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2. Kapitel: In der Schule

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Atemlos stürzte Jens ins Klassenzimmer. Es hatte gerade zum Beginn der Unterrichtsstunde geklingelt. Das Gejohle war groß.

„Große Leute lassen auf sich warten, nicht wahr, Herr Großmann?“

„Lina! Wer sollte es auch sonst sein?“, dachte Jens. Er hatte nichts anderes erwartet. Trotzdem gab es diesmal keine Auseinandersetzung, denn die Klassenlehrerin, Frau Putzig, stand in der Tür.

Die Deutschstunde hatte begonnen. Wie jeden Morgen folgte das allseits bekannte Aufrufen der Schülernamen zur Feststellung der Anwesenheit. Und wer nicht anwesend, vielmehr nicht geistig anwesend war, das war Jens Großmann. Erst als ihn seine Banknachbarin Anne anstieß, brachte er verträumt sein „Hier!“ hervor.

„Das ist schön“, meinte die Lehrerin, „dass du nun auch da bist.“

Natürlich gab es Gelächter. Somit hatte Jens auch an diesem Morgen schon seinen Beitrag zur Belustigung der Klasse geleistet. Aber so richtig anwesend war er wohl doch nicht. Sofort weilten seine Gedanken wieder woanders. Sein Blick ging aus dem Fenster zum Schulpark hinaus. Es verwirrte ihn, was er dort sah. Quer über den Schulhof, zum Park hin, spazierte das Mädchen mit dem großen, grauen Hund, das er an der Kreuzung gesehen hatte. Jens verfolgte den Weg der beiden mit den Augen, und je länger er ihnen zusah, desto bekannter erschienen sie ihm. Da hörte er die Lehrerin seinen Namen rufen.

„Worüber haben wir gestern im Unterricht gesprochen?“, fragte sie ihn und rückte sich erwartungsvoll an ihrem Tisch zurecht. „Bitte!“

„Das Märchen vom Rotkäppchen“, schoss es aus Jens wie aus einer Pistole heraus.

Ein Kichern ging durch die Bankreihen.

„Über die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, die bekanntesten Sammler deutscher Volksmärchen …“, berichtigte die Lehrerin, wie gewohnt mit piepsiger Stimme.

„Ja!“, unterbrach Jens sie. „Und ich habe dazu eine Frage: Wovon handelt eigentlich Rotkäppchens Märchen? Es will mir schon seit heute Morgen nicht einfallen.“

„Was für ein Rotkäppchen? Wovon sprichst du? Ich kenne solch ein Märchen nicht. Oder ihr vielleicht, Kinder?“

Wieder Gekicher. Die Lehrerin sah die Schüler an, die starrten auf Jens, und er überlegte, was er nur so besonders Dummes von sich gegeben hatte.

Oh, wie er diese Augenblicke hasste - blamiert vor allen, dem Gespött der Klasse preisgegeben. Wenn er doch tot umfallen könnte! Er stand mit gesenktem Kopf. Die Zeit kroch wie eine Schnecke. Da berührte ihn eine liebevolle Hand - Annes Hand. Mit mitleidigen Augen sah seine Banknachbarin ihn an und schämte sich für die andren. Darauf erhob sie sich von ihrem Platz und sagte entschlossen: „Ich kenne das Märchen.“

„Dann werdet ihr beide es uns morgen erzählen!“, bestimmte die Lehrerin. Sie war froh über ihren Einfall. Dadurch hatte sie Zeit gewonnen. Sie war sich nicht sicher, ob sie das Märchen kannte oder nicht.

Jens schaute Anne dankbar an. Er war froh, in ihr eine Freundin in der Klasse zu haben.

Dann war große Pause. Die Mathematikarbeit war überstanden. Lehrer Kluge hatte die Arbeit, von allen unerwartet, leicht gemacht. Jetzt wollte Jens endlich wissen, wovon das Märchen vom Rotkäppchen handelte. Er suchte darum Anne auf dem Schulhof, denn sie hatte vor ihm das Klassenzimmer verlassen, konnte sie aber nicht finden. Er fragte auch einige Mitschüler, doch keiner wusste, wo sie war. Die Pause ging zu Ende, da sah er, wie Anne von einem ganz in Schwarz gekleideten Mann an der Hand hinterhergezerrt wurde. Jens rannte, so schnell er konnte, um ihr zu helfen. Aber bevor er die beiden erreichte, waren sie im Schulpark hinter einem großen Stein - einem Findling aus der Eiszeit - verschwunden. Spurlos verschwunden, im wahrsten Sinne des Wortes.

Das konnte nicht sein, dachte Jens. Niemand konnte so einfach verschwinden, der Park war umzäunt. Er musste sich getäuscht haben, obwohl der schwarzgekleidete Mann ihm bekannt vorkam. Als er dann ins Klassenzimmer zurückkam und der Platz neben ihm verwaist blieb, stand für ihn fest: Es musste etwas passiert sein! Auch wenn Frau Putzig erklärte, dass Anne von ihrem Onkel abgeholt wurde. Er fand Annes Schultasche unter der Bank. Nie hätte sie ihre Schulsachen zurückgelassen. Ratlos saß er auf seinem Platz.

Die Musikstunde begann. Ein fröhliches Lied der Schüler erfüllte den Raum. Frau Sängerling, die Musiklehrerin, schlug dazu den Takt mit einem Lineal auf den Lehrertisch und ließ ihre schöne Stimme durch die geöffneten Fenster weit in den Schulhof hinaus schallen. Sie war früher Sängerin in einem Opernchor gewesen. Auch heute würde sie einen Ausschnitt aus einer Oper präsentieren; sie hatte dazu einen CD-Player mitgebracht. Wie stets konnten die Schüler auf einen Spaß hoffen. Denn wenn ihre gute Musiklehrerin vom Zauber der Musik gepackt wurde, konnte sie nicht anders, als kräftig mitzuträllern. Doch Jens rührte das wenig. Er überlegte, ob er es der Lehrerin und den Kindern erklären sollte, was er wegen Anne befürchtete.

Als die Musikstunde fast zu Ende war, wurde Jens durch etwas von draußen von seinen Grübeleien abgelenkt. Er hörte einen Hund jaulen. Wahrscheinlich missfiel dem Tier der Gesang der Lehrerin. Jens schaute aus dem Fenster. Da saß der graue Hund des Mädchens mitten auf dem Schulhof und heulte jämmerlich. Das Mädchen selbst stand abseits und winkte jemandem. Aber niemand war weit und breit zu sehen.

Jens konnte die Zeichen nicht sofort deuten. Als jedoch der Hund sich erhob, die Hand des Mädchens in sein Maul nahm und es hinter sich herzog, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Ihm galten die Zeichen. Vielleicht wusste das Mädchen etwas von Annes Verschwinden? Er winkte ihnen zu. Der Hund und das Mädchen schauten zum Klassenfenster hinauf und warteten.

„Es ist schon merkwürdig“, dachte Jens. „Hier zur Schule geht sie nicht und spaziert mit ihrem Hund herum. Noch dazu mit so einem großen, furchterregenden.“ Während er das Mädchen in seinem roten Kleid mit der weißen Schürze und der hübschen roten Kappe auf dem Kopf betrachtete, war ihm so, als kannten sie sich schon seit langer Zeit.

Jens konnte das Ende des Unterrichts kaum abwarten. Gleich nach dem Ertönen des Pausenzeichens griff er seine Schulsachen, warf sie in seinen Rucksack und rannte mit dem Rucksack in der Hand zum Erstaunen der Lehrerin einfach aus dem Klassenraum. Zum Glück war es die letzte Stunde gewesen. Auf dem Schulhof ging er langsam auf das Mädchen und den Hund zu.

„Komm nur näher, Jens!“, bat das Mädchen. „Du brauchst keine Angst zu haben.“

Wie auf Befehl wich das Tier von der Seite des Mädchens und legte sich ein Stück entfernt auf den Erdboden. Doch seine Augen waren weiterhin auf den Jungen gerichtet.

„Woher kennst du meinen Namen?“, fragte Jens verwundert und legte seinen Rucksack auf den Boden neben sich ab. „Wer bist du?“

„Du kennst mich, du weißt es nur nicht“, antwortete das Mädchen. „Ich darf dir aber nicht sagen, wer ich bin. Du musst es raten. Es ist nicht schwer. Sieh genau hin! Ich habe auch ein Körbchen mit einer Flasche roten Wein und Kuchen dabei.“

Jens blickte ratlos.

„Etwas kann ich dir noch verraten: Meine Kappe, das Tier, der Korb und die Blumen hier“ - das Mädchen zeigte auf einen Strauß Waldblumen – „das alles gehört zusammen. Kann dir was über meinen Namen sagen. Und den musst du jetzt sofort sagen, sonst wirst du Anne nie wiedersehen!“

Jens schwirrte es im Kopf. Ein Rätsel sollte er lösen. Noch dazu ein schweres, obwohl er schlecht im Raten war. Davon würde Annes Leben abhängen. Hilflos blickte er sich um. Noch immer war niemand anders auf dem Schulhof. Es hatte doch zur Pause geläutet? Wo blieben nur die anderen Mitschüler? Warum kamen sie nicht aus dem Schulgebäude, um nach Hause zu gehen? Warum war denn keiner da, der ihm half? Stand denn die Zeit still? Solche Gedanken kamen ihm in den Sinn. Er wurde nervös. Die Hände fingen an zu zittern. Sein Herz pochte wie ein Presslufthammer. Er sah den traurig fragenden Blick des Mädchens, die großen, lauernden Augen des Tieres. Ihm musste was einfallen.

Da war auf einmal der Gedanke, die Frage, die zur Lösung führte: Warum war er überhaupt hier? - Annes wegen. Da wusste er, wer das Mädchen vor ihm war. Und er erschrak zugleich, weil er erkannte, dass der angebliche Hund, der böse, graue Wolf war. Unwillkürlich tat er einige Schritte zurück, was das Mädchen freudig bemerkte.

Jubelnd stellte es den Korb beiseite, lief auf ihn zu und umarmte ihn. „Sag´ es laut, Jens! Schrei es raus, wer ich bin!“ Das Mädchen weinte vor Glück.

„Du bist Rotkäppchen, und das …“, Jens versagte die Stimme vor Schreck, „das ... das ist der böse Wolf!“ Er schrie vor Entsetzen auf, denn der Wolf kam auf ihn zu. Jens versuchte, sich aus Rotkäppchens Umarmung zu lösen.

„Hab´ keine Angst! Er tut dir ganz bestimmt nichts.“ Rotkäppchen wies das Tier auf seinen Platz zurück, und Jens beruhigte sich.

„Wir sind gekommen, weil du unsere Hilfe brauchst“, sprach Rotkäppchen weiter. „Und wir brauchen deine. Anne ist von einem Zauberer ins Märchenland entführt worden. Derselbe, der uns daraus verjagt hat. Er hat es getan, weil alle mein Märchen kennen. Nur ihn kennt niemand. Mit der Hilfe der alten Märchenhexe hat er es geschafft, dass sich niemand mehr an mein Märchen erinnern kann. Er hat es weggezaubert. Es ist aus allen Büchern verschwunden. Nur im Großen Märchenbuch, das sich im Märchenschloss befindet, steht es noch geschrieben. Du bist jetzt der Einzige, der sich an mein Märchen erinnern kann ...“

„Nein, auch Anne!“, unterbrach Jens das Rotkäppchen.

„Oh nein! Anne kennt das Märchen auch nicht. Sie wollte dir nur helfen. Als deine Freundin hat sie gesagt, dass sie es kennt. Und nur weil sie es gesagt hat, hat der Zauberer sie entführt. Du kannst sie nur befreien, Jens, wenn du dich auch von ihm fangen lässt. Nur so kommst du ins Märchenland!“

Jens erschrak.

„Wenn du alles machst, was ich dir sage, dann wirst du sie befreien können. Aber du musst mutig sein und dich vor dem Zauberer und der Hexe in Acht nehmen.“

„Ich werde Anne aus der Gewalt des Zauberers befreien!“, erklärte Jens entschlossen.

„Dann pass jetzt auf, was ich dir sage! Gleich werden deine Mitschüler nach Hause gehen. Sie wurden von eurer Lehrerin noch aufgehalten. Du wirst zu ihnen gehen und erklären, dass dir mein Märchen wieder eingefallen ist. Und sage auch, dass du es morgen erzählen wirst. Sie werden vielleicht darüber lachen. Mach dir nichts draus! Wichtig ist, du sagst es laut, damit es alle hören können. Dann hört es auch der Zauberer. Er wird bestimmt zu dir kommen und dich mit seinem schwarzen Zaubermantel entführen. Glaub´ mir, einen anderen Weg gibt es nicht!

Leider können wir nicht mit dir kommen. Der Wolf und ich, wir dürfen das Märchenland erst dann betreten, wenn unser Märchen wieder bekannt ist. Der Zauberer wird dich sicherlich in sein Zauberschloss bringen. Dort wird er auch Anne gefangen halten. Mit diesem Zauberring, den ich von der weisen Waldfee bekommen habe“ - Rotkäppchen zog einen goldenen Ring vom Finger – „mit seiner Hilfe kannst du dich unsichtbar machen. Du wirst ihn bestimmt bei Annes Befreiung gebrauchen können. Man muss ihn nur drehen!“

Jens nahm den Ring und steckte ihn an den kleinen Finger seiner linken Hand.

„Hast du´s geschafft, dann eile mit Anne in den Märchenwald! Auf einer Lichtung steht eine sehr alte Eiche. Ihr findet sie bestimmt. Müsst nur immer der Landstraße durch den Märchenwald folgen. Dort lebt die Waldfee Tausendschön. Klopfe dreimal mit dem Ring an den Stamm des Baumes und rufe ihren Namen! Sie wird euch beiden weiterhelfen … auch auf eurem weiteren Weg zum Märchenschloss. Denn ich bitte dich, Jens, mir auch zu helfen! Im Schloss liegt das Große Märchenbuch. Darin sind alle Märchen aufgeschrieben. Es ist durch sieben goldene Schlösser verschlossen, damit keine böse Hand heran kann. Aber keine Sorge, es öffnet sich von selbst, wenn du ein guter Mensch bist. Suche mein Märchen, lies es, reiße danach die Seiten heraus und bring sie mit …“

„Aber so was macht man doch nicht!“, meinte Jens entrüstet.

„Du kannst es ruhig machen. Es schadet dem Buch nicht ...“

Jens wurde ungeduldig. „Gut, ich habe also Anne befreit und die Seiten für dich herausgerissen“, unterbrach er das Rotkäppchen. „Was dann? Wie komme ich … und natürlich auch Anne … wie kommen wir beide wieder zurück? Der Zauberer wird uns wohl kaum dabei helfen.“

„Natürlich nicht! Du musst mich ausreden lassen!“ Rotkäppchen war verstimmt. „Dazu braucht ihr den Fliegenden Koffer. Du findest ihn neben anderen Wunderdingen im selben Raum, wo sich das Märchenbuch befindet. Aber rühre bitte die anderen Sachen nicht an! Nimm nur den Koffer, öffne ihn und setzt euch hinein! Dann sprich die Worte: Koffer flieg und bringe uns zu Rotkäppchen! Ich werde hier auf dem Schulhof auf euch warten.“

Jens hatte Rotkäppchen die ganze Zeit aufmerksam zugehört. So bemerkte er nicht, dass der Wolf seinen Liegeplatz verlassen hatte und hinter ihm stand. Als der Wolf ihm dann noch die Hand leckte, erschrak Jens so sehr, dass er zitterte. Weil er aber keinen Grimm in den Augen des Tieres sah, fasste er Mut und kraulte ihm das Fell.

„Noch etwas musst du beachten!“, sprach Rotkäppchen weiter. „Das Märchenschloss gehört Dornröschen. Zurzeit versperrt eine hohe Dornenhecke den Zugang, weil alle schlafen. Um ins Schloss zu kommen, musst du dir den Zauberspruch von der Waldfee sagen lassen. Wecke bitte keinen auf! Die hundert Jahre Schlaf sind noch nicht um. Der Prinz wird die Prinzessin erst in zwölf Jahren aufwecken.“

„Du kannst dich auf mich verlassen“, sagte Jens. „Das ist doch selbstverständlich!“

„Es kann euch viel passieren im Märchenland. Besonders nach der Flucht aus dem Zauberschloss werden der Zauberer und die Märchenhexe alles versuchen, damit ihr nicht ans Märchenbuch kommt. Ich warne dich nochmals: Es ist gefährlich! Pass auf! Gerade weil es gefährlich ist, würde ich gern mitkommen. Trotzdem darfst du dich nicht in den Ablauf der Märchen einmischen!“

Jens spürte den Ernst der Worte und schwieg.

Rotkäppchen hob den Korb vom Boden auf, rief den Wolf und sagte: „Ich gehe jetzt. Es ist Zeit. Gleich kommen deine Klassenkameraden. Gib mir deinen Rucksack! Er stört nur. Und mach alles so, wie ich´s dir gesagt habe! Viel Glück!“

Rotkäppchen gab dem Wolf den Rucksack in seinen Rachen. Der hielt ihn mit den scharfen Zähnen. Dann verließen beide den Schulhof.

Jens Klassenkameraden kamen aus dem Schulgebäude. Er ging auf sie zu und stellte sich ihnen in den Weg. „Ich kenne das Märchen vom Rotkäppchen und werde es euch morgen erzählen!“, rief er. Seine Klassenkameraden lachten. Dann waren sie im nächsten Augenblick verschwunden und neben ihm stand der Zauberer. Jens schloss die Augen - das machte er immer, wenn er sich fürchtete. Der Zauberer warf seinen Mantel über ihn. Alles Weitere geschah, wie es Rotkäppchen vorhergesagt hatte.

Hilfe für Rotkäppchen

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