Читать книгу Django und das Mörderschiff - Heinrich-Stefan Noelke - Страница 7
Heiligendamm 1: Üffes lernt Schlachten
ОглавлениеAll die Touristen und auch ein paar Ortsansässige starrten fassungslos auf die Bushaltestelle, an der die Leute in Börgerende aussteigen, wenn sie dort zum Strand wollen. Ein trister Betonverschlag bietet Schutz vor schlechtem Wetter, innen hellblau gestrichen und hellgrün beschmiert. Die hintere Ecke links war verrußt, die rechte voller Blut. Jemand hatte ein Kaninchen geschlachtet, gegrillt und am Ende noch gegessen. Nur die Knochen waren übrig geblieben, ein paar Innereien und das Fell. Die Leute empörten sich und riefen die Polizei. Mitten im Ort!
„Da hatte jemand Hunger“, sagte ein Mann und erntete böse Blicke. Diese Sicht schien dem Fall nicht angemessen.
Das Gefährlichste an der Ostsee, so war es Marlene Brinkmann zunächst vorgekommen, ist der Nacktbadestrand schräg gegenüber dem Hotel. Es gibt hier keine Ebbe und keine Flut, die das Leben bestimmen. Die Fischerboote werden gerade so auf den Strand gezogen und dort vertäut. Man glaubt sich sicher: Da kommt nichts Böses von See.
Und tatsächlich: Es kommt von Land.
Marlene erkannte einen Jungen unter den Leuten und grüßte ihn mit erhobener Hand. Üffes war sein Name, sie hatte ihn tags zuvor kennengelernt, gleich nach ihrer Ankunft, als er ihr neues eBike bewunderte, ein Pedelec, in das man selbst ordentlich tritt um dafür elektrischen Rückenwind zu bekommen.
„Wie schreibt man deinen Namen?“, hatte ihn Marlene gefragt und ihm einen Zettel gereicht.
„Yves“ notierte der Elfjährige in einer schon recht eigenwilligen Handschrift. In der Schule habe er den Namen an die Tafel schreiben müssen, erklärte er, aber niemand hatte gewusst, wie man ihn aussprach. Als Lehrerin hatte Marlene herzlich gelacht. Der Junge machte ihr Spaß.
Jetzt kam er zu ihr herübergelaufen. „Haben Sie gesehen? Da hat jemand ein Kaninchen geschlachtet.“ Er gebot über ein sehr entwaffnendes Lächeln und sah ihr direkt in die Augen. „Ich suche in den Dünen. Vielleicht finde ich noch was anderes.“
Marlene ging nun ebenfalls. Sie hatte sich in einem gutbürgerlichen Strandhotel eingemietet, dem einzigen dieser Art im sonst bäuerlichen Börgerende. Ihr Urlaub von all den Kindern und deren Eltern hatte begonnen. Sie war mit einer Freundin verabredet, beide waren derzeit solo, aber Beate war noch nicht eingetroffen. Marlene wartete. Sie war halb verrückt vor Freude auf die gemeinsamen Tage und voller Pläne. Es war früher Morgen, der letzte Schultag in Mecklenburg, und sie plante ihren ersten Fahrradausflug. Sie trug einen dunkelblauen Rennanzug, von dem sich ihr fuchsrotes Haar leuchtend abhob, dazu Helm und Fahrradschuhe, was unter den eher schlicht gekleideten Leuten schnell auffiel. Marlene war Ende dreißig und hatte ein ernstes Gesicht, das ganz plötzlich zu reiner Freude und Herzlichkeit wechseln konnte. So, als geschähe das sehr bewusst.
Es hatte eine Woche lang fast pausenlos geregnet und der Boden war schlammig, er wollte kein Wasser mehr aufnehmen. Viele Straßen hatte man wegen Überflutung sperren müssen. Als sie sich nach einer guten Stunde auf dem Heimweg befand, waren die Wege am Ufer der Ostsee voll mit Menschen zu Fuß oder auf dem Rad. Man fuhr hintereinander her, was Marlene nicht leicht fiel, da ihr Pedelec schneller war als alle anderen. Sie hielt sich sehr zurück und vermied jedes Drängeln, aber vor geraumer Zeit schon hatte sie zu einem Paar aufgeschlossen, das vor ihr fuhr. Die Frau drehte sich mehrfach um und winkte sie schroff vorbei. Marlene verzichtete freundlich. Sie hatte es nicht eilig.
Zwischen Nienhagen und Börgerende kamen sie in den Gespensterwald. Ein enger Weg windet sich dort zwischen den Buchen hindurch. Es sind Windflüchter. Bis auf die Wipfel sind sie kahl. Sie beugen sich landeinwärts, weg vom Wind. Der Boden war stellenweise so schlammig, dass die Räder keinen Halt fanden. Alles eine Frage der Balance, aber nicht einfach zu fahren. Oft kamen ihnen Leute entgegen.
Schließlich erreichten sie eine besonders enge Stelle zwischen zwei Bäumen hindurch. Marlene hielt an. Die Frau vor ihr fühlte sich dennoch gedrängt. Sie kämpfte mit dem Gleichgewicht und musste abspringen. Sie trug hochhackige Sandalen, was zum Fahrradfahren nicht die beste Wahl ist. Bis zu den Knöcheln versank sie im Schlamm und raffte ihr langes Sommerkleid, die Beine darunter waren dicht behaart.
Marlene dagegen, tiefbraun gebrannt, stand aufrecht neben ihrem Pedelec. Beide hatten ungefähr das gleiche Alter.
„Unverschämt!“, schrie die Frau vor ihr und drohte mit der Faust. „Rücksichtsloses Drängeln!“ Sie heulte vor Wut, und fast sah es so aus, als wollte sie sich trotzig in den Schlamm setzen, um jede Vernunft zu verweigern. Sie wies auf Marlenes Fahrrad und rief: „Ein eBike, deswegen! Das ist unfair. Sie sollten sich schämen, uns so zu hetzen!“ „Fahren Sie!“, drängte der Mann von vorne und winkte Marlene zu. „Ich bitte Sie! Fahren Sie voraus.“
Marlene holte Schwung. Die Frau machte Anstalten, sich auf sie zu stürzen, aber der Mann wies sie zurück. So kam Marlene vorbei, und schnell war sie außer Sicht. Sie war sich keiner Schuld bewusst. Das Problem bestand eher im Kopf der fremden Frau, aber trotzdem beschäftigte sie der ärgerliche Vorfall auf dem Weg.
Als sie am Hotel ankam, standen die Leute immer noch an der Bushaltestelle, nur waren es jetzt weit mehr. Die Polizei war eingetroffen, und man hatte einen Leichenwagen zwischen den Dünen geparkt. Touristen in leichter Kleidung bildeten mit ihren Fahrrädern einen großen Kreis und sahen zu, wie die Einheimischen ihre Angelegenheiten regelten.
Üffes kam ihr entgegen. „Ich habe ihn gefunden!“, rief er stolz. „Er ist tot. Ein Penner lag im Seegras. Der war das mit dem Kaninchen.“ Die Polizisten hielten die Leute vom Schauplatz fern.
„Mein Gott!“, rief Marlene. „Das solltest du nicht sehen.“ Sie drückte seinen Kopf gegen ihre Brust.
„Was fällt Ihnen ein!“, hörte sie jemanden hinter sich sagen. „Was haben Sie mit meinem Sohn zu schaffen?“
Es war die Frau aus dem Wald.
Üffes löste sich aus Marlenes Umarmung. „Er ist tot, Mama“, rief er und seine Augen strahlten. „Vielleicht ist es Mord gewesen.“
Sie gab ihm eine Ohrfeige und schickte ihn nach Hause. „Du sollst dir so etwas nicht ansehen“, rief sie. „Das Böse steckt an. Du darfst nicht hinsehen.“
„Nicht hier, Sophie“, sagte der Mann und schämte sich ganz offensichtlich für seine Frau.
„Guten Tag Frau Jürß“, mischte sich eine junge Stimme ein, in der eine gewisse Autorität mitschwang. Ohne ein weiteres Wort schwang sich Sophie Jürß auf ihr Rad. Ihr Mann folgte.
„Gerhard“, begrüßte Marlene den jungen Mann. Was machst du denn hier?“ Sie kannten sich vom Studium her. Gerhard Bischoff war Lehrer an der Schule in Rethwisch, das mit Börgerende eine Ortsgemeinschaft bildet. In Rethwisch stehen auch die gemeinsame Kirche und der Kindergarten.
„Die Leute sind etwas eigen hier“, erfuhr Marlene. Das war ihr schon aufgefallen. Der Ort beschränkt sich auf Häuser beidseits einer gut sechs Kilometer langen Straße, die in fast rechtem Winkel zur Ostsee verläuft. Das schränkt die Zahl der Nachbarn ein und macht den Weg zum Bäcker weit. Zwischen die beiden Gemeindeteile Rethwisch und Börgerende hat man Ortsein- und -ausgangsschilder gestellt.
„Ich nenne es Burger-Ende“, sagte Gerhard und lachte. „Man isst hier Backfisch. Es ist ein alter Fischerort.“ Er freute sich, Marlene zu sehen.
Gerhard wies auf den Leichenwagen. „Das kommt mir sehr ungelegen“, sagte er. „Heute ist letzter Schultag. Die Kinder kommen erst zur vierten Stunde, um die Zeugnisse zu empfangen. Wir haben uns etwas Besonderes ausgedacht als Abschluss der Projektwochen zur Steinzeit: Ein Bauer wird ein Kaninchen schlachten. Die Kinder sollen lernen, woher das Fleisch kommt, das sie essen.“
„Ist das eine kluge Idee?“, fragte Marlene. „Zwei Kaninchen an einem Tag?“ Gerhard zuckte die Schultern. „Ob es klug ist, weiß ich nicht. Es ist richtig.“ Die Kinder müssten nicht zusehen, sie dürften sich wegdrehen. Nur dabei sein sollten sie, um die Bedeutung des Tötens zu spüren. Und morgen seien alle eingeladen, das Tier gemeinsam zu grillen. Ob sie zusehen wolle?
„Beim Schlachten?“, fragte Marlene.
„Auch“, sagte Gerhard.
Ihr Smartphone wies auf den Empfang einer SMS hin. Kann nicht kommen!, schrieb Beate.
Wütend drückte Marlene die Nachricht weg.
„Wann soll ich in der Schule sein?“, fragte sie.
Gerhard freute sich.
Marlene zog sich mit einem guten Buch auf ihr Zimmer zurück. Als es Zeit war, duschte sie, legte ein dezentes Make-up auf und zog ein Kleid an, das sich für eine Lehrerin geziemt, dann fuhr sie zur Schule.
Die meisten Kinder lärmten fröhlich, einige beäugten die fremde Frau voller Neugierde. Marlene sah Sophie Jürß, die ihren Sohn zur Schule brachte und ihm vor dem Schulhof noch einmal die Haare kämmte, was dem Jungen sehr missfiel.
„Und sieh nicht hin!“, drängte sie ihn. Dann begann sie, unruhig vor dem Tor hin und her zu laufen. Üffes sah Marlene und winkte ihr zu. Sie folgte ihm und fand so den Klassenraum. Gerhard erwartete sie und stellte ihr Bauer Hess vor, der ein riesiges Kaninchen in einem Käfig bei sich trug.
„Stell dir vor“, sagte Gerhard, „es soll Mord gewesen sein. Der Obdachlose von heute Morgen. Man hat ihm den Schädel mit einem Stein zertrümmert, während er seinen Rausch ausschlief.“ Dann stellte er ihr das Kaninchen vor. „Das ist Peter. Ein Belgischer Riese. Wir haben ihm bewusst einen Namen gegeben, damit die Kinder ein Verhältnis zu ihm aufbauen können.“ Das Tier war so groß wie ein kleiner Hund.
Der Direktor der Schule betrat den Raum und begrüßte Marlene. „Die Kinder müssen lernen, dass der Strom nicht aus der Steckdose kommt“, erläuterte er. „Dass das Holz nicht im Baumarkt wächst, das Fleisch nicht in der Verpackung und dass Schuld ein Preis ist, den wir zahlen. Wer sonst soll es ihnen beibringen, wenn nicht wir in dieser Schule auf dem Lande?“
Es läutete und die Kinder strömten herein. Peter verkroch sich ängstlich in eine Ecke des Käfigs. Gerhard und der Direktor stellten Bauer Hess der Klasse vor und erläuterten das Ziel der Stunde. Dann durften die Schüler nach vorne kommen und das Tier streicheln. Man wies sie an, es nicht zu erschrecken, was sehr schwierig war, denn Kinder sind ungestüm.
Schließlich forderte der Direktor mehr Respekt. Bauer Hess erklärte den Kindern, wie Kaninchen gezüchtet und aufgezogen werden. Vor dem Schlachten sei es notwendig, dass die Tiere sich beruhigten, weil Stress chemische Prozesse in Gang setze, die schlecht seien für Geschmack und Qualität des Fleisches.
Marlene sah durch das Fenster Sophie Jürß, die weiterhin vor dem Tor auf und ab ging, nur hielt sie nun ein Handy am Ohr. Auch Üffes sah seine Mutter dort stehen und reagierte unerwarteter Nervosität.
Gerhard erklärte, dass man das Tier jetzt töten werde. Das geschehe mit einem Schlag der Handkante in das Genick. Völlig unblutig. Das Kaninchen spüre nichts und sei sofort tot, da jeder Informationsaustausch mit dem Gehirn unterbunden werde. Kein Schüler sei gezwungen, sich das anzusehen, man dürfe sich abwenden.
Niemand befolgte den Rat. Alle sahen mit offenem Munde zu, wie Bauer Hess das schwere Tier an den Hinterläufen hochhob. Es hing ganz ruhig und schien nichts Böses zu ahnen, als der große Mann ihm mit einem gezielten, kraftvollen Schlag das Genick brach.
Nun grölten die Jungs, die Mädchen hielten sich zunächst zurück, bevor sie zu kreischen begannen. Der Direktor sorgte schnell für Ruhe. Draußen vor dem Tor trat ein Mann mit einer Kamera zu Sophie Jürß. Die Frau redete empört auf ihn ein und gestikulierte wild. Kurz darauf gesellte sich eine Frau zu den beiden, sie hielt ebenfalls einen Fotoapparat in der Hand. Reporter.
Der Direktor lud alle Schüler mit ihren Eltern für den kommenden Tag zu einem Grillfest ein, denn nur so mache Peters Tod einen Sinn. Dann wünschte er den Kindern und auch den Lehrern erholsame Ferien, und alles stürzte nach draußen. Bauer Hess würde das Kaninchen auf seinem Hof zerlegen und für das Grillfest vorbereiten.
Nur Üffes blieb zurück und zog Marlene an der Hand.
„Was ist?“, fragte sie und beugte sich zu ihm hinunter. Ihr war aufgefallen, dass der Junge sich nicht an dem Gegröle beteiligt hatte. Durch das Fenster hörte sie, wie seine Mutter nach ihm rief.
Das Lächeln des Jungen wirkte nun ein wenig dünn. Doch er sah sie direkt an. „Ich war das“, sagte er schließlich mit leicht belegter Stimme.
„Was? Was warst du?“
Und ohne zu zögern, fast eifrig, erwiderte er: „Ich war das mit dem Toten. Ich habe ihm mit einem Stein den Schädel eingeschlagen.“
„Was sagst du da?“ Marlene setzte sich vor Schreck auf einen der kleinen Stühle. Draußen trat der Direktor zu den Reportern. Sophie Jürß gefiel sich weiter in ausladenden Gesten. Ihr Mann kam jetzt hinzu.
„Er war betrunken und schlief. Meine Mutter wollte nicht, dass ich das mit den Kaninchen sehe, da bin ich vor Wut ganz früh in die Dünen gelaufen. Sie hasst die Obdachlosen.“
„Das erfindest du jetzt, oder?“
Der Junge sah ihr noch immer direkt in die Augen. „Sie soll bitte endlich still sein, bitte.“
„Warum ich?“, fragte Marlene. „Warum erzählst du mir das?“
„Weil Sie nett sind“, sagte Üffes.
Marlene schlug die Hand vor den Mund und sah, wie sich draußen am Tor zum Schulhof eine heftige Diskussion entwickelte.
„Werden Sie mich verraten?“, wollte Üffes wissen und drängte sich in die hinterste Ecke des Klassenzimmers.
Marlene sah ihn sprachlos an. „Und dein Vater?“
„Der ist mein Stiefvater. Der hat nichts zu sagen.“
Marlenes Handy meldete eine neue SMS. Ich kann für zwei Tage kommen, stand da. Klaus sei jetzt einverstanden.
Schwerfällig und ächzend erhob sie sich. „Ich muss nachdenken“, sagte sie und rieb sich die Schläfen.
„Lassen Sie mich nicht im Stich!“, bat Üffes, dann lief er zur Tür hinaus und über den Schulhof. Marlene öffnete ein Fenster. Sophie Jürß rief vergebens nach ihrem Sohn.
Leck mich, antwortete Marlene auf die SMS, dafür gibt es eine Tastenkombination.
„Er hat nicht einmal frühstücken wollen“, schrie draußen Sophie Jürß dem Direktor entgegen. „Er war kreidebleich vor Angst.“
„Kinder sind robuster, als Sie meinen“, verteidigte sich der Direktor und war schon in die Defensive gedrängt. Der Mechanismus ist bekannt.
Die Reporter gingen ihrem Geschäft nach. Wie Diebe nahmen sie jedes Wort auf und schossen Fotos von allen Seiten, um später beides zu verkaufen. Nun kam noch ein Fernsehteam von einem lokalen Sender hinzu, die müssen auch sehen, wo sie bleiben.
„Im Namen aller Mütter“, schrie Sophie Jürß in die Kamera, „verlange ich, dass das getötete Kaninchen nicht auch noch gegessen wird. Niemand sollte morgen zu diesem Grillfest gehen. Das ist barbarisch.“
Marlene schloss das Fenster. Gerhard kam herein. „Sie haben Fußspuren von Kindern in den Dünen gefunden und kleine Fingerabdrücke an dem Stein“, sagte er. „Und wenn es nun einer unserer Schüler war? Man wird uns lynchen!“
Sophie Jürß stürmte herein, die Reporter hinter sich herziehend. Sie rief nach Üffes. Er sei zum Strand gelaufen, sagte Marlene. „Weil er das Geschrei der eigenen Mutter nicht mehr erträgt“, fügte sie hinzu, aber Sophie Jürß hatte keine Zeit für solche Feinheiten. Sie winkte den Reportern, ihr zu folgen.
Marlene hatte lange genug nachgedacht. „Es war Üffes“, sagte sie zu Gerhard. „Er hat es mir gesagt. Wo würde er sich verstecken?“
„Am See“, sagte er und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Am Strand sind viel zu viele Leute. Zieh dir feste Schuhe an.“
„Dann komm“, sagte Marlene und zog ihn mit sich.
Der Conventer See und die umliegenden Salzwiesen entwässern sich über die Jemnitzer Schleuse in die Ostsee. So wird auch die Niederung vor Hochwasser geschützt, sofern es nicht von oben kommt.
„Da hinein?“ fragte Marlene. Ihr Kleid war mittlerweile völlig ruiniert. „Das ist ein Naturschutzgebiet.“ Vom flachen See war hinter dem Röhricht nichts zu sehen. Ein schlammiger Feldweg führt von der Schleuse über die Salzwiesen bis Doberan. Büsche und Bäume ragten hier und da aus dem Schilf hervor und lassen auf trockenen Boden hoffen. Gerhard führte sie durch wadentiefes Wasser zu einem Baum und dort, tatsächlich, saß Üffes auf einer Bank, die sich die Kinder aus Steinen und einem Brett gefertigt hatten. Es gab mehrere solcher Bänke und in der Mitte befand sich ein Grillplatz.
„Sie haben mich verraten!“, schimpfte Üffes, als er Marlene sah.
„Das wolltest du doch“, antwortete sie. „Ich bin nett, erinnerst du dich?“
Sie setzte sich neben ihn und nahm ihn in die Arme. Der Junge ließ es geschehen, aber weder weinte, noch schluchzte er. Üffes tat sich nicht selbst leid, was erstaunlich erwachsen wirkte.
Gerhard setzte sich den beiden gegenüber und sprach kein Wort. Die Luft war voll mit dem Schreien der Stare, die in ganzen Schwärmen hin und her flogen. Keine Möwen, wie an der See zu vermuten. Es roch nach Gras und nicht nach Meer. Der Wind spielte im Schilf. Gerhard zog an einer Schnur, die neben seiner Bank vertäut war, und aus dem Wasser tauchte ein Netz voller Flaschen mit gut gekühlten Getränken auf.
„Was jetzt?“ fragte Üffes und nahm sich ein stilles Wasser.
„Deine Mutter?“, schlug Marlene vor.
„Niemals. Bitte nicht.“
„Dann die Polizei. Sie werden uns helfen.“
Der Junge nickte und trank. „Lieber gehe ich ins Gefängnis. Da kommt sie mir nicht nach.“ Plötzlich waren vom Feldweg her Stimmen zu hören. Üffes erschrak, als er die seiner Mutter erkannte. Ein anderer Junge hatte ihr den Weg gewiesen und die Reporter trieben sie. Sie rief seinen Namen: „Üffes! Bist du hier?“
„Was jetzt?“ Diesmal war es an Marlene, diese Frage zu stellen.
Der Junge blühte förmlich auf, weil er die Antwort wusste: „Kommen Sie!“ Und als auch Gerhard sich erhob, flüsterte er: „Nur einer!“
Üffes zog an einem weiteren Seil und ein altes Surfbrett erschien, es war vollständig von Algen überwachsen, schwamm aber noch.
„Da drauf?“, fragte Marlene ungläubig.
Üffes nickte aufgeregt „Der See ist nur ein paar Zentimeter tief. Es ist nicht weit.“ Er half Marlene aufzusitzen, und schnell waren sie im Röhricht verschwunden. Vielleicht zweihundert Meter weit paddelten sie über offenes Wasser, dann war eine kleine Bucht erreicht. Die Luft war voller Insekten. Marlenes Füße stießen immer wieder an Pflanzen, was ihr sehr unangenehm war. Die merkwürdigsten Vögel waren zu sehen, aber sie hatten kein Auge dafür. Triefend nass stiegen sie schließlich an Land, und Marlene fand sich im Garten eines Hauses wieder, das nach Friedensreich Hundertwasser benannt war. Ihr Hotel lag gleich nebenan.
Hinter ihnen hatte Sophie Jürß den Grillplatz erreicht und kreischte, als sie Gerhard sah, sodass sich alle Vögel erschraken. „Wo ist er?“ schrie sie und stürzte sich auf ihn, dass er stolperte. Sie drückte seinen Kopf tief unter Wasser, bis ihr Mann hinzukam und sie zurückhielt.
Gerhard sog gierig die Luft ein. „Zur Polizei“, schnaufte er, als er sich beruhigt hatte. „Da ist er sicher.“
Die Reporter standen dabei und sahen zu. Ihre Aufgabe liegt im Berichten. Sie sind strikt ohne Schuld, man erwartet von ihnen keine Hilfe. Sophie schlug die Hände vor den Mund und kämpfte sich durch das Schilf zurück auf den Weg.
Marlene versorgte Üffes im Hotel mit trockener Kleidung, dann fuhr sie mit ihrem Pedelec zur nächsten Polizeistation. Der ermittelnde Beamte erwies sich als sehr verständnisvoll. Er ließ Üffes von einer zivilen Streife abholen, sodass die Presse nichts erfuhr. Man informierte die Eltern, dass der Junge gefunden sei und dass das Jugendamt sich um ihn kümmern werde. Marlene blieb den ganzen Tag bei ihm, bis sie sicher war, dass es ihm gutging.
Irgendwann fand sie die Zeit, Beate eine versöhnliche SMS zu schicken.
Sophie Jürß wurde im Ort tagelang nicht mehr gesehen. Die Zeitungen empörten sich am nächsten Morgen über das in der Schule getötete Kaninchen, aber es klang kleinlauter, als man erwartet hatte. Gelegentlich wurde im Ort sogar Verständnis geäußert für den aufrechten Direktor und seinen Lehrer. Auf der Titelseite berichtete man über den Mord. Der entlaufene Junge sei schnell gefunden worden.
Das Grillfest fand ohne weitere Aufregung statt, Marlene war herzlich eingeladen, es kamen jedoch kaum Schüler. Vermutlich waren sie schon mit den Ferien beschäftigt. Deutlich war, dass nie wieder jemand den Kindern in der Schule zeigen würde, wo das Fleisch herkam.
Beate kam über das Wochenende und Marlene zeigte das fröhliche Lachen, das sie so sympathisch machte. Begeistert stiegen die beiden Frauen auf ihre Pedelecs und fuhren in Richtung Heiligendamm, dorthin führt eine asphaltierte Straße. Auf der Strandpromenade schoben sie die Räder, mussten jedoch schließlich umkehren, da das Grand Hotel den Weg versperrt. Westlich davon, wieder im Wald und nicht weit vom Kinderstrand entfernt, servierte man ihnen australische Dumplings und Churros aus Spanien zum zweiten Frühstück. Ein Promenadendeck thront hoch über der See und zwischen den Bäumen. Der Weg führte sie weiter an Kühlungsborn vorbei, dann die Landstraßen entlang durch die Kühlung. Auf den eBikes flogen sie über das kleinste Mittelgebirge Deutschlands. Felder wie Meere. Der Raps hatte vielerorts den harten Winter und das viele Wasser nicht überstanden und wurde untergepflügt, ein enormer Verlust. In Bad Doberan aßen sie ein Eis. Rund um Börgerende waren die Wiesen noch tagelang so feucht, dass die Rinder bis zum Bauch im Morast standen. Alle Feuerwehren der Umgebung befanden sich im Einsatz, um Keller leer zu pumpen.
Am Sonntagmorgen besuchten sie die Messe in Rethwisch.
„Sieh dir den Erzengel an“, sagte Marlene und wies auf die Figur, die vom Gewölbe hing. „Er schaut mit sehr finsteren Blick auf die Gemeinde.“ Ursprünglich hing er quer im Kirchenschiff, hatte man ihr erzählt, aber nach einem recht erfolglosen Einbruch vor ein paar Monaten habe er sich gedreht. „Er starrt genau auf die Stelle, an der sich die leere Sammelbüchse befand, die damals entwendet wurde“, wusste Marlene.
Und eben dort stand nun sehr blass Sophie Jürß. „Sie ist ganz alleine“, flüsterte Marlene ihrer Freundin zu. Beate nickte. „Da ist kein Heinz mehr dabei.“
Er sei in den Westen gegangen, hörte Marlene in den nächsten Tagen.
Im Sommer 2012 bat mich der KBV-Verlag, einen Text zur geplanten Anthologie MUSCHELN, MÖVEN, MORDE beizutragen. Ich durfte mir den Ort Börgerende auswählen. Ich saß vor einem leckeren Cheeseburger, als ich die Mail las. Börger ohne Ende, dachte ich. Passt. In der Zeitung mit den großen Buchstaben las ich gleich darauf von einem grausigen Fund an einer Bushaltestelle irgendwo in Deutschland. Jemand hatte im Schutz des Wartehäuschens ein Kaninchen geschlachtet, es gegrillt und am Ende sogar gegessen. Man hatte einen Obdachlosen im Verdacht und womöglich hat es ihm geschmeckt. Auf der gleichen Seite berichtete eine empörte Mutter, dass man ihren Sohn vor Beginn der Sommerferien gezwungen habe, zusammen mit seiner Schulklasse der Schlachtung eines Kaninchens beizuwohnen. Ein Jäger hatte den Jungs und Mädchen gezeigt, was das bedeutet. Die Kinder sollten lernen, dass Fleisch nicht im Supermarkt wächst. Dem Bericht zufolge wird es ähnliche Demonstrationen nie wieder geben. Eine Woche später reiste ich nach Börgerende. Ich gab mir eine Woche Zeit, alles miteinander zu verbinden.