Читать книгу Aufstand in Berlin - Heinz-Joachim Simon - Страница 5
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Der Vogel kreiste über dem Tal. Es war ein großer schwarzer Vogel. Ruhig, beinahe ohne Flügelschlag zog er seine Kreise. Den Menschen unten war er vertraut; sie hatten ihn in ihr Herz geschlossen und oft sprachen sie voller Bewunderung von seiner Kraft und seiner Größe. Er war der letzte Milan in dieser Gegend. Er war schon alt und um seine Kraft war es längst nicht mehr so gut bestellt, wie die Leute glaubten. Doch was ihm durch das Alter an Kraft und Geschicklichkeit abging, machte seine Erfahrung mehr als wett. Eines Tages kamen sie mit Planierraupen, Baggern und Lastwagen in sein Tal. Immer öfter wurde der Vogel gestört und immer höher musste er fliegen, um dem Gestank und dem Lärm zu entfliehen.
Monate später erkletterten Kinder einen großen Baum am Rande der Straße. Dort, in einer Astgabel, fanden sie einen großen verwesten Vogel. Nur das prächtige Federkleid erinnerte an den Milan, der einst über dem Tal gekreist war. Die Kinder warfen den toten Vogel in hohem Bogen vom Baum herunter und noch einmal breiteten sich die Schwingen des Vogels aus, ehe sie das herbstliche Gras berührten. Noch immer konnte er fliegen.
Damals wohnte er noch in einem Haus, das auf einem Hügel allein am Rande des Grunewalds stand. Das große weiße Haus mit dem gepflegten Rasen kannte jeder in der Gegend und sonntags blieben die Spaziergänger vor der Villa stehen und sahen bewundernd auf die schier endlose Grünfläche und die Terrasse mit dem Swimmingpool und die Säulen der Veranda. Mit Hochachtung und mit ein wenig Neid sahen die Menschen auf das Haus des Eugen Singer.
Er hatte es geerbt. Dies und anderes, was ihn als reichen Mann auswies und doch nur ein Bruchteil dessen war, was die Singers einst besessen hatten. Es war das Erbe seiner Mutter, die in einer Anstalt dahin dämmerte, bis sie starb. Er hatte sie nie kennen gelernt. Er wusste nur, dass sie ihren Bruder umgebracht hatte und die Geschichte ein dunkles Geheimnis der Singers war. Aber von seiner Mutter hatte er nichts dazu erfahren. Selbst von seinem Onkel nicht, dem alten Michael Singer, der ihm die Eltern ersetzt hatte. Alle wähnten Eugen Singer glücklich und reich und mächtig. Und als Vorstand der Singerwerke mit den Stahlwerken, Gruben, Kaufhäusern, Gütern und anderen Unternehmungen, war diese Annahme mehr als verständlich. Doch er besaß nur ein kleines Aktienpaket. Der Name war es, der ihm den Vorstandsposten eingebracht hatte und – trotz der fast sprichwörtlichen Zurückhaltung – der Einfluss des alten Michael Singer, der auf seinem Gut Ritschen bei Neuruppin auf den Tod wartete.
In letzter Zeit liefen die Geschäfte nicht ganz so gut und der Aufsichtsrat war mit ihm unzufrieden und die Aktionäre verlangten nach einer aggressiveren Geschäftspolitik. Die alten Werte des Michael Singer galten nicht mehr und er war nun zu alt, um Eugen zu unterstützen und wohl auch zu gleichgültig, sich jetzt noch um das Erbe der Singers zu kümmern.
Seit einiger Zeit hatte sich bei Eugen Singer der Eindruck verstärkt, dass sich gegen ihn etwas zusammenbraute. Über sich selbst erstaunt, stellte er fest, dass es ihm gleichgültig war. Er war nun in den Fünfzigern, was man ihm nicht ansah, da er sich eine leutselige Art bewahrt hatte, und die Frauen nannten ihn charmant, was mit seiner Eloquenz, seinem
Optimismus, der distinguierten Erscheinung und dem leichten Grau seiner Schläfen zu tun hatte. Singer war, obwohl er sich dessen nicht bewusst war, ein Frauentyp, jedenfalls für die Frauen, die einen Mann nicht nach einem Waschbrettbauch und den Erwähnungen in den einschlägigen Glamourmagazinen beurteilen.
Es geschah in jenem Jahr, als ein durchaus fähiger und tatkräftiger Regierungschef von der Presse aus dem Amt geschrieben wurde und nun eine Frau die Regierung übernahm. Diese machte ihr Geschäft nicht so schlecht, wie alle erwartet hatten. Die Presse lobte sie anfangs sehr. Was bei dem alten Regierungschef Proteste ausgelöst hätte, wurde nun als sachlicher Regierungsstil gepriesen und man war mit der Kritik sehr zurückhaltend. Die Fußballweltmeisterschaft fand in dem Land statt und die Bürger feierten sich selbst und die paar verunglückten Reformen fanden wenig Beachtung. Noch immer gab es über vier Millionen Arbeitslose. Die Presseverlautbarungen der Konzerne verkündeten in wohlbegründeten Worten, dass Entlassungen unumgänglich wären, damit Deutschland weiter wettbewerbsfähig blieb. Die Aktienkurse stiegen daraufhin kräftig und niemand schien etwas dabei zu finden, dass die Wertsteigerungen mit Leid, Angst und Verzweiflung in Verbindung standen.
An einem sonnigen Herbsttag wurde Eugen Singer bewusst, dass hinter seiner Gleichgültigkeit mehr steckte: eine tiefgehende Unzufriedenheit über das, was er geworden war und was von ihm verlangt wurde. Am Anfang war es nur eine Ahnung, dass dies mit dem zu tun haben könnte, was ihm in seiner Jugend einmal als wichtig erschienen war. In seinen jungen Jahren war alles einfach gewesen und er hatte gewusst, worum es wirklich ging und was getan werden musste und dass man zwar Angst haben durfte, aber diese zu überwinden dazu gehörte. Damals war es für ihn selbstverständlich gewesen, dass sich das Dasein damit erklärte, zu Träumen unterwegs zu sein. Er war ein Achtundsechziger. Vor dem Schöneberger Rathaus hatte er einen Wasserstrahl auf das Ohr bekommen, was ihn auf der linken Seite das Gehör gekostet hatte, so dass er sich noch jetzt bei Konferenzen so setzen musste, dass er alle Teilnehmer zur Rechten hatte. Damals, als die Rolling Stones „Street Fighting Man“ sangen, war der Verlust des Trommelfells eine Auszeichnung gewesen, der Tribut dafür, dass man für das eintrat, was man für richtig hielt. Es war eine Menge Schwärmerei und Unsinn dabei gewesen und manche Torheit – aber einige Träume hatten sich verwirklichen lassen. Wenigstens den Mief aus der Nazizeit hatten sie vertreiben können. Wie der ehemalige Außenminister des alten Regierungschefs konnte er von sich sagen, dass er ein „Rock’n Roller“ war. Doch dies bedeutete nichts mehr, war nur von Erinnerungen begleitet an das „Big Apple“ in der Spichernstraße, an die „Badewanne“ und das gute alte „Riverboat“ am Fehrbelliner Platz, die damals die Tempel einer neuen Zeit waren. Heute war das nur noch Nostalgie. Die Presse, nun von jüngeren Redakteuren besetzt, nannte die Achtundsechziger Schwärmer und sie gab ihnen die Schuld am Zustand der Republik, woran manches stimmte, aber die positiven Auswirkungen außer Acht ließ.
Gefühle der Unzufriedenheit über den Sinn seiner Arbeit hatte er in letzter Zeit öfter gehabt und dies darauf zurückgeführt, dass das Geschäft härter geworden war und die Zeiten vorbei zu sein schienen, in denen ein Absatzrekord den anderen ablöste. Bisher hatte er die trüben Gedanken immer beiseitegeschoben und weiter gemacht. Er glaubte bis dahin, dass es keine Alternative zum Weitermachen gab. Bis zu diesem Herbsttag hatte er dies geglaubt.
Später dachte er oft an jenen Augenblick, als er aus dem Grunewald zur Stadtmitte fuhr. Es war ein schöner Herbsttag, und die Blätter der Bäume hatten sich bereits verfärbt und waren der Abgesang auf einen heißen Sommer, den man einen Jahrhundertsommer nannte. Aber die Meteorologen sprachen bereits davon, dass wegen der Erderwärmung viele solcher Sommer folgen würden. Zum ersten Mal hatte er keine Freude daran, wie gut sein Wagen beschleunigte. Es war ein gutes Auto mit allem Komfort und einem Motor, der in Fachkreisen als Meisterstück deutscher Ingenieurkunst gepriesen wurde und mehr Pferdestärken hatte und schneller beschleunigte, als notwendig war. Das dunkelblaue Coupé mit den hellen Ledersitzen und dem Stern vor der Motorhaube entsprach seiner Bedeutung als Vorsitzender des Singerkonzerns. Aber Singer wusste, dass dies nur ein trügerisches Abzeichen geliehener Macht war.
Während er an der Siegessäule vorbei auf das Brandenburger Tor zufuhr, grübelte er darüber, was an diesem Tag anders war. Er kam zu keinem Ergebnis. Automatisch beschleunigte Singer, überholte einige Busse und reihte sich wieder in die allmorgendliche Autoschlange ein. Singer brauchte nicht sehr Acht zu geben. Er kannte jede Kurve, jede Kreuzung, jede Unebenheit der Straßen in der Stadtmitte. Oben am Himmel zog ein Flugzeug Warteschleifen über der Stadt. Es war alles so wie an den vorangegangenen Tagen. Auch nachher, in seinem exklusiven Penthausbüro am Gendarmenmarkt erwartete ihn nichts, was von einem normalen Arbeitstag abweichen würde.
Seine Sekretärin würde ihn freundlich lächelnd empfangen und den Kaffee und die Akten bringen. Vielleicht würde sie ein paar Worte über das gestrige Fernsehprogramm verlieren, um danach mit ihm die Post durchzugehen. Oh ja, er hatte alle Tribute eines wichtigen Mannes. Das Büro hatte ein bekannter Innenarchitekt eingerichtet und an den Wänden hingen Bilder von Kandinsky und Kokoschka. Die Möbel waren vom Bauhausstil beeinflusst und nüchtern genug, um eine kühle sachliche Atmosphäre zu vermitteln. Er wusste, dass er viele Neider hatte. Aber noch schützte ihn sein Name und mehr noch … der Einfluss des Konsuls, seines Schwiegervaters.
Auch seine Frau gehörte einer mächtigen Industriedynastie an und das Haus im Grunewald war mit ihrem Geld renoviert worden. Von dem Reichtum, den man Eugen Singer zuschrieb, gehörte ihm persönlich nur das kleine Aktienpaket des Singerkonzerns, das trotz des schlechten Kurses immer noch einige Millionen wert war. Helen dagegen konnte sich mit ihren Aktien, die ein Vermögensverwalter betreute, als eine der reichsten Frauen der Republik bezeichnen. Zum Glück war dies aber nur Eingeweihten bekannt. Den wirklich Reichen des Landes, die sich hinter hohen Mauern verbargen und genug Macht hatten, dass selbst die Presse sich zurückhielt, da deren Eigentümer auch zu dem illustren Kreis der Reichen zählten und man gute Freunde und Bekannte natürlich vor zu großer Publizität schützte.
Eine bleierne Schwere der Glückseligkeit lag über dem Land. Die Menschen wollten den Zustand ihres Landes nicht wahr haben und verdrängten die Furcht und die Erkenntnis, dass sie auf Kosten ihrer Kinder lebten. In der Hauptstadt löste ein Event das andere ab.
Eugen Singer wusste, dass ihn unangenehme Nachrichten erwarteten, aber dies war nicht der eigentliche Grund seiner Unzufriedenheit, es war grundsätzlicher. Er würde zwar wieder einmal dem Aufsichtsrat melden müssen, dass sich die gesteckten Ziele nicht erreichen ließen. Zum Teufel damit, dachte er. Sie wissen doch, dass die Inder bei gleicher Qualität billiger Stahl produzieren können. Aber nicht dies Eingeständnis beschäftigte ihn. An diesem Morgen entdeckte er, dass ihm dieser Ärger gleichgültig war. Das war es, was ihn beunruhigte.
Vor ihm leuchteten Bremslichter auf. Eugen Singer nahm das Gas zurück und trat leicht auf die Bremse. An anderen Tagen hätte er sich gefreut, wie mühelos sich der Wagen fahren ließ. Helen hatte ihm das Auto zu seinem Fünfzigsten geschenkt. Singer fiel nun die Verabredung ein, die er heute mit dem Einkaufschef eines Automobilkonzerns hatte. Sie wollten sich im Adlon zu einem Arbeitsessen zusammensetzen. Er war ein wichtiger Kunde, und wenn Singer ihn überzeugen konnte und dieser ihn im Preis nicht zu sehr drückte, konnte er das vorgegebene Umsatzziel des Quartals doch noch erreichen. Doch den Zuschlag würde er nicht wegen eines guten Abendessens erhalten, sondern er würde den Einkaufschef mit einigen hunderttausend Euro auf ein Konto auf den Bahamas schmieren müssen und vielleicht noch mit einer Reise auf der „Seemöwe“, einem Luxussegelschiff, das der Singerkonzern in der Karibik für die Pflege von Geschäftsbeziehungen bereithielt.
Eugen Singer seufzte. Ohne „Bakschisch“ lief nichts mehr in diesem Land. Nicht nur Baukonzerne pflegten Aufträge über Zuwendungen an Entscheidungsträger hereinzuholen. Jeder tat es. Jedenfalls fast jeder. Das Land war korrupt geworden. Wir haben alle Speck angesetzt und dies hat uns verdorben, dachte er und tastete nach seinem Bauch, mit dem er eigentlich ganz zufrieden war. Sonst war er vor solchen Gesprächen immer etwas aufgeregt. Nicht so sehr, dass man es ihm angemerkt hätte. Der Druck in der Magengegend und das Kribbeln, das dann durch seinen Körper lief, hatten ihn immer erst so richtig in Schwung gebracht. Er spürte auch keine Freude darüber, wieder einmal im Adlon essen zu können. Dabei war er gern in dem Restaurant mit seiner mediterranen Atmosphäre und dem Ausblick auf den Pariser Platz, wenn sie dort nicht, wie zur Fußballweltmeisterschaft einen riesigen Fußball platziert hatten. Nicht nur das Essen war gut – insbesondere die Adlonente – sondern auch die Art, wie man als Gast behandelt wurde. Eugen Singer dachte an Henkel, den Servicechef. Henkel erinnerte ihn an einen alten kriegserfahrenen Offizier. Jemand, der genau wusste was zu tun war, der auf jedes überraschende Ereignis mit den richtigen Maßnahmen antworten und eine Panne in der Küche, was selten genug vorkam, in einen erneuten Beweis exzellenter Dienstbereitschaft und Wertschätzung des Gastes verwandeln konnte.
Eugen Singer sah den drahtigen Mann mit dem kurzen Bürstenhaarschnitt und den scharfen energischen Gesichtszügen vor sich. Henkel konnte seinen Gästen das Gefühl vermitteln, dass es wichtig war, alle Sorgfalt auf Auswahl und Zusammenstellung der Gerichte zu legen, auf die Wahl des passenden Weines und dass das Wissen darum ein Zeichen von Kultur war.
Eugen Singer fuhr nun am Brandenburger Tor und der Baustelle der amerikanischen Botschaft vorbei und bog in die Behrenstraße ein. Man meldete Verkehrstaus in Charlottenburg. Eigentlich war alles so wie immer. Nur dieses bohrende Gefühl und die Gleichgültigkeit hinsichtlich der Dinge, die ihm als Vorstandsvorsitzender nicht unwichtig sein durften, waren beunruhigend und neu und verwirrend. Aber seltsamerweise wünschte er sich nicht, dass es anders wäre.
Er fuhr an der Komischen Oper vorbei und der Verkehr wurde immer dichter. Im Radio spielten sie „Strangers in the night“, einen uralten Hit von Frank Sinatra. Er dachte an die Zeit, als dieses Lied populär gewesen war. Alle trugen sie enge, auf den Leib geschneiderte Hosen, die an den Schenkeln spannten und unten ausgestellt waren und einen Schlag hatten, wie sie es nannten. Singer trug dazu stets einen roten Pullover und abends im „Big Apple“ hörten sie die Platten der Rolling Stones und Beatles und Kinks und wie diese trugen sie ihr Haar lang. „Satisfaction“, „Midnight Ramble“ und „The Last Time“, das waren die Songs, die sie wieder und wieder hörten. Er erinnerte sich noch, dass er die Wand in seinem Schlafzimmer mit Bildern aus „ …..denn sie wissen nicht, was sie tun“ tapeziert hatte. Damals hatte er sich immer Cowboystiefel gewünscht, wie sie James Dean in „Giganten“ trug. Singer lachte vor sich hin.
Nun bog er in den Gendarmenmarkt ein und erfreute sich wieder an den Proportionen des Platzes und grüßte zu dem Schalmeispieler auf dem Löwen hinüber. Er liebte den Platz und verteidigte ihn oft gegen Helens Ansichten, dass die Piazza Navona in Rom oder der Place Vendôme in Paris viel schöner seien. Für ihn war der Gendarmenmarkt sein Wohnzimmer und er ließ nichts auf seine Schönheit kommen.
Als er vor dem Haus Nummer 12 schräg gegenüber dem Schauspielhaus hielt, kam der Portier herausgelaufen. Singer stieg aus und nickte ihm zu. Der Portier, ein Angestellter seines Konzerns, würde den Wagen in die Garage fahren. Ohne die Touristen zu beachten, die neugierig der Wagenübergabe zugesehen hatten, ging er mit schnellen Schritten in die marmorverkleidete Halle des Hauses, das nach der Wende vom Singerkonzern gebaut worden war und dessen drei oberste Etagen die Verwaltung des Konzerns in Beschlag genommen hatte. Das Parterre war an Anwaltskanzleien vermietet worden. Das Singer–Domizil am Gendarmenmarkt beherbergte nur die Vorstandsetage mit den Büros der drei anderen Vorstände und eine gehörige Anzahl von Referenten und Sekretärinnen, die ihnen zuarbeiteten. Das Hauptbüro dagegen war in einem schäbig aussehenden Hochhaus aus der DDR–Zeit am Alexanderplatz.
Der zweite Portier begrüßte ihn mit einem fröhlichen „Guten Morgen“ und wünschte ihm einen guten Tag. Singer nickte ihm freundlich zu und ging zu dem Fahrstuhl, wo er beinahe mit Schmude zusammengeprallt wäre, der für die Auslandsmärkte in Südamerika zuständig war. Dieser stammelte einige Entschuldigungen und entkrampfte sich auch nicht, als Singer freundlich zurück grüßte und mit einem launigen Scherzwort die Schuld auf sich nahm. Verblüfft stellte Singer fest, dass der Mann Angst hatte. Bis dahin hatte er immer geglaubt, dass ihn seine Leute wegen seines bewusst verbindlichen und leutseligen Führungsstils schätzten. Er hatte immer die Ansicht vertreten, dass man auch ohne übertriebenen Druck die Mannschaft zu Höchstleistungen motivieren könne. Seinen kameradschaftlichen Ton hielt man im Konzern für amerikanischen Stil, und er war diesem Eindruck nie entgegen getreten. Aber in Wirklichkeit hatte sein Führungsstil überhaupt nichts mit der burschikosen und knochenharten Art amerikanischer Geschäftsleute zu tun, sondern entsprang seinem Sicherheitsgefühl. Die neue Sitte, dass sich alle in der Führungsmannschaft duzen, hatte er nicht eingeführt. Singer hatte es nie nötig gehabt, die Ellenbogen zu gebrauchen. Sein Name, das Geld und die Stellung des Schwiegervaters hatten ihn unangreifbar gemacht, und lange Zeit gingen die Geschäfte zur Zufriedenheit der Aktionäre und es hieß, dass er vom gleichen Schlag sei wie sein Großvater, den er genau so wenig kennengelernt hatte wie seinen Vater. Auch dies gehörte zu den düsteren Geheimnissen der Singerfamilie.
Als er die Tür zu seiner Büroflucht öffnete, sah seine Sekretärin hoch und lächelte ihn an. Jeden Morgen, wenn er das Büro betrat – meistens hatte sie dann schon eine Stunde gearbeitet und alles für die Besprechung mit ihm vorbereitet – wandte sie sich vom Computer ab, stand auf und nahm ihm, immer noch lächelnd, den blauen Sommermantel ab. Sie war eine gute Kraft. Mehr als das, sie war so etwas wie seine Stellvertreterin, obwohl es diesen Titel natürlich nicht gab. Die Abteilungsleiter hatten sie die „Graue Eminenz“ getauft, was treffend, aber nicht besonders originell war. Die Einkaufsleiter der Kunden schwärmten über den Charme und die Tüchtigkeit seiner Sekretärin. Wenn sie ein Mann gewesen wäre, hätte sie es sicher in den Vorstand geschafft. Aber in seiner Branche hielt man noch nicht viel von Emanzipation. In anderen Branchen kam eine neue Generation von Frauen sogar in die Führungsetagen.
Sie sah gut aus, fast zu gut, und er gestand sich ein, dass er die Art mochte, wie sie sich kleidete. Meistens trug sie elegante blaue oder dunkle Kostüme, die ihre schlanke Figur vorteilhaft zur Geltung brachten. Ihr Make–up war stets perfekt und nie hatte er sie die Haltung verlieren sehen. Einmal, bei einem Betriebsfest, war zwischen ihnen so etwas wie ein Flirt gewesen. Auf dem Parkplatz hatten sie sich geküßt. Doch mehr war nicht passiert, und am nächsten Tag hatten sie sich wie immer begrüßt und sie war Frau Kugler und er Herr Singer oder ganz einfach Chef. Weder sie noch er hatten je auf diesen Zwischenfall angespielt. Sie wussten beide, dass sie sich ihren Partner eigentlich anders vorstellten. Sie war ihm zu kühl, zu kontrolliert und er ihr zu weich und eloquent, zu sehr Sohn aus reichem Haus, dem man eine „gemähte Wiese“ anvertraut hatte und der nie für etwas hatte kämpfen müssen.
„Der Große Manitu hat angerufen. Er trifft in einer halben Stunde ein.“
„Er kommt hierher?“
„Ja. Ich habe alle Daten zusammengestellt und sie Ihnen auf den Schreibtisch gelegt. Sie sollten sich ein paar gute Argumente zurechtlegen. Wenn er die neuesten Zahlen hört, wird er nicht gerade in Begeisterung ausbrechen.“
„Warum kommt er selbst? Wir haben in vierzehn Tagen ohnehin Quartalskonferenz.“
Der Große Manitu war niemand geringerer als der Aufsichtsratsvorsitzende und damit sein Chef. Es war ungewöhnlich, dass er sich zu ihm bemühte. Das konnte nur Ärger bedeuten. Eugen Singer fühlte, dass nun das Kribbeln eintrat, das er am Morgen vermisst hatte.
„Nicht nur bei uns gehen die Zahlen zurück. Der gesamten Branche geht es schlecht! Wir haben zwar tonnenmäßig nachgelassen, aber unsere Konkurrenten haben noch mehr verloren, und so gesehen haben wir sogar Marktanteile in Europa gewonnen.“
„Sie haben einen guten Job gemacht. Keine Frage. Unsere Mitarbeiter haben sich tüchtig ins Zeug gelegt. Der Singersche Geist lebt noch“, pflichtete sie ihm bei.
Er wollte sich für ihre Loyalität bedanken, doch nach ihren nächsten Worten ließ er es lieber.
„Aber ich glaube nicht, dass Ihnen das beim Manitu viel helfen wird. Er kann es sich nicht leisten, auf die Marktsituation Rücksicht zu nehmen. Nicht mehr. Die Aktionäre üben Druck auf ihn aus. Stimmt es eigentlich, dass die Philadelphia Steel verstärkt Aktien der Singerwerke aufkauft?“
Sie hatte also auch davon erfahren. Natürlich, denn durch ihre Hände gingen schließlich die Zahlen der Kursentwicklungen. Auch dies gehörte zu den Sorgen, die sie sich im Vorstand machten. Bei ihrem schlechten Aktienkurs bestand die Gefahr einer feindlichen Übernahme. Sollte Philadelphia Steel tatsächlich die Aktienmehrheit bekommen, wovon sie glücklicherweise noch ein Stück entfernt waren, würden sie ihn gewiss vor die Tür setzen, zwar mit einer anständigen Abfindung, aber seinen Job wäre er los.
„So lange mein Onkel Michael Singer noch dreißig Prozent der Aktien hält und sein Stiefsohn Thomas fünfundzwanzig Prozent mache ich mir deswegen keine Sorgen. Doch was will unser Chef von uns?“
„Was Gutes sicher nicht. Aber Sie können ja ganz gut mit ihm, und vielleicht wird es auch nicht so schlimm. Er bekommt doch auch regelmäßig die Zahlen und weiß, wie es im Markt läuft.“
Es stimmte. Manitu mochte ihn beziehungsweise die Verbindungen, die Singer durch seinen Schwiegervater hatte. Manitu war der Vorstand einer der größten deutschen Banken und damit ein bedeutender Mann. Aber er gehörte nicht dem Kreis der wirklich Reichen an und diese sahen auf „neues Geld“ immer mit ein wenig Geringschätzung herab.
Singer ging nicht auf ihre optimistische Einschätzung ein, öffnete die Tür zu seinem Zimmer, setzte sich an den Schreibtisch und schaltete den Computer ein. Er wartete geduldig, bis die Daten erschienen, die ihm die neuesten Verkaufszahlen zeigten. Sie trat hinter ihn und beugte sich über seinen Rücken. Er roch ihr Parfum. Er kannte es. Es war Egoiste von Chanel, eigentlich ein Herrenduft. Sie wies mit ihrem Montblanc auf die Zahlenreihen.
„Das würde ich ihm zeigen und das hier. Sieht doch diesen Monat gar nicht so schlecht aus, und vielleicht klappt ja heute Mittag die Sache mit Kretschmann.“
„Dann schaffen wir das Plansoll für dieses Quartal. Kumuliert liegen wir aber immer noch fünfzehn Prozent unter Plan, wenn wir das Jahressoll erreichen sollen. Wir werden wohl doch noch Kurzarbeit anmelden müssen.“
Sie nickte kühl. „Ich habe Ihnen damals gesagt, dass ich die Einschätzung des Vorstands für sehr optimistisch halte.“
Ihr Vorwurf war berechtigt. Singer hatte am Anfang des Jahres die Marktentwicklung falsch eingeschätzt und Sollzahlen vorgegeben, die nun nicht zu erreichen waren, auf denen aber das gesamte Kostengefüge aufgebaut war. Er musste zugeben, dass er es trotz gewisser Anzeichen nicht hatte wahrhaben wollen, dass sie Schwierigkeiten bekommen würden. Es hätte bedeutet, dass tiefe Einschnitte ins Unternehmen erforderlich geworden wären. Es war bisher immer stolz darauf gewesen, nie Mitarbeiter entlassen zu müssen. Jedenfalls nicht wegen mangelnder Aufträge. Die Fehleinschätzung der Marktentwicklung konnte man ihm jetzt ankreiden.
Es würde ein hartes Gespräch werden und Singer überlegte, ob er dies geahnt hatte und deswegen so unzufrieden war. Aber eigentlich war er selbst jetzt, gemessen an dem, was ihn vielleicht vom Manitu erwartete, fast gelassen. Er sah die Unterlagen durch, die sie ihm bereit gelegt hatte. Aber er vermochte sich nicht darauf zu konzentrieren.
„Komisch, als wäre ich heute nicht ich selbst!“, sagte er halblaut vor sich hin. Seine Sekretärin, die gerade wieder zur Tür hereinkam, um ihm Kaffee nachzuschenken, sah ihn fragend und ein wenig besorgt an.
„Nichts. Es ist nichts!“, sagte er abwehrend zu ihr.
Sie lächelte verbindlich, und doch hatte er den Eindruck, als wolle sie ihm damit Mut machen.
Was sie wohl heute von mir denkt, fragte er sich, nachdem sie hinausgegangen war und stand auf und ging zum Schrank und öffnete ihn und sah sich in dem Spiegel an, der an der Innenseite der Tür angebracht war und rieb sich das Gesicht.
Eigentlich habe ich mich gut gehalten, dachte er. In den letzten beiden Jahren war er ein wenig fülliger geworden. Aber dies stand ihm gut, gab ihm etwas Gesetztes, etwas Vertrauenerweckendes. Singer hatte ein fleischiges Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen. Die durchdringenden grauen Augen unter der hohen Stirn wirkten energischer als er sich tatsächlich empfand. In dem dunkelblauen Anzug sah er sehr seriös und erfolgreich aus. Ein Herr. Das war aus ihm geworden. Dabei war es doch gar nicht so lange her, dass er mit langem Haar und engen schwarzen Hosen und einem knallroten Pullover ins „Zuntz“ zum Stelldichein gegangen war.