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2.1 Allgemeine Anforderungen und Gütekriterien
ОглавлениеAuch mithilfe qualitativer Methoden sollen gesellschaftlich relevante wissenschaftliche Fragestellungen beantwortet werden; insofern wird an sie ebenfalls der Anspruch gestellt, gültige Aussagen über Fragen zur sozialen Realität zu machen und dabei wissenschaftlich und systematisch vorzugehen, um belastbare Antworten zu finden (vgl. Kap. 1.1). Allerdings zielt qualitative Forschung auf ein anderes Erkenntnisinteresse: Mithilfe qualitativer Verfahren soll nicht statistisch überprüft oder getestet, sondern entdeckt werden. Qualitative Methoden finden z. B. auf Gebieten Anwendung, über die noch nicht viel geforscht wurde (Exploration), und helfen dabei, komplexe Zusammenhänge überhaupt erst zu erkennen (die man anschließend auch mithilfe standardisierter Untersuchungen statistisch testen kann). Qualitative Forschungstechniken sind aber keineswegs nur vorstudien- oder nachfassungstauglich. Richtig gesampelt ermöglichen qualitative Untersuchungen ebenfalls »Aussagen, die über das konkrete Untersuchungsobjekt hinausweisen und deshalb verallgemeinerbar sind« (Meyen et al. 2011, S. 12; vgl. Kap. 2.3). Da qualitative Forschung entdecken will, müssen ihre Instrumente flexibel auf den Untersuchungsgegenstand reagieren können (also un- oder maximal teilstandardisiert konzipiert sein). Das bedeutet aber nicht, dass qualitative Forschung beliebig und hoch subjektiv abläuft und es keinen Diskurs darüber gibt, was gute qualitative Forschung ausmacht. Auch hier können allgemeine Regeln formuliert werden, um die Güte von Forschungsprojekten und ihrer Befunde zu identifizieren (vgl. z. B. Steinke 2007). In der einschlägigen Literatur finden sich verschiedene Kataloge mit Prinzipien qualitativer Forschung, aus denen sich solche Gütekriterien ergeben (vgl. zusammenfassend Meyen et al. 2011, S. 30ff); wir wollen uns hier v. a. auf die für die Kommunikationswissenschaft entwickelten Kriterien beziehen. Meyen et al. (2011) z. B. formulieren folgende zwei Postulate (aus denen sich die unten genannten Gütekriterien ableiten lassen):
• Kein Wissen ohne Subjekt: Es gibt keine objektive Erkenntnis, vielmehr werden »Denkinhalte« (Wissen) immer durch die Person und Biografie des »Denkenden« (Meyen et al. 2011, S. 33) beeinflusst (der wiederum nicht unabhängig von der Gesellschaft und dem herrschenden Zeitgeist existiert). Da Wissen einen Gegenstand, auf den es bezogen ist, nicht einfach reflektiert, sondern ihn erst konstruiert, wird klarer, warum der Forscher nicht aus dem Erkenntnisgewinnungsprozess ausblendbar ist (wie dies im quantitativen Paradigma postuliert wird). Vielmehr ist der Forschende in der Erkenntnistheorie des qualitativen Paradigmas an dessen Konstruktion aktiv beteiligt (z. B. durch die Interaktion mit Interviewten oder Beobachteten bei der Datenerhebung).
• Kein Wissen ohne Theorie: Kontextfreies Wissen gibt es nicht; um Informationen zu verstehen, müssen wir sie in einen Kontext (Vorwissen) einbetten können. Zugleich hängt vom Vorwissen (z. B. einer Theorie) ab, »wie sich die Wirklichkeit präsentiert« (ebd.). Theorien, die Forschung anleiten, entscheiden dann wiederum, wie die Forschenden den Untersuchungsgegenstand strukturieren und damit auch, welche Daten sie sammeln und zu welchen Ergebnissen sie kommen.
Während das erste Postulat unter qualitativen Forschern wohl relativ unstrittig ist, wurde das zweite – die Frage nach der Rolle theoretischer Vorannahmen – lange diskutiert. Steht theoriegeleitetes Vorgehen der Anforderung entgegen, dem Untersuchungsgegenstand ›offen‹ gegenüber zu treten? Barney Glaser und Anselm Strauss z. B. forderten von qualitativ Forschenden, am besten ohne die Aufarbeitung von (theoretischen oder empirischen) Vorarbeiten an einen Untersuchungsgegenstand heranzutreten, um Theorien zu diesem Gegenstand überhaupt erst unvoreingenommen entwickeln zu können (vgl. Glaser/Strauss 1967). Folgt man dem oben aufgestellten Postulat, dass es kein Wissen ohne Theorie geben kann, so ist diese Forderung zum einen nicht umsetzbar – schließlich verfügen wir immer über alltägliches Vorwissen, sonst wären wir recht orientierungslos. Zum anderen ist sie auch nicht logisch, da Vorwissen für die Interpretation einer Situation immer notwendig ist (vgl. Meinefeld 2007). Viele qualitativ arbeitende Sozialforscher orientieren sich deshalb an theoretischen Vorarbeiten, die ihnen helfen, ›ihren‹ Gegenstand zu dimensionieren (Meyen et al. (2011, S. 35) nennen das auch »kategoriengeleitetes Vorgehen«); zugleich versuchen sie aber auch immer dafür bereit zu sein, sich während des Forschungsprozesses von der empirischen Welt in ihren Vorannahmen ›irritieren‹ zu lassen, um neue Aspekte zu entdecken (vgl. Steinke 2007, S. 327).
Aus den beiden oben explizierten Postulaten lassen sich Gütekriterien ableiten, die zum einen Forschende bei der Konzeption und Verwirklichung eigener Projekte anleiten sollen, und zum anderen den Lesern bei der Beurteilung helfen können, ob die präsentierten Ergebnisse auch belastbar sind (Meyen et al. 2011, S. 47):
• »Zuverlässigkeit: intersubjektive Nachvollziehbarkeit;
• Gültigkeit: Stimmigkeit von Fragestellung, Theorie, Methode und Ergebnissen;
• Übertragbarkeit: Generalisierbarkeit;
• Werturteilsfreiheit: keine normative Beurteilung.« Wird eine Beurteilung der Erkenntnisse vorgenommen, so muss sie immer getrennt von der Beschreibung und Interpretation des Gegenstands erfolgen.
Meyen et al. (2011, S. 47f) schlagen fünf Strategien vor, um den vier genannten Gütekriterien Rechnung zu tragen:
• Nähe zum Gegenstand (bedient die Kriterien der Zuverlässigkeit und Gültigkeit): Erhebungs- und Auswertungsmethoden sind dem Gegenstand angemessen. Verhalten wird also am besten beobachtet, Meinungen werden durch Selbstauskünfte erfasst und Aussagen über Medienberichterstattung inhaltsanalytisch erhoben. Nähe heißt aber auch: Der Forscher soll sich bemühen, in den Kontext (z. B. in die Lebenswelt eines Beobachteten) einzutauchen, allerdings die nötige Distanz zu wahren, um zu einer eigenen Deutung der Resultate gelangen zu können.
• Dokumentation des Forschungsprozesses (zielt auf Zuverlässigkeit): Gerade weil Instrumente nicht standardisiert, sondern auf den Gegenstand ›maßgeschneidert‹ sein müssen, ist darauf zu achten, beim Abfassen des Forschungsberichts so gut wie nur möglich Transparenz über das konkrete Vorgehen herzustellen. Der gesamte Forschungsprozess wird offengelegt, um intersubjektive Nachvollziehbarkeit herzustellen. Das erfolgt v. a. durch das Beschreiben und Begründen jeder einzelnen Entscheidung (Methodenwahl, Sampling, Auswertungsverfahren etc.).
• Selbstreflexion (zielt auf Zuverlässigkeit, Gültigkeit, Werturteilsfreiheit): Der Forscher macht sich bewusst, welche Vorannahmen (Alltags- bzw. wissenschaftliche Theorien) ihn anleiten, und welche Grenzen der Erkenntnis sich hieraus ergeben. Er versucht sich darüber klar zu werden, wie er zum Untersuchungsgegenstand steht. Im Forschungsbericht wird diese (theoretische, methodische) Selbstreflexion offengelegt.
• Reflexion der Entstehungsbedingungen (zielt auf Gültigkeit, Übertragbarkeit): Auch hier geht es darum, Limitationen (im Projektbericht) aufzuzeigen – und zwar jene, die durch die Entstehungsbedingungen auftreten und der Erkenntnis ebenfalls Grenzen setzen: Welche Ressourcen sind verfügbar? In welchem Umfeld entsteht die Studie (Zeitgeist)? Gibt es bestimmte Interessen(-skonflikte) (z. B. Auftraggeber, Untersuchungspersonen)? Wie wurden die Informationen erhoben?
• Interpretation in Gruppen (zielt auf Gültigkeit, Zuverlässigkeit): Kollaboratives Arbeiten schützt vor zu viel Subjektivität – Projektpartner sind kritische Korrektive, dieselbe Funktion kann auch ein Kandidatenseminar für Studierende oder die Fachgesellschaft für Forschende übernehmen (z. B. auf Tagungen).