Lieber, wir stehen am Vorabend großer Ereignisse.“ Da Diederich erregte Neugier zeigte: „Was ich durch meinen Vetter von Klappke –“

Wiebel machte eine Pause. Diederich zog die Absätze zusammen.

„– in Erfahrung gebracht habe, ist noch nicht für die Öffentlichkeit reif. Ich will nur bemerken, dass der gestrige Ausspruch Seiner Majestät, die Nörgler möchten gefälligst den deutschen Staub von ihren Pantoffeln schütteln, eine verteufelt ernst zu nehmende Warnung war.“

„Tatsächlich? Sie glauben?“ sagte Diederich. „Dann ist mein Pech wirklich skandalös, dass ich gerade jetzt aus dem Dienst Seiner Majestät scheiden musste. Ich darf sagen, dass ich gegen den inneren Feind meine volle Pflicht getan haben würde. Auf die Armee, soviel weiß ich, kann der Kaiser sich verlassen.“

Er war in diesen nasskalten Februartagen des Jahres 1892 viel auf der Straße, in der Erwartung großer Ereignisse. Unter den Linden hatte sich etwas verändert, man sah noch nicht, was. Berittene Schutzleute hielten an den Mündungen der Straßen und warteten auch. Die Passanten zeigten einander das Aufgebot der Macht. „Die Arbeitslosen!“ Man blieb stehen, um sie ankommen zu sehen. Sie kamen vom Norden her, in kleinen Abteilungen und im langsamen Marschschritt. Unter den Linden zögerten sie, wie verwirrt, berieten sich mit den Blicken und lenkten nach dem Schloss ein. Dort standen sie, stumm, die Hände in den Taschen, ließen sich von den Rädern der Wagen mit Schlamm bespritzen und zogen die Schultern hoch unter dem Regen, der auf ihre entfärbten Überzieher fiel. Manche von ihnen wandten die Köpfe nach vorübergehenden Offizieren, nach den Damen in ihren Wagen, nach den langen Pelzen der Herren, die von der Burgstraße herschlenderten; und ihre Mienen waren ohne Ausdruck, nicht drohend und nicht einmal neugierig, nicht als wollten sie sehen, sondern als zeigten sie sich. Andere aber ließen kein Auge von den Fenstern des Schlosses. Das Wasser lief über ihre hinaufgewendeten Gesichter. Ein Pferd mit einem schreienden Schutzmann trieb sie weiter, hinüber oder bis zur nächsten Ecke – aber schon standen sie wieder, und die Welt schien versunken zwischen diesen breiten, hohlen Gesichtern, die fahler Abend beschien, und der starren Mauer dort hinten, auf der es dunkelte.

„Ich begreife nicht“, sagte Diederich, „dass die Polizei nicht energischer vorgeht. Das ist doch eine unbotmäßige Bande.“

„Lassen Sie's gut sein“, erwiderte Wiebel. „Die Schutzleute sind genau instruiert. Die Herren da oben haben ihre wohlüberlegten Absichten, das können Sie mir glauben. Es ist nämlich gar nicht immer zu wünschen, dass derartige Fäulniserscheinungen am Staatskörper gleich anfangs unterdrückt werden. Man lässt sie ausreifen, dann macht man ganze Arbeit!“

Die Reife, die Wiebel meinte, kam täglich näher, am Sechsundzwanzigsten schien sie da. Die Demonstrationen der Arbeitslosen sahen zielbewusster aus. In eine der nördlichen Straßen zurückgetrieben, quollen sie aus der nächsten, bevor man ihnen den Weg abschneiden konnte, verstärkt wieder hervor. Unter den Linden vereinigten sich ihre Züge, rannen, sooft sie getrennt wurden, wieder zusammen, erreichten das Schloss, wichen zurück und erreichten es noch einmal, stumm und unaufhaltsam wie übergetretenes Wasser. Der Wagenverkehr stockte, die Fußgänger stauten sich, mit hineingezogen in die langsame Überschwemmung, worin der Platz ertrank, in dies trübe und missfarbene Meer der Armen, das zäh dahinrollte, dumpfe Laute heraufwälzte und wie Mäste untergegangener Schiffe die Stangen mit den Bannern hinaufreckte: „Brot! Arbeit!“ Ein deutlicheres Grollen, ausbrechend aus der Tiefe, jetzt drüben, jetzt hier: „Brot! Arbeit!“ Anschwellend, über der Menge hinrollend, wie aus einer Gewitterwolke: „Brot! Arbeit!“ Eine Attacke der Berittenen, ein Aufschäumen, Zurückfließen, und Weiberstimmen im Lärm, schrill, gleich Signalen: „Brot! Arbeit!“

Man wird überrannt, vom Friedrichdenkmal fegt es die Neugierigen herunter. Auch sie haben aufgerissene Münder; aus kleinen Beamten, denen der Weg ins Amt versperrt ist, fliegt Staub auf, als würden sie geklopft. Ein verzerrtes Gesicht, das Diederich nicht erkennt, schreit ihm zu: „Es kommt anders! Jetzt geht es gegen die Juden!“ – und ist untergegangen, bevor ihm einfällt, es war Herr von Barnim. Er will ihm nach, wird in einem großen Schub weit hinübergeworfen, bis vor das Fenster eines Cafés, hört das Klirren der eingedrückten Scheibe, einen Arbeiter, der schreit: „Da haben se mich neulich rausgesetzt for meine dreißig Fennje, weil ich keinen Zylinderhut hatte“ – und dringt mit ein durch das Fenster, zwischen die umgeworfenen Tische, auf den Boden, wo man über Scherben fällt, einander die Bäuche einstößt und laut zetert. „Niemand mehr rein! Wir kriegen keine Luft!“ Aber immer mehr steigen ein. „Die Polizei drängelt!“ Und die Mitte der Straße sieht man frei liegen, gesäubert, wie für einen Triumphzug. Da sagt jemand: „Das ist doch Wilhelm!“

Und Diederich war wieder draußen. Niemand wusste, wie es kam, dass man auf einmal marschieren konnte, in gedrängter Masse, auf der ganzen Breite der Straße und zu beiden Seiten bis an die Flanken des Pferdes, worauf der Kaiser saß: er selbst. Man sah ihn an und ging mit. Knäuel von Schreienden wurden aufgelöst und mitgerissen. Alle sahen ihn an. Dunkles Geschiebe, ohne Form, planlos, grenzenlos, und hell darüber ein junger Herr im Helm, der Kaiser. Sie sahen: Sie hatten ihn heruntergeholt aus dem Schloss. Sie hatten „Brot! Arbeit!“ geschrien, bis er gekommen war. Nichts hatte sich geändert, als dass er da war – und schon marschierten sie, als gehe es auf das Tempelhofer Feld.

Seitwärts, wo die Reihen dünner waren, sagten bürgerlich Gekleidete zueinander: „Na Gott sei Dank, er weiß, was er will!“

„Was will er denn?“

„Der Bande zeigen, wer die Macht hat! Im guten hat er es mit ihnen versucht. Er ist sogar zu weit gegangen in den Erlassen vor zwei Jahren. Sie sind frech geworden!“

„Angst kennt er nicht, das muss man sagen. Kinder, dies ist ein historischer Moment!“

Diederich hörte es und erschauderte. Der alte Herr, der gesprochen hatte, wandte sich auch an ihn. Er hatte weiße Bartkotelettes und das Eiserne Kreuz.

„Junger Mann“, sagte er, „was unser herrlicher junger Kaiser da macht, das werden die Kinder mal aus den Schulbüchern lernen. Passen Sie auf!“

Viele hatten gehobene Brüste und feierliche Mienen. Die Herren, die dem Kaiser folgten, blickten mit äußerster Entschlossenheit darein, ihre Pferde aber lenkten sie durch das Volk, als seien alle die Leute zum Statieren bei einer Allerhöchsten Aufführung befohlen; und manchmal schielten sie seitwärts, nach dem Eindruck im Publikum. Er selbst, der Kaiser, sah nur sich und seine Leistung. Tiefer Ernst versteinte seine Züge, sein Auge blitzte hin über die Tausende der von ihm Gebannten. Er maß sich mit ihnen, der von Gott gesetzte Herr mit den empörerischen Knechten! Allein und ungeschützt hatte er sich mitten unter sie gewagt, stark nur durch seine Sendung. Sie konnten sich an ihm vergreifen, wenn es im Plan des Höchsten lag; er brachte seiner heiligen Sache sich selbst zum Opfer. War Gott mit ihm, dann sollten sie es sehen! Dann bewahrten sie für immer das Gepräge seiner Tat und die Erinnerung an ihre Ohnmacht!

Ein junger Mensch mit einem Künstlerhut ging neben Diederich, er sagte: „Kennen wir. Napoleon in Moskau, sich solo unter die Bevölkerung mischend.“

„Das ist doch großartig!“, behauptete Diederich, und die Stimme versagte ihm. Der andere zuckte die Achseln.

„Theater, und nicht mal gut.“

Diederich sah ihn an, er versuchte zu blitzen wie der Kaiser. „Sie sind wohl auch so einer.“

Er hätte nicht sagen können, was für einer. Er fühlte nur, dass er hier, zum ersten Mal im Leben, die gute Sache zu vertreten habe gegen feindliche Bemängelungen. Trotz seiner Aufregung sah er sich noch die Schultern des Menschen an: Sie waren nicht breit. Auch äußerte die Umgebung sich missbilligend. Da ging Diederich vor. Mit seinem Bauch drängte er den Feind gegen die Mauer und schlug auf den Künstlerhut ein. Andere knufften mit. Der Hut lag schon am Boden und bald auch der Mensch. Im Weitergehen bemerkte Diederich zu seinen Mitkämpfern: „Der hat sicher nicht gedient! Schmisse hat er auch keine!“

Der alte Herr mit Bartkotelettes und Eisernem Kreuz war auch wieder da, er drückte Diederich die Hand.

„Brav, junger Mann, brav!“

„Soll man da nicht wütend werden?“ erklärte Diederich, noch keuchend. „Wenn der Mensch uns den historischen Moment verekeln will?“

„Sie haben gedient?“ fragte der alte Herr.

„Ich wäre am liebsten ganz dabeigeblieben“, sagte Diederich.

„Na ja, Sedan ist nicht alle Tage“ – der alte Herr betupfte sein Eisernes Kreuz. „Das waren wir!“

Diederich reckte sich, er zeigte auf das bezwungene Volk und den Kaiser.

„Das ist doch geradesogut wie Sedan!“

„Na ja“, sagte der alte Herr.

„Gestatten Sie mal, sehr geehrter Herr“, rief jemand und schwenkte sein Notizbuch. „Wir müssen das bringen. Stimmungsbild, verstehnse? Sie haben wohl einen Genossen verwalkt?“

„Kleinigkeit“ – Diederich keuchte noch immer. „Meinetwegen könnt es jetzt gleich losgehen gegen den inneren Feind. Unsern Kaiser haben wir mit.“

„Fein“, sagte der Reporter und schrieb: „In der wildbewegten Menge hört man Leute aller Stände der treuesten Anhänglichkeit und dem unerschütterlichen Vertrauen zu der Allerhöchsten Person Ausdruck geben.“

„Hurra!“, schrie Diederich, denn alle schrien es; und inmitten eines mächtigen Stoßes von Menschen, der schrie, gelangte er jäh bis unter das Brandenburger Tor. Zwei Schritte von ihm ritt der Kaiser hindurch. Diederich konnte ihm ins Gesicht sehen, in den steinernen Ernst und das Blitzen; aber ihm verschwamm es vor den Augen, so sehr schrie er. Ein Rausch, höher und herrlicher als der, den das Bier vermittelt, hob ihn auf die Fußspitzen, trug ihn durch die Luft. Er schwenkte den Hut hoch über allen Köpfen, in einer Sphäre der begeisterten Raserei, durch einen Himmel, wo unsere äußersten Gefühle kreisen. Auf dem Pferd dort, unter dem Tor der siegreichen Einmärsche und mit Zügen steinern und blitzend, ritt die Macht! Die Macht, die über uns hingeht und deren Hufe wir küssen! Die über Hunger, Trotz und Hohn hingeht! Gegen die wir nichts können, weil wir alle sie lieben! Die wir im Blut haben, weil wir die Unterwerfung darin haben! Ein Atom sind wir von ihr, ein verschwindendes Molekül von etwas, das sie ausgespuckt hat! Jeder einzelne ein Nichts, steigen wir in gegliederten Massen, als Neuteutonen, als Militär, Beamtentum, Kirche und Wissenschaft, als Wirtschaftsorganisationen und Machtverbände kegelförmig hinan, bis dort oben, wo sie selbst steht, steinern und blitzend! Leben in ihr, haben teil an ihr, unerbittlich gegen die, die ihr ferner sind, und triumphierend, noch wenn sie uns zerschmettert, denn so rechtfertigt sie unsere Liebe! ... Einer der Schutzleute, deren Kette das Tor absperrte, stieß Diederich vor die Brust, dass ihm der Atem ausblieb; er aber hatte die Augen so voll Siegestaumel, als reite er selbst über alle diese Elenden hinweg, die gebändigt ihren Hunger verschluckten. Ihm nach! Dem Kaiser nach! Alle fühlten wie Diederich. Eine Schutzmannskette war zu schwach gegen so viel Gefühl; man durchbrach sie. Drüben stand eine zweite. Man musste abbiegen, auf Umwegen den Tiergarten erreichen, einen Durchschlupf finden. Wenige fanden ihn; Diederich war allein, als er auf den Reitweg hinausstürzte, dem Kaiser entgegen, der auch allein war. Ein Mensch im gefährlichsten Zustand des Fanatismus, beschmutzt, zerrissen, mit Augen wie ein Wilder: der Kaiser, vom Pferd herunter, blitzte ihn an, er durchbohrte ihn. Diederich riss den Hut ab, sein Mund stand weit offen, aber der Schrei kam nicht. Da er zu plötzlich anhielt, glitt er aus und setzte sich mit Wucht in einen Tümpel, die Beine in der Luft, umspritzt von Schmutzwasser. Da lachte der Kaiser. Der Mensch war ein Monarchist, ein treuer Untertan! Der Kaiser wandte sich nach seinen Begleitern um, schlug sich auf den Schenkel und lachte. Diederich aus seinem Tümpel sah ihm nach, den Mund noch offen.

Heinrich Mann: Der Untertan

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