Читать книгу May und Jim - Heinz Monheim - Страница 3

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Mom’s Beerdigung

Ein schöner, warmer Spätsommertag lag über Washington, der Hauptstadt der USA. Es war Freitag, kurz vor 15:00 Uhr. May war in ihrem Büro im Penthouse des Cumberland-Towers, eines modernen Bürogebäudes in der Innenstadt. Die Sonne strahlte durch die geöffneten Fenster des Büros und ein angenehm trockener, sanfter Wind spielte leicht mit den ebenfalls weit geöffneten Vorhängen. Es war ein großes Büro, zu dem noch zwei kleinere Räume gehö­ren, in denen junge Anwälte saßen, die May bei ihrer Tätigkeit als Rechtsanwältin unterstützten. Dann ein Vorzimmer mit ihrer Sekretärin und ein Schreibzimmer in dem zwei Schreibkräfte die Computer bedienten. Die Einrichtung war modern und in hellen Farben gehal­ten. Trotzdem wirkten die Räume nicht kalt wie es in modernen Büros oft der Fall ist, sondern angenehm, ja fast gemütlich. An dieser positiven Wirkung hatten die, von May sehr sorgfältig ausgesuchten Teppiche und Bilder, einen großen Anteil. Außerdem standen überall frische Blumen und rundeten den guten Eindruck ab. Teuer und elegant war die Büroeinrichtung, und May, die hinter einem großen, mit Akten und Papieren belegten Schreibtisch saß, passte genau in dieses Ambiente. Das schwarze Kostüm, ein Modellkleid aus einer exklusiven Boutique, war von einer raffinierten Einfachheit, die ihre gute Figur sehr vorteilhaft betonte. Eine kostbare Brosche verhinderte, dass zuviel von ihrem aufregenden Busen zu sehen war. Der enge, ziemlich kurze Rock zeigte ihre schlanken Beine. Die hochhackigen, italie­nischen Designerschuhe, waren wie dafür gemacht um ihre formvollendeten Füße in das richtige Licht zu stellen. Außerdem machten sie May größer, was ihr half, sich in den Gerichtssälen, gegen die meist männlichen und in der Regel körperlich größeren Prozessteilnehmer, Respekt zu verschaffen. May war nicht mehr das hübsche Teenagergirl von damals, das mit seinem ju­gendlichen Charme und seiner unschuldigen Anmut Jims Herz im Sturm erobert hatte. Sie war zu einer wunderschönen Frau herangereift. Der man wirklich nicht ansah, dass sie schon bald 37 Jahre alt werden würde. Sie war auch heute noch schlank. Es war vielleicht nicht mehr die grazile Schlankheit von einst, aber die wenigen Pfunde die sie heute schwerer war, waren so an den rich­tigen Stellen verteilt, dass sie May zu einer begehrenswerten und verführerischen Frau machten. Das Gesicht hatte seine ebenmäßige Schönheit behalten. Die kleine gerade Nase, der Mund, mit den vollen naturroten Lippen, über dem schönen Kinn würden May als Europäerin ausweisen, wäre da nicht das Braun ihrer Haut. Dieses gleichmäßige helle Braun wie von Milchschokola­de. Diese Haut umhüllte noch immer makel- und faltenlos ihren ganzen Körper. Nur an den Augenwinkeln zeigten sich einige Lachfältchen, die May aber nur noch schöner machten. Die wohlgeformten Hände hatte sie um eine große Tasse gelegt. Die Beine weit ausgestreckt und den Körper lässig in den Sessel gestreckt, trank sie den heißen Kaffee mit kleinen Schlucken und saugte genießerisch sein Aroma durch die Nase ein. Sie liebte es nach einem anstrengenden Tag, bevor sie das Büro verließ, erst einmal bei einer guten Tasse Kaffe abzuschalten und sich auf die Freizeit vorzubereiten. Eine harte aber erfolgreiche Woche lag hinter ihr, und während ihre Augen durch das Zimmer streiften, stellte sich außer der Zufriedenheit die sie erfüllte, auch ein Gefühl des Stolzes ein. Sie konnte wirklich stolz darauf sein was sie in ihrem Leben geschafft hatte. Als sie damals vor 18 Jahren ihre große Jugendliebe Jim verlassen hatte, war sie vor Kummer und Sehnsucht fast zerbrochen. Um mit dieser, von ihr selbst gewollten, Situation fertig zu werden, hatte sie sich mit all ihrer Kraft in das unterbrochene Jurastudium gestürzt. Sie hatte keine Vorlesung ausgelassen und fast jeden Tag bis in die späte Nacht hinein gebüffelt und gelernt.

Als dann das von ihr heiß ersehnte und sorgfältig geplante Ereignis eintrat, war sie nicht mehr so allein und konnte die Zärtlichkeit die sie sonst mit heißem Herzen an Jim verschenkt hatte, an jemand weitergeben, der ja ein Teil des geliebten Mannes war. Sie bekam ein gesundes Mädchen dem sie den Namen Corinna gab. Sie lebte weiter bei ihren Eltern, die sich rührend um die Kleine kümmerten, wenn May auf der Universität war. Für May gab es jetzt nur noch ihr Baby und ihr Studium Sie bestand alle Zwischenexamen mit den besten Noten. Dann schaffte sie in Rekordzeit und mit besonderen Auszeichnungen ihre Anwaltsprüfung. Sofort nach Abschluss des Studiums trat sie in die Anwaltskanzlei „Brown and Brown“ ein. Es gab nur noch einem Brown in der Kanzlei und das war William Brown der das Unternehmen von seinem Vater übernommen hatte. Dieser William war ein guter Freund ihres Vaters. Sie kannte ihn schon so lange sie sich erinnern konnte. Sie nannte ihn Onkel Willy, denn er ging in ihrem Elternhaus aus und ein und hatte oft mit ihr gespielt. William hatte sofort dem Wunsch ihres Vaters entsprochen und sie eingestellt. Die Browns waren nun schon in der zweiten Genera­tion Experten im Wirtschaftsrecht. Als Farbige hatten sie oft genug erlebt wie man als Min­derheit belogen, betrogen und schamlos ausgebeutet wird. Sie vertraten nun, mit gutem Erfolgen, die geschäftlichen Interessen ihrer zumeist farbigen Klientel. Mays Einstellung betrachtete William als einen Pflichtdienst seinem Freund gegenüber. Aber er brauchte diesen Entschluss nie zu bereuen. Mit der gleichen Energie und dem großen Einsatz den sie im Studi­um aufgebracht hatte, stürzte sich May in die Arbeit. Sie lernte schnell, und bald war sie William eine große Hilfe. Es dauerte nicht lange, da durfte sie schon selbständig kleinere Fälle vertreten. Nach und nach wurde sie immer besser und irgendwann war sie dem alten Fuchs dann sogar überlegen. Der grämte sich nicht darüber, im Gegenteil es erfüllte ihn mit Stolz zu sehen wie May die Dinge verwertete die er ihr beigebracht hatte. Als sie etwa 10 Jahre bei William war, begab der sich in den Ruhestand und zog mit seiner Frau in seinen Alterswohnsitz in Florida. Mays Vater kaufte William die Kanzlei ab und überschrieb sie May als vorgezogenes Erbe. Sie hatte den Namen der Kanzlei beibehalten und in den Jahren in denen sie die Leitung hatte, den guten Ruf des Unternehmens gehalten, ja sogar noch verbessert. Sie führte jetzt eine der bekanntesten Wirtschaftskanzleien in der Stadt und ihre Kunden setzten sich längst nicht mehr nur aus Angehörigen der schwarzen Bevölkerungsschicht zusammen.

*

May war alleine geblieben, sie hatte nie geheiratet. In den ersten Jahren hatte sie gar keine Zeit einen Mann kennen zulernen. Da waren nur ihre kleine Tochter und das Studium wichtig für sie. Außerdem war die Erinnerung an Jim noch viel zu groß und ließ keinen Platz für eine neue Liebe. Später gab es schon einige Männer in ihrem Leben. Aber keiner von ihnen konnte Jim aus ihrem Herzen verdrängen, es waren nur mehr oder weniger große Abenteuer und Liebschaften für sie. Sie bewahrte sich immer ihre Freiheit. Wenn sie spürte, dass eine solche Verbindung zu eng wurde, beendete sie das Verhältnis schnell. Es waren auch einige leidenschaftliche Beziehungen in den vergangenen Jahren darunter gewesen. May war eine junge, temperamentvolle Frau deren Natur auch ihre Rechte verlangte. Aber nie war es so wie mit Jim, nie brach­ten ihr diese Liebesnächte die absolute Erfüllung und das Glück welches sie mit Jim erlebt hatte. Das hatte nicht seine Ursache in Potenz- oder Ausdauerleistungen, aber keiner ihrer Partner war so zärtlich und liebevoll zu ihr wie er. Vielleicht war aber auch der Grund darin zu suchen, dass sie keinen dieser Männer so sehr geliebt hatte wie sie einst Jim liebte. Seit mehr als vier Jahren war sie wieder mit einem Mann befreundet. Diese Beziehung unterschied sich deutlich von den vor­hergegangenen. Sie war auf eine ehrliche, echte Freundschaft von ihrer Seite aufgebaut. Sie glaubte manchmal ein tieferes Gefühl zu spüren, vielleicht sogar Liebe.

Edwin Miller, ein Farbiger, war ein bekannter Staatsanwalt. Sie hatte ihn bei mehreren Prozessen zum Gegner gehabt. Sie bewunderte die Brillanz seiner Plädoyers und empfand auch außerhalb des Berufslebens Sympathie für ihn. Sie hatten sich ein paar Mal zum Essen verabredet und so war nach und nach mehr aus ihrer Beziehung geworden. Edwin verehrte und liebte sie. Aber er bedrängte sie nicht mit seiner Liebe. Er ließ ihr die Freiheit die sie brauchte. Deshalb hatte diese Beziehung auch schon so lange Bestand. Edwin war nun 52 Jahre alt, er sah gut aus, woran auch das kleine Bäuchlein, welches er seit einiger Zeit hatte, nichts änderte. Er war immer gut und teuer gekleidet und wirkte gepflegt und elegant. Er verfügte über sehr gute Manieren und war ein geistreicher Plauderer. Wenn die beiden ausgingen, dann paarte sich Schönheit mit Eleganz, sie waren ein Paar, nach dem sich die Leute bewundernd umdrehten. Edwin verstand sich auch sehr gut mit Corinna, welche ihn ein wenig anschwärmte. Er hatte May schon mehrere Heiratsanträge gemacht und war dabei von Corinna unterstützt worden, die sich sehr nach einem Vater sehnte. May hatte bis jetzt immer abgelehnt und zu Edwin gesagt: „Warum sollen wir denn unser gewohntes Leben so verändern? Wir verstehen uns gut. Wir sind füreinander da wenn jemand Hilfe braucht und wem nach Alleinsein zumute ist, kann auch dies dem Partner mitteilen. Wenn wir heiraten und immer zusammenhängen, ist bald die Romantik dahin und der Alltagstrott zerstört das Prickelnde des immer neuen Wiedersehens.

Als May wieder einmal einen Antrag von Edwin abgelehnt hatte, sagte die damals 14 jährige Corinna zu dem Enttäuschten: „Sei nicht traurig Edwin, wenn Mama dich nicht will, dann heirate ich dich eben.“

Der hatte das Mädchen um die Taille gefasst, hatte sie hochgehoben und während er sie im Kreis durch die Luft schwenkte sagte er lachend: „Da musst du aber noch viele Sandwiches essen, jetzt bist du mir noch viel zu mager.“

So blieb es bis heute bei dem mehr oder weniger festen Verhältnis. Auch in sexuellen Dingen verstanden sich May und Edwin gut und sie erleb­ten von Zeit zu Zeit Stunden voll zärtlicher Leidenschaft.

Nun hatten beide nach längerer Zeit wieder einmal das gesamte Wochenende frei und sie hatten sich vorgenommen ab heute, zusammen mit Corinna, irgendetwas zu unternehmen. May hatte auf seine Frage, ob sie nicht etwas gemeinsam planen könnten, gleich erfreut zugestimmt und hatte zu ihm gesagt: „Au fein! Lass dir etwas Einfallen, du weißt ich lasse mich gerne überraschen.“

Sie freute sich sehr auf dieses Wochenende und das hatte vor allem seinen Grund darin, dass Edwin auch Corinna mit in seine Pläne einbezog. Sie liebte ihre Tochter sehr und freute sich über jedes gemeinsame Erlebnis. Sie hatten kein ausgesprochenes Mutter Tochter Verhältnis, sie waren vielmehr wie gute Freundinnen zueinander.

Ein Klopfen an der Tür holte May aus ihren Träumen. Ehe sie antwortete, stellte sie die fast geleerte Tasse ab, setzte sich gerade und schlug die Beine damenhaft übereinander. Auf ihre Aufforderung betrat ihre Sekretärin das Zimmer.

Margret Mitchell, war schon Williams Se­kretärin, sie war nun schon bald 40 Jahre in der Kanzlei und gehörte fast zum Inventar. May hatte sie gerne übernommen, denn sie war intelligent, fleißig und kannte den gesamten Betrieb wie keine zwei­te. Sie war darüber 58 Jahre alt geworden und May fürchtete jetzt schon den Tag an dem sie in Pension gehen würde, denn eine so gute Kraft war fast unersetzbar.

May, glaubte Margret wäre nur gekommen um sich zu verabschieden, doch dann bemerkte sie den ernsten Ausdruck im Gesicht der Frau. Sie sah, dass Margret ein Papier in den Händen hielt.

,,Was ist los Margret, du schaust so ernst und traurig, ist etwas unangenehmes passiert? Du willst mir doch nicht meine gute Stimmung davonjagen?"

Die Angesprochene nickte betrübt: ,,Ja May ich muss dir leider deine gute Stimmung nehmen, denn die Nachricht ist sehr traurig für dich." Sie trat zum Schreibtisch und reichte sie May das Telegrammformular welches sie in der Hand hielt.

Als May es las, füllen sich ihre Augen mit Tränen. „Mom, gute alte Mom“, flüsterte sie und ließ das Schriftstück sinken. Dann las sie sich den Text noch einmal mit leiser Stimme vor:

„Mom ist gestorben - Sie ist vergangene Nacht sanft entschlafen - die Beisetzung erfolgt am kommenden Sonn­tag - 9:oo Uhr - Fred Hunter“

„Mom, liebe - liebe Mom", flüsterte sie, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.

Margret versuchte May zu trösten. Sie setzte sich neben sie, legte ihr den Arm um die Schulter und sagte leise: ,,Es tut mir ja so leid für dich, aber einmal musste es ja kommen, sie war doch schon so alt."

,,Du hast ja recht Margret, aber wenn ein Mensch stirbt, den man sehr gerne hat, so ist das immer zu früh. Egal wie alt er schon ist. Mom nimmt sowieso einen besonderen Platz in mei­nem Herzen ein. Sie hat die schönste Zeit in meinem Leben, als meine Vertraute, miterlebt." Sie trocknete sich ihre Tränen und versuchte ihren Schmerz zu bewältigen. Als sie sich ein wenig gefasst hatte, sagte sie zu ihrer Sekretärin, die sich wieder erhoben hatte und abwartend vor ihr stehen geblieben war: ,,Margret, ich weiß, du willst in deinen verdienten Feierabend gehen, könntest du mir trotzdem noch etwas helfen?"

,,Das ist doch selbstverständlich, was kann ich denn für dich tun?"

,,Besorge mir für morgen Vormittag zwei Flugtickets nach Cedar City und bestelle mir dort einen Leihwa­gen. Am besten einen Jeep. Den Rückflug kannst du für Montag buchen. Lasse die Tickets auf dem Flugplatz für mich hinterlegen. Rufe mich bitte Zuhause an, wenn du alles erledigt hast, und teile mir die Abflugzeiten mit.“

Dann diktierte sie Margret noch wer von ihren Angestellten ihre Termine am kommenden Montag wahrnehmen sollte.

Während Margret hinaus ging um die erhaltenen Aufträge zu erledigen, brachte May ihr Make Up in Ordnung, ehe sie mit dem Lift hinunter in die Tiefgarage fuhr. Sie stieg in ihren Sportwagen und fädelte sich in den beginnenden Wochenendverkehr ein. Das schöne Wetter mit seinem strahlenden Sonnenschein bemerkte sie gar nicht mehr. In der knappen halben Stunde, die sie brauchte um aus der City hinaus zu kommen, verschleierten immer wieder Tränen ihren Blick. Dann bog sie vom Highway ab und fuhr nach Georgetown hinein. Georgetown war früher eine eigene Stadt und war bedeutend älter als Washington. Doch die immer größer werdende amerikanische Hauptstadt hatte sie längst verschluckt und nun war sie eingemeindet und ein Vorort von Washington geworden. Man hatte die Slums abgerissen und an deren Stelle vornehme Wohnviertel geschaffen. May hatte dort in einer guten Wohnlage ein kleines aber sehr schönes Haus, welches sie zusammen mit Corinna bewohnte.

*

Sicher steuerte May die geschwungene Einfahrt zu ihrem Grundstück hoch. Während sie den Wagen in der Garage einparkte, kam Corinna aus dem Haus und lief ihr entgegen. ,,Hallo Mammi, schön das du schon da bist. Edwin hat gerade angerufen, er ist in etwa einer Stunde hier und holt uns ab. Er will mit uns übers Wochenende hinaus fahren zu seinem Land­haus".

Dann hatte sie May erreicht. Sie erschrak, als sie sah in welchem Gemütszustand sich May befand. ,,Mammi wie siehst du denn aus? Bist du krank? Hast du geweint?", so kamen in schneller Reihenfolge ihre Fragen, als sie das traurige, verweinte Gesicht von May sah.

Die legte den Arm um Corinnas Taille": Komm, wir gehen erst mal in das Haus dann erkläre ich dir alles".

Im Haus angekommen, gingen die Frauen in das Wohnzimmer und setzten sich nebeneinander auf ein Sofa. Dort gab May Corinna das Telegramm. Nachdem das Mädchen es gelesen hat, legt sie ihren Kopf an Mays Schulter und flüstert traurig:" Unsere liebe alte Mom ist tot. Sie wird mir sehr fehlen. Wir haben so schöne Dinge in unseren Urlauben bei ihr erlebt, und nun ist sie nicht mehr da."

May legte ihre Arme um das Mädchen und eng umschlungen saßen sie lange, stumm zusammen und ließen ihren Tränen freien Lauf. Das Klingeln des Telefons holte sie in die Wirklichkeit zurück. Es war Margret welche den Kauf der Tickets und die Abflugzeiten der Flugverbindung nach Cedar City meldete, Auch die beiden Mitarbeiter, welche May vertreten sollten, hatte sie schon erreicht und von der neuen Sachlage unterrichtet.

Corinna, die den Anruf entgegen genommen hatte, fragt erstaunt": Nur zwei Tickets? Darf ich nicht mit?"

,,Natürlich fliegst du mit. Du willst mich doch nicht alleine lassen mit meinem Schmerz?" ,,Aber was ist denn mit Edwin, fliegt der denn nicht mit?"

,,Nein mein Kleines ich möchte Edwin nicht dabei haben. Er kennt doch Mom nicht. Mom und die Zion Mountains das ist etwas wohin ich keinen anderen Mann mitnehme." Corinna sah May nachdenklich an, dann nickte sie: „Jetzt wo du es sagst, fällt es mir auch ein. Es stimmt, wir haben unsere Urlaube dort immer alleine verbracht. Warum eigentlich? Hat das etwas mit meinem Vater zu tun, von dem ich immer noch nichts weiß?"

,,Habe ein wenig Geduld. Nach dem Begräbnis werde ich dir in der Clear Water Lodge, dort wo alles begann, jede deiner Fragen beantworten."

Während sich das junge Mädchen mit dieser Antwort zufrieden gab, betrachtete May ihre Tochter und dachte: „Wo ist nur die Zeit geblieben? In 14 Tagen wird Corinna schon 18 Jahre, sie ist kein Kind mehr, sondern schon bald eine junge Frau. Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird sie mich verlassen und sich eine eigene Welt aufbauen.“

Sie schaut fast auf ihr Ebenbild, denn Corinna hat die gleiche Größe und Figur wie sie. Die Ähnlichkeit ihrer Gesichtszüge war erstaunlich. Durch das jugendliche Aussehen von May würde ein Fremder nie auf den Gedanken kommen, dass sie Mutter und Tochter wären. Jeder würde May für eine ältere Schwester von Corinna halten. Doch es gab zwei markante Unterschiede. Während der eine nur dem genaueren Betrachter auf fiel , war der zweite Unterschied sofort zu erkennen. Dass die seidige Haut von Corinna einige Farbnuancen heller war als die von May, bemerkte man erst auf den zweiten Blick. Den Unterschied ihrer Augen aber sah man so gleich, er sprang im wahrsten Sinne des Wortes sofort ins Auge. Mays Augen waren dunkelbraun fast schwarz und von einer unergründlichen Tiefe. In ihnen konnten sich, wie im jetzigen Moment, Trauer und Schmerz spiegeln, aber auch Leidenschaft und Glück. Wenn man tief in sie hinein sah, glaubte man in den mondlosen Himmel einer klaren Sommernacht zu schauen, in dem versteckt die ersten Sterne funkeln. Corinnas Augen erstrahlten dagegen in einem klaren Blau-Grün, wel­ches den Farben eines Bergsees glich, in dem sich grüne Wiesen spiegeln. Dies war ein selt­samer, aber lieblicher Kontrast zu ihrer braunen Haut und den schwarzen Haaren.

Corinna wandte sich wieder an May: ,,Mom hat mich oft in den Arm genommen und hat mich Loves Eyes genannt. Einmal sagte sie": Du hast wirklich die Augen der Liebe, an dir hat sich die Sage erfüllt. Was hat sie damit gemeint? Was soll dieser Name eigentlich bedeuten?

May schaute einige Sekunden sinnend aus dem Fenster, dann wendete sie sich wieder ihrer Tochter zu: „Das ist ein Navajo Begriff und stammt aus einer ihrer alten Erzählungen und Sagen. Ich ken­ne die Geschichte nicht so ganz genau, aber sie hat ungefähr folgenden Inhalt: Da war einmal ein junges Paar, das sich aufrichtig liebte. Sie waren Kinder von Stammesführern zweier verfeindeter Stämme. Deshalb konnten sie sich nur heimlich und unter großen Gefahren treffen. Der junge Häuptlingssohn unterschied sich von allen seinen Stammesbrüdern da­durch, dass er blaue Augen hatte. Er bekam den Kriegsnamen ,,Bluewater Eye". Bevor sie vermählt waren, wurde ihr heimlicher Bräutigam bei einem Kampf getötet. Die Prinzessin bekam ein Baby von ihm. Die Augen dieses Babys, es war ein Junge, strahlten im gleichen Blau wie die seines Vaters. Die Mutter gab ihm den Namen ,,Loves Eye" (Liebes Auge). Er wurde später ein großer Häuptling welcher die beiden Stämme in Frieden vereinte. Von dieser alten Überlie­ferung ausgehend, glauben die Navajos auch heute noch folgendes: Wenn sich ein Paar, welches sich sehr liebt, unter Zwang trennen muss und die allein gebliebene Frau bekommt ein Kind, so nennen die Indianer es „Loves Eye. Nach ihrer alten Sage, soll dann aus den Augen des Kindes, die Liebe des Vaters wieder heraus strahlen.

,,Mein Gott, ist das romantisch. Bin auch ich ein solches ,,Loves Eye?" Hatte mein Vater auch solche hellen Augen wie ich sie habe?"

,,Bitte Corinna, hör auf mich zu drängen. Ich verspreche dir, dass ich dir diese Fragen im Zionpark beantworten werde. Aber jetzt müssen wir erst mal für unsere morgige Reise planen und packen. Das heißt zu aller erst müssen wir Edwin anrufen und ihm absagen."

,,Das ist zu spät, er fährt gerade vor," sagte Corinna, die zum Fenster gegangen war als sie die Geräusche eines anfahrenden Autos hörte.

Edwin, in salopper Freizeitkleidung, betrat gutgelaunt mit einer großen Pralinenschachtel in der Hand, das Haus. Er schwenkte die Schachtel und rief fröhlich: „Hier an Stelle von Blumen, denn wir fahren ja sowie so gleich los.“ Sein strahlendes Lächeln erlosch sehr schnell als er die verweinten Gesichter der beiden Frauen sah.

,,Was ist denn hier passiert? Was hat denn eure kleine Welt nach meinem Anruf vor einer Stunde so verändert?" fragte er erstaunt und beunruhigt. May gab ihm das Telegramm und klärte ihn über ihre Reisepläne auf.

Edwin konnte seine Enttäuschung nur schlecht verbergen. ,,Soll ich euch begleiten?"

"Nein danke Edwin, wir beiden Frauen fahren alleine. Da können wir uns gegenseitig trösten. Wir melden uns gleich wieder bei dir, wenn wir zurückkommen, spätestens am Dienstag."

,,Ich kann euch ja verstehen und spreche euch mein Beileid aus, aber ihr müsst auch verstehen, dass ich jetzt unserem gemeinsamen Wochenende nachtrauere. Jetzt sind wir alle drei in Trau­er. Aber ein kleines Trostpflaster müsst ihr mir noch geben und mit mir heute Abend Essen gehen. So dass ich wenigstens etwas von euch habe."

May wollte absagen. Sie nannte dafür gleich mehrere Gründe. Weil sie zu traurig wäre, keinen Appetit verspüren würde und wegen des frühen Reisetermins am nächsten Tage. Sie ließ sich aber dann doch von Corinna und Edwin umstimmen. Edwin bestellte einen Tisch in einem guten Steakhaus. Während die Frauen ihre Koffer für die Reise packten, sah sich Edwin ein Football Spiel im Fernsehen an. Gegen 18:oo Uhr verließen sie das Haus. Als Edwin May und Corinna gegen 23:oo Uhr wieder zurück brachte, hatten sie trotz allem einen schönen Abend zusammen verbracht. Edwin hatte sich bereit erklärt die beiden am anderen Morgen zum Flugplatz zu fahren. Damit es einfacher für ihn wurde und er sich die Heimfahrt und die morgendliche Anfahrt sparen konnte, blieb er über Nacht. Er akzeptierte ohne zu murren Mays Wunsch, die alleine schlafen wollte und schlief im Gästezimmer.

*

Sicher steuerte May den schweren Jeep die Serpentinen zur Clear Water Lodge hinauf Sie hatten nach ruhigem Flug, in knapp vier Stunden Dallas erreicht. Dort mussten sie in eine andere Maschine Umsteigen. Auch dieser Flug verlief ohne Probleme und nach knapp ein und einer halben Stunde landeten sie sicher in Cedar City. Margret hatte gute Vorarbeit geleistet und so stand ein fast neuer Jeep für sie am Leihwagen - Terminal bereit. Jetzt, nach weiteren zwei Autostunden durch die wilde Bergwelt Utahs, hatten sie den Zion Nationalpark erreicht und fuhren die letzten Kilometer hinauf zu ihrem Ziel. Während May sich voll darauf konzentrieren musste, den Wagen sicher über die schmale Bergstraße zu bringen, bewunderte Corinna die überwältigende Szenerie die sie umgab. Nach jeder Kehre oder Kurve öffneten sich ihr neue, grandiose Ausblicke in die sie umgebende Bergwelt.

,,Ich finde diese Landschaft immer wieder herrlich, wir sind viel zu wenig hier. Wenn ich mal alt bin möchte ich immer hier leben."

,,Da hast du ja noch etwas Zeit," meinte May schmunzelnd. ,,Da bin ich ja wohl ein wenig früher an der Reihe, mir einen Alterssitz auszusuchen."

Dann kam die letzte Kehre und die ,,Clear Water Lodge" lag im strahlenden Sonneschein vor ihnen. May parkte den Leihwagen auf dem kleinen Parkplatz vor dem Empfangsgebäude. Sie schaute lange und versonnen auf die am Berghang verstreuten Häuschen, die sich in ihrer schlichten Schön­heit gut in die Landschaft einpassten.

,,Es ist für mich jedes mal, als ob ich nach hause kommen würde. Wenn ich hierher zurückkeh­re, ist es dieser erste Blick der mir so gut gefällt, und mich immer wieder auf das Neue fasziniert. Wenn man in diese Richtung schaut, so ist es der gleiche Eindruck wie ich ihn auch vor fast 20 Jahren bei meinem ersten Besuch hier hatte, alles ist völlig unverändert. Nur hier das Restaurant, und die fünf dahinter liegenden Bungalows, sind nachträglich gebaut worden. Das Restaurant war früher in dem Haus dort, wo Mom bis jetzt gelebt hat. Es war klein aber es war sehr gemütlich. Es war eigentlich Mom’s Wohnzimmer und in ihrer winzigen Küche hat sie die leckersten Mahlzeiten gekocht die man sich vorstellen kann. Als sie aus Altersgründen die Führung der Lodge an ihren Neffen Fred weitergab, hat der die Anlage vergrößert. Er baute die fünf, etwas größeren Bungalows, in denen auch Familien mit mehreren Kindern Platz haben. Dazu sein Wohnhaus, in dessen Erdgeschoss sich der Empfang und das Restaurant befinden. Da er aber den gleichen Baustil und die gleichen Baustoffe wählte, wie bei den schon vorhandenen Gebäuden, haben diese Neubauten die Schönheit der gesamten Anlage nicht beeinträchtigt."

Mit einem tiefen Seufzer beendete sie diese lange und mehr für sich selbst als für Corinna getroffene Betrachtung. Ehe Corinna darauf etwas entgegnen konnte, öffnete sich die Tür zum Restaurant und Fred Hunter und seine Frau Doris kamen auf ihr Auto zu. Fred war ein gro­ßer, breitschultriger, gut aussehender Mann. Er hatte die gleichen, blaugrauen Augen wie Mom und seine Haare waren so blond, wie Mom sie auch in ihrer Jugend gehabt hatte. Sie war seine Tante, die Schwester seines Vaters. Fred sah ihr so ähnlich, dass neue Gäste oft geglaubt hatten, die beiden wären Mutter und Sohn.

Wie er in seinem bunt karier­tem Hemd, in Jeans und einem Stetson auf dem Kopf, auf den Jeep zukam, hätte man ihn gut für einen Darsteller in einem Wild-West Film halten können. Er passte genau in diese wilde Landschaft, die er sehr liebte und in der er tief verwurzelt war. Seine Frau Doris war dunkelhaarig und von einer sanften Schönheit, die man erst auf den zweiten Blick richtig bemerkte. Sie war von einer so aufrichtigen, offenen Herzlichkeit, dass man sie gleich gern haben musste. Die beiden hatten zwei Kinder, den fünfjährigen Billy und die jetzt knapp zwei Jahr alte Ruth. Nach Ruths Geburt war Doris ein wenig mollig geblieben. Aber das stand ihr sehr gut und Fred liebte sie jetzt noch mehr.

May und Corinna stiegen schnell aus dem Wagen und eilten den beiden entgegen. Herzlich begrüßten und umarmten sie sich.

,,Wie schön euch wieder zu sehen," sagte Fred, ,,wäre es doch nur nicht so ein trauriger Anlass, die Freude wäre noch viel größer."

Doris, die mit ehrlicher Freude die Ankömmlinge begrüßte, bekräftigte die Worte ihres Mannes, in dem sie hinzufügte: ,,Am meisten würde Mom sich über euren Besuch freuen. Für sie warst du May, ja fast wie eine Tochter. Sie hat dich sehr lieb gehabt." Dann wandte sie sich Corinna zu: ,,Donnerwetter Mädchen bist du gewachsen, seit dem ich dich zum letzten Male gesehen habe. Und wie hübsch du geworden bist. Eine richtige junge Frau, fast schon so hübsch wie deine Mutter, die von Jahr zu Jahr immer schöner, anstatt älter wird."

Corinna umarmte Doris noch einmal und sagte: ,,Danke, für das schöne Kompliment, aber so schön wie Mama zu werden das schaffe ich nie."

May lachte ein wenig verlegen, dann sagte sie: „ Jetzt hört mit euren Komplimenten auf, nachher werde ich noch eitel. Ihr beiden seht aber auch gut aus. Fred, wenn hier mal ein Hollywood Regisseur Urlaub macht bekommst du bestimmt einen Vertrag als Filmschauspieler, und Doris, du bist nach Ruths Geburt noch schöner geworden."

Doris wurde rot und winkte verlegen ab": Von wegen schöner, dicker bin ich geworden, richtig fett. Aber das bekomme ich wieder herunter, das hungere ich mir wieder ab."

,,Das wirst du schön bleiben lassen. Jetzt bin ich noch mehr in dich verliebt. Da ist jedes Pfund schöner als das andere, da möchte ich kein Gramm mehr von vermissen", sagte Fred lachend. Dann nahm die noch verlegener gewordene Doris in den Arm und verhinderte ihren Protest mit einem Kuss. Anschließend wandte er sich wieder May und Corinna zu: „Kommt, ich helfe euch das Gepäck in die Hütte zu bringen. Dann könnt ihr euch nach der langen Reise ein wenig frisch machen. Doris wird in der Zeit etwas Gutes auf den Tisch bringen, denn ihr habt bestimmt einen gewaltigen Hunger. Wir haben euch natürlich die Hütte Nummer 5 fertig gemacht, so wie jedes mal bei euren Besuchen."

,,Vielen Dank euch beiden, dass ist sehr schön und freut uns sehr. Wir beeilen uns und sind bald wieder bei euch hier unten, denn ich habe wirklich mächtigen Hunger," sagte May. Dann trug sie zusammen mit Corinna und Fred das Gepäck hinauf vom Parkplatz zum Bungalow. Nach dem die Gepäckstücke auf die Veranda von Hütte 5 abgestellt waren, ging Fred wieder hinunter zum Restaurant.

May war vor dem Gebäude stehen geblieben und schaut auf das vor ihr liegende, im Stil einer Schweizer Berghütte, erbaute Häuschen. Nichts schien sich da im Laufe der Jahre verändert zu haben, es sah noch genau so aus, wie sie es damals, zusammen mit Jim, vorgefunden hatte. Nur die Zedern, die schützend ihre Äste über das Haus ausbreiteten und nur die Sonnenseite mit grandiosem Blick auf die Berge, freigaben, waren noch mächtiger geworden. May folgte Corinna, die begonnen hatte die Koffer und Taschen in das Haus zu tragen. Im Haus stellte sie sich neben Corinna, legte ihren Arm um deren Schulter und ließ den Blick durch die gemütlich wirkenden Räumlichkeiten schweifen. Auch hier schien alles unverändert. Die bequemen Möbel, aus natur belassenen Bergkiefernholz gezimmert und mit bunten Kissen bedeckt. Der offene Kamin und das mit indianischen Motiven verzierte, rustikale Geschirr auf den Wandregalen. Selbst die Flickenteppiche auf dem Boden, die von Squaws aus dem Navajoreservat ebenso hergestellt waren wie die kunstvolle Patch­workdecke auf dem breiten Bett im Schlafraum - alles schien genau noch so zu sein wie damals. Es fiel May schwer zu glauben, dass diese schöne Zeit schon so lange zurück lag. Für einen winzigen Augenblick war es ihr, als ob gleich die Tür aufgehen würde und Jim hinter sie treten würde und seinen Arm so um ihre Schultern zulegen wie sie es gerade bei Corinna tat. Mit einem energischen Kopfschütteln riss sie sich aus der Stimmung in die sie fast abgeglitten wäre. Es war schon genug Traurigkeit durch den Tod von Mom in ihr, da brauchte sie die Sehnsucht der Vergangenheit nicht auch noch dazu. Sie befreite sich endgültig von ihren schwermütigen Gedanken und sagte halblaut, mehr zu sich selbst: ,,Es ist vorbei, es ist schon so unsäglich lange vorbei." Dann schaute sie zu Corinna und fuhr fort: ,,Ja ein Leben lang ist es vorbei, DEIN ganzes Leben lang." Sie drückte ihre Tochter noch einmal fest an sich. Co­rinna erwiderte stumm diese Umarmung, sie wusste, dass jetzt Worte fehl am Platze waren. Dann begannen beide ihre Sachen in die Schränke zu räumen.

*

Ein strahlend blauer Himmel lag über den Zionmountains. Die Sonne ließ die herbstlich bunt-gefärbten Blätter in den herrlichsten Farben erstrahlen. Es war die schöne Zeit des Indianersommers. Aber der Herbst war nicht mehr weit. Am Morgen waren die höher gelegenen Almen mit Reif bedeckt und die Sonne brauchte schon einige Zeit bis sie die Kühle und den Nebel ver­trieben hatte.

In der Zeit als die Sonne den Morgennebel besiegte und Millionen von Tautropfen auf den Gräsern, Büschen und Bäumen wie Diamanten erstrahlen ließ, hatten sie Mom zu ihrer letzten Ruhe gebracht. Es war als hätte die Natur ein glitzerndes Festkleid aus Edelsteinen angelegt um dieser großartigen Frau, die ihr ganzes Leben dem Schutze dieser Bergwelt ge­widmet hatte, einen würdigen Abgang zu bereiten. Alle waren sie gekommen. Die Ranger von der Parkverwaltung, die Bergführer, die Nachbarn und viele ihrer ehemaligen Stammgäste, die oft weite Anreisen in Kauf nahmen. Aus dem Reservat waren nicht nur die Frauen gekommen, die als Hilfen in der Lodge arbeiteten, sondern sie hatten ihre gesamten Familien mitgebracht. Der Häuptling „Sohn des Adlers" war mit seinem gesamten Stammesrat erschienen. Mom war immer gerecht und fair zu den Navajos gewe­sen die bei ihr im Dienst standen. Die Indianer hatten das nicht vergessen und achteten sie genau so, wie sie damals ihren Mann, den sie ,,Sam Weißhaar" nannten, verehrt hatten. Mom wurde, neben Sam, der seine geliebte Frau schon sehr früh hatte verlas­sen müssen, zur letzten Ruhe gebettet. Diese Grabstätte lag, von drei riesigen Zedern geschützt, an einer Stelle von wo aus man die ganze Bergwelt der Zion Mountains überblicken konnte. Es war einmal Sams Lieblingsplatz. Da hatte er gerne, zusammen mit Mom, auf einer selbstgebauten Bank gesessen und hinaus auf seine geliebte Heimat geschaut. Mom hatte ihr ganzes Leben lang dieses Grab liebevoll gepflegt. Oft hatte sie auf ,,ihrer" Bank sitzend, dem toten Sam ihre Sorgen und Sehnsüchte erzählt. Jetzt, nach über 30 Jahren, hatten beide dort, für immer vereint, ihren Frieden gefunden.

Es war ein kurzes, ergreifendes Begräbnis gewesen. Anschließend hatte die Trauergesellschaft noch lange im Restaurant zusammen gesessen. Wie bei Begräbnissen so üblich, hatten sich dort Menschen wieder getroffen, die sich oft Jahre nicht gesehen hatten. Es gab viel zu erzählen und zu berichten, und Mom war bei allen diesen Gesprächen als unsichtbarer Gast zugegen. May hatte auch Mabel, die ehemalige Bedienung aus dem Parkcenter, wieder getroffen. Mit Mabel, die jetzt schon pensioniert war, hatten sie und Jim sich damals ein wenig angefreundet. Beide Frauen freuten sich aufrichtig über dieses Wiedersehen und so entspann sich bald ein reges dieser ,,weißt du noch" Gespräche, dem Corinna neugierig und mit heißen Ohren zuhör­te. Als dann die Trauergäste die Lodge verließen, hatte May und Corinna, Doris und Fred geholfen das Restaurant wieder in Ordnung zu bringen. Dann waren sie in ihre Hütte gegangen und hatten sich etwas hingelegt. Als sie ausgeruht nach einer guten Stunde erwachten, sagte May: ,,Komm Corinna, ich möchte mit dir zu einer Stelle hier in den Bergen gehen die ich sehr liebe. Dort werde ich dir, wie versprochen, über alles was du wissen möchtest Aus­kunft geben. Der Platz ist in einer knappen Stunde, über einen sehr schönen Weg zu erreichen. Ich möchte dort hinauf steigen, weil ich weiß, dass dies der einzige Ort ist, wo ich die Kraft und den Mut finden werde um mit dir über alles zu reden."

Sie hatten sich entsprechend umgekleidet, ihre Wanderschuhe angezogen, einen kleinen Ruck­sack gepackt und waren aufgebrochen.

May und Corinna stiegen in geruhsamen Schritten über den engen Bergpfad, der gleich hinter der Lodge begann, in vielen Serpentinen und durch eine herrliche Felsformation, hinauf zu einem kleinen, mit einem dichtem Grasteppich bedeckten Plateau. Von dort hatte man einen atemberaubenden Ausblick über die tief unter ihnen liegende Lod­ge und über diese hinaus bis weit hinunter in das Tal des Virginriver. Dieser Platz lag so hoch, dass man sogar die weit unten im Tal liegend Ranger-station sah, die sonst hinter kleineren Gipfeln versteckt, von der Lodge aus nicht zu sehen war. An einigen Stellen war der Pfad ein wenig ausgesetzt. Corinna, die nicht so bergerfahren wie ihre Mutter war, bekam ein wenig Angst und zauderte einige Male vor dem Weitergehen. Doch dann nahm May das Mädchen bei der Hand und führte sie sicher an den Abstürzen vorbei. Das winzige Plateau was sie sich als Ziel auserkoren hatten, war ein Aussichtspunkt im obern Viertel der Felswand. Dort oben wollte May alle Fragen beantworten mit denen Corinna sie in der letzten Zeit immer wieder bestürmt hatte. Sie hatte diesen Platz ausgewählt, weil sie so oft mit Jim dort war. Dort oben, dem blauen Himmel so nahe, hatten sie sich zum ersten Male ihre Liebe zueinander eingestanden. Als sie den Platz erreichten, flo­gen einige Bergdohlen, die dort auf den Felsen gesessen hatten, erschrocken davon.

„Hallo ihr Vögel", rief May, ,,seid ihr auch noch immer hier?" Zu Corinna gewandt sagte sie: ,,Wir waren damals so oft hier, dass die Tiere uns kannten und sich von uns füttern ließen. Sie waren nachher so zahm, dass sie sich das Futter aus unseren Händen holten. Einer der schwarzen Bur­schen war so dreist, dass er auf Jims Rucksack flog und auf diesen einpickte als wolle er sa­gen, mach endlich den Sack auf und hol mein Fressen heraus."

Als einer der Vögel zurückkam und mit heiserem Krächzen seine Runden über ihnen zog, deutete May lächelnd auf ihn und sagte: ,,Das könnte gut dieser Frechdachs gewesen sein, vielleicht hat er mich sogar wieder erkannt."

Sie öffnete den Rucksack und holte eine Decke hervor, die sie auf dem dichten Grasboden ausbreitete. Die winzige Wiese, nicht viel größer als ein Wohnzimmer, lag im warmen Schein der Nachmittagssonne. Sie war von Felsen umgeben, und nur zum Tal hin offen. Dadurch war sie ein windgeschützter, vortrefflicher Lagerplatz. Sie lag an keinem der, von den Rangern eingerichteten, Wanderwegen. Der verschwiegene, kleine Saumpfad der sie dort hinauf geführt hatte, war nur Eingeweihten bekannt. May hatte den Eindruck, als wäre seit langer Zeit dort Nie­mand mehr gewesen. Als beide auf der Decke Platz genommen hatten, deutete May auf einen schroff, mit fast senkrecht abfallenden Steilwänden vor ihnen aufragenden Gipfel: ,,Das ist ,,Engels Landing", auf dieser Kanzel, die dort auf dem Gipfel so gefährlich herausragt, sollen die Engel landen, wenn Gott das jüngste Gericht einberuft. So behaupten es zumindest die Mormonen. Aber lange bevor die frommen Pilger diese Landschaft hier besiedelten, war den Indianern dieser Platz schon seit Jahrhunderten heilig."

Corinna sah mit leichtem Erschauern diesen so gefährlich und ein wenig drohend vor ihnen aufragenden Koloss an. Mit fast erfürchtig klingender Stimme sagte sie; ,,Es ist bestimmt wahnsinnig schwer und gefährlich dort hinauf zu steigen. War überhaupt schon einmal ein Mensch auf diesem Gipfel?"

Ein stolzes Leuchten überflog Mays Gesicht während sie die Frage beantwortete: „Von den Seiten, die du von hier aus sehen kannst, ist ein Aufstieg fast unmöglich. Das schaffen nur ganz wenige Experten. Von der uns abgewendeten Seite ist es einfacher, aber ein Kinderspiel ist es auch von dort nicht. Die Ranger haben am Einstieg Warntafeln aufgestellt, die den normalen Bergwanderern die Gefährlichkeit dieses Aufstieges klar machen sollen.“

Mit großen Augen auf den Berg schauend hatte Corinna, Mays Worten gelauscht. „Was muss das ein tolles Gefühl sein dort oben zu stehen und hinunter auf den Rest der Welt zu blicken.“

May antwortete mit stolzem Lächeln: „Da hast du völlig Recht mein Liebling. Es war damals wunderschön für mich und es ist bis heute das stärkste Erlebnis geblieben welches ich je in den Bergen hatte.“

Corinna drehte sich zu May herum und mit großen Augen und mit offen stehen­dem Mund starrte sie ihre Mutter an. „Was? Du warst schon einmal da oben? Auf diesem Wahnsinnsgipfel?“ Ungläubiges, fassungsloses Staunen lag in dem Blick mit dem sie May, auf Antwort wartend, ansah.

„Ja, - auch wenn ich es bei diesem Anblick bald selbst nicht mehr glaube. Jim war ein erfahre­ner Bergsteiger. Ich habe viele, einmalig schöne Touren mit ihm, hier in den Bergen gemacht. Nach einigen Wochen, als er glaubte, dass ich schon genug Erfahrung und Training hätte um diese Route zu gehen, hat er meinem Drängen nachgegeben und wir sind zusammen dort hinauf gestiegen.“

„Oh manno Mammi, du bist eine Wucht“, flüsterte Corinna ergriffen. Sie war vor lauter Staunen zurück in ihre fast vergessene Kindersprache gefallen.

„Jetzt will ich es endlich wissen, wer war dieser sagenhafte Jim? Bei den Gesprächen heute Mittag, sprachen alle die ihn von damals kannten, nur positiv über ihn.“

Dann immer leiser werdend, so dass es bald nur noch ein Flü­stern war: „Ist er ein Weißer und ist er mein Dad?“

„Ja, er ist dein Vater und er ist auch ein Weißer, sogar ein Ausländer, ein Deutscher.“

Corinna unterbrach May, in dem sie ihr harsch in das Wort fiel: „Warum sprechen denn dann alle und am meisten DU so gut von ihm? Das ist doch mal wieder typisch für diese Kerle. Typisch für einen Wihty. Zu einem heißen Abenteuer sind die farbigen Girls gut, aber wenn dann ein Baby unterwegs ist verduften sie. Dann sind sie zu feige ihr Verhältnis mit einer Schwarzen zuzugeben.“

May legte dem empörten Mädchen die Hände auf die Schultern und schüttelte sie sanft. Als Corinna ihren Redestrom unterbrechen musste um Luft zu holen, sagte sie mit ruhiger Stimme und mit einem Lächeln: „Jetzt sei mal still. Ich kann deine Aufregung ja gut verstehen. Aber so wie du es jetzt im Augenblick siehst war es nicht.“ Nach einer Pause wiederholte sie versonnen: „Nein so war es wirklich nicht.“

Sie setzt sich auf und lehnt sich mit dem Rücken an einen Felsen: „Komm lege deinen Kopf in meinen Schoß, dann werde dir erzählen und berichten was so alles, bis zu deiner Zeugung, zwischen Jim und mir geschehen ist.“

Corinna die sich ein wenig beruhigt hatte, kuschelt gehorsam den Kopf in den Schoß ihrer Mut­ter und schaut mit erwartungsvollem Blick zu ihrem Gesicht hinauf

Dem Girl die krausen Locken aus dem Gesicht streichend erwidert May zärtlich diesen Blick. „So wie du jetzt in meinem Schoß liegst, habe ich damals hier an der gleichen Stelle in Jims Schoß gelegen und ihn verliebt angesehen und seinen Worten gelauscht. Wenn du nun mir, mit nur ein wenig Verständnis zuhörst, dann hoffe, nein dann weiß ich, dass du mich verstehen wirst. Wenn ich dir alles gesagt habe wirst du anders über Jim denken und vielleicht kannst du ihn dann auch ein wenig gerne haben. Auch wenn du so gut wie nichts von ihm kennst und ihn noch nie gesehen hast. Doch ehe ich mit meinem Bericht anfange, muss ich dir sagen, dass Jim nichts von deiner Existenz weiß. Er hat nicht die leiseste Ahnung, dass es dich gibt. Ich habe dich mir einfach von ihm gestohlen. Als ich, nach langem Kampfe mit mir selbst, den Entschluss fasste Jim zu verlassen, da wollte ich wenigstens etwas von ihm behalten. Ich wollte etwas haben, was mir keiner abnehmen konnte. Ich wollte eine Erinnerung an unsere Liebe, an die so wunderbare Zeit mit ihm. Der Mann der mir alles Glück dieser Welt geschenkt hatte, sollte auch der Vater meines Kindes sein. Wenn ich ihn selbst nicht behalten konnte, weil es die Umwelt mit ihrem verbohrten Rassenhass nicht zuließ, so hätte ich dann aber ein lebendes Andenken von ihm. Etwas dem ich meine Liebe schenken und welches ich verwöhnen könnte. Ich habe einfach die Pille nicht mehr genommen. Da Jim, völlig ahnungslos war, musste es ja zu einer Empfängnis kommen. Ich glaube, nur ganz selten ist ein Kind in einem so wunderbaren Liebesakt gezeugt worden wie du. All unsere Liebe und mein großer Wunsch von Jim ein Baby zu be­kommen, haben dich geschaffen. Ich habe meinen Entschluss nie bereut. Das Glück welches in der gemeinsamen Zeit mit Jim alle unsere Wege zum Guten gelenkt hatte, war mir auch in diesem Falle hold. Ich bekam eine gute Tochter die mir nie Probleme bereitet hat. Du warst und bist mir immer ein Halt und eine Stütze gewesen. Du bist einfach der Sinn meines Lebens und ich liebe dich sehr Corinna.“

Von ihren Gefühlen überwältigt, richtete sich Corinna auf. Legte die Arme um den Hals von May und sagte leise: „Ich habe dich auch sehr lieb Mammi, aber bitte erzähle mir endlich eure Geschichte und befreie mich von meiner Ungewissheit.“

May drückte Corinnas Hände und sagte, mit einem tiefen Ernst in der Stimme: „Du hast Recht, es wird Zeit, dass du endlich die ganze Wahrheit über May und Jim erfährst. Doch ehe ich beginne sollst du wissen, dass ich ihn auch heute noch liebe. Ich habe ihn nie vergessen können. Er war der zärtlichste, zauberhafteste Mann den ich je kennen lernte. Die Zeit mit ihm wird niemals wiederholbar sein. Ich weiß, dass auch er mich noch nicht vergessen hat. Kurz bevor ich ihn verließ, hatten wir vereinbart, dass, wenn wir uns einmal trennen müssten, wir das nachfolgende Ritual durchführen würden: In klaren Vollmondnächten wollten wir dann hinaus gehen und mit all der Sehnsucht unserer Liebe, in den Mond hinein sehen und dabei von dem Anderen zu träumen. Wir glaubten damals, dass unsere Liebe die Kraft haben würde das Bild des geliebten Menschen vor unseren geistigen Augen erstehen zu lassen. Ich habe dies am Anfang immer gemacht, habe dich sogar ein paar Mal, als du ein kleines Baby warst, dabei auf meinen Armen gehalten. Selbst heute noch gehe ich in klaren Vollmondnächten hinaus und immer sehe ich dann sein Gesicht vor mir, so als ob unsere Trennung erst gestern gewesen wäre. Ehe dieses Traumbild dann von meinen Tränen wieder weggewaschen wird, kann ich in Gedanken für eine kurze Zeit bei ihm sein. Ich kann seine liebevolle Stimme hören, die damals einmal zu mir gesagt hatte - May, Ich werde dich immer lieben und ich werde dich niemals vergessen. Wenn auch du mich nach unserer Trennung noch liebst und mich nicht vergisst, dann können wir in unseren Träumen immer zusammen sein.“

Versonnen hing sie einen Augenblick ihren Gedanken nach.

Corinna hätte am liebsten tausend Fragen gestellt, doch sie beherrschte sich und blieb still. Sie wollte ihre Mutter nicht aus ihrem Ausflug in die Vergangenheit in die Wirklichkeit zurückholen.

May löste sich aus ihren Gedanken und dann sagte sie leise: „Ich weiß, dass Jim es genau so macht, und dass er mich auch noch liebt, oder zumindest noch nicht vergessen hat. Mir ist es oft passiert, dass ich urplötzlich ein seltsames Gefühl empfand und mich ganz klar und deutlich an ihn und an die gemeinsam mit ihm erlebten Episoden erinnerte. Ich habe mir dann Literatur besorgt, und mir Auskunft über die Mondphasen einge­holt. Ich fand schnell heraus, dass genau zu den Momenten wo ich diese Empfindungen hatte, drüben in Europa, in Germany Vollmond war. Das kann einfach kein Zufall sein. Nein für mich ist es ganz klar, dass dann Jim dort voller Sehnsucht in den Mond gestarrt und an mich gedacht hatte. Ich weiß, dass er genau wie ich, außer seinen Erinnerungen, auch noch die Fackel der Hoffung in seinem Herzen trägt. Die Hoffnung nämlich, dass wir uns noch einmal wiederse­hen. Ich weiß nicht wo und ich weiß nicht wann, aber es wird an einem wunderschönen Ort sein.“

Während May eine Pause machte, nahm Corinna ihre Hand, drückte sie ganz fest und sagte: „Mein Gott Mammi, wie musst du diesen Mann geliebt haben, dass du alle deine wissenschaftlichen Kenntnisse vergisst und zu solch schwärmerischen Gedanken und Tätigkeiten fähig bist. Bitte erzähle weiter, ich will jetzt alles von euch wissen.“

„In Ordnung mein Liebling, aber lass deiner „alten“ Mutter doch ihren Traum und den kleinen Rest von Romantik den sie sich bewahrt hat. Die meisten meiner romantischen Träume und Wünsche, und davon hatte ich viele, haben doch Beruf und Alltag nicht überlebt. Wenn ich auch ab und zu mal in den Mond schaue, werde ich die reale Welt um mich herum nicht verges­sen.“

Dann begann May mit dem Bericht über ihr großes Jugenderlebnis. Erst leise und stockend, doch dann mit fester Stimme und in fließendem Stil, begann sie zu erzählen. Wäh­rend ihre Hände die geliebte Tochter streichelten, ruhte ihr Blick auf den schroffen Felsen und sanften Hängen der Zion Berge, die sich dort im Wechsel vor ihnen aufbauten. Doch die herrlichen Landschaftsbilder verblassten und vor ihren Augen erschien das Bild des Mannes, mit dem sie die größte und schönste Liebe ihres Lebens erlebt hatte.

***

May und Jim

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