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Abenddämmerung

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In Jekaterinburg war es in den bürgerlichen Gegenden im Juni 1918 schon am frühen Abend still, man hielt sich aus begreiflichen Gründen zurück, die Bewohner duckten sich in ihren Häusern, so diese nicht bereits von ihnen im Stich gelassen worden waren.

So nahm niemand Notiz davon, wollte gar niemand Notiz nehmen, wie an einem gewissen Abend in der späten Dämmerung zwei unauffällige Pferdewagen, eine offene Droschke und ein Leiterwagen, zum Haus der Witwe Martinowa vorfuhren, einem gutbürgerlichen, die letzten Jahre eher vernachlässigtem Anwesen, etwas abseits in einem ruhigeren Viertel der Stadt gelegen. Die Tatsache, dass jenes Anwesen mit seinem bröckelnden Putz und dem verwilderten Garten mehr von vergangenem Wohlstand als von gegenwärtigem zeugte, sowie der Umstand, dass es zuletzt und bis vor Kurzem überhaupt die meiste Zeit leer gestanden hatte, gepaart mit der Zurückhaltung und Vorsicht der neuen Bewohner, hatte dafür gesorgt, dass es noch zu keiner der gefürchteten Hausdurchsuchungen gekommen war.

Ein Mann, Ende Dreißig vielleicht, auf den ersten Blick unauffällig gekleidet, entstieg der Droschke und näherte sich dem Haus.

Auf sein Klopfen reagierte man nicht sofort und erst nach einer gewissen Diskussion durch das erstbeste Fenster neben der Tür, wurde geöffnet, von einem noch recht jungen Popen, der sich vorsichtig umsah, bevor er den Mann endlich herein bat.

Es vergingen etwa zehn Minuten, bis sich die Tür wieder öffnete und eine schlanke, mittelgroße Frau die Begleiter des Mannes herein winkte, zwei junge Männer Mitte oder Ende Zwanzig, die jetzt ebenfalls der Droschke entstiegen.

Nach weiteren etwa zehn Minuten kamen von hinten, vom Garten, ein großer stattlicher, aber bescheiden gekleideter Mann und eine kleine, zierliche Asiatin mit Schürze zum zweiten Gefährt, sprachen mit einem jungen Mann und einem halbwüchsigen Burschen, die vom Leiterwagen kletterten und begannen alle gemeinsam, eine Anzahl von Koffern, Kisten und Körben abzuladen und durch den Hintereingang im Haus zu verstauen. Die Kutscher, die dem emsigen Treiben gleichgültig und tatenlos zugesehen hatten, erhielten ein Trinkgeld, das großzügig genug war, Schweigsamkeit zu erkaufen, aber auch nicht zu großzügig, um unliebsames Aufsehen zu erregen, womit jene auch stadteinwärts umkehrten.

In den umliegenden Häusern schien sich nicht einmal eine Gardine zu regen, was einerseits darin begründet sein mochte, dass so manche von den Besitzern bereits verlassen worden waren, während die noch anwesenden Bewohner die selbe Vorsicht und Zurückhaltung walten ließen, wie die neuen Mieter im Hause der Witwe Martinowa. Nichts hören, nichts sehen und nichts sagen, war die Devise vieler „bürgerlicher“ Einwohner in jener Stadt in Sibirien, in jenen Tagen, in der Hoffnung, nicht gehört, nicht gesehen und nicht befragt zu werden.

Der größte Raum der Martinowa, etwas überfüllt mit Möbeln aus den 1870er Jahren, mit schweren Vorhängen, dunklen Tapeten, die Wände behängt mit Kopien von Kopien von Kopien alter Meister, belastetet von einer schweren Holzdecke mit völlig nachgedunkelten Intarsien, mochte wohl von der Vermieterin in besseren Tagen und etwas hochtrabend „Salon“ genannt worden sein, allein boten zwei Sofas, die einander gegenüber standen und diverse Fauteuils und Hocker gerade noch acht oder zehn Personen einen Sitzplatz. Das anschließende Speisezimmer, zu dem man jetzt die doppelte Flügeltüre geöffnet hatte, wies etwa die selbe Anzahl von Stühlen um den Esstisch auf, war von derselben provinziellen Elegance, von nur etwas geringerer Größe, beeinträchtigt von einem massiven Buffet, indem sich freilich weder repräsentatives Geschirr noch Silber befanden.

Die Martinowa war eine kinderlose Kaufmannstochter und Beamtenwitwe, deren Mann alles Geld im Spiel und bei unglücklichen Investitionen durchgebracht hatte, und deren Pension nicht mehr mit der gewohnten Regelmäßigkeit ausgezahlt wurde.

Sie wohnte zentraler in der Stadt, bei einer unverheiratet gebliebenen und immer noch etwas wohlhabenderen Cousine und jenes Haus stellte ihren gesamten Besitz dar und war zugleich ihre einzige Einnahmequelle.

Die letzten Mieter hatten dem jüngeren Zweig der Adelsfamilie Archangelskij entstammt, hatten jedoch das Haus für Familienmitglieder und Gäste allgemein nur als Nachtquartier benutzt, um sich zu erholen, bevor man nach der anstrengenden Bahnfahrt weiter zum Gut reiste. Daher war stets wenig Bedarf zur Repräsentation, gewesen, allerdings hatte sich eine beachtliche Anzahl von Betten ergeben, was sich jetzt als praktisch erwies. Ein ältliches und kinderloses Ehepaar hatte das ganze Jahr über das Haus zwar bewohnt und einigermaßen in Schuss gehalten, den Garten dabei aber mangels Auftrags und eigenen Interesses sträflich vernachlässigt.

Aufgrund der Vorkommnisse der letzten Zeit waren der Martinowa aber nicht nur die Mietzahlungen ausgeblieben, sondern auch jenes Ehepaar abhanden gekommen, das sich eines Tages (oder eher eines Nachts) grußlos abgesetzt hatte, vermutlich im Kielwasser ihrer adeligen Dienstgeber. Trotz des eigentlich immer noch bestehenden Mietvertrages hatte sich die Witwe Martinowa aufgrund ihrer permanenten pekuniären Verlegenheiten also zur Neuvermietung entschieden. Da sie wusste, dass die neuen Mieter im Ursprung Petrograder waren, hatte sie freilich den Preis kühn verdreifacht, um im Endeffekt, nach kurzen Verhandlungen, wenigstens das Doppelte der letzten Miete zu erzielen.

In ihrem Salon und Speisezimmer versammelte sich jetzt ein rundes Dutzend Personen, nachdem sich die erste Aufregung um die Neuankömmlinge und ihr umfangreiches Gepäck erst einmal gelegt hatte.

Die Kinder hatte man nach oben gebracht. Saskia, die Vierjährige, war ohne weitere Umstände zu Bett gegangen, sie hatte im letzten Jahr so viele Ortswechsel erlebt und so viele neue Menschen in ihrer Umgebung, dass sie nur mehr schwer zu beeindrucken war. Niki, der Neunjährige jedoch, war leise, still und heimlich wieder aufgestanden, nachdem er sich von Miss Clement, der Nurse, verabschiedet hatte.

Im Nachthemd und Schlafrock setzte er sich auf der Galerie auf einen Hocker, direkt oberhalb der Glastür zum Salon, von wo aus er bequem die Gespräche der Erwachsenen belauschen konnte. Schließlich war niemand geringerer als sein Patenonkel Rodja gekommen.

„Ich habe in Tobolsk die Kinder von Dr. Botkin gesprochen, Miss Mathar und Mme. Derewenko, die mit ihrem Sohn Kolja zurück geblieben ist, sowie die Charitonowa, die Frau des Kochs, die mit ihrer Tochter dort ist.“, begann Graf Rodion Sergejewitsch Arlington de Sadesky, gewesener Erster Jagdmeister des Zaren, jener Neuankömmling, ein jugendlich wirkender Anfangsvierziger, dessen Aussehen seine angelsächsischen Vorfahren durchaus nicht verheimlichte, „Außerdem konnte ich hier in Jekaterinburg am Bahnhof Baronesse Buxhöveden sprechen und bin Dr. Derewenko, Monsieur Gilliard und Mr. Gibbes in der Stadt begegnet. Gibbes und Gilliard dürfen sich nämlich in der Stadt bewegen, hausen jedoch im selben Zug, wo die Buxhöveden, Mlle. Teglewa, Mlle. Toutelberg, Erzberg, Zanotti und andere festgehalten werden, insgesamt offenbar achtzehn Menschen. Einzig und allein Dr. Derewenko hat ein Quartier in der Stadt und muss nicht am Bahnhof nächtigen.

En passant bemerkt, herrscht dort ein unbeschreibliches Chaos.

Anyway, jedenfalls befinden sich nach meinen Informationen im Hause Ipatiew also neben der hochverehrten kaiserlichen Familie, noch Dr. Botkin, die Diener Trupp und Tschemodurow, der Koch Charitonow, die Kammerfrau Demidowa, der Matrose Nagorny, sowie entweder ein Koch oder ein Küchenjunge Sednjew. Weiß letzteres übrigens, wer genau?“

„Sowohl ein Koch, als auch ein vierzehn- oder fünfzehnjähriger Küchenjunge, Onkel und Neffe, um genau zu sein.“ , antwortete Vater Ignat Borisowitsch Drutskoij, der Pope, gewesener Hofprediger der Zarin und neuer Mieter der Witwe Martinowa, ein noch junger Mann Anfang Dreißig, der sich jedoch darauf verstand, sehr würdevoll zu wirken.

„Danke, also vierzehn, nein, Pardon, fünfzehn Personen im Haus Ipatiew.“, setzte Rodion fort, „Dazu kommen nach meinen bisherigen Informationen mindestens die Gräfin Hendrikowa, Mlle. Schneider, General Tatischtschew, der Adjutant Prinz Dolgorukow, der Diener Wolkow, vielleicht noch andere Bedienstete, die jetzt alle im Gefängnis sind.“

„Im Gefängnis?“, stieß Sonia Alexandrowna Van Langendonck-Milowa entsetzt hervor, „Seit wann denn das?“ Sie war eine langjährige Freundin Rodions, eine Zeitlang hatten sie sogar für verlobt gegolten, eine zarte kleine Person mit markanten Gesichtszügen, welche die persische Abstammung ihrer Mutter nicht leugnen konnten und mittlerweile die Mutter seines Patensohnes Niki, eben jenes Neunjährigen, der schlaftrunken oben auf der Galerie noch versuchte, die Ohren nach den Gesprächen der Erwachsenen offen zu halten.

Rodion verneinte, dies zu wissen, vermutete jedoch, bereits unmittelbar nach deren Ankunft. „Ich füge bei der Gelegenheit hinzu, dass Isa Buxhöveden nichts davon weiß, dass Nastinka Hendrikowa im Gefängnis ist – und wir wollen das auch so beibehalten, sie sind einigermaßen befreundet. Ich weiß also nicht genau, wie viele Personen aus der Suite des Zaren momentan im hiesigen Gefängnis sind. Angesichts der Tatsache, dass etliche Leute in Tobolsk zurück geblieben sind, und etliche Leute zwar aus Tobolsk abgereist sind, aber nicht unbedingt hierher, konnte ich das nicht verifizieren.“

„Es ist einer der Diener vor kurzem direkt aus dem Haus Ipatiew ins Spital gekommen.“, fiel Leutnant Pawel Kyrillowitsch Milow ein, Sonias weitaus jüngerem Mann und gewesener Adjutant von Oberst Kobylinski, jenes Palastoffiziers, der die Zarenfamilie bis Tobolsk begleitet hatte, „Ich glaube, Tschemodurow. Der müsste ja wissen, wer aller dort ist, im Gefängnis, meine ich.“ Er war eine fast knabenhafte Erscheinung, zurückhaltend und irgendwie auch immer etwas abwesend wirkend.

„Ich wollte meinen Igor schon los schicken, aber der war krank.“, meinte Zoë Iwanowna von der Raab, gewesene Hofdame der Zarin und Ziel Rodions langjähriger Verehrung, eine fragile, stets etwas fahrig wirkende Person

„Gut, um die Leute in Tobolsk mache ich mir im Moment auch keine Sorgen, die meisten sind lediglich Familienangehörige von Bedienten, oder gehören nur mittelbar zur Suite.“, begann Rodion wieder, „Außerdem weiß ich aus sicherer Quelle, dass die Roten mittlerweile dort von der Stadtbevölkerung hinaus geworfen wurden. Und um die Ausländer hier, mach ich mir auch keine Sorgen. Und selbst, wenn die Roten den Zug mit der Buxhöveden und all den anderen wieder weg schicken sollten, dann sind sie eben in Tjumen oder in Perm, Tobolsk hat keine Bahn und bald verläuft die Front zwischen hier und Tobolsk. Wichtig ist, dass wir herausfinden, wer hier in der Stadt ist und wo. Daher meine hauptsächliche Frage: Wer von unseren Leuten ist noch in der Stadt und kann sich frei bewegen? Ich will jetzt nichts wissen, von halbverrückten ehemaligen Nonnen, exaltierten Baronessen, oder selbstlosen Kadetten, wie man sie schon in Tobolsk offenbar jeden Tag aufgegriffen hat. All diese Einzelinitiativen sind zwar moralisch lobenswert, machen mit ihrem Dilettantismus unsere Bestrebungen jedoch nur schwieriger.“

„Welche Bestrebungen, denn genau?“ wollte Vater Ignat wissen.

Rodion blickte einen seiner jungen Begleiter an, Fjodor Michailowitsch Gerakis, und auf ein Nicken Rodions sagte Fjodor mit fester Stimme: „Seine Kaiserliche Majestät, den Zaren zu befreien, und seine Familie, was denn sonst?“

Alle miteinander holten Luft, Vater Ignat bekreuzigte sich und einige folgten seinem Beispiel.

„Bevor ich mehr dazu sage,“ so Rodion, „also nochmals meine Frage: Wer ist noch hier, den wir kennen?“

Es entstand ein kurzes Schweigen, während alle einander anblickten.

Schließlich fasste Galia Pawlowna Drutskoija, Rodions Jugendfreundin und detto fast mit ihm verlobt gewesen, mittlerweile Gattin des Popen und gewesenen Hofpredigers, sich ein Herz, was ihr freilich nicht schwerfiel: „Gawril Rokowanskij, Glafira Sova-Belu und ihr Sohn Kuprian.“ Sie sagte dies etwas von oben herab, wie sie meist wirkte. Sie hatte ein altersloses Gesicht, das stets etwas indigniert und unzufrieden schien.

Rodions Gesicht verdüsterte sich schlagartig, Fjodor und Kyril, der zweite junge Begleiter Rodions, wechselten einen raschen Blick.

„Ich sagte doch, ich will nichts von exaltierten Baroninnen wissen! Ausgerechnet, die!“, seufzte Rodion, „Der Hofstaat umfasste 3.000 Personen, aber ich muss ausgerechnet denen wieder begegnen!“

„Rodja,“ sagte Galia etwas ungehalten, „Es sind jetzt andere Zeiten.“

Ich weiß dass.“, antwortete Rodion, „Ich weiß das sehr wohl. Aber weiß die Zigeunerbaronin das auch? Warum sind die denn überhaupt hier?“

Zoë straffte sich: „Na, wohl meinetwegen, Rodion Sergejewitsch, mein Lieber. Gawril wollte mich nicht allein reisen lassen, wiewohl ich betonte, wie sicher ich mich in der Begleitung meines treuen Igor fühlte. Ich habe seine Begleitung dennoch abgelehnt. Um so überraschter war ich, ihn hier zu treffen. Allerdings war ich noch mehr davon überrascht, die Sova-Belu und ihren Sohn in seiner Begleitung vorzufinden. Ich meine, wenn er angeblich wegen mir hierher reist, warum nimmt er dann sie mit? Gütiger Gott, die Frau ist an die Sechzig!“ Sie klang etwas beleidigt und eine Spur zu sehr bemüht mondän.

„Erklärt uns jemand, worum es eigentlich geht?“ fragte Pawel, der mit Sonia die letzte Zeit nur ratlose Blicke ausgetauscht hatte.

„Später, Pawel Kyrillowitsch, später vielleicht, entre nous. Verzeih, Sonia, ihr wart damals so von eurer Übersiedlung in Anspruch genommen, dass ich euch diese leidige Sache nie wirklich erzählt habe, es war kurz vor Kriegsausbruch. In Kurzform: die Glafira, die Sova-Belu, die zuckersüße Glascha, hat mich bei Gawril verleumdet und er seinerseits hat mich verraten, indem er ihr alles ungeprüft geglaubt hat und mir nicht einmal die Chance zur Rechtfertigung gegeben hat. Die Atmosphäre zwischen Prinz Rokowanskij und dem Hause Arlington ist mehr als vergiftet worden, durch diese Zigeunerin, „Baronin“ Sova-Belu!“

„Noch einmal,“ meinte Galia, „Rodja, es sind andere Zeiten.“

„Ja, ja, schon gut.“

Rodion wandte sich ab, ging zum Fenster, wo er für einen Moment mit verschränkten Armen hinaus starrte, während man hinter ihm mit dem Teegeschirr klimperte, sich Zigaretten anzündete.

„Wieso Zigeunerbaronin?“ flüsterte Sonia zu Galia.

„Rodja behauptet, Sova-Belu sei ein Zigeunername und ihr Titel sei, so „So falsch, wie alles an ihr.“, so oder so ähnlich.,“ meinte Galia achselzuckend, „Persönlich kenne ich die Sova-Belu kaum. Ich weiß bloß von früher, dass sie eine gebürtige Jablonskaija ist und man nicht viel über den Vater ihres Sohnes weiß, außer dass er Rumäne sein soll, oder ein rumänischer Ungar, ich weiß es wirklich nicht. Ich glaube nicht, dass sie nicht verheiratet war, wie oft kolportiert wurde, sonst hätte unsere Zarinmutter, die in diesen Dingen ja sehr konservativ ist, sie nie bei Hof zugelassen. Möglich aber, dass der Titel wirklich falsch ist, was gilt schon ein rumänischer Titel, ich bitte Sie! Jedenfalls lebt ihr Mann angeblich in Paris, soll in der rumänischen Botschaft arbeiten, die Jablonskijs sind ja hauptsächlich Diplomaten. Dadurch haben sie sich kennen gelernt und von daher kennt sie auch Gawril, der ja auch für das Außenministerium gearbeitet hat. Worum es bei jenem Streit ging, weiß ich nicht genau, laut Rodja weiß er selbst bis heute nicht, womit er Gawril beleidigt haben soll. Nun ja, das kann man glauben, oder auch nicht. Aber das Verhältnis zwischen der Sova-Belu und Gawril Rokowanskij ist wahrhaftig odios, sie ist fast dreißig Jahre älter als er. Und das sage ich, wo ich fünf Jahre älter bin als mein Mann“

Sie betonte das „früher“, als wäre solcher Tratsch Generationen her, aber Sonia, – die selbst neun Jahre älter war als ihr Leutnant -, machte entzückt entsetzte Augen als säße man noch in einem eleganten Petrograder Salon.

„Themenwechsel,“ verkündete Rodion und wandte sich wieder den anderen zu.

„Bevor ich euch, Ihnen allen erkläre, warum ich mit Fjodor und Kyril überhaupt hierher gekommen bin, zunächst das Wichtigere: Wie geht es euren Familien? Sind sie einigermaßen in Sicherheit? Ich erzähle erst einmal von meiner. Ich habe meine Eltern bereits im Frühling per Schiff nach Schweden geschickt. Miserable Kabinen auf einem drittklassigen norwegischen Frachter. Mein Vater, angesichts seiner tatsächlichen und eingebildeten Leiden zeterte zwar, er würde die Überfahrt nicht überleben, aber meine Mutter brachte die Sache auf den Punkt, indem sie meinte, er könne sich aussuchen, ob er die Überfahrt, oder die „Ereignisse“ nicht überleben wolle. Meine Mutter nennt das, was hier vorgeht, stets „die Ereignisse“, müsst ihr wissen. Glücklicherweise hat sich mein Cousin Jurij nach Kriegsbeginn in Schweden niedergelassen. Natürlich hat mein Vater die Überfahrt sehr wohl überlebt, ich habe bei der Gelegenheit gleich seinen Hausarzt und dessen Familie in Sicherheit gebracht, er hat also seinen gewohnten Arzt, seine Pflegerin und seinen alten Diener und terrorisiert nach wie vor alle. Glücklicherweise konnte ich auch die Gesellschafterin meiner Mutter zur Abreise bewegen. Mein Onkel und seine Familie leben nach wie vor auf dem Lande und glauben sich dort für ewige Zeiten unbehelligt. Über meine sonstigen zahllosen Cousins und Cousinen mag ich nicht nachdenken, ich habe so viele, dass ich nicht einmal alle kenne. Mein Großvater mütterlicherseits hatte fünfzehn Geschwister! Mein Großvater väterlicherseits hatte fünf Schwestern, die eine Großmutter vier Brüder, ich überblicke das alles überhaupt nicht! Ich habe aber das Gefühl gewonnen, dass die meisten sich hinter ihrer gewohnten Ignoranz verschanzen. Nun, ich wünsche ihnen allen das Beste. Fjodor, willst du weiter erzählen?“

„Und dein Bruder?", fragte Galia jedoch, bevor Fjodor beginnen konnte.

„Ach ja, mein Bruder.,“ begann Rodion und lächelte hintergründig, „Nun ja, mein Herr Bruder dachte, weil er mit unserer Familie und seiner Herkunft gebrochen hatte und sich nur mehr seinen spirituellen Studien widmete, beträfe ihn die Revolution nicht. Er hat sich getäuscht. Man hat ihn erschossen, auf seinem Landgut, seine Frau vielleicht auch. Sie lebten zuletzt getrennt, aber von seiner neuen Freundin weiß ich schon gar nichts. Glücklicherweise hatte er keine Kinder … Wo war ich vorhin? Ach ja, Fjodor, bitte.“

Das war so seine Art, klipp und klar, selbst unter den ihm vertrautesten Menschen darzulegen, dass er nicht über seinen Bruder sprechen wollte. Kyril zum Beispiel, hatte bereits jahrelang für Rodion gearbeitet, bis er darauf gekommen war, dass es jenen älteren Bruder überhaupt gab!

Aber Galia war diejenige unter allen Anwesenden, die Rodion am längsten kannte und die einzige, die auch seinen Bruder tatsächlich gekannt hatte, deshalb hatte sie auch gefragt.

Jetzt aber begann Fjodor Gerakis: „Selbst auf die Gefahr, mich zu wiederholen, aber wir sind ja eigentlich Griechen.“

Allgemeines, die Wiederholung bestätigendes Gelächter, folgte dieser Einleitung. „Meine Mutter ist eine geborene Leondiadis, aus einer Familie, die in der ganzen Levante und rund um das Schwarze Meer beheimatet ist. Die Familie Gerakis hingegen lebt seit Generationen in Odessa. Erst mein Vater ging aus geschäftlichen Gründen nach St. Petersburg. Jedenfalls habe ich jetzt alle nach Odessa geschickt, ich habe sie sozusagen überall eingesammelt, denn in Odessa ist die größte griechische Gemeinde Russlands. Nun, in Odessa ist es noch ruhig, oder eigentlich wieder. Mittlerweile haben meine Eltern, auch für meine Großmutter, meinen Bruder und für mich, beim griechischen Konsul in Odessa die Staatsbürgerschaft des Königreichs Griechenland beantragt, in der Hoffnung, unseren Besitz zu sichern, oder vielleicht auch nur unser Leben zu retten. Auch meine zweiundachtzigjährige Großmutter trägt die Aufregungen mit Fassung. Ja, sie nennt es immer „Aufregungen“.

Noch aber seien sie alle Russen und dementsprechend gefährdet, wie alle anderen hier. Im schlimmsten Fall aber würden sie schon alle bei irgendwelchen anderen Leondiadis´ in Konstantinopel oder sonst wo unterkommen, schloss Fjodor seinen Bericht. Er sah bei näherer Betrachtung gar nicht so griechisch aus, wie er sich allgemein gebärdete, hatte ein eher unentschlossenes Gesicht, das nach einem Monokel verlangte, oder auf einen Schnurrbart wartete.

„Wir sind doch theoretisch immer noch im Krieg mit der Türkei, oder?“, fragte Galia.

„Nein, nein, in Brest-Litowsk war auch eine türkische Delegation.“ wandte Rodion ein, „Und soweit ich weiß, gibt es auch einen offiziellen Frieden seitens der Bolschewiki mit der Türkei.“

„Auf jeden Fall ist Konstantinopel mittlerweile voll von russischen Emigranten.“, ergänzte Sonia, „ Ich glaube, die meisten meiner Freunde sind jedenfalls dort untergekommen.“ Und mit einer leichten Verneigung zu Fjodor, setze sie hinzu: „Die griechische Gemeinschaft in Konstantinopel ist durchaus hilfreich für unsereins.“

„Und außerdem,“ so Pawel, „bricht die Türkei noch ganz ohne Revolution zusammen.“ Man rätselte kurz über die aktuelle politische Lage in der Türkei, gab es jedoch bald wieder auf.

Rodion bedankte sich jedenfalls bei Fjodor und bat jetzt Kyril, von seiner Familie zu erzählen. „Ihr kennt Kyril Martinowitsch Ruso de Lensky als meinen Sekretär.“ so begann Rodion, „Er ist mir im Laufe der Zeit jedoch so vertraut worden, dass ich euch bitte, ihn künftig als meinen Freund zu betrachten – und damit als den euren.“

Kyril, ein schlaksiger Gymnasiastentyp, - obwohl schon Ende Zwanzig -, wurde immer noch gerne rot bis in die Haarwurzeln, wenn man ihn direkt ansprach, verneigte sich artig und alle anderen Anwesenden nickten und lächelten ihm aufmunternd zu.

Also begann er: „Ich stamme aus einer ähnlichen Familie wie die Kornilows, in deren Haus in Tobolsk man die Suite des Zaren untergebracht hatte, oder die Ipatiews hier, in deren Haus der Zar jetzt lebt, aus einer Kaufmanns- und Ingenieursfamilie in Smolensk. Auch meine Eltern und meine beiden Schwestern fühlen sich, ähnlich wie der Onkel von Rodion Sergejewitsch noch sicher und nicht betroffen, es geht ihnen soweit auch noch gut. Wenn ich aber daran denke, dass man hier die Familie Ipatiew erst kürzlich vertrieben hat, habe ich für die Zukunft auch so meine Sorgen. Ich wollte, meine Leute hätten gehandelt wie die Kornilows in Tobolsk, die waren schon weg , das Haus stand schon leer und sicher konnten sie mehr ihrer Habe in Sicherheit bringen als hier die Ipatiews, die man erst vor wenigen Monaten aus dem Haus gejagt hat, soweit wir wissen. Aber auch ich hoffe das Beste und bete jeden Tag, dass dieser Spuk bald zu Ende sein mag.“

Vater Ignat bekreuzigte sich und die meisten anderen folgten seinem Beispiel. „Gelobt sei der Herr.“, begann er seinerseits, „Was die Familien von Galia und mir betrifft, so geht es Galias Großmutter bisher auch gut. Sie hat sich mit ihren vierundachtzig Jahren nicht zu mehr aufraffen können, als sich auf ihr Gut zurückzuziehen, um dort abzuwarten. Galia und ich sind ohne jede Bedienung hier, weil wir unser treues Ehepaar Okopenko lieber bei Galias Großmutter belassen haben. Sie sind alle in Bessarabien und dort sind jetzt die Österreicher, oder die Rumänen, wer weiß das schon. Meine Mutter ist bei meinem Bruder und meiner Schwägerin auf der Krim, meine beiden kleinen Neffen natürlich auch.“

„Die meisten meiner Freunde sind auch auf der Krim,“ begann jetzt Sonia, „aber mein Vater und meine Stiefmutter sind vorerst auch nur aufs Land gegangen. Mein Bruder und meine Schwägerin sind in Kiew, meine Schwägerin hatte in der Vergangenheit ja schon genug Probleme, sie ist gebürtige Ungarin, und momentan könnte sie gar nicht vereisen, weil sie guter Hoffnung ist und demnächst niederkommen wird. Meine Mutter und ihr zweiter Mann sind fürs Erste nach Finnland.“

„Und Viktor?“, fragte Rodion und setzte hinzu: „Für alle, die es nicht wissen, Viktor ist Nikis Vater.“

„Viktor?“, begann Sonia und holte tief Luft, „Viktor ist, glaube ich, deinem Bruder in seiner Reaktion ähnlich. Er denkt sich, weil er bankrott und verschuldet ist, gälte seine Herkunft nicht. Er findet alles faszinierend, ist beinahe amüsiert. Ich glaube, er wartet auf den Zusammenbruch des Systems, vor allem auf den Zusammenbruch der Banken, weil er dann keine Schulden mehr hätte. Die Van Langendoncks stammen im Ursprung aus Flandern, haben hier in Russland aber schon lange kein Geld mehr, erst recht nicht seit Viktor. Ihm ist es jedenfalls geradezu ein Bedürfnis, den Untergang all jener zu beobachten, die nicht in seiner fatalen pekuniären Situation sind. Und indem er sich uns nicht mehr zugehörig fühlt, glaubt er sich auch nicht in Gefahr. Darüber hinaus denkt er nicht weiter.“

„Wenn man bedenkt, dass neben der Post und teilweise der Eisenbahn in diesem Land ausgerechnet nur mehr das Bankwesen funktioniert,“ warf Rodion ein, „dann gewinne ich das deutliche Gefühl, dass sich Viktor irrt.“

„Wir haben ihn noch besucht und hitzige Diskussionen darüber geführt, ob er uns nicht begleiten will,“ ergänzte Pawel Milow, „seines Sohnes wegen mit uns zusammen bleiben. Er aber meinte, „Ihr geht zum Zaren? Was geht mich der Zar an?“, versicherte uns, er wisse Niki bei uns in guten Händen und ging seiner Wege, respektive, blieb, wo er momentan war. Wir haben seit Monaten nichts von ihm gehört.“

Rodion wollte wissen, wo denn dieses „momentan“ sei und wurde nach Zaryzin verwiesen, was Viktor dort täte und ob er dort noch wäre, wüsste niemand wirklich, an und für sich lebe er mit einer gewissen Mascha zusammen, einer wunderschönen Tscherkessin, allerdings Sängerin in einem Kabarett.

Alle ahnten, dass auch in Zaryzin mehrmals die Machthaber gewechselt hatten und wussten, dass monatelanges Stillschweigen kein gutes Zeichen war.

Glücklicherweise war Niki oben auf seinem Hocker auf der Galerie oberhalb der Glastüre mittlerweile schon längst eingeschlafen.

„So, wie ich Viktor einschätze,“, begann Galia, die auch ihn gekannt hatte, „wartet er auf den Zusammenbruch dieser Gesellschaft, um endlich eine Ausrede für seinen endgültigen Zusammenbruch zu finden. Aber, mein lieber Pawel Kyrillowitsch,“ fuhr Galia fort, „dafür ist Ihre kleine Tochter bei Ihnen? Ich kenne Ihre erste Frau nicht, aber ich wollte Sie schon lange fragen, wie kann man sich als Mutter von einer Vierjährigen trennen, noch dazu, wo sie doch mehr bei ihr gelebt hat?“

Ihre eigene Mutter war früh verstorben und ihr Vater hatte bald danach die Familie verlassen, hatte noch einmal geheiratet und auch mit einer Geliebten Kinder.

Galia hatte weder mit ihm, noch mit seinen neuen beiden Familien irgendeinen Kontakt. Vor Jahrzehnten schon hatte sie sich ihr Erbe auszahlen lassen. Jedenfalls dachte sie an ihn und seine sonstigen Nachfahren im Zuge all jener „Ereignisse“ oder „Aufregungen“ nie, war jedoch stets in Sorge um die Kinder von Freunden und Bekannten. Mochte sie auch früher manchmal bedauert haben, selbst keine Kinder zu haben, in letzter Zeit tat sie das nicht mehr.

„Meine liebe Ex-Frau ... ,“ jetzt lachte Leutnant Milow hintergründig und etwas bitter, „ ... meine liebe Ex-Frau hat sich nicht nur von unserer Tochter getrennt, sondern auch von ihren Eltern. Sie ist so verrückt nach ihrem zweiten Mann, dem Prinzen Bochtiso, dass sie sich mit ihm zu einer der Freiwilligenarmeen als Krankenschwester begeben hat, ich weiß nicht einmal, ob zu Wrangel, zu Denikin, oder zu wem auch immer. Übrigens rechne ich dieses Engagement sowohl ihr, wie auch ihrem neuen Mann durchaus an, es gehört Mut dazu. Ich weiß jedenfalls genug über Vera, dass ich weiß, dass sie nichts von Politik versteht und dieses Wagnis nur in Kauf nimmt, um bei ihrem Mann zu sein.“

Teils war anerkennendes Raunen, teils unverständiges Kopfschütteln die Folge dieser Ausführungen, dann ergänzte Pawel noch: „Jedenfalls konnte ich aufgrund dessen meine ehemaligen Schwiegereltern, mit denen ich immer in gutem Kontakt verblieben war, überreden, mit meinen Eltern nach Baku zu gehen. Meine Mutter stammt aus Aserbeidschan, müssen Sie wissen und bei ihrer Familie haben alle für den Moment Unterschlupf gefunden. Baku ist zwar auch ein Unruheherd, aber bis jetzt waren nur die Muslime und die Armenier damit beschäftigt, einander umzubringen. Der Pöbel hatte dort noch gar keine Zeit, sich gegen die früheren Eliten zu verbünden.“ Er zündete sich eine Zigarette an, aber er hatte die gesammelte Aufmerksamkeit aller, also fuhr er fort: „Meine Saskia wollte ich allerdings bei uns wissen. Unsere Nurse, Miss Clement, ist jedoch im Besitz eines Passes, eines englischen, meine ich, und zwar eines echten englischen, den wir noch rasch in der Botschaft besorgt haben, der sowohl Niki wie auch Saskia als ihre Enkel ausweist und zur Not gibt es auch ein kleines Konto im Ausland, auf das Miss Clement zugreifen könnte, wir vertrauen ihr blind!“

Miss Clement erhob sich, verneigte sich steif und entschuldigte sich bei dieser Gelegenheit gleich, um oben Nachschau zu halten. Sie wusste nämlich, wo sie Niki finden würde, auf jenem Hocker auf der Galerie oberhalb der Glastüre, von wo er fast jeden Abend versuchte, die Gespräche der Erwachsenen zu belauschen.

Es war nicht leicht für Miss Clement, einen großgewachsenen Neunjährigen in sein Bett zu tragen, aber Niki wachte nie dabei auf. Und er sprach nie darüber, was er vielleicht doch gehört haben mochte. Miss Clement und Niki hatten diesbezüglich ein unausgesprochenes Gentlemen´s Agreement, obwohl der eine zu jung für einen Gentleman und die andere dafür entschieden zu weiblich war.

Er sagte nichts und sie fragte nicht.

„Wenn ich mir das alles so anhöre, dann habe ich noch nie in meinem Leben so wenig bedauert, allein zu sein.“, seufzte Zoë im Salon währenddessen.

„Ich bin ein Waisenkind, sollte ich erwähnen, und von klein auf bei Hof, bei einer unverheirateten und mittlerweile verstorbenen Tante groß geworden. Ich bin zwar nicht unvermögend, vielleicht bin ich es auch nicht mehr, aber ich kenne nichts von der Welt. Ich hatte einen Bruder, Walentin, er war Offizier und ist in den ersten Kriegsmonaten gefallen. Ich habe sehr um ihn getrauert. Heute bin ich froh, dass er nicht vielleicht bestialisch von seinen eigenen Soldaten abgeschlachtet wurde. Natürlich hatte ich Freunde, Bekannte, Gesellschaft, aber mit einem Schlag waren alle so sehr mit sich und ihren Lieben beschäftigt und überhaupt sehr rasch in alle Winde verstreut. Mein einziger Cousin steht in Prag unter Hausarrest, wo er mit einer böhmischen Komtess liiert ist. Ich habe hier niemanden, außer der Zarenfamilie, deswegen habe ich das für meine Verhältnis unglaubliche Wagnis auf mich genommen, hierher zu reisen. Wenigstens muss ich mir aber um niemanden mehr Sorgen machen.“

„Aber, meine liebe Zoë Iwanowna,“ versuchte Galia, Zoës beginnende Melancholie aufzulockern, „immerhin haben Sie zwei Verehrer in der Stadt.“, und sie nahm Sonias Hand, „Und das haben wir zwei alten Ehefrauen nicht. Ich weiß, Rodja, für dich klingt das jetzt zynisch, aber noch einmal, es sind andere Zeiten.“

„Vor allem,“ setzte Sonia hinzu, „liegt es an Zoë Iwanowna, sich zu entscheiden. Verzeihen Sie, meine Liebe, ich will Sie keineswegs beeinflussen, aber was, Rodja, wenn sie keinen von euch beiden will?“

„Ja,“ sagte Galia, „versöhne dich mit Gawril, höre nicht auf das Geschwätz der Glafira. Was meinst du, Fjodor, du kennst diesen Streit doch am besten?“

„Ich hab weniger Sorge um unseren Rodja,“ erwiderte jener, „ich fürchte mehr den anhaltenden Einfluss der Glascha auf Gawril.“

„Das sagst du jetzt, liebster Fjodor,“ begann Rodion etwas spitz, „wo du dich anno dazumal so bewusst aus diesem Streit heraus halten wolltest? Ich frage mich wirklich, wie du entscheidest, welcher Teil meiner Befindlichkeiten dich interessiert und welcher Teil nicht, aber bitte.“

Fjodor machte ein indigniertes Gesicht, wie nur er es zusammenbrachte. In Anspielung auf Fjodors „byzantinische“ Herkunft, hatte Rodion diesen gewissen Gesichtsausdruck das „purpurgeborene“ Gesicht genannt, früher als man noch Zeit und Muße für geistreiche Wortspiele gefunden hatte.

„Wie auch immer, mes amis,“ setzte Rodion dann aber fort, „wir wollen unsere persönlichen Befindlichkeiten jetzt nicht weiter vertiefen. Fjodor, Kyril und ich sind letztendlich aus einem anderen Grund hier. Rokowanskij und die Sova-Belus werde ich die nächsten Tage schon noch aufspüren, außerdem sollten wir sehen, in welchem Spital dieser Tschemodurow ist. Ich stelle jedenfalls fest, dass unser aller Familien durch die „Ereignisse“, oder „Aufregungen“ wenigstens noch keinen nennenswerten persönlichen Schaden erlitten haben. Das ist erfreulich. Ich stelle aber auch fest, dass der „Spuk“ noch lange kein Ende zu nehmen scheint. Das ist nicht erfreulich.“

Rodion schlug vor, je nach Belieben, zu Wodka, Portwein, Sherry, Cognac oder Krimweinen zu wechseln, er habe „alles nur Erdenkliche“ mitgebracht.

Während Boris, sein Diener, und Sascha, sein dreizehnjähriger Hausbursche, die mit ihm gekommen waren, geschäftig mit den verschiedenen Flaschen und Karaffen hin und her gingen, kam Zoës Dienerehepaar, Igor und Marfja, der stattliche Mann und die kleine turkestanische Frau, die beim Ausladen des Gepäcks geholfen hatten, mit Tabletts mit kaltem Braten, gekochten Eiern, eingelegten Gurken und Brot aus der Küche. „Es tut mir leid,“ erläuterte Marfja indigniert, „aber wir haben nichts anderes.“

„Das macht nichts,“ entgegnete Rodion, während er sie scharf ins Auge fasste, „wir haben noch einiges anderes mitgebracht. Es wird schon gehen. Danke jedenfalls.“

Auch Miss Clement, die Nurse der Milows, half jetzt mit. An und für sich erwartete man nicht unbedingt von ihr, sich derlei niederen Tätigkeiten zu widmen, aber die letzte Zeit, wo sie alle hier festsaßen, hatte die bodenständige Engländerin mit dem schweigsamen Igor und seiner etwas nervösen Frau zusammen geschweißt.

Gemeinsam schafften sie es, dem Ehepaar Drutskoij, den Milows samt den Kindern und der filigranen Mlle. von der Raab die Illusion eines reibungslos funktionierenden Haushalts des Ancien Régime zu suggerieren. Angesichts des luxuriösen Gepäcks, das nun mit Arlington und seinem Gefolge eingetroffen war, fiel ihnen das heute das erste Mal leichter. Wie viel Geld musste er dabei haben! Auf wunderbare Weise tauchten dank Boris´ und Saschas Mithilfe noch die verschiedensten Zigaretten auf und diverse Süßspeisen. Wie mochte er nur durch all diese Kontrollen gekommen sein?

*

Graf Rodion Sergejewitsch Arlington erläuterte kurz, dass er von diversen russischen Adelsfamilien, - ohne Namen nennen zu wollen -, aber auch von Angehörigen der Herrscherfamilie der Romanows, sowie von bürgerlichen Familien, Bankiers und Industriellen, ja sogar von in Russland ansässigen Ausländern, mit gewissen Geldmitteln ausgestattet worden sei, um die Möglichkeiten zur Befreiung der Zarenfamilie zu sondieren, unabhängig aller militärischen Bewegungen durch Wrangel, Koltschak, oder sonst wen.

Interessanterweise, so Rodion, - um jetzt doch noch Namen zu nennen -, hätten sich ausgerechnet die umstrittenen und morganatischen Großfürstengattinnen, Fürstin Palej und Gräfin Brassowa als besonders großzügig und interessiert erwiesen.

Die erfolgte Abdankung des Zaren sei zwar durchaus rechtsgültig, die Abdankung im Namen seines Sohnes jedoch au fond nicht, so Rodion Arlington weiter, daher sei de jure die Abdankung des Großfürsten Michail überhaupt hinfällig.

Aber darum ginge es ihm und all den Unterstützern letztendlich nicht, jenseits jeglichem monarchistischen Umsturzgedanken, jenseits aller Bestrebungen nach einer eventuellen und legitimen Fortsetzung der Dynastie, ginge es seinen, Arlingtons Geldgebern, vor allem und zuerst darum, die blanken Leben des Zaren, der Zarin, der Großfürstinnen, des Zarewitsch zu sichern, sowie „ ... weitestgehend möglich, der Entourage der kaiserlichen Familie ... “, so die Worte des greisen Hofministers Graf Freedericks. Jener war der eigentliche Initiator dieser Geldsammlung gewesen.

„Wie allgemein bekannt sein sollte, war ich krank, als Kornilow den Hofstaat versammelte und die Abdankung des Zaren verkündete.“, so Rodion, „Ich konnte weder ihm ins Gesicht spucken, noch all jenen von den 3.000 Mitgliedern des Hofstaats, die sich innerhalb weniger Tage grußlos verflüchtigten. Außer Freedericks und der alten Naryschkina, oder den Benckendorffs, abgesehen von Lilly Dehn und der von mir nicht sonderlich geschätzten Mme. Wyrubowa, abgesehen von den Leuten, die jetzt in Tobolsk festsitzen, oder so wie wir, hier umher irren, haben bekanntlich die meisten Leute die kaiserliche Familie ja sofort verlassen, um ihre höchst überflüssigen Existenzen unter Mitnahme ihrer Pretiosen zu sichern.“

Rodion würgte sichtlich bei der Erinnerung daran ehrlichere Gefühle hinunter.

Stattdessen erhob er sein Glas: „Ich wünsche Graf Freedericks, der Fürstin Naryschkina und dem Ehepaar Benckendorff das Beste für die Zukunft, die alle nach Tobolsk mitgegangen wären, wären sie jünger. Die Naryschkina war ja sogar kurz hier. Der Rest der ehemaligen Sippschaft mag zu Recht zum Teufel gehen!“

Sie prosteten einander zu, wenn auch etwas vage.

„Übrigens, - um das in Erinnerung zu rufen -, ist die Gräfin Benckendorff aus ihrer ersten Ehe die Mutter unseres hiesigen Prinzen Dolgorukow und hat daher noch ein eigenes, persönliches Interesse.“, setzte Rodion fort, „Wie auch immer, ich war rückfällig geworden und wieder krank gewesen, als es darum ging, wer die kaiserliche Familie begleiten sollte. Darum aber bin ich jetzt erst hier – aber dafür unterstützt von den Geldern der ersten Familien Russlands - und es freut mich um so mehr, meine besten und liebsten Freunde hier zu finden, respektive in meiner Begleitung zu haben. Galia und Sonia, ihr kennt einander kaum und dennoch hat euch euer Weg hier mit mir wieder vereint, die eine mit einem der Hofprediger der Zarin vermählt, die andere mit einem seiner Palastoffiziere, während Fjodor und Kyril einfach bei mir geblieben und jetzt mit mir hierher gekommen sind. Abgesehen davon, wäre ich allein wegen Zoë Iwanowna hierher gereist. Es ist schön, zu wissen, dass unsere Familien allgemein noch unbetroffen und in relativer Sicherheit sind. Allein, wenn wir über unsere Freunde und Bekannten nachdenken, finden wir alle wahrscheinlich schon viele, die tot sind, ob Offiziere an der Front, oder Landadelige, denen man die Häuser über dem Kopf angezündet hat. Wir wissen alle daher auch genau, dass diese Revolution nicht vor Alten, nicht vor Frauen, nicht vor Kindern halt macht! Ich bitte daher zunächst um eine Gedenkminute für alle, die im Zuge der letzten „Ereignisse“ bereits von uns gegangen sind.“

Alle erhoben sich, Vater Ignat murmelte ein kurzes Gebet und schlug das Kreuz über die Versammlung. Man setzte sich wieder, oder auch nicht.

Eine gewisse Unruhe hatte alle erfasst.

Rodion ergriff wieder das Wort: „Erinnert euch bitte, damals 1905 waren wir alle fest davon überzeugt, dass diese von der ausländischen Presse herbeigeredete „Revolution“ nur ein vorübergehender Spuk sein würde und mehr war es im Endeffekt nicht. Dennoch hatten viele Leute geradezu ansteckende Angst. Ich kenne genug Leute, die sich damals Hals über Kopf aus der Stadt auf ihre Landgüter begeben hatten und ich kenne genug Landadelige, die sich damals verängstigt in den Hotels der nächsten Stadt verbarrikadiert hatten. Die einen fühlten sich an Leib und Leben bedroht und die anderen in keiner Weise. Und heute stehen wir wieder vor der Frage: Revolution oder Revolte? Regimewechsel, oder hin und her wogender Bürgerkrieg? Und wohin mit uns?“ Er hielt inne zündete sich die nächste Zigarette nach vielen an.

„Kennt ihr die Geschichte von Louis XVI und seine Reaktion auf die Erstürmung der Bastille?“, fragte Rodion dann.

Allgemeines Verneinen war die kollektive Antwort.

„Wie schön,“ begann Rodion, „dass ich nicht alle meine historischen Anekdoten schon doppelt und dreifach erzählt habe. Nun, der König, Louis XVI, meine ich, wurde vom Duc de Liancourt von der Erstürmung der Bastille benachrichtigt.

„Das ist ja eine Revolte.“, meinte der König.

„Nein, Sire, das ist die Revolution!“, antwortete Liancourt.“

„Es lebe der hellsichtige Duc de Liancourt,“ so Rodion weiter, „leider weiß ich nicht, was aus ihm geworden ist. Und wisst ihr, was der König an jenem Tag in sein Tagebuch eingetragen hat?“

Wieder allgemeines Verneinen und Kopfschütteln.

Rien.“

„Wie, was, nichts?“, fragte jemand.

Rien, das Wort „Nichts“.,“, so Rodion, jetzt schon leidlich echauffiert, „Rien. Denn, er hatte kein Jagdglück gehabt an jenem Morgen und das erschien ihm offensichtlich das einzig Erwähnenswerte! Louis XVI hat ein ziemlich einsilbiges Tagebuch geführt, dass sich hauptsächlich mit der Jagd beschäftigte.“

„Worauf ich hinaus will, meine Lieben, ist, dass die Franzosen damals, offenen aber nicht sehenden Auges direkt auf die Guillotine zugegangen sind. Abgesehen vom Duc de Liancourt, waren die wenigsten hellsichtig genug, die Lage klar zu erkennen. Mit ein Grund, warum ich, sozusagen in meiner Eigenschaft als Privathistoriker, meine Eltern bereits nach Schweden expediert habe.“

Eine gewisse Unruhe entstand unter seinen Zuhörern, aber Rodion setzte seinen Vortrag ungerührt fort.

„Fakt ist, dass man bereits beginnt, unsereins umzubringen, ungeordnet, unorganisiert, ohne höhere Befehlsgewalt, ohne jede Gerichtsbarkeit. Es gibt keinen Befehl, alle Offiziere, Geistlichen, Beamten, Grafen und Fürsten zu töten, noch gibt es den nicht, aber dennoch geschieht es bereits. Wie lange wird es noch dauern, bis die Roten sich des Zaren und seiner Familie erinnern? Wie lange wird es noch dauern, bis man sich ihrer und unser aller entledigen will – und wird!?“

Jetzt verstärkte sich die Unruhe unter den Anwesenden noch mehr, aber Rodion verschaffte sich mit beschwichtigenden Handbewegungen Gehör.

„Lasst mich ausreden, meine Lieben. Ich behaupte einfach, dass wir alle noch in zweifelhafter Sicherheit sind. Ich behaupte aber zugleich, dass diese Revolution wesentlich gewaltsamer weitergehen wird, als die französische oder irgendeine andere jemals zuvor es war.“

„Der Freiherr von der Trenck soll damals in Paris vor dem Revolutionstribunal von Fouquier-Tinville jede Aussage verweigert haben, mit der Bemerkung, er glaube nicht, dass es schon irgend jemandem etwas genützt habe, vor diesem Gericht etwas auszusagen. Ich aber glaube, dass man sich in dieser Revolution nicht einmal die Mühe machen wird, auch nur die Farce einer Gerichtsbarkeit aufrechtzuerhalten. Auch nicht gegenüber dem Zaren, ja erst recht nicht gegenüber dem Zaren! Wenn der Zar aber stirbt, dann sind wir alle Freiwild!“

Jeder, so Rodion weiter, wisse, dass er nicht unbedingt ein Freund Ihrer Majestät, der Zarin sei, wobei er eine um Verzeihung heischende Verbeugung vor Zoë Iwanowna machte. Jeder wisse, wie sehr er dagegen opponiert habe, dass die kaiserliche Familie sich immer mehr in Zarskoje Selo isoliert habe. Jeder wisse, wie sehr er gegen Rasputin gekämpft habe, Rodion erwiderte dankbar Vater Ignats bestätigendes Nicken. Jeder wisse vor allem, wie verzweifelt er auf den Zaren eingeredet hatte, nicht persönlich den Oberbefehl über die Truppen zu übernehmen.

Diesmal nickte vor allem Zoë Iwanowna, denn ihr war es ebenfalls nicht gelungen, der Zarin diese folgenschwere Entscheidung auszureden.

„Der Zar in Mogilew, im Hauptquartier,“ so Rodion weiter, „die Zarin und die Kinder allein in Zarskoje Selo. Die Kinder an Masern erkrankt, zumindest vier von fünf.

Man hält einfach seinen Zug an und schon hat man die Abdankung in der Tasche. Die Zarinmutter, Maria Fjodorowna, die den Zaren noch nach der Abdankung in Mogilew besucht hatte, reist nach Kiew ab. - Soviel ich gehört habe, leben sogar jetzt noch auf der Krim an die fünfzig Personen oder mehr in ihrem Haus. - Dem Bruder des Zaren, Großfürst Michail, ist seine morganatische Gattin, die Gräfin Brassowa, näher am Herzen als der Thron, der Cousin des Zaren, Großfürst Kyrill, zieht die Grande Equipage aus Zarskoje Selo ab, hisst auf seinem Palais die rote Fahne und entweicht im übrigen noch unter Kerenski schleunigst nach Finnland. Mögen wir berücksichtigen, dass seine Frau damals sehr in der Hoffnung war. So einfach war das! Rodsianko, der au fond ziemlich fragwürdig ist, hat der Zarin noch einen Zug für sie und die Kinder angeboten, der französische Botschafter Paléologue hat sie zur Abreise gedrängt, allein, sie wollte nicht zulassen, dass die Familie getrennt werde, wunderliche, aber liebenswürdige Frau, die sie nun einmal ist.“

Er wisse nicht, ob er für eine Wiedereinsetzung des Zaren Nikolaus II sei, wo doch der kränkelnde Zarewitsch Alexej ohnehin nie auf den Thron folgen könnte, er wisse nicht, ob der Thron dann tatsächlich Großfürst Michail zustünde, oder Großfürst Kyrill, oder wem auch immer. Er wisse nicht einmal sicher, ob die Wiedererrichtung der Monarchie überhaupt wünschenswert sei, er wisse nur, dass es wünschenswert sei, den Zaren und seine Familie in Sicherheit, ins Ausland zu bringen.

„Wenn der Zar im Ausland ist, oder auch nur auf der Krim, meinetwegen,“ fuhr Rodion fort, „dann kann er seine erzwungene Abdankung für Null und Nichtig erklären, er kann die Truppen von Wrangel, Ungern-Sternberg, die Donkosaken, die Krimkosaken alle unter seinem Namen vereinen oder auch unter dem Namen des Zarewitsch, oder auch des Zaren Alexej, während alle jetzt irgendwie nebeneinander kämpfen, aber jedenfalls nicht miteinander.“

Weiters könnte der Zar im Exil sehr wohl auch seine Abdankung bestätigen, allerdings zu Gunsten eines anderen Großfürsten modifizieren, zu Gunsten eines Erben, der sich würdiger und mutiger erweisen würden als die Großfürsten Michail und Kyrill es eben erwiesenermaßen getan hätten. Dies könnte auch im Namen des unmündigen Zaren Alexejs geschehen, der dann seinerseits wirklich formvollendet abdanken könnte.

„Der Möglichkeiten sind viele, aber Hauptsache, die Truppen der Weißen würden in einem Namen und für ein Ziel kämpfen.“

Vor allem aber, so schloss Rodion seinen Vortrag, müsse der Zar gerettet werden, weil sonst den Untaten der Roten Tür und Tor geöffnet sei.

„Mit dem Tod des Zaren – und damit müssen wir praktisch täglich rechnen – mit dem Tod des Zaren, fällt die letzte, wenn nicht überhaupt einzige Hemmschwelle, uns alle umzubringen!“

Erregt sprachen alle durcheinander. Nur Vater Ignat saß da, den Kopf gesenkt, als meditiere er.

Dann stand er auf, stellte sich neben Rodion und verschaffte sich Gehör:

„Ich fürchte, unser Rodion Sergejewitsch hat recht. Im Westen und Süden stehen die Deutschen und Österreicher, im Norden Briten und Amerikaner, in der Westukraine Alexejew und Denikin, im Osten die Tschechen unter Admiral Koltschak, im Fernen Osten Ungern-Sternberg, irgendwo sogar die Japaner. Im Moment ist eigentlich mehr von Russland in der Hand der Weißen oder des Auslands als in der Hand der Bolschewiki ... “

„Aber das ist doch gut so,“ unterbrach Galia, „die Weißen können jeden Tag hier eintreffen.“

„Aber genau das ist es, was mir am meisten Angst macht.“, antwortete Vater Ignat seiner Frau mit aller Güte, der er als Geistlicher fähig war.

Galia erbleichte: „Oh, du meinst ...? Oh mein Gott, nicht auszudenken!“

„Ja, meine Lieben,“ nahm Rodion wieder den Faden auf, „wenn der Zar tot wäre, bevor die ersten Weißen hier wären, würde das jeglichem „Weißen“ Widerstand den Wind aus den Segeln nehmen. Jede Truppe würde mehr oder weniger nur mehr für sich und die persönlichen Intentionen ihrer Kommandeure kämpfen. Daher gilt mein Bestreben, den Zaren und die Familie zu befreien und zu verstecken, eben bevor die ersten Weißen hier eintreffen. Denn eine zweite Gefahr besteht noch, nämlich dass man sie alle nach Moskau bringt, der neuen Hauptstadt, oder ... wenigstens so tut als ob.“, so Rodion erregt.

„Und auf unerklärliche Weise, kommen sie in Moskau nie an.“, führte Vater Ignat den Gedanken weiter.

„Genau, Russland ist groß und zehn, zwölf oder fünfzehn Personen können schon leicht auf Nimmerwiedersehen verschwinden.“, Rodion seufzte und machte ein bitteres Gesicht. „Ich fürchte, es hat schon seine Gründe, dass man die Umgebung der kaiserlichen Familie immer mehr reduziert. Die Franzosen sind damals mit der Familie Louis XVI nicht anders umgegangen. Je mehr Fäden zur Außenwelt man durchschneidet, je mehr man die Familie isoliert, desto eher kann man sich ihr entledigen.“

Er addierte die fünfzehn Personen im Haus Ipatiew – oder eben vierzehn, abzüglich Tschemodurow - mit achtzehn Leuten im Zug, hier am Bahnhof, vielleicht zehn Personen im Gefängnis, noch einmal vielleicht fünfzehn Menschen, in Tobolsk zurück geblieben und – inklusive aller Anwesenden ein rundes Dutzend oder mehr, die sich „irgendwie und irgendwo“ in Jekaterinburg aufhielten. Man habe also die ursprüngliche Suite des Zaren bereits jetzt drastisch reduziert.

Doch wie zum Trost, erwähnte er beiläufig, dass damals in Frankreich zum Beispiel die Erzieherin der königlichen Kinder, des unglückseligen Louis XVII und der so tragikumwitterten „Madame Royale“, eine Comtesse de Tourzel, die Revolutionsjahre samt ihrer Tochter, trotz all ihrer Nähe zur königlichen Familie, ja sogar trotz beider Anwesenheit bei der in Varennes fehlgeschlagenen Flucht, unbeschadet überlebt habe. Das traurige Schicksal der vertrauten Freundin Marie Antoinettes, der unglücklichen Princesse de Lamballe, sparte er bei der Gelegenheit freilich aus.

Erregt sprachen alle durcheinander, Boris und Sascha schenkten eifrig nach, Igor und Marfja hielten sich im Hintergrund, Miss Clement gönnte sich selbst verstohlen den einen oder anderen Cognac, den sie im Geiste „Brandy“ nannte. Man rauchte allenthalben mehr als gewöhnlich, einige erledigten gewisse Bedürfnisse, das Gespräch löste sich in einzelne, kleine Runden auf.

Einzig Rodion, Fjodor und Kyril schwiegen und warteten ab.

Dann bat Rodion wieder um die gesammelte Aufmerksamkeit. „Wie kommt es eigentlich,“ so fragte er, „dass ein Teil der Suite offenbar direttissima ins Gefängnis verfrachtet wurde, während andere unbehelligt geblieben sind? Wie war das hier, bei eurer Ankunft eigentlich?“

„Abgesehen von den wenigen Leuten, die heute im Haus Ipatiew sind, und denen, die man schon in Tobolsk von uns getrennt hat, die Sie ja alle getroffen haben,“ erzählte Leutnant Pawel Milow, „abgesehen davon, wurde die restliche Suite abgesondert vor unseren Augen fortgebracht, damit meine ich eben die Gräfin Hendrikowa, Mlle. Schneider, Tatischtschew, und all die anderen, von denen Sie, lieber Rodion Sergejewitsch, uns heute erzählt haben, dass sie alle im Gefängnis sind. Dolgorukow und Wolkow dürften zu dieser Zeit bereits dort gewesen sein, denn wir kamen alle irgendwie in Raten an. Warum man die Buxhöveden gar nicht aus dem Zug lässt, oder Gilliard und Gibbes nicht in der Stadt wohnen lassen will, weiß niemand. Uns jedenfalls hat man bedeutet, wir könnten uns in der Stadt frei bewegen, dürften sie aber nicht verlassen. Ich schätze, meine Frau und mich hat man au fond wegen der Kinder in Ruhe gelassen.“

„Und ich schätze, bei uns beiden hat man doch noch einen gewissen Respekt vor meinem geistlichen Stand gehabt.“, ergänzte Vater Ignat Drutskoij ohne Blick auf seine Frau, in deren allgemein so hochherrschaftlichem Gebaren die ungewohnte Rücksicht der Bolschewiki wohl nicht begründet sein mochte.

„Und mich haben sie einfach übersehen.“, bemerkte Zoë Iwanowna von der Raab. „Ich hatte gewisse monatliche Beschwerden und kam als allerletzte erst ein paar Tage später an. Ich habe mich zum Haus Ipatiew durchgefragt, wurde aber nicht eingelassen, aber wunderbarerweise auch nicht verhaftet. Ich logierte mit Marfja und Igor in einer miserablen Pension, bis Vater Ignat uns fand.“

„Ich bin zur erstbesten Kirche und zum erstbesten Popen gegangen,“ so Vater Ignat weiter, „und bereits der zweitbeste Pope berichtete uns von diesem Haus. Ich bin dann Tag für Tag zum Bahnhof und wieder zurück und habe dabei zunächst Leutnant Milow und dann Zoë Iwanowna aufgelesen, also konnten wir hier alle zusammen bleiben.“

Sonia äußerte die Hoffnung, dass sie alle möglicherweise mittlerweile vergessen worden waren, da nicht nur der Befehlshaber der Wachen, sondern auch diese selbst mittlerweile wiederholt ausgewechselt worden seien.

„Von den Leuten, die jetzt dort Dienst haben, kennt uns niemand mehr.“, meinte sie, andrerseits sei die Stadt aber wahrscheinlich voll roter Agenten, die jedes „bourgeoise Element“ notierten.

Gilliard, der Französischlehrer und Gibbes, der Englischlehrer, seien wohl als Ausländer unbehelligt geblieben, so die einhellige Meinung, Isa Buxhöveden habe man wohl aufgrund ihres Namens für eine Ausländerin gehalten, lediglich der gute Dr. Derewenko habe sich von vornherein frei bewegen können, einzig und allein er werde vorgelassen, ins Haus Ipatiew.

Allein von Nastinka Hendrikowa, der Schneider und all den anderen habe auch er nichts in Erfahrung bringen können. Er könne allerdings auch nie ungestört sprechen. Man dachte allgemein, sie würden alle in irgendeinem anderen Haus festgehalten werden, Hausarrest ja, aber gleich ins Gefängnis, auch die Damen?

„Unsere einzige Hoffnung war Tschemodurow, von dem wir beiläufig hörten, er sei im Spital,“ so Zoë weiter, „aber mein Igor war auch krank geworden, ist erst seit gestern wieder auf den Beinen, Marfja wollte ich nicht allein ins Spital schicken, Miss Clement konnten wir nicht schicken und sonst hatten wir bis dato niemanden, um auszukundschaften.“

„Gut, jetzt sind wir aber mehr,“ meinte Rodion, „gleich ab morgen werden mein Boris und mein Sascha ihren Igor unterstützen, liebste Zoë Iwanowna.“

„Wo logiert ihr eigentlich?“, fragte Galia. „Und wie seid ihr eigentlich hierher gekommen?“

„Jedenfalls nicht mit dem Zug.“, antwortete Rodion vage und meinte, die Geschichte ihrer Odyssee würde zu lange dauern. Fjodor, Kyril und er wechselten verschwörerische Blicke, lächelten dabei aber sogar in Erinnerung an offenbar absurde Momente und ungeahnte Situationen. Es war ganz offensichtlich, dass er über ganz offensichtlich geheimnisvolle Umwege nicht sprechen wollte.

Jedenfalls, wohne er hier mit Boris und Sascha bei einem pensionierten polnischen Oberst und dessen unverheirateter Schwester, früher Lehrerin in einem Institut für höhere Töchter, bettelarm, da von ihren Pensionen abgeschnitten, très bourgeois und entsprechend verschwiegen.

Fjodor und Kyril hingegen, so Rodion weiter, wohnten schräg vis-a-vis von ihm, bei einem Apotheker, in einer Wohnung oberhalb der Apotheke, deren Besitzer, - wie gewohnt und als habe sich nichts ereignet – den Sommer über samt Familie die meiste Zeit außerhalb der Stadt in seiner Datscha weile.

„Ich frage ungern, aber ich muss wohl.“, Rodion seufzte, „Wie war das mit Gawril Rokowanskij und den Sova-Belus?“

Jetzt riss Galia das Gespräch an sich, sie habe die Sova-Belu und ihren Sohn Kuprian eines Tages auf der Straße getroffen, beide auffallend elegant und in Begleitung ihres Majordomus, des Schweizers Louis Schmitz. Sie, Galia, sei ganz überrascht gewesen, gehörte doch die Sova-Belu nicht zur engeren Hofgesellschaft. Jene aber habe sie mit großem Enthusiasmus begrüßt, als stünde man in bester Freundschaft, um dann später verschwörerisch zu erwähnen, sie sei in „bestimmter“ Mission in der Stadt. Dann habe sie kokett hinzugefügt, sie reise mit dem Prinzen Rokowanskij.

„Wie grässlich versnobt von ihr, immer die Titel zu erwähnen, als ob man sie nicht wüsste!“, so Galia, „Daraufhin ich, vielleicht etwas süffisant und ein wenig von oben herab: „Grüßen Sie doch bitte Gawril Antonowitsch von mir und meinem Mann.“ Es war, als begegne man sich in Baden-Baden, am Semmering, an der Côte oder im Hotel Danieli.“

Galia schüttelte sich noch in der Erinnerung. „Mein lieber Rodja, ich weiß, dass du keine Streitkultur hast, weil du es einfach hasst, zu streiten. Was dich und Gawril, oder eben Glafira Sova-Belu betrifft, war ich nicht hundertprozentig auf deiner Seite, weil ich weiß – verzeih mir - wie arrogant und hochnäsig du sein kannst, wenn man dich verletzt. Du setzt dann dein schönstes „Großfürstengesicht“ auf, formulierst ein elegantes Malmot a´la „Zigeunerbaronin“ und schon macht sich die ganze Sache selbstständig und entwickelt ein Eigenleben, wo es kein Zurück mehr gibt. Aber das eine schwöre ich dir, so unsympathisch, wie hier, war mir die Sova-Belu noch nie. Ihr Sohn ist ein stilles Wasser, tut alles, was die Mami sagt und Gawril hängt anscheinend wirklich so an ihren Rockschößen, wie du es immer so gern behauptet hast.“ Sie hatte sich in Fahrt geredet und war ziemlich echauffiert. „Und ihr hochherrschaftliches Auftreten, wo wir uns alle hier bemühen, einigermaßen dezent zu sein! Nein, sie war wirklich unmöglich!“

Man sei, so Galia weiter, mit jener oberflächlichen Grußformel verblieben und habe keine Adressen ausgetauscht, was sie jetzt vielleicht bedaure.

„Schmitz ist also bei ihr?“, fragte Rodion, „Ihr „Majordomus“? Mon Dieu, in ganz Russland hat niemand außer der Sova-Belu einen „Majordomus“!“

„Schmitz, seine Frau Ludmilla und Gawrils junger Diener Marcel, soviel ich weiß.“, ergänzte Vater Ignat den Bericht seiner Frau.

„Wobei mich nicht wundern würde, hätten sie Glafiras Friseur und Kuprians persönlichen Konditor dabei!“, Galia Pawlowna hatte sich noch immer nicht beruhigt.

„Marcel, der Neger?“, fragte Rodion und verkniff sich eine Anekdote über Königin Marie Antoinettes Friseur, „Der schwarze Marcel?“

Denn jener Diener war der Sohn eines abessinischen Türstehers im Palast und einer französischen Gouvernante und eine der auffallendsten Erscheinungen in Zarskoje Selo gewesen.

„Oh ja,“ meinte Galia bitter, „Die Sova-Belus und Rokowanskij fallen hier wirklich auf, wie die bunten Hunde!“

Divinely decadent, isn’t it?“, meinte Zoë. Sie vertrug eindeutig weniger als sie trank.

Etwas später, so Zoë, habe Gawril sie seinerseits aber ausfindig gemacht und besucht, aber auch sie wisse nicht, wo er wohne, so geheimnisvoll tat er. Die Sova-Belu oder ihren Sohn habe sie selbst nicht gesehen. Sie finde übrigens nicht, dass Gawril und Glafira so sehr auffielen, denn die Stadt wimmle schließlich nur so von seltsamen Existenzen, verschwörerischen Popen, ehemaligen Offiziere und so weiter, Petrogradern und Moskowitern, ganz einfach.

Noch In Tobolsk sei zum Beispiel eine Petrograder Bekannte von Tatiana Botkina, eine Rita Irgendwer, direkt bis zu Nastinka Hendrikova vorgedrungen, ein halbverrücktes junges Mädchen, aber in weiterer Folge natürlich verhaftet worden.

„So dumm ist die Sova-Belu nicht,“ fuhr Zoë fort, „Gawril hat mir erzählt, sie verzichte bewusst nicht auf ihre gewohnte Elegance und ihr herrschaftliches Auftreten, denn je länger sie als „bunte Kuh“, - so Gawril - , am Haus Ipatiew vorbei paradiere, desto eher würde sie erst recht übersehen werden.“

„Wenigstens in der Theorie.“, murmelte Rodion.

Tatiana Botkina habe auch erzählt, so Zoë weiter, der Sohn ihrer Hauswirtin oder so ähnlich, sei mit dem Sohn des letzten zaristischen Gouverneurs in Tobolsk befreundet und auch dieser habe von einer Verschwörung zu Gunsten des Zaren erzählt.

„Na, hoffentlich steigen wir uns dann nicht eines Tages noch auf die Zehen!“, war Rodions ganzer Kommentar.

Da meldete sich Kyril Martinowitsch zu Wort und weil der sonst so stille Sekretär dies im Unterschied zum so eloquenten Arlington selten tat, erhielt er wenigstens auch prompt die volle Aufmerksamkeit.

„Mich wundert dabei eines. Ich denke jetzt einfach laut nach. Alle, die jetzt hier noch frei sind, kamen aus Tobolsk, also zuletzt aus dem Osten hierher. Und wir alle ja auch. Die letzte uns allen bekannte Adresse der Zarenfamilie war Tobolsk und erst durch Tatiana und Gleb Botkin oder Mme. Derewenko erfuhren wir, ich meine Rodion, Fjodor und ich, von Jekaterinburg. Niemand in Tobolsk aber hat die Baronin Sova-Belu oder Prinz Rokowanskij auch nur annähernd erwähnt.“

Kyril verwendete auch die Titel mehr als unbedingt notwendig, aber nicht aus Snobismus, um vielleicht mit adeligen, oder sonst wie prominenten Bekannten zu prahlen, sondern im sicheren Bewusstsein, auch als Freund und Vertrauter Rodions, denn doch von ihm ein Gehalt zu beziehen. Er stellte sich nicht gern höher als er war.

„Woher wussten sie also von Jekaterinburg? Wieso sind sie ganz offenbar direkt aus dem Westen hierher gereist? Wieso mussten sie sich nicht, - wie wir –, erst in Tobolsk erkundigen?“

Zoë Iwanowna wandte ein, Gawril sei doch wegen ihr hier und sie würde jetzt beleidigt sein, wäre dem nicht so. Sie meinte das freilich selbst nicht ernst, war ein wenig exaltiert und hatte einen Portwein oder Sherry zuviel intus.

Allgemein wurde dieser Annahme keine Rechnung getragen, sondern man stellte die verschiedensten Mutmaßungen an.

Galia vermutete, die Sova-Belu sei doch eher eine Vertraute der Zarinmutter als der Zarin, vielleicht reise sie aufgrund deren Initiative und auch unterstützt von Mitteln der Zarinmutter, Maria Fjodorowna?

Erneut redeten alle erregt durcheinander. Rodion verschaffte sich nach einer Weile endlich wieder Gehör.

„Wie auch immer, wir gehen also folgendermaßen vor: Boris und Sascha unterstützen Igor bei der Suche nach Tschemodurow im Spital, in welchem auch immer. Ansonsten schwirren wir alle miteinander aus, um die Adressen der Glafira oder/und von Gawril ausfindig zu machen – und so Gott es will – werde ich eben nach Canossa gehen, sprich die Bagage mit meinem Besuch beehren. Zum Haus Ipatiew versuchen wir besser vorerst nicht direkt vorzudringen, aber es wäre zweckdienlich, mit unserem Dr. Derewenko in Kontakt zu bleiben. Fällt sonst wem noch was ein?“

„Ich bin mit einem Popen in Kontakt, der wieder den Popen kennt, der zum Gottesdienst zur kaiserlichen Familie vorgelassen wird.“, erwähnte Vater Ignat.

Rodion meinte, er solle versuchen, direkt mit jenem Popen in Kontakt zu kommen.

„Wenn ich morgen ganz unschuldig durch die Stadt flaniere,“ so Fjodor, „finde ich sicher irgendeinen griechischen Kaufmann.“

Daraufhin meinte Rodion, er habe ja nie an die drohende Weltherrschaft der Juden geglaubt, allmählich glaube er jedoch an eine heimliche Weltherrschaft der Griechen.

„Es gibt genug Ausländer hier.“ Sonia dachte laut nach, „Ich könnte mich doch einfach dumm und ausländisch stellen. Warum gehe ich nicht ab morgen mit Miss Clement in alle betretbaren Geschäfte? Ich spreche fließend englisch und gegenüber den Russen dann eben ein sehr, sehr, sehr gebrochenes Russisch. Ich könnte einfach die Ohren spitzen, oder?“

Fjodor fragte, was denn, à propos, eigentlich mit den hiesigen Konsulaten sei und erhielt zur Antwort, Gilliard habe sie bereits aufgesucht. „Dem Schweden fällt nichts ein, der Engländer will ohne höhere Order nichts tun und der Franzose ist auf Urlaub.“, so Gilliard.

„Auf Urlaub, wie nett.“ schloss Rodion, „Na schön, jeder von uns tut jedenfalls ab morgen, was ihm oder ihr nur irgendwie einfällt. Vergesst aber vor allem nicht, dass wir unsere Bedienten aussenden. Sie sprechen die Sprache der einfachen Leute, sie fallen weniger auf als wir. Selbst Galia, in ihrer ganzen Zurückhaltung als Frau eines Popen fällt noch zu sehr auf, wirkt zu großstädtisch, von uns anderen will ich gar nicht reden, wir sind es nicht gewöhnt uns zu verkleiden.

„Wie ist denn eigentlich au fond die Stimmung in der Stadt?“, fragte er noch.

Der wenige hier ansässige Adel, so bekundete man, sei weg, detto die Großindustriellen, die Stahl- und sonstigen Montanbarone, der Mittelstand eben teilweise, wie üblich. Einige Hotels seien von Bolschewiki beschlagnahmt, das „Amerika“ sei gar Quartier des lokalen Sowjets. Abgesehen von wenigen Restaurants und Cafés hätten die besseren Geschäfte allgemein geschlossen, wie auch die Oper und alle Theater, die Kinos böten bloß niedrigste bolschewistische Propaganda und seien so gut wie unbesucht, auch der Zirkus sei zu.

Andrerseits aber gäbe es natürlich jede Menge zwielichtige Kabaretts, Schieberlokale und ähnliche Kaschemmen, teilweise in hochelegantem Ambiente, da in ehemaligen Adelsclubs oder auch Etablissements zweifelhafter Provenienz beheimatet. Die Stadt wäre an und für sich durchaus bourgeois, da ja wohlhabend gewesen, aber andererseits drohe allenthalben auf der Straße Belästigung durch rote Milizen, denn es sei ja auch etliches echtes Proletariat in der Stadt vorhanden. Die Bauern jedenfalls seien ganz und gar auf der Seite des Ancien Régime, lediglich die Pächter der wenigen großen Adels- und Kirchengüter in der Umgebung fraternisierten vielleicht ein wenig mit den Roten.

„Eine Frage habe ich noch, gibt es hier so etwas wie eine Konditorei?“, so Rodion.

Sonia meinte, es gäbe wenigstens eine etwas bessere Bäckerei mit einer Art Café angeschlossen, sie und Miss Clement wären der Kinder wegen schon dort gewesen, Petrograder Vorstadtniveau etwa, warum er frage?

„Weil ich jetzt weiß, wo ich der Glafira begegne.“, meinte Rodion und gestaltete dann den Abend in eine Wiedersehensfeier um.

„Ihr habt doch nichts dagegen, dass wir Champagner mitgebracht haben, oder?“

Niemand hatte etwas dagegen. Der Abend würde noch lange dauern und einigermaßen fröhlich werden.

*

Sascha und Boris zogen die Vorhänge zu, beide waren – trotz Rodion Arlingtons sonstiger pragmatischer Hellsichtigkeit – die einzigen, die darauf achteten, dass jenes Haus der Witwe Martinowa nicht zu sehr ins Licht einer sicher ungewollten Aufmerksamkeit geriet.

Boris lächelte Sascha verschwörerisch zu, aber der verstand wieder nur die Hälfte.

„Was für ein Kind,“ dachte Boris, „aber wenigstens ein treues Kind!“

Sowohl Boris´ wie auch Saschas Familie standen beide seit Generationen im Dienste der Arlingtons. Boris´ Mutter war jene Gesellschafterin der alten Gräfin Arlington, die Rodion erwähnt hatte, also wusste er sie sicher in Schweden, sein Vater lebte nicht mehr. Während Rodion zum früh verwaisten Sascha fast väterliche Gefühle entwickelt hatte, bei aller von Gott gegebenen Distance, so hatte Boris den vierzehn Jahre jüngeren als einen Wahlbruder quasi „adoptiert“.

Beiden war es im übrigen selbstverständlich, ihren Herrn überall hin zu begleiten, sie kannten nichts anderes. Sascha war noch zu jung, um sich an all jene Vorkriegsreisen nach Wien und Paris erinnern zu können, aber Boris – seit Jahren Rodions Reisebegleiter – erschien eine Reise nach Sibirien genauso wenig absurd als irgendeine andere Route es jemals gewesen war.

Das allgemeine Gespräch hatte sich in kleine, formlose Runden und Einzelgespräche aufgelöst.

„Mein lieber Kyril Martinowitsch,“ begann Zoë Iwanowna, „ich bin einigermaßen überrascht, Sie als Sekretär von Rodion Sergejewitsch hier vorzufinden. Ich dachte, Sie wären sein Neffe?“

„Das glauben viele,“ entgegnete er, „weil ich ihn entre nous auch „Onkel“ nenne. Vielleicht ist mir das manchmal auch schon in einer größeren Runde heraus gerutscht.“

„Ich dachte,“ so Sonia Alexandrowna, „unser lieber Rodja hätte aber doch einen Neffen, einen leiblichen, meine ich?“

„Oh doch, hat er,“ ergänzte Galia Pawlowna, „von einer früheren Geliebten seines bereits erwähnten Bruders. Auch etwa im Alter von Kyril Martinowitsch, schätze ich. Aber jene Frau hat unmittelbar nach der Trennung von Dimitri Arlington jeglichen Kontakt mit der Familie abgebrochen. Ich glaube nicht, dass Rodja sehr am Schicksal von ihr oder ihrem Sohn interessiert ist.“

„Ist sie denn eine von uns?“, wollte Sonia wissen.

„Aber nein, au contraire, mein Liebe,“ antworte Galia, „soviel ich weiß, hat die gute Frau, die Mutter von Rodjas „echtem“ Neffen, meine ich, im Stadtbüro oder im Geschäft der Arlingtons gearbeitet, sie importieren doch Kristallglas von ihren böhmischen Verwandten. Sie wissen schon, „Arlington-Kristall“.

„Ich dachte immer, das sei irisches Kristall. Aus Böhmen also? Es gibt also böhmische Arlingtons?“, Zoë war gelinde erstaunt, obwohl ihre Familie im Ursprung aus Lübeck stammte und über Riga nach Petrograd gelangt war.

„Nun, soviel ich weiß,“ mischte sich Kyril wieder ein, „stammen die Arlingtons zwar im Ursprung aus England, wie der Name sagt, sind aber auch in Böhmen und in Wien zu Hause, waren es auch in Frankreich und sind teilweise auch nach Amerika. Der Name des amerikanischen Nationalfriedhofs, „Mount Arlington“, lässt sich angeblich auf Rodion Sergejewitsch´ Familie zurückführen. Und in der Gesellschaft des Abbé Edgeworth, des Beichtvaters Louis XVI, befand sich auch ein Abbé d´Arlington.“

„Hingerichtet? Damals, meine ich?“, fragte Sonia kühl, während sie am lang vermissten Champagner nippte, auch wenn dieser eigentlich etwas zu warm war und sehr durchgeschüttelt worden war.

„Nein, in der Emigration gestorben, in Cöln oder Coblenz, glaube ich.“, antwortete Kyril, „Aber daher rührt Rodjas Interesse an der Französischen Revolution.“

Galia erwähnte beiläufig, das Geschäft mit dem böhmischen Kristall sei während des ganzen Krieges weiter gelaufen, der Name sei ja unverfänglich und Rodion habe einfach den Import über Schweden umgeleitet und andere Verpackungen angeschafft. Deswegen säße sein Cousin nämlich in Wirklichkeit in Schweden und deshalb habe Rodion auch Geld in Schweden. Das Petrograder Geschäft freilich sei schon im Sommer des Vorjahres vom Mob zertrümmert worden.

„Womit handelt Ihre Familie eigentlich, Kyril Martinowitsch?“, wollte Zoë plötzlich wissen, der offenbar nach einem Themenwechsel war.

„Mit Tee.“, antworte jener, „Übrigens habe ich von Tatiana Botkina beiläufig erfahren, dass auch die Familie von Dr. Botkin ursprünglich aus dem Teehandel stammt, respektive deren Moskauer Verwandten es immer noch sind.“

Sonia meinte daraufhin, mit Teehandel könne man nur in Russland, England und Indien reich werden.

„Irgendwie leben wir schon alle in sehr komplizierten Familienverhältnissen.“ , meinte Vater Ignat zu Rodion, „wenn unsereins nicht geschieden und wiederverheiratet ist, dann sind es die Eltern.“

„Zeichen der Zeit, mein Lieber,“ antwortete jener, „Sagen Sie, muss ich Sie eigentlich immer noch„Vater Ignat“ nennen? Angesichts der Tatsache, wie lange Galia und ich bereits befreundet sind, und angesichts der Umstände, wie wir uns jetzt wieder begegnen, würde ich Sie gerne formloser „Ignat Borisowitsch nennen.“

„Wir können es gerne noch formloser halten und einander duzen.“

Sie stießen miteinander an und die Gläser klirrten.

„Arlington-Kristall, lieber Rodion?“, fragte Ignat.

„Aber, selbstverständlich, lieber Ignat. Ich bin dafür bekannt, mit großem Gepäck zu reisen.“

„Darf ich mich dieser Verbrüderungsorgie als der Mann Ihrer zweitältesten Freundin anschließen, lieber Rodion Sergejewitsch, Vater Ignat?“, stieß Leutnant Pawel zu ihnen. Das Angebot wurde dankend erwidert und wieder klirrten die Gläser aus der Fabrik der böhmischen Arlingtons, Gläser die im allgemeinen für irisch gehalten worden waren.

„Und im übrigen,“ so Pawel, „verbrüdern sich die Damen derzeit genauso.“

Und tatsächlich, da Kyril sich für den Moment entfernt hatte, klirrten die Gläser zwischen Zoë, Galia und Sonia tatsächlich m selben Sinne.

Rodion warf die Frage auf, ob sich Damen nicht eigentlich verschwisterten, aber diese Frage wurde nicht hinreichend gelöst.

„Mein lieber Kyril Martinowitsch,“ begann Fjodor, „da sich hier im Moment alle zu verbrüdern scheinen, sollten wir es den anderen gleichtun. Den Damen gegenüber wäre es vielleicht zu aufdringlich und gegenüber Vater Ignat oder Leutnant Milow wäre es vielleicht auch nicht angebracht, aber wir duzen Rodion Arlington beide und sind im selben Alter.“

Kyril erwiderte das Angebot dankbar und fragte dann: „Ich dachte aber, mit Galia Pawlowna wären Sie, Pardon, wärst du, aber doch ohnehin per Du?“

„Oh ja, mit ihr ja, sie hat es mir eines Tages angeboten, aber Sonia Alexandrowna kenne ich kaum und Zoë Iwanowna noch weniger.“

„Weißt du, ich leide manchmal unter meiner Stellung,“ begann Kyril, „einerseits bin ich Rodjas Sekretär, andrerseits hält mich die Hälfte der Leute für seinen Neffen.

Den Menschen ist im allgemeinen nicht klar, wie sie mir begegnen sollen und ich weiß es auch nicht immer. Deswegen halte ich auch meistens den Mund.“

„Ich war mit meinem Sekretär auch sehr per Sie,“ erzählte Fjodor, „nannte ihn nicht einmal beim Vornamen. Wir beide hatten nicht das selbe Vertrauensverhältnis wie du und unser aller lieber Rodja. Deswegen ist mein Sekretär jetzt aber auch irgendwo und nicht in Odessa, bei meiner Familie. Sei froh, dass sich zwischen euch so ein Vertrauen entwickelt hat, niemand außer uns beiden weiß besser, wie zurückhaltend Rodja au fond sein kann. Von seinen anderen Freunden unterscheidet uns beide vor allem das Alter. Einzig und allein Galia Pawlowna hat mir gegenüber diese Distance überwunden. Aber jetzt, wo wir hier alle mehr oder weniger im selben Boot sitzen, sollten wir auch enger zusammenrücken.“

Kyril verlor sich in Betrachtungen, dass in Kaufmannsfamilien vielleicht noch mehr Distance herrsche als in adeligen, denn seine Eltern seien mit den Großeltern per Sie, und er mit den Eltern genauso, andrerseits sei Rodion nur mehr mit seinem Vater per Sie, mit seiner Mutter aber nicht.

Boris registrierte die Veränderungen in der Runde bis ins letzte Detail, während er Aschenbecher leerte und nach schenkte. Früher hatte es oft Jahre gedauert, bis Regimentskameraden, Beamte im selben Ministerium oder einander verschwägerte Damen per Du wurden, es gab sogar genug Ehepaare, die per Sie blieben, wenn auch nicht so häufig, wie in Frankreich, wie er von diversen Reisen von französischen Bedienten wusste. Beiläufig hatte er so auch erfahren, dass beispielsweise in Österreich sogar Bauern ihre Eltern siezten.

Graf Rodions Freundeskreis hatte immer Menschen seines Alters, also mittlerweile Anfang Vierzig, bis hinunter zu Mittzwanzigern, wie Fjodor Gerakis oder Kyril Ruso de Lensky, umspannt.

Rodion Sergejewitsch war allgemein in jeder seiner kleineren Tischrunden der Älteste gewesen, einzig Sonia Alexandrowna war ein oder zwei Jahre älter als er. Jetzt aber hatte es sich ergeben, dass Barin Rodion mit den Ehemännern seiner beiden Jugendfreundinnen per Du geworden war und die Damen Galia, Sonia und Zoë, die einander kaum gekannt hatten, miteinander das Du-Wort ausgetauscht hatten, während die beiden jungen Vertrauten Rodions, nämlich Fjodor Michailowitsch und Kyril Martinowitsch dies ihrerseits getan hatten.

Boris spürte ein gewisses Kribbeln im Kopf, wie er es immer hatte, wenn sich während einer Abendgesellschaft irgendetwas maßgeblich veränderte.

Sascha spürte auch, dass sich etwas veränderte, verfügte aber bei weitem nicht über Boris´ so erprobtes Gespür, er merkte nur, dass er sich im Kreise seines Herrn immer wohler, immer sicherer und insgesamt geborgen und gut aufgehoben fühlte.

Er wusste sehr wohl, dass beim Sturm auf so manches Landgut oder städtisches Palais auch Diener wie er, und auch sehr wohl Diener seines Alters ums Leben gekommen waren, allein, er fühlte keine Angst. Er wusste sehr wohl, dass für die Bolschewiki Leute wie er nur als „parasitäre Mitläufer des Kapitals“ galten und „reaktionärer als die Herrschaften“ befunden wurden, er kannte die Diktion der einschlägigen Flugblätter und Plakate, weil er genug lesen konnte, allein, es focht ihn nicht an. Er vertraute seinem Grafen und er vertraute Boris und außerdem kannte er kein anderes Leben und wenn er vor irgendetwas wirklich Angst hatte, dann war es ein unbekanntes, neues Leben.

„Wie geht es eigentlich unserer „Roten Martina“?, fragte Rodion Galia.

„Oh ja, das ist ein besonderes Kapitel,“ begann Galia animiert, „innerhalb dieser „Ereignisse“ oder „Aufregungen“ und ebenso bezeichnend.“

Martina Michailowna, Fürstin Svetosavkaija-Svabenitzkaija, allgemein als „Die Rote Fürstin“ bekannt, war die Wahltante Galia Pawlownas und stets dafür bekannt gewesen, alle möglichen Umstürzlern in ihrem Palais oder auf einem ihrer zahlreichen Güter zu beheimaten und darüber hinaus gerne und auch ungefragt jedwedem Attentäter den Anwalt zu bezahlen.

„Ich fürchte,“ so begann Galia, „ meine liebe Martina Michailowna war baff erstaunt, dass man sie, - als Berufsrevolutionärin - , nicht entsprechend zu würdigen wusste. Ich schätze, nach dem Smolny-Institut und dem Haus der Kschessinskaja war ausgerechnet ihr Haus vermutlich das dritte oder vierte in ganz St. Petersburg, Pardon, Petrograd, das beschlagnahmt wurde. Offenbar rechneten ihr die Bolschewiki ihre hochnoble Herkunft eher an, als ihr sonstiges „Engagement“. Sie hat es erst begriffen, als man Artur Petrowitsch, ihren Sohn, erschossen hat. Bedauert ihn nicht, meine Lieben, es war die Erlösung für ihn, so abhängig und voll von Drogen und Alkohol er allgemein war.“

Danach erst habe die gute, liebe und so verblendete Martina ihre Schwiegertochter, Fiona, - née Bettray de Blueberry - , und ihre Enkelinnen, die Zwillinge, zusammen gepackt und sei, soviel sie, Galia, wisse, nach Bulgarien entwichen.

„Jedenfalls halte ich das für wahrscheinlich, da ihr Schwager, der bekannte Ölmagnat Timofei von Sneeuberg und ihre Schwester schon dort sind.“

„Die Arme,“ so Vater Ignat etwas zynisch, „die einen Großteil ihres Vermögens der „Revolution“ gewidmet hatte, dürfte jetzt ziemlich mittellos sein, denn sie gehört sicher zu denen, die in keiner Weise vorgesorgt haben, in völliger Unkenntnis der eigenen Situation.“

„Ignoranz der eigenen Situation,“ meinte Rodion, „wolltest du wohl sagen.“

„Wie auch immer, aber da fällt mir noch wer ein, den die meisten von uns kennen,“ begann Galia, „Was hat man zuletzt von Iskander gehört?“

„Iskander Ilarionowitsch Bek-Isadkow, “ antwortete Rodion düster „ist irgendwie neuerdings mir völlig abhanden gekommen. Seine Töchter leben vermutlich - oder hoffentlich - nach wie vor bei ihrer Mutter am Land. Von Iskanders Mutter, Stiefvater, Stiefschwester, Halbbruder und all deren Familien weiß ich naturgemäß noch weniger. Ich glaube, er hat sogar noch eine Großmutter. Um Iskanders Freundin Olga und den Sohn mache ich mir weniger Sorgen, die ist mit etlichen Bolschewiki per Du. Die Kanzlei von Iskander ist jedenfalls geschlossen, also sind offenbar auch seine beiden Compagnons untergetaucht oder auf und davon. Ihr erinnert euch vielleicht, der eine hat vier kleine Söhne, der andere drei kleine Töchter. Hoffen wir also für alle das Beste. Mehr kann ich dazu nicht sagen, es hat sich niemand mit mir in Verbindung gesetzt und ich habe niemanden erreicht.“

„Das macht mich übrigens am meisten wahnsinnig,“ meinte Galia, „dass man von so vielen Menschen einfach nicht weiß, wo sie sind, oder ob sie überhaupt noch am Leben sind!“ Und wieder dachte sie in erster Linie an die Kinder.

Zoë wirkte etwas ratlos, da flüsterte Fjodor ihr zu, Galia sei zunächst mit Rodion befreundet, dann mit jenem Iskander verlobt gewesen, bevor sie Vater Ignat geheiratet habe. Zoë verdrehte etwas die Augen, sie begann den Überblick zu verlieren vor lauter Ex-Verlobten und Ex-Eheleuten.

„Egal!“ Rodion riss wieder die gesammelte Aufmerksamkeit an sich, nachdem er sich kurzfristig in Gedanken verloren hatte, „Verlieren wir uns nicht in Mutmaßungen über Menschen, die wir einmal in besseren Zeiten kannten. Mes amis, auch eingedenk der Tatsache, dass wir vermutlich alle schon Tote zu beklagen haben, von denen wir bloß noch nichts wissen, ich habe mir jedenfalls etwas ausgerechnet.“

Russland, so begann er, habe eine Million Aristokraten, man möge sich doch jetzt, bitte sehr ausrechnen, wie viele Offiziere und Beamte dazu kämen, Geistliche, Popen, Mönche und Nonnen, erst recht wie viele Bourgeois, Industrielle, Bankiers, aber auch Mittelständler, wie Kaufleute, Anwälte, Ärzte, Ingenieure, oder dazu noch etablierte Künstler und Intellektuelle, wie Opernsänger, Ballerinen, Schauspieler, Maler, oder Autoren und Zeitungsherausgeber. Dazu kämen noch „von uns abhängige Gewerbetreibende“, wie Hoteliers, Konditoren, Juweliere und Uhrmacher, Putzmacherinnen, Schneider, Restaurantbesitzer, ganz zu schweigen von der enormen Masse an wohlhabenden Handwerkern und Großbauern, - die Bedienten nicht einmal annähernd eingerechnet.

„Millionen über Millionen Feinde der Bolschewiki,“ so Rodion, „Millionen über Millionen „Klassenfeinde“, die auf der Abschussliste der Bolschewiki stehen. Sie können uns nicht alle umbringen, wir sind zu viele. Sie können uns nicht einmal alle vertreiben, denn wir sind auch dazu zu viele!“

„Und damit komme ich wieder zum Zaren, zu unserer hochverehrten kaiserlichen Familie. Wenn diese – Gott möge es verhüten – umkommt, oder einfach irgendwie abhanden kommt, dann packt jeder Kaufmann, jeder Ingenieur, - wie schon ganz offensichtlich die Kornilows in Tobolsk und sehr wahrscheinlich auch die Ipatiews hier - , dann packt jede kleine Inhaberin einer Confiserie oder eines Hutgeschäfts die beste Habe zusammen, genauso wie jeder Anwalt und Universitätsprofessor und alle folgen sie dann den Fürsten und Grafen auf die Krim, nach Kiew oder sonst wohin. Dann aber brauchen die Bolschewiki gar nicht mehr so viele umzubringen, oder zu vertreiben, da die meisten von sich aus gehen würden. Versteht ihr, was ich meine? Niemand würde mehr Widerstand leisten, es würden alle einfach weg gehen, so rasch wie möglich und so weit wie möglich!“

Dies aber, so Rodion, wäre dann aber ein Aderlass, von dem sich Russland über Generationen nicht erholen werde können, dagegen sei ja das mongolische Joch noch ein Honiglecken gewesen. Gingen all diese Leute wirklich weg, oder würden sie tatsächlich umgebracht werden, würde dies Russland ohne Frage ins Mittelalter zurückwerfen!

„Daher,“ so schloss er, „betet für die Toten, aber kämpft wie besessen für die Lebenden!“

*

Irgendwann später, nach vielen lebhaften Gesprächen, brach Rodion mit seiner Entourage auf, man ging zu Fuß, woran man sich mittlerweile ja gewöhnt hatte.

Man war ja nicht mehr in der Situation, dass man von der erstbesten Ecke hätte eine Droschke zur Heimfahrt finden können.

Theoretisch bestand nach Mitternacht sogar ein Ausgangsverbot, worum sich faktisch jedoch niemand kümmerte, dennoch war Vorsicht geboten.

Deswegen waren Fjodor und Kyril auch bereits früher gegangen. Sie würden ein Licht im Fenster der Apothekerwohnung brennen lassen. Und Rodion würde desgleichen in der Obristenwohnung tun, eigentlich würde es wohl Sascha tun, während Boris seinen Herrn zu Bett bringen würde. Somit würde oder sollte jeder wissen, dass die andern wohlbehalten angekommen waren.

Auch im Hause Martinowa zog man sich allmählich zurück.

Pawel und Sonia rauchten noch ein Pfeifchen Opium, wohl wissend, dass sie kaum noch über entsprechende Vorräte verfügten, wohl wissend, dass selbst Rodion, - der sein umfangreiches Gepäck bei ihnen und ihren Mitbewohnern abgestellt hatte - , dass selbst er, dies nicht mit sich führen würde.

Die Pfeife hatte Pawel während einer Reise in Samarkand erstanden, sie war aus filigran gearbeitetem Silber und der Pfeifenkopf hatte die Form eines Elefantenkopfes, gerade groß genug, um ein Opiumkügelchen aufzunehmen.

„Eines beruhigt mich,“ begann Pawel, „der Duc de Liancourt muss Anno dazumal überlebt haben.“

„Wie kommst du darauf?“, fragte Sonia, schon halb im Einschlafen begriffen.

Pawel meinte daraufhin, wenn man jenen Dialog wohl kaum aus dem offensichtlich so nichtsnutzigem Tagebuch des Louis XVI wissen könne, müsse der ja wohl von jenem Herzog überliefert worden sein.

Diese Vermutung zog Sonia jedoch in Zweifel. Es habe schließlich auch diesen Kammerdiener gegeben, Cléry, Fleury, oder wie auch immer, irgendwen jedenfalls, der Jahre später in Wien, oder jedenfalls in Österreich gestorben sei und lebhafte Memoiren hinterlassen habe.

Der, so Sonia, könnte doch auch dabei gewesen sein, oder? Mit diesen Worten schlief sie einigermaßen gelangweilt ein.

Pawel war erstaunt, da dieses Wissen mehr nach Rodion, denn nach seiner Frau klang, aber er ließ sich dadurch freilich nicht irritieren, zeigte seiner schlafenden Frau die Zunge und freute sich, wenigstens ein halbes Opiumpfeifchen für sich allein zu haben.

Er hatte keine Angst. Er dachte an seinen Vorgesetzten, Oberst Kobylinski, der mit seiner Freundin, Mlle. Bitner, in Tobolsk zurück geblieben war und fragte sich, wie es ihnen wohl mittlerweile gehen würde.

Seit er hier in Jekaterinburg Unterschlupf gefunden hatte, war er in Gedanken untergetaucht. Er hatte aufgehört, Uniform zu tragen und sich seinen eleganten Schnurrbart zu einem unauffälligen Schnauzer gestutzt. Er dachte nicht daran, sich noch weiter um die Zarenfamilie zu kümmern.

Er hatte schon überlegt, sich von den Drutskoijs abzusetzen, die er ohnehin vorher kaum gekannt hatte. Er fand, der Prediger sollte sich die Haare schneiden und den Bart rasieren und sich zivile Kleidung zulegen. Mlle. von der Raab fiel weniger auf, sie war eine stille Schönheit, die sich unauffällig kleidete. Sie hatte ihm leid getan, so isoliert wie sie war. Aber jetzt hatte sie Rodion als ihren Beschützer und vielleicht auch diesen Gawril.

Pawel hatte weder an Rokowanskij noch an die Sova-Belus eine besondere Erinnerung, war ihnen auch hier noch nicht begegnet.

Auch egal, dachte er, wenn alle Stricke reißen, packe ich Sonia, Miss Clement und die Kinder zusammen und setzte mich ab. Er mochte Rodion, aber er wusste, seine Frau würde ihm trotz ihrer langjährigen Freundschaft mit Arlington folgen. Diese Gruppe wurde in seinen Augen immer größer und damit immer auffälliger.

Die Milows, wie auch Sonias Familie entsprachen dem Feinbild der Bolschewiki sehr, waren allgemein Offiziere oder Beamte und lebten von ihren Landgütern, die sie kaum jemals persönlich besuchten, höchstens im Sommer.

Pawel musste auf der Hut sein.

Aber er hatte ja auch ein kleines, aber entscheidendes Detail heute Abend nicht erwähnt, nämlich dass auch er und Sonia über englische Pässe verfügten, Pässe, die sie unter ihren echten Namen zwar als gebürtige Russen, aber britische Staatsbürger auswiesen. Darüber hinaus waren die Kinder als Enkel der verwitweten „Mrs.“ Clement ausgewiesen. Pawel verfügte durch eine Erbschaft über ein kleines aber im Notfall durchaus beruhigendes Konto in London und hatte eine Cousine, die dort verheiratet war.

Praktischerweise war die Schwester von Miss Clement in England die Gouvernante von Muriel Buchanan gewesen, der Tochter von Sir George, dem letzten englischen Botschafter am Zarenhof. Nancy Clement hatte diese alte Bekanntschaft „by the way“ – wie sie es formuliert hatte – aufgefrischt. Daher war man in der britischen Passabteilung durchaus entgegenkommend gewesen.

Ja, sie konnten gut schlafen.

Galia stand im Nachthemd und Schlafrock auf dem Balkon ihres und ihres Popen Zimmer, dem besten Schlafzimmer des Hauses. Ignat schlief bereits. Sie rauchte eine ihrer ganz seltenen Zigaretten, nicht einmal während all jener lebhaften Gespräche der letzten Stunden hatte sie sich dazu verführen lassen.

Sie rauchte fast nie in Gesellschaft, sondern meist, wenn sie allein war und in Gedanken. Ignat war tatsächlich nach seinem Nachtgebet sehr rasch in einen tiefen und traumlosen Schlaf versunken, wie meistens. Galia und er reflektierten nächtliche Gespräche allgemein nicht mehr weiter, ehe sie zu Bett gingen, beredeten eher die jeweils letzte Nacht beim nächsten Frühstück.

Galia fragte sich, wie sie hierher kam, was sie hier tat? Sie hatte ihr ganzes Leben noch niemals den Ural überschritten. Sie kannte von Russland nur Petrograd, Moskau, Kiew und die Krim, das Weingut ihrer Großmutter in Bessarabien und die Besitzungen ihres Vaters nahe Jaroslawl. Was machte eine Ter Broek, - aus einer der ältesten lutheranischen Familien Moskaus, - nachweisbar seit Peter dem Großen, ursprünglich aus Friesland - , hier in Sibirien?

Mein Vater ist Universitätsprofessor und Anwalt, meine Mutter entstammte einer bessarabischen Gutsbesitzerfamilie, bessere Bauern au fond, dazu hatte die Großmutter eine Handvoll Mietshäuser in Petrograd besessen.

Galia ertappte sich zur eigenen Überraschung dabei, wie sie in Gedanken bereits die Vergangenheit verwendete.

Ich bin ausgebildete Konzertpianistin, ich habe im Krieg als Krankenschwester im Lazarett der Fürstin Giedroy? gearbeitet, meine Freundschaft zur „Roten Martina“ ist allgemein bekannt, was davon schadet mir eigentlich, was könnte mir nützen?

Oder schadet mir alles das zusammen?

Bin ich in den Augen der Bolschewiki so nutzlos, entspreche ich ihrem Feindbild so sehr, dass sie mich umbringen würden wollen? Wir haben doch nie jemanden ausgenützt, unsere Bauern hatten es doch immer gut, und überdies – so viele Pächter hatten sie doch gar nicht. Das Gut in Bessarabien, wo ihre Großmutter – hoffentlich – sicher war, entsprach nicht mehr als einem „kleineren Jagdhaus“ eines Jussupow, oder einer Wassilitschko. Gut, sie war mit einem der Hofprediger aus Zarskoje Selo verheiratet, dieser aber war sehr wohl in Opposition zur Zarenfamilie gegangen, vor allem zur Zarin, vor allem wegen Rasputin.

Als Ignat sich nach dem Theologiestudium entschieden hatte, Priester zu werden, hatte es ein wenig Aufregung gegeben, da Galia trotz ihrer Heirat bis dahin lutheranisch geblieben war. Dieser Umstand hatte schon ein wenig Aufregung verursacht, aber erst das von Ignat angestrebte Hofamt, das in seiner Familie irgendwie erblich war, hatte Galia zur Konversion bewogen.

Galia, die dank Iskander – nicht dank Rodion – aber bereits einmal ins Gerede gekommen war, hatte einmal in ihrem Leben dem gesellschaftlichen Druck nachgegeben und war zum orthodoxen Glauben konvertiert, wenn auch, ohne mit dem Herzen dabei zu sein, was Ignat übrigens sehr wohl wusste.

Mit Iskander war sie viel gereist, hatte Wien, Paris, Berlin und London kennen gelernt, den Westen eben. Diese Reisen, zwar mit Personal, aber ohne Dueña - in Form einer ältlichen Tante oder unverheirateten Cousine etwa - , waren es gewesen, die ihren Ruf in Petrograd angekratzt hatten.

Sie hatten sich aus anderen Gründen getrennt, bevor sie noch Ignat, oder Iskander Tamara, seine spätere Frau oder gar Olga, seine jetzige Freundin, kennengelernt hatte, jene unmögliche, kleinbürgerliche Person, die so wenig gesellschaftsfähig war, mit ihrem unehelichen Sohn. Man wusste nicht einmal, wer der Vater war.

Eine Mesalliance, durch die er sich in den Augen der Gesellschaft selbst diskreditiert hatte. Anwälte von der Herkunft eines Iskander Ilarionowitsch Bek-Isadkow hielten sich eine Balletteuse oder eine Opernsängerin als Geliebte, oder wenn diese schon wenig mondäner Herkunft waren, dann richtete man ihnen einen Hutsalon oder einen Salon de Thé ein.

Jene Olga aber war von vornherein nichts weiter als eine kleine Schneiderin gewesen, deren Betrieb eher die Bezeichnung „Werkstatt“, denn „Salon“ verdiente. Außerdem war ihr „roter“ Umgang notorisch bekannt und reduzierte sich im übrigen auf die Niederungen der linken Gesellschaft, während Galias „Rote Martina“, immerhin ja auch eine Fürstin, last not least mit der roten Hautevolee per Du war.

Tamara Bek-Isadkowa hatte ihrerseits kundgetan, wegen „so einer“ niemals einer Scheidung zuzustimmen und sich beleidigt mit den beiden Söhnen aufs Land zurückgezogen.

Galia ertappte sich dabei, wie sehr sie abgeschweift war, mit ihren Gedanken und zündete sich eine zweite Zigarette an, was niemand mehr erstaunte als sie selbst.

Sie stellte sich einen Sessel auf den Balkon und rauchte diese zweite Zigarette im Sitzen. Sie ärgerte sich zunächst ein wenig über ihren Ignat, wie der denn so ruhig schlafen konnte und wünschte sich im nächsten Moment seine Sicherheit des Glaubens.

Sie würde ihn nicht dazu drängen, sich die Haare zu schneiden und den Bart zu stutzen, gar zu rasieren, um sich dann noch mittels unauffälliger „ziviler“ Anzüge zu tarnen, dies sollten andere tun. Ihretwegen sollte er sich nicht verstellen.

Ignat hatte im Endeffekt sein Hofamt wegen Rasputin zur Verfügung gestellt und für die Heilige Synode gearbeitet, für einen Bettel von Gehalt, en passant bemerkt.

Nach der Ermordung Rasputins hatte Ignat sich freilich wieder bei Hof eingefunden und war anstelle eines in Ungnade gefallenen Archimandriten wieder aufgenommen worden.

Galia dachte an ihre Schwiegermutter und ihren Schwager, an die lächerlichen Besitzungen der Drutskoijs, ältester, urältester Adel, schon unter den Rurikiden verarmt und unter den Romanows in dreihundert Jahren zu keinem Titel gekommen.

Und das sollte reichen, uns umzubringen?

Sie dachte an ihre Neffen, sie mussten in etwa Nikis Alter haben, neun oder zehn Jahre, aufgeweckte, über ihre Jahre entwickelte Kinder. Zu ihrer Schwägerin hatte sie keinen Zugang, obwohl sie als gebürtige Wolgadeutsche sogar Lutheranerin war.

Galia hatte das erste mal Angst.

Rodja, immer wieder mit seinen Anekdoten über die Französische Revolution!

Sie war verärgert über ihren alten Freund, obwohl andererseits hatte er nicht nur ausgesprochen, was niemand hören wollte?

Natürlich trank er zuviel und war in alten, in Petrograder Zeiten in all seiner Launenhaftigkeit nicht immer zu ertragen und vor allem nicht immer ernst zu nehmen gewesen.

Aber, waren sie, ihr Ignat, die Milows und auch Zoë Iwanowna nicht vielleicht auch ein wenig zu blauäugig gewesen?

Ja, Ignat vertraute seinem Schicksal und sie, Galia, gedachte ihres Eides. „Bis dass der Tod euch scheidet.“ Nun ja, vielleicht scheidet uns ja nicht der Tod, sondern verbindet uns endgültig.

Sie entnahm Ignats Nachttisch – und das nicht einmal besonders leise -, weil sie um seinen gesunden und gottvertrauendem Schlaf wusste - , einen silbernen Taschenflakon, fast voll mit irischem Whisky, dem einzigen und sparsam gebrauchten Laster ihres Mannes, mittlerweile eine Kostbarkeit nicht nur in Sibirien, sondern in ganz Russland. Sie schenkte sich eine ganze Verschlusskappe ein und wusste, sie würde heute noch eine dritte Zigarette vor dem endgültigen Schlafengehen rauchen. Sie war, gelinde gesagt, reichlich enerviert.

Zoë dachte an nichts und würde auch von nichts träumen.

Wenn sie zuviel getrunken hatte – und das war bei ihr ein sehr enger Bereich - , verfiel sie allgemein in einen komatösen Schlaf.

Diesmal tat ihr das besonders gut, denn sie war durch all jene Gespräche, vielleicht sogar allein durch Rodjas unvorhergesehene Ankunft so sehr in Aufregung versetzt worden, dass es der Wirkung etlicher Portweine, Sherrys, Champagners und Cognacs bedurft hatte, sie in den gewünschten Zustand zu versetzen.

Wenigstens aber hatte sie mit Hilfe Marfjas aus dem Kleid und ins Nachthemd gefunden. Die im Ursprung zahlreich gewesenen Von der Raabs waren Baltendeutsche, aber nie zu besonderem Reichtum gekommen, hatten schon lange nicht einmal ein einziges Landgut mehr und Fabrikarbeiter überhaupt nie „ausgebeutet“. Sie waren freilich als Kammerherren oder eben als Hofdamen stets in der Nähe der Zaren gewesen und hatten im allgemeinen immer gute Partien gefunden, so sie sich überhaupt zu vermählen gedachten. Trotz des deutschen Adels und der en famille immer noch gebrauchten deutschen Sprache, waren sie schon seit geraumer Zeit orthodox, aber trotz aller Ehen in russische Adelsfamilien, hatte Zoës Vermögen – so es noch greifbar gewesen war – letztendlich aus einem Bankkonto in Petrograd bestanden und aus einigem Schmuck in einem Tresor der selben Bank, den sie noch im letzten Moment an sich hatte nehmen können.

Hätte sie sich mit Rodion oder Gawril vermählt, hätte die Zarin ihr eine Aussteuer bezahlt und eine Mitgift auf den Weg gegeben, wie es allgemein üblich war.

Rodion war für einen Grafen durchschnittlich wohlhabend, Gawril für einen Prinzen aus noch relativ jung geadelter Familie ausgesprochen reich. Dementsprechend mehr oder weniger hoch hätte die Zarin – in früheren Zeiten – ihr Hochzeitsgeschenk bemessen. Zoë war nicht eine jener Hofdamen, die altjüngferlich endeten, war ja eben bei Hofe eher zufällig als Waisenkind und Großnichte einer – sehr wohl altjüngferlichen – Hofdame der Zarinmutter Maria Fjodorowna gelandet.

Sie war immer abhängig von anderen Menschen gewesen, hatte sich blindlings dem Schicksal der Zarenfamilie anvertraut, - obwohl sie wenigstens mit Gawril andere Möglichkeiten gehabt hätte -, war hier von Vater Ignat quasi aufgelesen worden, wäre ohne Igor und Marfja sowieso verloren gewesen und war jetzt, - ohne darüber nachdenken zu wollen -, glücklich über Rodions Auftauchen. Hätte sie jemand in der Sekunde vor dem Schlafengehen, respektive vor dem Ins-Bett-fallen, befragt, hätte sie Rodion den Vorzug vor Gawril gegeben, weil jener mehr Vertrauen vermittelte und weil ihr Gawrils neuerdings so ständige Begleitung, nämlich die Sova-Belus, suspekt war und irgendwie auf die Nerven ging.

Eine etwaige, eine relative Sicherheit war alles, wonach Zoë Iwanowna von der Raab momentan der Sinn stand.

Nancy Clement schlief den Schlaf aller puritanisch Gerechten. Sie hatte noch ein letztes Mal nach Saskia und Niki gesehen, um sich danach nicht eben heiter, dennoch aber durchaus sorglos, zur Ruhe zu begeben. Sie hatte vierzig ihrer über sechzig Lebensjahre in Russland verbracht, hatte Sonia und deren jüngeren Bruder, die Kinder eines Generals und einer Fabrikantentochter großgezogen, hatte mit Sonia deren Ehe mit Viktor Van Langendonck überstanden, die dazugehörige Scheidung begrüßt und die Neuvermählung mit Leutnant Milow von Anfang an mit einer gewissen Begeisterung aufgenommen.

In einem Land, wo die Scheidung nichts Anstößiges war und in den höheren Kreisen neuerdings grassierte, hatte sie, wohlgemerkt sie, - die englische Puritanerin -, ihrem Zögling Sonia erklärt, könne einer Frau doch gar nichts besseres passieren, als geschieden zu sein. Nur verwitwet wäre noch besser, hatte sie gemeint.

Kind, so hatte sie zu Sonia gesagt, leg dir einen Harem zu. Geh mit so vielen Männern aus, wie es dir nur möglich ist.

Du musst ja nicht mit jedem ... na-du-weißt-schon-was.

Geh mit dem einen in die Galerien und in die Oper, mit dem andern auf Reisen, mit dem dritten zum Pferderennen und ins Casino, such dir einen älteren Gönner und einen eigentlich zu jungen für ... na-du-weißt-schon-was.

Es wird sich im Lauf der Zeit schon finden, wer über bleibt.

Sie hatte dies alles und noch mehr von sich gegeben, als sie eines Nachts, während der die Aufregungen rund um die Scheidung eigentlich zu viele waren, gemeinsam mit Sonia entschieden zu viel Cognac oder Brandy getrunken hatte.

Sie hätte jedes Wort am nächsten Tag und nüchtern dementiert. Und obwohl sich beide, weder Sonia, noch Nancy Clement am nächsten Tag wirklich daran, wirklich an die einzelnen Worte erinnern hatten können, hatte sich doch alles Gesagte in beider Gehirne irgendwo ganz hinten eingeprägt.

Freilich hatte Sonia gut ein Jahr nach der Scheidung, - Niki war damals drei Jahre alt gewesen -, nichts getan, war kaum ausgegangen und hatte außer Rodion Arlington wenig Besuch empfangen. Jener hatte sie, Nancy, während dieser Zeit oft im Vorzimmer, beim Abschied kurz zur Seite genommen. „Sind Sie sicher, dass es ihr gut geht?“ „Ich weiß es beim besten Willen nicht, Sir.“ war in etwa ihre Antwort gewesen, „Aber ich weiß, dass sie alles tut, damit es Ihrem Patensohn gut geht.“

Rodion war nämlich von Sonia zum Patenonkel ihres Sohnes auserkoren worden, hatte Sonia dann aber sanft daran erinnert, dass er – wie alle Arlingtons – römisch-katholisch sei. So war Iskander Nikis erster – offizieller und orthodoxer – Pate geworden und Rodion – offiziell – der zweite. Alle Welt sah jedoch rasch darüber hinweg und Niki war immer stolz gewesen auf seinen eigentlichen Patenonkel.

Alle drei, Niki mit fünf, sechs, sieben Jahren, Nancy und Arlington hatten es sich in diesen Jahren zu eigen gemacht, in Sonias Salon all jene ältlichen Obristen und jugendlichen Leutnants, verkappte oder auch erfolgreiche Romanciers, ausländische Attachés und lebenserfahrene Weltreisende, reiche Fabrikanten und arme, aber belesene Fürsten, mit der selben Höflichkeit und Gleichgültigkeit zu begrüßen und im selben oder übernächsten Moment zu vergessen.

Irgendwann hatte Sonia sich dazu bemüßigt gesehen, sowohl gegenüber Nancy, wie auch Rodion etwas klarzustellen. In beider Fälle waren ihre Worte ähnlich.

„Du musst nicht glauben, dass ich mit jedem ... na-du-weißt-schon-was.“

Nancy hatte gemeint, das müsse ihr nicht erläutert werden und Rodion hatte gemeint, davon wolle er gar nicht mehr wissen.

Eine Weile lang hatte es dann einen sehr, sehr jungen österreichischen Marineoffizier gegeben, einen Linienschiffsleutnant namens Oistic von Castua, seines Zeichens k.u.k. Attaché in der österreichisch-ungarischen Botschaft, der alle drei Mitglieder jenes verschworenen Geheimbundes, Niki, Nancy Clement und Rodion Arlington, eine Weile ebenso wie Sonia interessiert hatte.

Dann aber hatte, der nicht ganz so junge, aber dennoch neun Jahre jüngere Leutnant Milow alle anderen Bewerber hinweggefegt und als Niki in der unverblümten Art eines damals Siebenjährigen gefragt hatte, warum denn die Mama nicht den Pawel heirate, hatte diese zunächst keine Antwort gefunden und zuletzt nach Rücksprache mit Nancy und Rodion denn doch.

Vater Ignat Drutskoij hatte auf Rodions ausdrücklichen Wunsch die Trauung vollzogen, dennoch war es nie zu einer engen Freundschaft zwischen den Drutskoijs, und den Milows gekommen, mon Dieu, damals hatte man noch mehr Gesellschaft ...

Dass Sonia mit Pawels Tochter aus erster Ehe, der mittlerweile vierjährigen Saskia, ein Stiefkind, quasi „erben“ würde, hatte damals jeder der Beteiligten konsequent übersehen.

Es war ja vorerst auch nur für das eine oder andere Wochenende gedacht gewesen. Allein, Saskia tat Sonia gut, Saskia tat Niki gut und nach einem oder zwei Jahren Ehe, war ohnehin abzusehen, dass Sonia und Pawel keine gemeinsamen Kinder haben würden, Sonia war schließlich bei der Geburt von Niki auch schon vierunddreißig gewesen. Und wieder beschlossen die drei im geheimen Verschworenen, - nämlich Niki, Nancy und Rodion - , Saskia ganz und gar in ihre Herzen aufzunehmen.

Nun, wie gesagt, Miss Nancy Clement schlief gut in jener Nacht. Und die Kinder taten desgleichen.

Marfja jedoch schlief nicht so rasch ein, fand nicht so ohne weiteres Ruhe. Igor, ihr großer, stattlicher Mann, schlief neben ihr, als gäbe es keinerlei Umwälzungen in diesem Land. Marfjas Mutter stammte aus Taschkent, ihr Vater war Russe, dennoch war sie völlig asiatisch, sah auch so aus, keineswegs eurasisch, eine kleine zierliche Porzellanpuppe.

Mit großen, hellwachen Augen starrte sie in das Dunkel der Nacht. Wir müssen hier weg, dachte sie, wir müssen uns trennen von all den anderen. Wir müssen gehen, egal wohin, diese Leute sind sonst unser Untergang!

Weit, weit weg müsse man, rennen, retten, flüchten!

Auch Igors Familie stand, - ähnlich wie jene von Boris bei den Arlingtons - , seit Generationen im Dienste der Familie Zoës, respektive der Familie Angelow, der Familie von Zoës verstorbener Tante, die ihren Ursprung gerne auf das byzantinische Herrschergeschlecht der Angeloi zurück führen wollte. Für ihn, Igor also, gab es keinen Grund, schlecht zu schlafen, denn seinerseits war immer das Dienen etwas selbstverständliches gewesen und wurde nicht groß hinterfragt. Igors Familie kannte nichts anderes, als im Schoß einer Adelsfamilie zu leben und sei sie noch so wenig bemittelt, wie die Von der Raabs oder Angelows nun einmal waren.

War es also für Vater Ignat Drutskoij sein Gottvertrauen, das ihn schlafen ließ, war es für seine Frau eine gewisse Dosis köstlich-kostbaren Whiskys, war es für Graf Rodion Arlington oder Mlle. von der Raab der Alkohol generell, war es für die Milows das eine oder andere Opiumpfeifchen, so schlief Igor im sicheren Bewusstsein dessen, dass es kein anderes Leben geben könne, als das ihm bekannte.

Marfja hingegen dachte anders, entstammte sie doch mütterlicherseits dem jüngeren Zweig einer Taschkenter Seidenhändlerfamilie, die es auf allerhand Umwegen nach Petrograd verschlagen hatte, wo sie es denn doch zu einem gewissen Klientel in Hofkreisen gebracht hatte.

Marfjas Vater war durch die Taschkenter Verbindungen der Lieferant vieler einflussreicher Familien in Petrograd und eben auch in Zarskoje Selo geworden und doch noch zu einem gewissen Wohlstand gelangt. Über Zoës Tante hatten sich Marfja und Igor kennen gelernt.

Vielleicht hatte ihr Vater sich für sein einziges Kind eine bessere Partie als den Diener einer wenig vermögenden Hofdame gewünscht, andererseits wusste er zu genau, dass Marfja mit ihrem so durch und durch asiatischen Aussehen einen adäquaten Ehemann aus Kaufmannskreisen so leicht nicht finden würde.

Marfjas Mutter war immerzu leidend, litt wohl an Petrograd und sehnte sich nach Taschkent. Als die Revolution ausbrach, drängte sie ihren Mann und ihre restlichen Verwandten, die Petrograder Geschäfte zu schließen, obwohl man nicht einmal Hoflieferanten geworden war, wollte nichts als zurück nach Taschkent.

Marfjas Vater hatte nachgegeben, hatte seine Tochter mit einer gewissen Geldsumme versorgt und Igor anvertraut.

„Was immer geschieht, bleibt bei Mlle. Zoë. “ hatte er zum Abschied gesagt, wohl wissend, dass Igor sie sowenig wie seine Frau verlassen wollte.

Wo mochten sie jetzt sein, überlegte Marfja? Soviel sie wusste, herrschten in Taschkent immer noch unangefochten die Roten, obwohl völlig isoliert.

Wie es dort Seidenhändlerhändlerfamilien erging? Egal, sie wollte nach Taschkent, zu ihren Eltern, Igor hatte keine Familie, hatte nie Geschwister gehabt und seine Eltern waren früh verstorben. Mlle. Zoë aber, - war es Mme. Drutskoija gewesen, oder Mme. Milowa, die es so schon ausgedrückt hatte? - , Mlle. Zoë jedenfalls hatte deren zwei Verehrer in der Stadt, einer von beiden würde sie ja wohl in Sicherheit bringen.

Im übrigen hatte sie es satt, andauern für die ganze Sippschaft zu kochen, bloß weil keine der Damen es jemals gelernt hatte. Ohne die Hilfe der Engländerin wäre sie schon längst in Igor gedrungen, auf und davon zu gehen. Kochen freilich konnte die Clement auch nicht, aber wenigstens einkaufen konnte man sie schicken.

Und erst recht die Wäsche für alle hier! Man verließ sich ganz selbstverständlich auf sie, dabei war sie das alles nicht gewöhnt, hatte es doch in Zarskoje Selo dafür ganz andere und zahlreiche niedere dienstbare Geister gegeben!

Außer der Engländerin saßen alle die meiste Zeit sinnlos im Haus herum und legten stundenlang Patiencen. Wenn der Pope sich wenigstens die Haare schneiden und den Bart rasieren würde, früher oder später würde auffallen, dass er hier so ganz ohne Pfarre lebte. Der Leutnant war wenigstens so schlau gewesen, hier von Anfang an auf seine Uniform zu verzichten.

Jetzt aber kam noch dieser Arlington de Sadesky daher, mit einer Wagenladung an Gepäck und umgeben von einer Entourage von Jünglingen!

Sekretär, Neffe, Marfja schnaufte verächtlich. Was sollte man schon von einem Mann erwarten, der gleich zwei ehemalige Fast-Verlobte hatte, im besten Einvernehmen mit deren Männern stand und dann mit einem ganzen Haushalt gutaussehender junger Männer auftauchte! Obwohl sie nicht über Leutnant Milows militärischen Instinkt verfügte, befand auch sie die Gruppe allmählich für zu groß und zu auffällig.

Nein, sie hatte nicht vor, mit all diesen Leuten unterzugehen! Gleich morgen würde sie mit Igor reden. Er war so schwerfällig und vor allem schwer von Entschluss, dass es ohnehin eine Weile dauern würde, bis sie ihn zu einer Entscheidung in ihrem Sinne bringen würde. Sicher, die Kinder taten ihr leid, aber es waren ja schließlich nicht ihre. Sie hatte nie bedauert, selbst keine Kinder zu haben und in Zeiten wie diesen schon gar nicht. Sich nach Taschkent durchzuschlagen galt es, die mütterliche Familie kannte dort jeden und alle, sicher auch die maßgeblichen Roten, Igor war stark und sie war geschickt.

Seidenhändlertochter hin, Hofbediensteter her, wenn man arbeitswillig war, würde man schon sein Auskommen finden, davon war Marfja immer mehr überzeugt.

*

Rodion erwachte schweißgebadet. Draußen war es noch dunkel, er konnte kaum mehr als zwei oder drei Stunden geschlafen haben. Es nützte nichts, dass Sascha oder Boris ihm die übliche Kerze als Nachtlicht brennen hatte lassen, er fand die Uhr ohnehin nicht. Da war er wieder gewesen, jener Traum, der ihn seit bald zwei Jahren verfolgte.

Entweder befand er sich auf einem Schiff, in einem Zug, in einem absurd großen, unübersichtlichen Haus, oder innerhalb mysteriöser unterirdischer Gänge und stets war er es, der dazu angehalten war, Gruppen verschiedener Menschen aus einer unerklärten Bedrohung in Sicherheit zu bringen. Es waren immer anonyme, gesichtslose Menschen, nicht seine Diener, die Damen seiner Gesellschaft, oder seine jungen Freunde, vor allem waren immer wieder Kinder dabei, mehr Kinder als er eigentlich im realen Leben kannte. Und alle warteten immer auf sein Zeichen, seine Entscheidung.

Er hatte schon von Menschen gehört, die immer wieder den selben Traum hatten, allein er wurde von Träumen des selben Sujets, ähnlichen Inhalts verfolgt, von Träumen, die immer farbiger, aufsehenerregender und beängstigender wurden.

Er träumte stets komplette Dreiakter mit einer Hundertschaft an handelnden Personen und konnte sich danach immer wieder nur an eine Handvoll Schlüsselszenen erinnern.

Diesmal war etwas Neues hinzugekommen. Das Ende jenes letzten Traumes war darauf hinaus gelaufen, dass er mit Niki (und anderen?) einen (den letzten?) Zug erreicht hatte, der von irgendwo in irgendeine Sicherheit zu führen schien. Aus dem Zug heraus hatte er Kyril seine (letzten?) Zigaretten zugeworfen und ihm Sonia anvertraut, die mit ihm am Bahnsteig zurück geblieben war.

Das Neue in dieser Nacht war, dass wenigstens drei der handelnden Personen plötzlich Gesichter und Namen erhalten hatten, konkrete Personen seines realen Lebens aus der amorphen Masse seiner sonstigen Traumstatisten heraus ragten.

Wenn mir das ein Zeichen sein soll, dass mich vor allem um die Kinder kümmern sollte – und hier sind ja nur zwei – nehme ich das zur Kenntnis, dachte er. Zugleich merkte er, dass der Gedanke, vielleicht Kyril zurücklassen zu müssen, ihn mehr erschreckte, als Sonia aus den Augen zu verlieren.

Ich trinke zuviel und ich kann dennoch nicht ruhig schlafen, stellte er fest.

Ich dachte immer, Alkohol betäubt?

Er lauschte in die nächtliche Stille der Wohnung des pensionierten Obersten Wirsbitzki und dessen Schwester, ehemals Lehrerin, und stellte sich mit einem Male die selbe Frage, die sich Galia in jener Nacht schon gestellt hatte. Wie komme ich hierher? Was mache ich hier, hinter dem Ural, eigentlich?

Graf Freedericks und seine Petrograder Geldsammlung in allen Ehren, aber sollte ich nicht meine Mittel dazu verwenden, die hier anwesenden Menschen retten, die alle eine Rolle in meinem konkreten Leben spielen und mir wesentlich näher stehen als der Zar, seine Familie und die restliche Suite?

Kann es denn ein Zufall sein, dass ich hier, ausgerechnet hier, sowohl Galia wie auch Sonia treffe und Zoë dazu? Ich habe bei Galia so lange, zu lange gewartet, bis sie Vater Ignat geheiratet hat. Nein, das hatte auch andere Gründe, dachte er noch.

Ich habe bei Sonia jedenfalls so lange, zu lange gewartet, bis sie zunächst Viktor und dann Leutnant Pawel geheiratet hat. In beiden Fällen habe ich alles das freilich auch mit einer gewissen Erleichterung zugelassen, musste er sich zugestehen.

Angesichts meines Faibles, mich mit jungen Männern zu umgeben und angesichts meines Talents, junge Männer auch für mich zu interessieren, stehe ich nicht im besten Ruf. Bei Zoë sollte ich im Ernst nicht so lange warten, zu lange möglicherweise, und zusehen, wie sie vielleicht Gawril heiratet.

Gawril, diese Mimose, Gawril, der wegen irgendeiner ihm von der Glafira kolportierten Indiskretion seitens Rodions, jeglichen Kontakt mit ihm abgebrochen hatte. Dabei ging es doch nur um Zoë, er schlägt bloß auf mich ein, weil er auf sie nicht einschlagen will, lächerlich, das alles!

Tatsache ist, so dachte er weiter, dass Gott mir einige Begleiter für diese nicht ungefährliche Reise mitgegeben hat und Tatsache ist, dass Gott mich hier mit Begleitern eines früheren Lebens wieder zusammen geführt hat. Mein Petrograder Ruf kann mir mittlerweile gleichgültig sein, aber angesichts der Verleumdungen der Sova-Belu und Gawrils so leichtfertigem Verrat, sollte ich Zoë allmählich wirklich von mir überzeugen und gewinnen können.

Niki ist wenigsten mein Patenkind und ich habe eine gewisse Verantwortung für ihn, Pawel Milow hin 0der her. Wie lange will ich denn noch warten, ehe ich Verantwortung für eine eigenes Kind übernehme? Ich werde nicht jünger und die Zeiten werden nicht besser.

Im Übrigen misstraue ich dieser Marfja, dachte er noch und entschied, über alles weitere auch morgen nachdenken zu können. Im graute bei dem Gedanken, die Sova-Belus ausfindig machen zu müssen, oder Gawril aufsuchen zu sollen, aber – wie Galia ausnahmsweise richtig bemerkt hatte – es waren andere Zeiten angebrochen.

Im übrigen war schließlich er der Beleidigte, der Verleumdete, der Verratene, also sollte es ihm leicht fallen, Gawril und Glascha gegenüberzutreten und in die Augen zu sehen. Mit einem Male amüsierte ihn der Gedanke, die Baronin und den Prinzen mit seiner Anwesenheit hier, in diesem schrecklichen Jekaterinburg zu konfrontieren.

Er dachte daran, wie Tatiana Botkina sich in Tobolsk bei ihm beklagt hatte.

Als ihr Vater, Dr. Botkin, bereits abgereist war, hatte sie das Haus der Botkins in Zarskoje Selo ausgeräumt, die Möbel inklusive Flügel und allem Drum und Dran in einem der Häuser des Grafen Gudowitsch untergebracht und eine Zeitlang noch mit Mlle. Bitner im Lazarett der Fürstin Giedroy? im Katharinenpalais gewohnt.

Als sie endlich ihrem Vater und der Zarenfamilie nach Sibirien gefolgt war, kam sie bei der Abreise an ihrem eigenen ehemaligen Haus vorbei. Sie stellte zum einen fest, dass es bewohnt war und zum anderen, dass die neuen Bewohner ihre zurückgelassenen Vorhänge abgenommen hatten. Seltsamerweise hatte nichts die Tochter des Leibarztes so sehr irritiert, wie die Tatsache, dass irgendwer einfach so die Vorhänge ihres früheren Heims entfernt hatte.

Rodion dachte an die Stadtwohnung seiner Eltern nahe des Taurischen Palais, die schon bei sehr frühen Unruhen relativ versehentlich in Flammen aufgegangen war. Er dachte an das Stadtgeschäft am Newskij Prospekt, das zertrümmert worden war. Die Sommerdependance nahe des Sommersitzes des Zaren auf der Krim sollte theoretisch noch existieren, musste mangels an Nachschubs aber wohl auch schon geschlossen sein. Wie es wohl der Rosenzucht seiner erst zu Kriegsbeginn steinalt verstorbenen Großmutter mittlerweile ergehen mochte?

Er dachte an sein eigenes Appartement am Englischen Kai, nahe der Amerikanischen Botschaft. Er fragte sich, was wohl aus seiner geliebten Bibliothek werden sollte und aus all den unzähligen ach so dekorativen Bilderrahmen, Tischuhren und sonstigen bei Fabergé erstandenen Dinge, die seine Mutter so sehr geliebt hatte und mit denen sie die Villa in Zarskoje Selo gefüllt hatte? Neben der Großfürstin Marie Wladimir Pawlowna musste seine Mutter die größte Kundin Fabergés gewesen sein, abgesehen vom Zaren selbst natürlich. Eine Uhr seines Vaters befand sich bis heute noch beim Hofuhrmacher Märki zur Reparatur, oder eben auch nicht mehr. Eine Perlenkette seiner Mutter war zum erneuten Knüpfen bei Fabergé abgegeben und nie mehr abgeholt worden.

Abreisen hatten zu dieser Zeit immer etwas Überstürztes, hatte seine Mutter, die Gräfin Polina, gemeint.

Rodion wusste, dass seine Abreise aus Petrograd und sein umfangreiches Gepäck nur aufgrund der Gelder Graf Freedericks zustande gekommen war, dass er komfortabler und unbehelligter gereist war als jeder andere, den er hier kannte. Er war von Verbindungsmann zu Verbindungsmann weiter gereicht worden. Die früheren Bankiers, oder auch nur ihre Direktoren oder Prokuristen waren weitgehend noch im Land und wirkten im Verborgenen, aber jeder zweite oder dritte hatte ihm im Verlauf der Reise entre nous davon berichtet, Frau, Mutter, Freundin, Schwester, Kinder bereits ins Ausland oder mindestens auf einem Landgut untergebracht zu haben, wenigstens „bis es besser wird.“

Draußen fuhr ein Automobil vorbei, ein Geräusch, das auffiel in der nächtlichen Stille Jekaterinburgs, es klang sogar nach einem Lastwagen.

Es konnten nur Bolschewiki sein, niemand sonst würde Nachts mit einem Auto fahren, oder überhaupt über eines verfügen.

Rodion maß dem keine Bedeutung bei, oder entschied wenigstens dahingehend. Morgen war auch noch ein Tag, schließlich war man eben erst angekommen. Morgen würde man nachdenken. Morgen würde er einen Plan ausarbeiten, alle aus dem Hause Martinowa in Sicherheit zu bringen.

Ich muss einfach entscheiden, wer mir mehr am Herzen liegt, die Bewohner des Hauses Ipatiew oder die Bewohner des Hauses Martinowa?

Mit Fjodor, Kyril, Boris und Sascha habe ich immer noch Unterstützung genug, um eventuell etwas für die Zarenfamilie zu unternehmen.

Langsam aber sicher schlief er wieder ein.

Fjodor und Kyril, in der Wohnung des Apothekers Milanowski, hatten noch ein kleinen Diskurs vor dem Schlafengehen. Sie rätselten über den Verbleib der Apothekerfamilie. Sie hatten, nachdem sie von Oberst Wirsbitzki von der Wohnung erfahren hatten, dort die Putzfrau der Milanowskis vorgefunden, eine gewisse Natascha, eine unerfreuliche Matrone, mehr betrunken als nüchtern und in Gesellschaft eines für sie viel zu jungen Mannes, der sich als Gregorij vorstellte, ohne sein Verhältnis zu jener Natascha ausreichend oder genau genommen auch nur irgendwie zu erklären.

Beide konnten immerhin eine Vollmacht des Apothekers vorweisen und einen formvollendeten Mietvertrag mit den beiden jungen Männern abschließen. Sie selbst bewohnten ein paar dunkle Zimmer im Hinterhof und ihren Worten nach waren die Milanowskis „vor Wochen schon“ und „wie gewöhnlich“ abgereist, um den Sommer auf ihrer Datscha außerhalb der Stadt zu verbringen.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Apotheker im Jekaterinburg des Jahres 1918 einfach so seinen Sommer in seiner Datscha verbringt.“, hatte Fjodor begonnen, während er Familienphotos betrachtete, die eine Kommode im Salon schmückten, ein Ehepaar mittleren Alters, zwei Töchter und einen Sohn in verschiedenen Kindheitsstadien zeigten, sowie zwei ältere Damen und andere Herrschaften. Schlafzimmer, respektive Betten gab es für sechs Personen, aber das eine Zimmer wirkte auch eher wie ein selten genütztes Gästezimmer.

Ansonsten herrschte überall die übliche gediegene, falsche, provinzielle Elegance, ähnlich wie im Hause Martinowa.

„Wenn du mich fragst,“ so bemerkte Kyril, „sind die auch alle schon weg. Sie werden dieser grässlichen Natascha die Vollmacht hinterlassen haben, um noch einen gewissen Gewinn aus der Wohnung ziehen zu können. Sie rechnen sicher damit, wiederzukommen. Und, bedenke, die Russen sind gute Rechner.“

Fjodor seufzte und wollte nicht schon wieder bemerken, dass er eigentlich und vor allem Grieche sei. „Und was, wenn sie vielleicht schon alle verhaftet sind? Vielleicht noch dazu denunziert von dieser Natascha und diesem unmöglichen Gregorij?“

„Na, ich bitte,“ meinte Kyril sorglos, „man verhaftet doch noch keine Kinder, oder?“

„Noch nicht.“, meinte Fjodor schlicht.

Sie teilten sich ein Zimmer, das offenbar zuletzt das Zimmer der beiden Mädchen gewesen war. Sich ins Doppelbett des Ehepaars zu legen, war ihnen unpassend erschienen, sich auf das Zimmer des Sohnes und das vermutliche Gästezimmer zu verteilen, kam ihnen unpraktisch vor. Im übrigen wollte keiner der beiden mehr so für sich sein.

Sie hatten sich in Petrograd kaum gekannt. Fjodor war eben erst dabei gewesen, die Kontakte seiner Familie rund um das Schwarze Meer und innerhalb der Levante bezüglich der Möglichkeiten der böhmischen Arlington-Glaswaren auszuloten und Kyril hatte seit Jahren als Rodions Sekretär gearbeitet, als der Krieg ausgebrochen war. Sie waren sich bis Kriegsausbruch fast nur auf geschäftsmäßiger Ebene begegnet und hatten sich erst während jener Reise nach Sibirien angefreundet.

Als Angehörige der Bourgeoisie und jüngere Söhne waren sie weder, - wie ihre adeligen Freunde - , Reserveoffiziere gewesen, noch waren sie, - wie all die Bauernsöhne - , als Kanonenfutter eingezogen worden. Beide hatten es sich allerdings auch so einrichten können, die Front zu vermeiden.

Mlle. Antonina Romanowna Wirsbitzka, pensionierte Lehrerin und Schwester des detto pensionierten Obersten Wladimir, schlief auch nicht gut. Sie war aufgewacht, als ihr neuer Mieter Petrograder Provenienz mit seinen Dienern so spät Nachts zurück gekommen war und konnte nicht gleich wieder einschlafen. Es war offensichtlich, dass dieser Arlington Leute in der Stadt kannte, die er besucht hatte und sie ahnte vage, warum er überhaupt hier war. Er hatte seinen Titel nicht genannt, als er bei ihnen eingetroffen war und sich auf einen Verbindungsmann in Tobolsk bezogen, einen pensionierten Offizier, wie ihr Bruder. Ganz selbstverständlich hatten sie ihn als Mieter akzeptiert und ebenso selbstverständlich auf die Wohnung der Milanowskis schräg vis-a-vis, oberhalb der Apotheke hingewiesen, um dort seine restlichen Begleiter unterzubringen. Der Name Arlington war freilich ohne Titel aussagekräftig genug, derlei fremdländische Namen fand man nur in der gehobeneren Gesellschaft Petrograds oder Moskaus.

Ich muss ihm bald sagen, wer Natascha und Gregorij wirklich sind, entschied Antonina Wirsbitzka, oder sollte ich damit noch warten? Kann man den Leuten vertrauen, bloß weil sie aus Petrograd sind, oder sollte man ihnen genau deshalb misstrauen? Ich werde mich morgen mit Natascha beraten, unauffällig, wenn all diese Petrograder dort wie da außer Haus wären. Man musste vorsichtig sein, durfte seine Verbindungen und die eigenen Intentionen nicht vorschnell preisgeben.

Ich wollte, ich könnte mit dem Namen „Arlington“ mehr anfangen, dachte sie noch, erinnerte sich ihrer Petrograder Großnichte Nadeschda, von ihrer verstorbenen Schwester her, der dieser Name sicher eher ein Begriff gewesen wäre, von der sie aber seit Monaten nichts mehr gehört hatte.

Als Frau eines aktiven Offiziers und Mutter von sechs Kindern, würde Nadeschda wohl aber die Stadt auch schon verlassen haben. Ähnlich wie Galia Drutskoija bangte auch die ebenso kinderlose Mademoiselle Wirsbitzka immer mehr um die Kinder und Kindeskinder von Verwandten und Freunden, denn um ihr eigenes Leben.

Ihr Vater war 1848 nach Sibirien deportiert worden, nachdem in Russisch-Polen alle Ansätze zu einer Revolution wie in Bayern, Preußen, Wien oder Paris bereits im Ansatz erstickt worden waren, ihr Bruder, die Schwester und sie als Kinder mit ihm, die Mutter war bereits früh verstorben. In der Verbannung hatte man sich freilich mit dem zaristischen Regime arrangiert und war trotz der Amnestie Alexanders III. hinter dem Ural verblieben. Einzig die mittlerweile verstorbene Schwester Dorota war mittels eines hier stationiert gewesenen Offiziers in weiterer Folge als dessen Ehefrau nach Petrograd gelangt.

Ihr Bruder Wladimir hatte eine kleine, provinzielle Karriere gemacht und sie hatte in der besten Mädchenschule von Tjumen als Musiklehrerin gearbeitet, obwohl die ganze Familie stets katholisch geblieben war und niemals aufgehört hatte, sich als Polen zu empfinden.

Jetzt fühlte sie sich allein gelassen, andere Leute ihres Alters wurden von Kindern und Kindeskindern beschützt und in Sicherheit gebracht, allein hatten sie und Wladimir niemals geheiratet und waren den neuen Zeitläufen ungeschützt ausgesetzt. Man hatte in Tjumen und in Jekaterinburg zur „Gesellschaft“ gehört, man war wer gewesen. Jetzt jedoch, wo ihre Pensionen nur mehr verspätet, wenn überhaupt eintrafen, hatten sie ganz instinktiv und aus pekuniärer Notwendigkeit die Partei des Ancien Regime ergreifen müssen, auch wenn man so ganz allgemein kein Freund der Romanows war. Weder Wladimir noch sie hassten oder verachteten gar das Proletariat, sie hatten dessen bloße Existenz schlichtweg übersehen, hatten nie wahrgenommen, welcher Hass sich gegenüber ihresgleichen angesammelt hatte, hatten sich nie betroffen gefühlt von den ersten Umwälzungen, so polnisch und katholisch, wie sie nun einmal waren.

Sie hatten gleichgültig auf die Pogrome gegenüber den Juden unter Alexander III. reagiert und ebenso lässig die Pogrome gegenüber den Deutschen ignoriert, wie sie bei Kriegsausbruch in Mode gekommen waren, hatten diese doch neben Petrograder Bäckern doch in erster Linie die lutheranischen Gutsbesitzer betroffen.

Sie hatten sogar fast euphorisch die Februarrevolution zur Kenntnis genommen, hatte diese doch in erster Linie die verhassten Romanows hinweg gefegt. Mittlerweile jedoch, nach der bolschewistischen Machtergreifung, hatten sowohl der pensionierte Oberst Wladimir, wie auch die pensionierte Lehrerin Antonina das deutliche Gefühl gewonnen, zwischen allen Stühlen zu sitzen. Eben dadurch, dass man nirgends wirklich dazu gehörte, beäugte man jede Entwicklung jeglicher Parteien mit äußerstem Misstrauen.

Irgendwann schlief Antonina Wirsbitzka, zweiundsiebzigjährig, ehemalige Musiklehrerin, aus altem polnischem Landadel, denn doch wieder ein, nach wie vor abhängig von durch die jeweiligen Machthaber abgesegneter und ausbezahlter Pension und bewilligten Lebensmittelkarten.

Natascha Danielowna Dentschika, nach allgemein gültiger Diktion als Putzfrau der Familie Milanowski im Jekaterinburger Haushalt zurück gelassen, schlief auch nicht gut. Wieso, so fragte sie sich, war die Sova-Belu noch nicht zu ihr gekommen, wo sie doch schon über eine Woche in der Stadt war? Es musste irgendein Problem geben zwischen ihrem Bruder und den Petrograder Kontaktpersonen.

Offensichtlich hatte man Glafira Sova-Belu ihre Adresse nicht ausreichend exakt übermittelt, mutmaßte sie, denn sie hatte sie bereits vor zehn Tagen in der Stadt gesehen, begleitet von Kuprik, ihrem Sohn, einem Negerdiener und noch mehr Leuten, die sie, Natascha, nicht kannte. Leider waren all die Petrograder in einer Droschke unterwegs gewesen. Überhaupt hatte Natascha sich über das hochherrschaftlichen Auftreten der Sova-Belus gewundert, hinterfragte jedoch nichts, denn hinter der Baronin stand schließlich die Zarinmutter, Maria Fjodorowna, höchstpersönlich.

Vorerst freilich nährte Natascha die Legende, der Apotheker Milanowski wäre „vor Wochen schon“ und „wie üblich“ samt Familie für den Sommer auf die familieneigene Datscha gegangen.

Niemand, abgesehen von Oberst Wirsbitzki und dessen Schwester, wusste, dass sie in Wirklichkeit die Schwester des Apothekers war und Gregorij ihr Sohn, dass ihr Bruder German seine Familie in eine relative Sicherheit gebracht hatte und seine Datscha mit Hilfe seiner Diener längst zu einer äußerst informativen Außenstelle des Admirals Koltschak verwandelt hatte, dessen Truppen jeden Tag der Stadt näher rückten. Nur aus diesem Grund hatten Natascha und Gregorij sich in die dunklen Hinterhofräume der Milanowskis zurück gezogen und genau aus diesem Grund beobachteten sie jene Petrograder Neumieter mit einer Mischung aus Argwohn und Neugier.

Genauso wenig wie die Wirsbitzka, war Natascha mit dem Petrograder Gesellschaftsverzeichnis vertraut, obwohl sie eine Zeitlang dort gelebt hatte, und genauso wie Mlle. Antonina, misstraute sie den Neuankömmlingen einerseits zutiefst, hoffte andrerseits aber auf neue Bundesgenossen. Auch hing ihr die schäbige Kleidung, die mäßige Wohnung allmählich zum Hals heraus, ganz zu schweigen, ständig so zu tun, als sei man betrunken und wisse nicht so recht vom Verbleib der Milanowskis.

Schließlich war sie, Natalia Dentschika, die Witwe eines Ingenieurs, schließlich war Gregorij Kadett gewesen, schließlich war man vor all diesen „Ereignissen“ und „Aufregungen“ überhaupt wer gewesen. Allein, man musste vorsichtig sein.

*

Aus dem Tagebuch von Kyril Ruso de Lensky:

Jekaterinburg, 2 Juni (15. Juni) 1918

Ankunft in Jekaterinburg. Galia Pawlowna und Vater Ignat wiedergesehen, Leutnant Milow und Sonia Alexandrowna, Miss Clement und beide Kinder, sowie Zoë Iwanowna und ihr unmögliches Personal. Fjodor scheint mir nicht ganz bei der Sache zu sein. Onkel vermutet eigene Interessen. Wir rätseln allerdings nicht lange darüber. Quartiere sehr in Ordnung, Fjodor und ich hausen in einer Apothekerwohnung, Onkel samt Boris und Sascha bei einem pensioniertem polnischen Obristen namens Wirsbitzki und seiner Schwester, Mlle. Antonina, pensionierte Lehrerin, uralt, aber beide sehr nett.

Der Priester, der Leutnant im Haus einer Witwe Martinowa. Es ist sehr heiß.

Unsere Ankunft, selbst Onkels Name erregt keinerlei Aufsehen. Alles sehr still und zurückhaltend. Onkel voll von Plänen, Fjodor voll von eigenen Gedanken, Galia Pawlowna spitz und kühl wie immer, Vater Ignat gleichgültig, Pawel Milow mit sich selbst beschäftigt, aber Sonia Alexandrowna und Zoë Iwanowna sind sehr freundlich mit mir.

Wir haben massig Gepäck. Wir konnten alles sichern, inklusive meiner Photoausrüstung. Geld ist genug da, telegraphische Überweisungen haben bisher immer noch funktioniert. Es ist viel die Rede von den Sova-Belus und Gawril Rokowanskij, was mir nicht schmeckt, weil sie Onkel so betrogen haben, aber sie sind hier, also muss man sich mit ihnen auch beschäftigen.

Ist Fjodor wegen Gawril reserviert, oder was? Ich bin einigermaßen konfus, aber bisher ist hier alles sehr entspannt und gelassen. Es ist, als würde man sich zu einer Weekend-Party auf irgendeinem Landgut begegnen. „Wie geht es? Was macht Ihre Familie? Wo sind Ihre Eltern unter gekommen?“ Alle tun so, als ginge es nur darum, irgendwelche Sommergäste – wie gewohnt – auf irgendwelchen Landgütern unterzubringen. Alle tun so, als sei die einzig wichtige Entscheidung die Aufteilung der Zimmer und wessen Ex-Frau man – trotz allem – mit welchem Ex-Mann im gleichen Haus unterbringen könne – oder solle, oder müsse ...

Ich meinerseits warte ab, auch mit dem Photographieren, zum Haus Ipatiew dringt man ohnehin nicht vor.

Es sollen nur mehr zehn oder zwölf Leute dort sein, das heißt, abzüglich der kaiserlichen Familie, haben sie nur mehr vier oder fünf zur Bedienung. Hendrikowa, Schneider, Tatischtschew, Walja Dolgorukow perdu, so viele Fragezeichen, alles enervierend.

Isa Buxhöveden, die Herren Gilliard und Gibbes, die Damen Toutelberg, Zanotti und andere hier in der Stadt in einem Zug, Dr. Derewenko mit eigenem Quartier, abgeschnitten von Frau und Sohn Kolja, auch die Kinder von Dr. Botkin und die Charitonowa samt Tochter haben wir in Tobolsk zurück gelassen. Alles ist so traurig, vor allem, wenn ich an die Kinder denke, der kleine Sednjew, der Zarewitsch, meine Nichten und Neffen. Ich sollte Kitty und Lilly wirklich woanders hin schicken, bloß wohin? Es ist schwierig, Post zu erhalten, Nachrichten zu bekommen, denn alle schreiben „poste restante“ irgendwohin und in fünffacher Ausfertigung. Die Ungewissheit macht mich am meisten rasend.

Fjodor schläft schon, aber ich trinke noch vier Zentimeter Wodka und rauche noch zwei Zigaretten. Onkel hat sich das alles hier leichter oder einfacher vorgestellt.

Mit Fjodor gewettet, wann spätestens der erste Krach mit „Madame“ erfolgt, denn sie ist spitzer und kälter, denn je. Müde bin.

Zwei Uhr morgens, im Salon der Familie Milanowski, die auch „weg“ ist.

*

Sommergeister

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