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VOM KOPF

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Fensterkreuzfäden aus Rost und Beton zielen unter der Sonne auf Mittag, und der Staub tanzt mit den Tränen, die wie Perlen kristallen sich drehen. Verlegen malt der Bahnhof die Stadt ohne Farbe und stellt Girlanden und Fahnen anstelle. Blusen blähen sich auf dem Steig, Gesichter drängen, singen und weinen. Irgendwohin plagt die Musik. Unter den Kindern reißt ein Chor Lieder vom Kai, und sein Führer verschweißt aufgewühlt in der Menge mit dem Blau seines halboffenen Hemds. Auf den Gleisen der Zug – Zug um Zug mit einem Bändchen bespannt:

„Sondertransport Berlin–Moskau–Studentenver…“, und auf der anderen Seite ist das weiter unbeachtet vom Winde verweht. In den Wagons rutschen die Scheiben nieder wie wohlweislich entglittene Brote, und belegte Rufe fliegen zu Eltern, Verwandten, Geliebten geschmiert. Eine Jacke schüttelt sich spannungsgeladen, voll von scheckigen Orden behängt, und ihr Träger redet von Auftrag, Ehre und Pflicht. Das Mikrofon versteuert sich leicht. Eine Fernsehkamera surrt, und der Redakteur stellt sich die Gruppen ins Licht. Die Eltern erzählen von Kindern, die Kinder von sich.

„Freundschaft-Völkerverbund …“ – „Immer bereit!“ –

Gleich einer welken Mauer bröckelt das Echo, und die Getroffenen rühren sich warm. Dann drückt sich ein Offizier in die Einstellung groß. Hände schütteln Hände wie reife geschwollene Früchte, und Blumen fallen ins Bild. Die Musik salutiert wieder Ohrenlauthals. Ihre Fetzen stoßen gegen das Dach aus der Hülle von Stahl und mischen mit dem Lärm von den Zügen, den Lautsprecherhöhen und dem Stöhnen der Karren Gepäcks. Allein der Himmel scheint lautlos verschmiert.

Humpelig schürfen zwei Koffer die Treppe hinauf, und der Junge an ihnen tut sich schwer die Menschen zur Seite zu wühlen. Eire Rotblonde dahinter schiebt ihn weich in den Rücken.

„Los doch, Beeilung!“, kommandiert ihr der Junge.

„Verzeih! – Deine Hand!“ – Der Bahnsteig, die Leute.

„Welcher Waggon?“

„Der dritte!“ Die Rote schaut nach dem Atem.

„Hier! Endlich.“ – Er fächert in den Korridor mit den Koffern, stellt sie breit auf die Plätze und schleppt sich wieder leer auf den Steig. „War knapp“, sagt er, rundet einen Blick über die Menge und Fahnen, über die Köpfe – im Windzug geschmückt –und zwinkert einem Mädchen ins Auge, das sich weit hinauslehnt zur Schau. Aber es macht ihn nicht sicher mit mal Er haspelt im Wort und verkürzt zu dem Schluss: „Ganz aufgeregt ist man ja schon.“ – Doch die mit dem Farbenhaar Sonne hat nichts gemerkt, bemerkt nur die Tränen um sich, und sie reibt im Gesicht: Die Tusche läuft ihr von den Wimpern und verwischt die Sprossen vom Sommer mit zu. „Ich komme bald wieder …“, heilt sein Trost in dem Lärm. „Vielleicht schon Oktober – oder … Du kommst nach Moskau …“ Er umarmt sie wie alle umarmen: verwandt und bekannt.

„Ach, Liebe …“, fällt ihm Gott sei Dank ein. Dann trennt er sich abrupt von ihr und zieht fix das blaue Hemd über: „Hätte ich beinah vergessen! – Wir müssen doch alle …“ – Das Mädchen hatte es schon vorher gründlich gebügelt.

„Zum Sonderzug … einsteigen! Türen schließen!“

Das letzte Hetzen beginnt, und die Rotblonde heult mit den Rudeln. Der Junge kennt keinen Rat. Was sollte er tun? „In Kürze … Petra, nicht weinen! Ich denke … wir denken …“ Der Zug stößt sich ab, und die Musik stampft mit den Rädern, den Bräuten, den Müttern. Das Schluchzen wird frei. Wagen und Wagen rollen wie ein Film, verschwommen und trüb. Die Hände sind nur noch Zeichen und Schläge. Vergeblich freilich klammern sie sich an dem Bahnsteige dicht, denn sie gehen mit der ersten Biegung unter am Gleis. Es ist Abschied, ist Abstand und Wiedererlangen. So rollt der Zug in die Formen dahin.

„Wozu? Warum das Fort und die Unrast? Warum dieses Rad?“ – Gedanken spalten in Wehe, und die Weite schmilzt sich in Einsamkeit um. Ungewiss wie die Augen, die dunkelgrund Signale vorholen, sind Martin Sarodnicks Fragen. Indes, im Mund bleibt ein Lächeln verspielt. Er wechselt vom Schaden in Freude – der Weg ist gemacht, er ist auf der Strecke. Alles andere ist lange zurück. Ein paar Nachwehen bleiben, wie das Knie, das bepackt ist mit Bändern aus Mull. Darunter ruhen der Schmerz und ein Sommer.

Im Waggon drei schweben Gespräche und Nachsicht. Namen fallen ins Spiel. „Dieses Bohren und Brennen!“ – Er hätte Arzt werden sollen, wie es der Vater gedacht, der bis heut’ noch böse sich gibt und die Absage, den Trotz nicht verzieh. „Der Arzt wüsste Bescheid.“ – So ist das Knie. Und die Schmerzen. Und so waren die Ferien gemischt, die letzten mit Petra: ein Sommer am Meer, ein Zeltsommer auf kieseligem Sand mit Schaum in den Haaren und Wind. „Als ob das Nichts dieses Sommers den Schmerz retten kann!“ – Oder gilt er als letzter Stein in den Fragen? Darf ein Sturz mit dem Krad in den Graben mit überdrehendem Tempo den Abschied nicht abhalten können? „Glück gehabt, es hätte schlimmer sein können!“ – Schlimmer für wen? Für Petra bestimmt nicht, sondern wäre nur ein Verzögern für sie, eine Hoffnung auf Bleiben, gar auf „Zu-Hause-Verblieben“. Hatte sie ihm nicht schon die Ringe in der Auslage in Leipzig gezeigt? Er hatte dazu nur ironisch gelacht: „Wie komisch die aussehen: dickgebogen und Gold!“ – Rot war sie dabei geworden, verstand nicht den Spaß und sprach nie wieder darüber. „Also wird es ein später noch geben.“ Für Petra. Und für Sarodnick auch? –

Monika aber sitzt jetzt jedenfalls neben, wickelt den Jungen ein übers Knie, und ihr Blick ist der eines Sieges von heute – oder wenigstens „wie“, wenigstens „dicht“. „Soll die Zeit ruhig rollen und spielen.“ – Aber noch ist Moskau nicht da, und Rückkehr fädelt Nadeln in Öhre, dringt durch wie gesiebt. Monika ist die Brücke schon einmal gelaufen, nicht fremd und von der Erde – wer weiß schon wohin? – in ihre Augen zurück:

klar, ohne Wolken, blau, deutschblau, mit Wasser am Rand und dem Wissen vom Ich: „Ich sehe mich tief, fleißig und zornmütig gar – vorher und nachher aber gemütlich.“ – Auch Petra hat dieses Reine, ähnelt ihr, und Monika wiederum ähnelt denen, die er gekannt, ist ein wenig heller, fahlgelber bloß und dazu mit einem Polster aus Herz. Sarodnicks Mutter dagegen hat die braunen, die so auch seine Augen geworden. Der Sohn aber sucht in dem Blau, in den Flecken Metall-Spiegel und glatt wie gefallen. Verflacht seine Kindheit darin? „Petra, Monika – sind sie gleich wie zwei Augen?“ – Sein Mund formt sich zur Klage, hat eine Absicht bewirkt, und die Hände des Mädchens binden sich zart, sie lindern Bescheid. –

In Halle, um Liebfrauen und Händelaltar, wo Bettina von Arnim zwischen zwei Männern entschied, traf Sarodnick dieses Mädchen zum nächsten Mal wieder. Denn vorher war Leipzig – die gleiche Universität, die Korridore, die um das Gleiche sich wanden. Doch es war damals bloß ein flüchtiges Sehen darüber, ein Fluchtsehen nur. Der schale Kaffee an verschiedenen Tischen, und ein Lächeln war ungezählt nichts – eine nichtgezählte Begegnung. Da in Halle freilich zählte es plötzlich schon, und grundlos fand sich der Anlass: „Du hier?“ Sie hatten den Flirt – ein Dutzend von Tagen. In der Stimmung lag Grund, der Zubereitung beließ: das Studium vor Moskau, das Ausrichten, das Gleichrichten für mehr und mit staatlichen Richtern als Beilage zu, die sich spiegelgleich glichen, das Konzept in der Hand, und mit dem sie Zweifel zerhieben in Bande. Begeisterung und etwas Entgeisterung blieb. Die Halbtausend wachsenden Kinder spürten – wenn sie nicht lange schon ahnten! –, warum sie gerufen, wozu dieser Trab: Man baute die Fronten, gab ein Erlauben in Ehre fanfarig, und das Band sprach bis zum Ostbahnhof Bände, war breitstirnig dort um die Wagen gerollt.

Natürlich war für Monika alles weniger voll und aufregungsgeladen. Sie stand in den Dingen, hatte ihr Studium schon weg und hängte ein Jahr nur hinzu. „Es werden verlängerte Ferien für sie“, dachte Martin und kratzte am Bein: „Fünf Jahre dagegen für mich.“ – Fünf Jahre sprechen und schreiben in einer Sprache, die sich nicht gibt, mit der ihn höchstens Grammatik verband. Es war nicht seine eigene Sache. „Ich sollte mich an Monika halten, am nützlichen Bier.“

Steht sie nicht immer noch unter dem Torbogen im Vorgestern-Halle?

Sarodnick hatte das Gas heulen lassen vom Krad, und die Radspur schabte im Moos, gassengerecht, an den Freistellen fürs Wohnen, fürs Grade-noch-Wohnen, fürs Neuwohnen in der Nichtmöglichkeit.

Monika hielt – die Erfahrung bei sich – , hielt aus bis „unmöglich“, bis zum Sturz ab gegen den Zaun, und sie wusste, dass das Motorrad nicht das erste Mal fiel und noch weitere Male wird werfen – bis zu dem Umsturz mit Petra am Meer.

„Wann wirst du bloß klüger?“, sagte sie und hatte sich das Bein nur gerieben. „Klüger ist Klugscheiß“, antwortete Sarodnick und schlug sich auf seine Knochen. – War sie verliebt? War sie angezogen vom Lärm, von dem Drumherum um die Kunst, die wie ein Brei in ihm wärmte? Wie gern hätte sie auch dort selber gekocht! War sie verliebt in das Fach von dem Jungen? Vielleicht. Auch jetzt. Und später?

In Halle, am letzten Tag tanzten sie auf dem Ball, den Schlusstanz zusammen – einen Tanz ohne Schlüsse: Monika hatte so lange gewartet auf ihn. Gekleidet als Fest, mit einer gefiederten Brosche am Schnitt, das weiße Haar in den Nacken gestrengt, zogen tief ihre Winkel im Mund und liehen ihr Unnähe, Unweiche und Stolz: „Er hatte ihr es versprochen.“ – Der Abend ging ab, und der letzte Tanz sollte doch kerben, sich spitz einzeichnen ins Hirn. Bald würde bald, wäre das notwendige Übel verdaut, und sie könnte sich wegheben von ihrem Kreis, der sie schnürte, der das Theater, die Bücher als Notdurft sah auf die Schnelle. Bietet nicht Sarodnick so ihr eine Chance? „Die Sprache ist Mittel zum Zweck“, – und der Zweck würde nah bei ihm sitzen, wie ein Foto im Klick, wie das Auslösen eines Moments, der die Entscheidung bedeutet.

Fotografiert sie nicht gern? Hatte sie nicht schon als Kind vom Dach andere Dächer gemalt? Ihre Mutter freilich holte sie fort, wies den Vertrieb aus der Zeit und stellte sie auf die richtigen Beine – sie hatte ganz andres zu tun. „Ohne Mann“ – das war ohne Vater, hieß alleine durchbringen das Kind, bedeutete die Knochen sich nässen im Brauwerk und diesem „Kerl“ den Fluch nachschicken für die angedauten Jahre als Braut – brautlos und ohne Beruf. Sie war rum um die Jahre, und in den Tränen hatte sie dazu noch den Hopfen, die Gerste von dem Freibier im Werk. „Das Kind soll im Elend nicht saufen!“ – Das Kind – der Glücksspiegel eh schon verspielt – sollte studieren, ordentlich sein, Leute und fein, mit Geld in der Tasche, das knistert. „Malerei? – Maler malen daneben. – Sie kann nebenbei tun, als würde sie sein: häuslich zu Hause, vom Balkon das Bild auf die See.“

Und Monika wurde begabt für die Sprachen, redete nach dem Munde der Fremden, sprach breiter als die Spitzen im Norden, und es klang ein bisschen wie Ausland dazu. Die Tochter sollte mal die Mutter begleiten rund um die Welt, in ihre Träume und in ihr „Erzähl mir von das!“. Monika ließ ihre Mundwinkel hängen im Winkel und hörte den Rat, wird lange noch hören, gehören, gehorchen – trotz Trotz –, den Trotz nur in die Lippen sich schreiben. Sie wird die Mutter dulden und meiden – geschehen ist Scham, und zweimal kann man nicht in den Topf –, die Entscheidung fällt einmal im Staat. Gewöhnlich nimmt der Vater die Wahl, wenn man nach Grünzeug gerade erst riecht, und er nimmt sich dabei außerordentlich frei: „Du studierst – warte mal! – studierst Medizin!“ – Man wartet – der Vater bewirbt, kommt an, und der Weg des Sohnes ist gemacht und sein Bett: fünf Jahre höhere Schule, der Arbeitsplatz in der Klinik schon vor der „Fünf“ um den Hals und an diesem Platz bis zum Platzen gehalten. Da ist bloß noch für Auftrag, Orden und Lohntüte Raum. „Also die Ausnahme sein?“ – Ausnahmen stinken wie Schweiß oder Urin, den man in der Hose mitträgt als Angst. Sagen wir Normalität, abgesteckter Pfahl in dem Bein, Norm in der Norm: „Ich werde Lehrer. Geschichtenlehrer.“ – Nach vierzig Jahren schichtet man noch, langlebig, zukünftig, sicher auf festen Füßen genagelt. Der Marsch, die Unweil ist der Tugend abhold. „Wir wissen!“ – schon längst. „Seid bereit!“, – im Alter das Kind, der verdiente Feierabend mit dreißig – mit fünfundzwanzig gibt es keinen Studienplatz mehr, allerhöchstens noch fern, zweitgleisig, unwichtig, oder mit wichtigen Leuten im Gleis. Gewisslich wäre das auch zu stark für den Staat: Nach einem Vierteljahrhundert will plötzlich noch einer wissen, dass er nicht weiß, dass er sich irre und anders will sein! Ziele sind Ziele im Auge wie Dorn, und der Staat kann nicht warten, bis Monika sich bequemt zu entschließen. „Nützlichkeitsding.“ – Jedes Ding ist nützlich, solange es läuft.

Und Monika lief wie gedreht in Stralsund inmitten der plattspitzen Schüler, die Stimme im Glas, die sie im Schulchor kristallisierte. „Lehrerin!“, stimmten die Lehrer. „Stimme, Strenge und Stolz.“ Doch Monika leerte den Stolz, gor ihn in sich noch auf: wenn schon nicht malen, wenn schon die Mutter, dann die Erziehung – und die Kinder am Zug zu den Teufeln!

„Schön“, sang sie, „Pädagoge. Aber höher zum Alt, das Philosophische in den Lauten, den Schlag in den Rätseln, höher zum Fremden, in die Magie.“ – Das wäre Kunst fast schon wieder, ein semantischer Trick im Syllabus, die Sprache verworren in anderer Sprache. Vermählt sein mit Zeichen, ohne Ehe zu sein, ein Tor in die Weite – deuten lernen und verstehen in Zeit, lauschen wie Tiere, wie die Natur und begreifen. Begreifenmachen das Bild seinem Betrachter. Indes, Lehrerin also? Ja, aber auf einer oberen Warte: Es bleibt ein Verhüllen, ein Heimlich dazu. Der Lehrer entblößt, entzaubert, zeigt ganz. Der in der Sprache dagegen gibt nur Ergebnisse an, nicht den Weg und erst gar nicht den Ursprung. Das fertige Werk ist ein fertiges Bild – aufgestellt, ausgestellt alles. Es sind die Gedanken, die Umformung, das Vormalige hinter der Wand, und die Kunst ist ins Leben getragen. Vielleicht. Das ist die Farbe. Und Aufgabe. Ein Vermitteln, das nicht fordert, verlangt.

Ihr Deutschlehrer war glücklich im Sieg. Für ihn zählten Prozente, und Monika zählte doppelt für ihn. Beim Malen sind Schlangen gestellt – und stehe mal an! –, eine Absage wäre ein Jahr für den Hund und ein Minus für die Zahlen der Schule. Da verzählt man sich schnell. Für die Sprachen ist es nicht leicht, aber ein Wink, eine Beurteilung, die sticht, kann den guten Rat billig machen und frei.

Russisch/Englisch – zwischen Saxonen und Russen, zwischen zwei Welten, auf einem Steg zum Wackeln, zum Todwackeln und Fallen steht ihr jetziges Leben darauf. Und Monika ist nüchtern geworden, der Regenbogen ist weg, das Artifizielle, die Sprachkunst, die Kunst. In das Entwirren wirrt ein wenig nur Langeweile hinein – kein Mehr, keine offenen Fragen, keine Zeilen dazwischen –, und Regeln und kristallene Worte wirken ohne den zufälligen Grad. „Das wäre der Anfang“, könnte man sagen, wenn es nicht das Ende schon wär’. Es ist das Bedrängen der Arbeit, der Vertrag, das Ziel unter dem Glas. Der Alltag sollte beginnen – undenkbar, zum Denken gezwungen –, die alltägliche Arbeit, das Maschinelle mit individuellem Verstrich, wie jede Maschine mal ist.

Dieser Gedanke würgte wie eine Kahlfläche zur Last, und Monika trägt ihn mit sich aus Leipzig in ihrem Gepäck. „Was aber soll’s! Bis dahin und dann.“ – Martin ist hier, der wird sie schon brauchen, und sie braucht es davon. Weit hinter dem Bahnhof ist Petra geblieben, hinter der Grenze, die Frankfurt passiert. Danach kommt mit Sicherheit Brest – die sicherste Grenze der Welt. Wer könnte die schon durchqueren? Wem gibt man den Schein zum „Betreten verboten“? – „Und die Touristen?“, denkt Monika sich. – „Petra hat Geld.“ Aber Zeit ist kein Geld und die Pässe liegen nicht auf der Straße herum. „Ob er sie liebt, diese Petra?“ – Eine Lücke saugt in der Stirn, in die ihre, in die von Sarodnick auch. –

„Wie eilig sind diese zwei Jahre mit Petra vergangen!“ – Sarodnick sieht sie wieder in sich, sieht ihren Blick in der Mensa der Uni von Leipzig. Dort studierte sie Ökonomie, und Martin aß in dem gleichen Saale zu Mittag. „Achtzig Pfennig mit Nachschlag“ – und das nutzte er aus, reichlich und stetig, gleich, was es gab –, er hatte Hunger und viel, und er hatte obendrein auch kaum Geld. Seine Eltern halfen ihm nicht — wegen der Medizin und der verlorenen Aussicht. Der Sohn wollte die Kunst, und er stopfte sich mit Fertigkost voll seine Ohren. Danach ging’s in die Mensa, mit Blutwurst, Sülze, Eintopf, Kartoffeln und Kraut – achtzig Pfennige haben, Pfennige für den Geschmack –, und die Küchendamen kannten ihn schon des Nachschlags wegen. Der indes reichte ihm dick bis zum Abend. Hundert Mark für den Monat, mehr hatte er nicht, hundert von der hundertjährigen Oma, die stand noch zu ihm. Dazu gesellten sich die Kreuzer für die Arbeit zur Nacht – bei der Post, auf der Messe, auf dem Bahnhof als Lasten-Verschlepper. Gut war es ihm mehr in der Kunstakademie, als ein Zeichen zum Zeichnen, als ein Stück außer Papier: rumstehen und Geldverdienen dabei – die Stunde fünf Mark, stehen und denken „Was macht man damit?“ Ein Hintern, ein Fetzen Fleisch auf dem Block und die Konturen panieren, sich Zustellen wie eine aufgerissene Palette, Standgeld bekommen ohne den Stand: „Irgendwie verliert man an Würde dabei.“

Es war Frederike, die ihm das Stehen verdross beim Faschingsball ihrer Schule oder danach – ja, kurz hernach war es wohl eher. Für ihn war es der erste Karneval in der Stadt und noch dazu bei den Künstlern, mit den berüchtigten Saiten, den Matratzen im Raum und den gemischten Getränken. Allein gewiss traute sich Sarodnick nicht, und so fragte er Dieter, den Freund aus der Schule, der in Leipzig studierte wie er. Der aber hatte zu tun, hatte eine Freundin sitzen zu Hause, musste ihr schreiben, wollte sie denken und konnte auch traurig sein bei. Dieter sagte sich ab, und Martin schilderte ihm den Fasching in Farben, nackt und berauschend, als kenne er sich da aus, als hätte er dort jedes beliebige Mädchen verbraten, und er briet seinen Plan: „Ich verspreche dir, was du willst, wen du willst – wenn du nur wölltest!“ – Aber Dieter wollte ja nicht – freilich, wer möchte schon nicht, mochte nicht wenigstens gucken?

„Man lässt uns nicht ein ohne Kostüme“, zerstreute er seine Betrachtung.

„… ohne Kostüm“, wiederholte Martin stur, „ganz ohne – oben und unten wie nichts.“

„Gut, ich nehme es bar“, toppte Dieter faustdick dem lästigen Freund hinter die Ohren. „Du nackt, oder sagen wir, in Unterhosen ‚verkleidet‘. Das wäre für mich womöglich ein Grund …“

„Das ist doch wohl nicht dein Ernst?“, stöhne Sarodnick und stand da ohne Hose. „Dann eben nicht. Tschüs! Ich muss den Brief weiterschreiben an Ilse.“ – „Hier“ – wieder ging Martin sich an den Gurt: „Ich werd’ es dir zeigen!“ Und kurzbeinig, peinlich – der Gummi war schlaff – watschelte er ohne Schuhe in wollenen Socken, und der Mut sank ihm in den Schnee vor der Tür an der Höheren Schule. Aber dahinter war Fasching, und er zog ihn mächtig hinein.

„Du warst doch schon drin!“, sagte einer noch auf der Straße und stieß ihn zur Tür, ohne zu fragen, ohne Billett.

Frederike malte im letzten Studienjahr Träume. Sie war groß und begabt und nahm Martin zu sich erfahren nach Haus. Ihr geliehener Mantel schlotterte ihm als bloße Stafette ums Knie. Sie aber gab den Stab an ihn weiter. Er fummelte dran, fand nichts dabei, fand überhaupt nichts bei sich und war drüber erstaunt: Frederike war seine erste richtige Frau, und er hatte nicht einmal richtig geschlafen mit ihr. Die Angst schlief mit ihm, er wusste nicht wie, nicht wohin, und das Mädchen wusste nicht mehr oder wusste, dass Männer nicht unbedingt sind, und nahm den Jungen wie Sahne. Der leckte es ab, machte sich nass, und die Frau schlief unter dem Mantel in Ruhe. Weit war der Weg zu den Mädchen, und große Worte gehörten nicht zu. Die Furcht saß bei Martin dazwischen, Kompromisse im Satz, das Abstreifen der eigenen Grenze.

„Ihren Pass bitte!“ – Sarodnick zeigt seinen Vermerk „Gültig für alle Staaten“. Und der erste Stempel drückt sich im Pass, und ein Gruß des Soldaten – gültig in jeder Armee – klappt hinter ihm zu: „Gute Reise für Sie!“

„Elende Fahrt!“ Zuhause jetzt hätte er Ferien, wie Petra, mit Petra im schönen August, im Zelt an der See, hätte ihren Mund in dem seinen – ihren, der schmal war und schnittig. Lange hatte es gedauert, bis der Kuss ihnen „saß“, und sie hatten sich festgeklammert im Glück. Am Morgen dann waren ihre Lippen geschwollen, und sie schämten sich beide darüber. Ihre Zärtlichkeit war ohne Lippen viel mehr, war ein vorsichtendes Grüßen, ein Ausweichen vor Zittern, vor Schmerz, war Bruder und Schwester, war eher Spiel als Berührung und Schmelzfluss im Sinn.

„Monika küsste sehr gut, unsinnig besser – o nein! nicht besser, nur voller – nach dem Festball in Halle vor ihrer Tür.“ – Vielleicht war sie zu offen mit ihm, war ein Mund bloß als Rand – sicher ein Schwungrand, aber doch Rand. Und Martin riss die Lippen mit auf, wie bei Linda, der Germanistin aus der Deutschen Bücherei in der Stadt, in der er fast jeden Tag saß und die Philosophie verschlang wie den Nachschlag zum offiziellen Gericht: Er hatte von Linda eine Sondergenehmigung für Nietzsche, C. G. Jung, Stephan George … bekommen. Es war wie ein Geheimnis für ihn, und er wühlte darin, war eine Einführung in okkulte Bereiche, ein trotzdem zum Leben, zum Wertlosen, das wertlich beschrieben, und die Schwermut nahm sich darin schwer und sehr ernst.

Sarodnick lag in seinem gemieteten Bett, im gemieteten Zimmer für dreißig Mark in der Vorstadt von Leipzig und wog seinen Mut: Konnte er leben mit hundert Mark unter dem Kissen, mit Unvermögen sich Wege zerstreuen, mit abgerissen von gestern, von Eltern, von Freunden und mit keiner Richtung in Sicht? Er klang sich in Reue, im Schatten, und er wärmte darin, klammerte an den Büchern, um die Triebe in Nachsicht zu setzen, die Analyse zum Reif in die Leere – sein eigenes Ich.

Die Bänke im Saal waren schwer von den Köpfen, und Martin las in Märchen und Typen, die in Archen verpackt waren und ruhten. Er fand den Mann in der Schwüle der Endproduktion, den Hauch der Bürgerentsammlung, die Hochzeit im Beinhaus. Er spürte überall künstliches Licht, und das zog ihm über das Herz, diese Sprache im Tritt, die Krankheit verschmierte in Ordnung, die vor dem Meer einen Breitstrom, ein Delta abgab. „Drei Noten im Tristan“ und der Klang von gekippten Betten darin, das hohe Fieber mit Ironie – wer könnte da lachen im Krampf?

Drei Bänke weiter saß Linda, drei Straßen weiter von ihm in dreißig Mark Miete. Sie schied sich in Psychologie, schied sich die Geister, scheute bescheiden den Lärm und kannte Bescheid: Saß sie doch schon Jahre einige Reihen weiter im Saal. So kam für beide die Trauer gemeinsam, der Zweifel, der Einsang zu fragen und die Harmonie im einfachen Schweigen. Stumm hatte Martin sie zu küssen versucht, und sie staunte darin: Ihr Mund war weit vor der Antwort, klappte nicht zu, war ein Wochen- und Monatestaunen. Später dann nahm Martin die Hand mit zur Hilfe, und er öffnete zum Mund ihr die Bluse. Ein Knopf rollte ab, und Linda schlug die Empörung an ihn: „Wie konntest du nur?!“ – Fortab saß sie wieder ferner drei Bänke und suchte in ihren Büchern allein. Sarodnick aber war zum Fasching gegangen, lag Frederike selber Modell und stellte sich nie mehr für fünf Mark splitternackt aus: Er hatte seinen eigenen Preis. Oder ging er nur Gefahren zur Seite? –

„Clever wie sie“, sagte er sich und sah auf Monika seitlich. Sie hatte gewartet, bis der Zug den Bahnhof verließ, bis Martin abklang in sich, sacht und entschieden. Alsdann schickte sie ihre Freundin voraus mit dem Gruß: „In unserem Abteil ist ein Platz über.“ – Wie hätte er abschlagen, nicht überschlagen sollen – einen Platz zwischen den Mädchen? Er reute es nicht – gesorgt und gehegt von den Formen, geboten in Wahl und in Reihen – und Selbstruhe lag in dem, ein Grund in der Sache: „Ein Mädchen ist verteilt keine Frau.“ – Sarodnick muss sich nicht zeigen, vermag nicht und muss nicht vermögen; er kriecht in die Streuung und macht allen den Hof. Aber er schlief doch mit Petra? – Eben. Das einzige „Richtig“, das einzige Mal, die einzige Frau. Darum die Bindung, die Trauer, die Furcht. – Der Zug geht durch Fremde, durch Gebiete, die Sarodnick nur aus dem Schulunterricht kennt: wohlige Namen, die einstmals anders geheißen – deutsch-endig und -stämmig. Sie sind polnisch geworden, neulich und wieder, sind vom Leide gelöst, von dem Tod, den sie gaben, und sie sind Ausland, ausladend für die, die sie nahmen.

Noch niemals war Martin im Ausland gewesen – das eine Mal als Kind kann er nicht zählen, im Lager, als er sich verlief in den Bergen und nach dem Weg einen Bauern fragte, der ihn in einer fremden Sprache erschreckte. Und der Junge weinte damals davor. Tschechisch war es, und Polnisch ist dem verwandt, wie Russisch, wie alle slawischen Sprachen. Zehn Jahre hat er Russisch gelernt – und wie! –, mit Zensuren, die stimmten wie die anderen auch, und mit nichts, fast gar nichts, das hängengeblieben wäre davon. Monika indes hat zwei Sprachen in ihrem Hals, das ist wie eine Kette, ein Schmuck. Und er bittet: „Sag etwas in Russisch, ein Wort!“ – Dampf, Schienen und Müdigkeit schlagen auf Schwellen. Nacht zieht hinter die Fenster, und ungewohnt breitet der Schlaf sich in Fahrt. „Unter dem Weg, auf dem Wege, wegig, unterwegs – Kilometer im Leben, rollendes Leben …“ Im Sinken, im Eintauchen legt sich Vergessen, legen sich Träume zum bald, und Martin greift in die Tiefe, klammert die Hände daran. Allein in den Welten, Gleiten im Sein, mitten von löschenden Sinnen – nichts tun, ein Flackern, ein Blasen, ein Scheitholz im Feuer des Wagens, ein Silberton im Gesicht. Nacht. Endlich. Räder laufen im Atem. Eine Hand drückt die seine – gleichviel von wem. Man ist noch. Zählt. Und man hält in den Händen und sinkt. –

Als der Tag in den Wagen sich gießt, ist man in der Sowjetunion schon, in Weiß-Russland, und die Waggons laufen jetzt breit, auf breitbeinigen Schienen, anders genormt.

„Die könnten sie bei uns auch installieren“, meint jemand. „Unmöglich“, erwidert sein Gegenüber. „Der Westen macht da aber keineswegs mit, und wir sind leider immer noch abhängig von ihm.“ – Breitspurig erklärt er die Lage, und die Lage wird klar: Sarodnick ist in dem Land mit den anderen Normen. Schicksale gehen die Runde, und an die Türen klopfen Studenten in Uniformen und verteilen Broschüren, formen, was noch nicht ist geformt, Abteil an Abteil. In jedem Kopf stecken Plaketten, man fährt in die Sonne, und Martin bangt in der Frage nach Ankunft.

Berlin–Leipzig war klar. Er studierte hier, dort wohnte Petra. Martin nahm den Koffer, kam an, „zuhause“ bei ihr. In Berlin war seine Wohnung, in einem Gartenhaus bei einer vergessenden Dame, in einem Haus außer Häuschen, mit Musik und Festen darin. Dahinter lag Berlin als Hinterhalt, als Hauptstadt, als Zwilling vom verlorenen Sohn, mit Kultur und aufgeputzten Ruinen. Sarodnick spielte mit ihnen, zeichnete sich aus und steckte die Delegierung nach Moskau sich an den Hut: „Als Einziger! Einzig!“ Er klapperte sich die Fanfaren herunter, die Zirkel, die schönen Worte der Straße als Bühne. „Ein Theater würgt ab“, und Martin blähte gelähmt, flimmerte den Schein und den Spott in den Kegeln. „Das ist schon das Größte, weiter geht es nicht mehr – Kerzen in Schlössern und Sphären!“ – Er schluckte die Masken – Leipziger oder Berliner – die Drachen, die Bärte, den Sommernachtstraum, und er fiel über die Steine, die man ihm absichtlich stellte: Bert Brecht, die Zweifel im Hoch, die Krise als Zucht und die Maßnahme als Regel – das elfte Plenum als Spiel. Für Sarodnick waren es ausgelegte Karten zum Greifen, und er griff nicht daneben, noch nicht. „Glatt wie ein Scheit“, – und glatt rollten die Gespräche mit Monika über die Bühne. „Wir haben in der Oper herzlich gelacht.“

„Zum Kotzen, der ‚Faust‘! Der zweite Teil ist zum Vergessen.“ – Monika schaute die Könige alle in Leipzig, und Sarodnick hinkte voraus. „Über das Leipziger Ballett kann ich wohl richten“, spürte er und kannte ihre Tänzer sehr gut, ihr FF, ihre wie Faltern schwebenden Finger, ihr Freifeist und -geist, ihr fahrendes Fisteln, und er lockte sich mit in dem Spiel an den Hoden und ließ sich austanzen am Schweif. Ein Ausguss lief über die tanzenden Körper, lief über und goss manche Male aus Martin heraus. Es war ein Ringeltanz zum Anfassen unter dem Bauch. Petra freilich zog ihn vom Buhlen in ihren Sommer, und sie blitzte im Zimmer mit Teppich und Blumen. Da konnte Martin nicht anders, kroch in ihr Sofa und stellte die Schuhe auf ihre Löcher. Geborgenes Nest, eine Schwalbe im Herbst, Schwesterngeliebte – so nahm sie ihn auf. Sein Vater und seine Mutter waren entschuldigt mit ihr und ihre Flüche vergessen gemacht.

Der erste Geliebte. Die Erste geliebt. Zweiseitig klebte die Angst, es zu nehmen, und erst nach langen Monaten hemmte sie aus: Sie gruben sich ein – vorsichtig, rücksichtig, den anderen nicht störend im Tun. Es war Liebe ohne Schreie und Schmerzen, ein Dahinschaukeln, ein Interruptus – man unterbrach sich mitten im Wort: „Was wolltest du eigentlich sagen?“ – „Ach, nichts.“ – Zu hoch mutete die Erziehung im Fleisch, war eine Not nur verrichtend: „Nichts. Mache nur weiter“ – es war der Schreck vor dem Später, und weil es nun einmal anders nicht ging, war eine Bindung, die bindet und löscht – gleichgerichtet auf Flammen zu Glut: „Das Feuer schüren, solange es löscht.“ – Jetzt ist es in Sehnsucht verstellt, ist „nicht wichtig“, und Petra ist eine Fiktion – Petra ist Liebe. Wie soll er da raus? –

„Wir sind angekommen!“, erinnert ihn Monika unversehens an Moskau. „Was? Schon?“ Ein Wischen auf Scheiben, ein Tuscheln, und das Stechen im Hirn. Wieder Musik und wieder Plakate und Fahnen und Menschen.

Der Junge irrt, stößt sanft gegen die Leute und Rufe, gegen Wartende mit Schildern unter der Brust. Um jeden beschriftenden Bauch scharren die Neuen, die angekommenen Deutschen und ordnen sich zu. Für Sarodnick dagegen warten kein Schild, kein Institut und kein Ruf – er steht den Namen im Rücken. „Wo ist Monika nur?“ – Ordner treiben ihn weiter, ins Gitter, zu neugierigen Augen, die nach etwas ihn fragen. „Ich …“, steckt er bloß ein. „Wenigstens die Koffer irgendwo stellen!“ –

Der Bahnhof ist wie eine ausgetretene Wiese. „Farbiger“, denkt er, „Farbe vergossen für Jahre.“ – Eine Frau aus der Botschaft verzagt: „Auf meiner Liste finde ich nicht ihren Namen. Aber temporär … Ich kann telefonieren.“

Man geht „vorübergehend“ zur Universität – zu einer fremden. „Da sind Betten. Und später regeln wir alles von selbst.“

2

Kunstleder im Arm rollt Sarodnick auf der Treppe für Götter, für die Gestürzten, in marmorne Schächte: Die Moskauer Metro gibt ihr Karussell. In Steinen setzen schwingende Fäuste, und Mosaike sind in die Flechten der Haare geschnitzt. Halbwärts auf Flitter beugen sich brustfest Ritter vom Amt zu dem hastenden Volk – Mitfahrervolk –, zu den schwankenden Netzen und Taschen. Nichts ist zu schade hierfür. Die Wände sind mit Edelsteinen besetzt, und Lenin liest sich in georgischen Lettern. Im Überlicht steuern die Scheinwerfer aus, Kathedralen wanken unter der Erde Öffentlichkeit, Burgen und Schlösser steigen aus der Legende, und mit ihrer Freizeit im Schoße sitzen die Mädchen mitten darin. Ihre Zimmer aber schlafen auf Erden. Hier jedoch sind ihre Stunden, das Buch, der Freund und der Kuss. Unterstellen, um zärtlich zu sein, anonym sein, schön in dem Zelt. Die Sackgasse wird zur offenen Tür – allein und gemeinsam, riesig und klein – zu einem Tempel für unheilige Zeiten, zu einem Satzzeichen in einer wörtlichen Rede. – Sarodnick lädt sich selbst in die eisernen Betten des Internats, irgendwo weit im Moskauer Süden. Die Nächte sind heiß, und herbergig ist die Hoffnung nach Klärung – von Botschaft aus Botschaft – das Hoffen auf das eigene Bett. Er streift die Vertikalen zum Himmel, verdreht die Lomonossow-Universität sich von den Seiten, die wolkenhoch sozialisiert. Der Wunsch ist verhangen, das Wider zu den Kratzern im Westen: Kaukasische Berge, gedrechselte Wertarbeit unter dem Tisch, und eine Höhe ist „um Gottes willen“ erreicht. Für die Besten der Besten ist es gemacht, sind Volkshäuser für die Verdienten des Volkes. Man gab ein Exempel, das Exempel genügte: ein Vorzeigestück. –

Die geplante Versammlung am Morgen fiel aus, wie alle Versammlungen ausfielen, und man traf sich nur kurz, wie geniert, im Hofe der Uni, war gepresst von dem Mittag der Hitze. Ein Vertreter der Botschaft teilt sich mit – knapp, blitzknapp und leise:

„In dieser Nacht haben unsere gemeinsamen Streitkräfte des Warschauer Paktes die Grenzen zur Tschechoslowakischen Volksrepublik überschritten und haben damit den Weltfrieden gerettet.“ – Was für schreckliche Hitze! Irgendjemand ruft: „Bravo!“ Der Botschafter packt zusammen, verschwindet. Zweihundert Jungen und Mädchen sind wieder allein. „Das muss ausdiskutiert werden“, sagt einer. Keiner.

„Später! Ihr bekommt Direktiven.“

„Diskretion und Disziplin wahren!“

„Die Unterkunftsfrage wäre zu klären.“

„Die Essensmarken bitte bei mir!“ –

Warten und Teetrinken – russischer Tee mit viel Zucker.

„Das schlafft deine Nerven“, hatte Sarodnicks Großmutter gemeint und ihm den Topf mit selbstgemachtem Kandis heimlich gereicht. Heimlich musste es sein, die Eltern waren dagegen: „Das Unkraut! Der schmutzige Zucker.“ – Heimlichkeit war eine Zier in dem Haus, heimlich schmeckte es besser, heimlich sündigte es sich, heimlich hörte man westliche Sender, heimlich kam eine krumme Frau, um in der Zukunft zu lesen, derweil der Vater auf Versammlungen einstimmig wählte. Probleme lösten sich hinter vorgehaltenen Händen, und die Hand schob sich schnell in den Mund und manchmal auch tiefer – zum Kotzen war es.

Sarodnick hielt sich daran und hält die Hand gegen die Sonne, um von den Leninbergen zu schauen. Moskau ist dort, der Horizont seine Heimat und Petra und die Panzer, die fahren. Er nimmt die eigene Faust mit zu Hilfe und sucht die Zeitungen ab. Doch die deutschen sind gestern und hinken, nur die sowjetischen winken und strahlen:

Kinder und Mütter schmücken Soldaten. Martin kann die Buchstaben lesen, die aber geben ihm keinen Text: „Frieden“ und „Freundschaft“ – und Flechtwerk zu Prag. „Verdammt, diese Sprache! Es hat keinen Sinn.“ – Monika müsste er finden. Gleich an der Lubjanka, am KGB, hat sie ein Zimmer, in einem Haus mit viel Glas und aufgelockerten Mauern, mit Flügeln, Balkons und gestaffelten Fronten, mit krummen Winkeln und Winkeln, die tolldreist sich bilden, mit Treppenhäusern aus Licht: ein Wohnheim-Konstruktivismus. Und Martin erbaut sich darin.

In dem Haus teilt sich Monika den Raum mit einer Jüdin und einem georgischen Mädchen. Sie sind freundlich, und beide gewöhnt als Dreiheit zu leben. Die Jüdin ist rund um den Tisch, dunkel, untergestellt, mit offenen Augen wie Grauputz und Seide. Die Georgierin dagegen ist groß, gliedrig, mit olivenem Kopf, schwarzen Zopfhaaren über den Schultern und einem sehr lang gekrümmten Hals. Sie ist eine Frau aus den Epen, eine Unwahre, Ungefasste, mit schiefem winzigen Mund und hängenden Augen voll Ernst. Aus Suchumi stammt sie, und Suchumi hat Wasser und Berge und Honig. Martin lässt die Finger dran kleben und trinkt grusinischen Wein. „So tanzt Europa“, zeigt er den Mädchen, ist weit weg von den Körpern und sucht mit Gesten verständlich zu sein. Sie lachen: „Überhaupt nichts verstanden …“ – Er geht. Monika bringt ihn zur Treppe. „Ich hab’ dich gesucht.“ – Sie lässt ihren Mund ihm wie damals in Halle am Bogen, und es hat etwas an sich, etwas Wohliges, Sanftes, hat etwas von der Treppe dazu. Wie das Eisen stützt es, gibt den kühlen Kopf wieder, die Hilfe, die er jetzt braucht. Eine verschlüsselte Liebeserklärung murmelt er über die Diele, ein verhangener Nebel, der die Banalitäten verhüllt. Doch die mag sie erst recht nicht, mag sie ihn auch.

Monika ritzt und formt seine Sprache – eine Sprachführerin – und führt durch die Stadt.

„Entschuldigen Sie bitte, die Filmhochschule …?“ – Es ist am anderen Ende der Stadt, Nord weit und weg.

„Wie viele sind Sie aus Ihrem Staate?“, fragt der Direktor, und Monika springt in die Lücke, sagt:

„Einer. – Oh, der Martin, Herr Sarodnick kann alles verstehen, nur sprechen ist für ihn noch zu schwer, wegen der Scham …“ – und sie tritt ihm auf die Füße, so dass Martin zustimmend nickt. „Ein Vorbereitungskurs ist nicht nötig.“ – Der Direktor ist verführt von dem Charme: „Dokumentar- oder Spielfilmregie?“

„Spielfilm natürlich.“

„Das wird sicherlich schwer“, spricht der Mann und meint es so gut wie versprochen. Monika ist ins Institut aufgenommen, und der Direktor gibt ihr die Hand.

„Herr Sarodnick, hier!“

„Natürlich, Frau, Fräulein … bloß ‚Spielfilm‘, ich weiß nicht …“

„Es steht im Vertrag.“ – Wer hat Verträge gelesen?

„Gut. Kommen Sie in drei Wochen!“

„So lange wartet der Herr?“

„Das ist seine eigene Sache.“

Das Internat ist ein Steinklotz an der Jausa, ein nebenseitiger Arm von der Moskwa, am Bahnort nach Norden Sagorsk. Die Tataren hatte man nah von hier aufgehalten im Mittelalter am Fluss, der jetzt fast gänzlich weggetrocknet und bald nur noch die Erinnerung lässt. Hinter den Schienen ist ein Wald bis zum Sakolniki Park ausgeworfen, mit Birken, wie es in Büchern oft steht. Der Lärm der Züge weht in die Etagen des Heimes und zieht den Geruch der Bäume nach sich hinein. Die Fenster schmücken den Rest. Der Bau duldet den Zweck, die Unterbringung von Menschen. Er ist ein Zelt für den Winter, übereinander gestockt in fünf Reihen. Die erste ist für die Aspiranten gezogen, die zweite für die Ökonomen und Kameraleute, die dritte für Maler und Szenaristen, die vierte für Schauspieler und Regisseure, die fünfte für Mädchen. Vier Stöcke – vier Leute im Zimmer, drei Leute – wenn man drei Jahre schon wohnt. Jede Zeile fließt in die Küche, in die Toilette, in die Waschräume aus. Im Keller wärmt eine Dusche, darüber liegt eine Kantine, darüber das Leben, darunter aber die Erde und das Gewässer der Jausa von eins.

Ein Junge, zwei Koffer, zwei Taschen, zwei Zettel mit Stempeln würgen sich in das Zimmer im dritten Stock. „Tag Martin!“

„Ach ja, Fritz!“, sagt der eine von den Zimmerbewohnern.

„Martin. Sarodnick, Martin.“ – Die anderen lachen. Martin ist es ganz schnuppe, wo er seine Nächte verbringt.

„Willst du teilen mit uns?“ – Wladimir, Samwel, Wasili. Russe, Armenier, Bulgare. Im Schrank hängt ein Mantel, eine Jacke, zwei Hemden – Sarodnick richtet sich ein.

„Die Koffer wohin?“ – Ein Tisch, zwei Tag- und Nachtschränkchen, vier eiserne Betten, ein Schrank und ein mickriger Lautsprecher daneben geschraubt. „Ich brauche etwas Privates. Mit Schloss! Ich werde mit dem Internatsleiter reden. – Passt auf, dass niemand inzwischen was klaut!“ – Sarodnick geht.

„Deine Mutter hab ich gefickt!“, schleudert der Armenier gegen die Tür. Er kommt aus Tbilissi, wuchs auf unter Georgiern, lebte mit seiner Großmutter allein, denn die Eltern waren im VaterländischenKriege gefallen. Jura hat er studiert, als Advokat kurz praktiziert und beginnt „Regie“ heuer zu lernen. „Diesen Fritz, verdammten Scheißkerl, erschlage ich noch!“, schreit er und geht an die Luft, den blauen Schlips knotend, die Kunstlederschuhe sorgfältig hoch über die Knöchel geschnürt und die grau schlendernde Hose knapp unter das verwaschene Sakko geknöpft. Zeitlos sind sie gewaschen – die Jacke, das Hemd und der Binder –, zeitlebens sind die Schuhe gezeitigt, und bloß die Turnhosen wechseln von Jahr zu Jahr, wenn sie mal völlig verschlissen.

Am nächsten Tag ist Samwel mit den anderen schon aus dem Häuschen: Der erste Kurs fährt zum Ernteeinsatz – Kartoffel lesen und packen. Sarodnick dagegen hat inzwischen Zeit sich einzuleben, zu gewöhnen, einzurichten, Vokabeln zu lernen. „Wie gut, dass Monika ist!“ – Bis zum Abend büffelt, ächzt er sich durch und lässt Monika da, wo sie ist – es stehen ausreichend Betten.

„Frierst du nicht?“, fragt er, im Halse das Herz hörend, „unter der anderen Decke allein?“ – Und er streichelt sich ein, fängt das Gesicht und den Mund. Sie liegt wie die Ruhe daneben: „Geschieht es, gescheh!“, erwidert den Kuss, entkleidet von ihm sich die Haut. Martin tastet die Hand in sein Bein und spürt die Gleichgültigkeit bei: ein Mädchen, ein Junge – nah, lustig, lustzagen, lästig. Er hat nichts in den Händen, und Monika wartet aufs Ziel. Er hört seine Brust schlagen, lauter als sonst, und der Schlag wird zum Selbstschlag, schlägt die Lust nieder mit einem, und die Regung regt sich als Schmerz in dem Magen wie ein „Kann nicht“, ein „Ich kann nicht“, wie ein „Breit in dem Mädchen versagt.“ Brutal aber schmälert der Junge es nieder, und gewinnt mählich seine Macht über den Bauch: „Ich dachte, du hättest noch nie … mit einem Mann … – Mit jeder kann ich nun nicht“, beanstandet er und tröstet sich somit erleichtert. Monika weint:

„Einen. Einzigen. Einmal geschlafen.“

„Und doch!“

„Es war eigentlich nichts.“

„Und doch.“ – Sarodnick ist enttäuscht, sitzt auf der Kante vom Bett und wischt ihr die Tränen, wischt große Worte ins Dunkel: „Liebe ist rein. Not opfert den Geist. Verfrüht ist Finden vor Suchen, die Prüfung ist Leid zur Veredlung, die Zeit ekelt in Schnelle – schnelllebig, spannungsverladen –, es ist nur im Bett und ohne Sagen danach. Man schläft Langeweile verborgen … ich verzeihe es dir. Aber wisse es wohl! – Und dann ist noch Petra. Nicht einfach das Stück. Ich kann nicht wechseln wie Hemden; Treue vertrocknet nicht an der Leine so schnell. Alles ist mit dem Wind.“ – Seine Sprüche sind flattrig, gelesen, ohne Bezug in dem Bett, und der Körper des Mädchens entflieht verschämt in die Kleidung zurück. –

Nicht das erste Mal trifft Martin da auf den Kopf. Er kennt die Szenen, die Schlappen, aus denen er das Beste stets macht. Mit sechszehn fror es ihn schon, kroch er unter die Decke von einer Frau, und die Lust ging ihm fix in die Binsen. Nur der Schweiß stand gepanscht auf der Stirn, und er wollte rasch sich verziehen.

„Hast du ein Gummi bei dir?“, fragte plötzlich die Frau, und Sarodnick fiel es wie ein Stein in das Bett: Er fand Gott sei Dank wieder das Wort:

„Nein.“

„Dann lassen wir’s lieber.“

„Ja“ und „hurra“ – ein Jubel ohne Ekstase, aber Jubel trotzdem, ein Motiv für die ungeschehene Tat, für die Nichtfähigkeit.

Später traf er Ilona. Er kannte sie schon aus der Schule, kannte ihren Busen für zwei offene Hände, die Küsse vor ihrer Haustür, die ihn verschlangen, und seine Finger spielten gefurcht mit ihren Beinen daneben. In Leipzig war er ihr wieder begegnet, und ihr Körper stand vor ihm in den Tag, und er nahm sie ins Kino, spürte die Gier neben sich, die sich mit den Bildern der Leinwand synchronisierte, spürte das Bild nicht zu Ende und lockte daher zu sich.

Sie saßen in der Kneipe zur Ecke bei Brause, und Martin beobachtete das Licht im zweiten Stock gegenüber vom Haus. Seine Wirtin brannte noch wach, und erregt stierte er an Ilona vorbei zu den Fenstern: „Verflucht, die Alte findet nicht Schlaf!“ – Nach der fünften Limonade flackerte es endlich und löschte, und die beiden schlichen ins verbotene Zimmer hinauf. Martin nahm einen Likör aus dem Schrank und reichte den Trunk genau unter der Lampe dem Mädchen. Der Plan spannte sich auf, und Sarodnick drehte schnell an der Birne. Im Dunkel suchte er Schutz und versteckte Ilona ins Bett.

„Und weiter? – Diese Brause! – Ach, küssen, streicheln die Lust.“ – Er fühlte die Patsche in ihr, setzte sich zu, kramte im Handeln – schnell musste es gehen! –, tat so, als täte er ob, und die Kälte lief ihm über den Rücken. Ilona ließ sich gewähren, eine Erfahrung bediente sich ihr: „Dieser Kerl hat mit vielen geschlafen.“ Doch der Kerl stand nicht da wie ein Kerl, überlegte zu viel und verhedderte sich weiter im Stecken. Plötzlich warf er verzweifelt den Schuh, lauschte sich eine Frist: „Die Wirtin ist wach!“ – Einen Moment verharrte sie heiß, schmiegte sich schnell dann wieder an ihn und suchte die Form in der Hand. Wieder schleuderte er den Filz gegen die Tür:

„Die Alte!“ – und er zog sich was drüber. Ilona verstand nicht, schüttelte den faulen Trick von sich ab, fand sich zerknittert, erniedrigt. Die Wirtin trat ein.

„Eine Kommilitonin“‚ stellte Martin sie vor. „Sie kam ein Buch holen, mehr nicht. Indes, sie wollte dann bleiben – wegen der letzten Straßenbahn…

die ist nun schon weg.“

Die Hausherrin drohte mit Polizei, und ihr Nachthemd wehte beklemmend: „Besoffene Weiber bei mir! Ich kündige ihnen … unmittelbar … auf.“ – Verbraucht, ungebraucht heulte Ilona in ihrer Wohnung und schrieb zehn Seiten Abschied an Martin. Er hatte sie nicht mehr gesehen.

Linda, Frederike, Elke – die noch unberührt war und weinte ganz nackt: „Ich habe so Angst“, – und Sarodnick weinte mit ihr: „Dann lieber nicht.“ – Zufrieden teilte er ihren Dank. Petra, Monika … Sie rauchte. Martin strich ihr über die Haare, balancierte über die Sprache und setzte sich hart in die russischen Sätze, die anders sich setzen als seine, die weniger kalt, die verschiedene Worte für gleiche Begriffe sich nehmen und nach den Gefühlen klar unterscheiden. Eine Sprache, die nicht verallgemeinert, sondern verstreut, die sich in Räumen bewegt und wenig im Transzendenten, die Blutwärme hat, Traufe, ein Nest. „Sie klingt wie die Sinne.“ – Es ist eine Sinnlichkeit tief, reifend, beschreibend, und die Träger sagen mehr, was sie empfinden und weniger, was sie gedacht, sagen es geradeheraus, direktweg zum Du, wie ein Hinüber ins andere, über andere, Äußere, ohne Vermittler und Eigen. Die Gefühle genieren nicht mehr, schämen nicht Worte zu machen daraus, die für Sarodnicks Sprache abgenutzt schienen, abgegriffen, unsagbar, nicht wiederzuholen, banal. Und mit Genuss lernt er diese neue Sprache, den Ursprung, von klein sozusagen, wo alles frisch, neuwertig, fremd, wo man vorbeigeht und fragt: „Was ist das?“, und man antwortet nur: „Ein Garten“ –, und das Wort ist hier noch sehr rein, festgewachsen im Beet, ganz konkret „so und nicht anders“, das Wort schaut aus dem Gegenstand raus. Wenn alsdann jemand ein anderes Haus, einen anderen Garten ihm zeigt und sagt: „Das ist ‚Garten‘“, ist er verblüfft, ist es wie ein Missgriff für ihn, ein Ausrutscher, eine zweite Liebe, die kurz war und nur so heißt, um irgendetwas erklären zu müssen oder um eben gar nichts klären zu müssen. Leicht sind die Phrasen, die Schemen, die Schilder; man passt sich hinein und stopft Fragen mit falschem Bewusstsein. Indes war jedes Wort doch ein Ding, jedes Ding war ein Zeichen und jedes Zeichen ein Graufleck auf Karten. Sarodnick hat in seiner Sprache über Gefühle wie in einer Geschichte gelesen, als Bezug über Gedanken, weislich gehütet, und im Leben fand er sie fad, wertlos, unoriginell. Oder lag es nicht dort? Hat er bloß nicht sprachlos und sprachlich gefühlt? „Ich liebe“ war abgerückt und verloren. „Liebe“ in der neuen Sprache hingegen ist neu, nicht wirklich, noch nicht erfasst wie ein Haus oder Garten. Sie wächst nicht und schmeckt, sie ist kein Schulfach für Martin.

Dafür lernt er die Flüche, die mütterlichen, die Gesten, die unanständigen, nicht vernünftigen Worte, die die Launen nachzeichnen, die Stimmungen, welche weichstimmen, welche Lücken füllen und das Nichtweitergewusst, die Schmus sind für Ohren und für empfindliche Augen ohne Geschmack, schmutzig, ein „So-etwas-sagt-man-doch-nicht“! Erinnerungen sind sie von gestern, dass wider Erziehung noch strotzte oder vielleicht auch hauchende Nachwehen von Kindheit, von Kindheit-an-sich. Das wäre dann Freisinn, zwanglos, ohne Gepäck, ohne Kleider. – Zuerst wurde Sarodnick rot von den Fladen, unsicher, und er lenkte vorüber, sprach „schlafen“ und „mögen“, und der Anstand stand ihm dabei ganz gut. Er reckte in Sprachdisziplin und bog sich weg vom „Beim-Namen-Genannt“. – „So biegt sich das Deutsche ins Licht“‚ pflegte er es persönlich zu nennen. „Die Sprache ist voll von Dingen im Kopf, zeigt Denken im Namen, Hirnstriche, Reflexionen. Was aber spielt sich darunter? Wozu ist der Körper gesetzt? – Wir haben lateinische Formeln anstelle.“ Ein paar kluge, zensurfreundliche, für niemanden bissig. Wie drückt man Zärtlichkeit aus? Schon Niedlichkeiten sind träge, Verkleinerungsformen werden gemieden. Jeder spricht gleich. Sarodnick hört in die Graduierungen hinein, in das Beleben der toten Welt, der Natur. Und der Mensch tritt mit seiner Beziehung dazu. Ein Bund wird mit der Schöpfung gesiegelt, und das Wort gibt dem Menschen sein Bild.

Als Sarodnick gehen lernt sprachlich, und Samwel – Semjon, Sjoma, Samweltschik, Sjomotschka – ihn in das Fluchen einweiht, wird er nicht fahrig, wechselt nicht weg, sondern scheint Gefallen daran. Es ist ein Jenseits vom Wert, von klassischer Bildung und Klassen, geschöpft aus Vorkrieg und Vorrevolution, wo es Aborte und Fleckenwasser nicht gab.

3

Sie ist Turkmenin vom Kaspischen Meer, andererseits, jenseitig, zu Asien kaum oder gerade noch zugehörig und an Europa allenfalls grenzend. Ihr Volk ist eine Wurzel der Steppe, eine ziehende Horde mit Legenden auf Pferden, ein See zu den Bergen und mit Mädchen im Schlaf. Zu diesem noch aber hängt sich Europa und ein wenig Zivilisation, die Sippe versprengend, die Armut, die Wehr.

Sie hat noch nicht die klaren asiatischen Formen, diese Bewegung, das Lächeln, das Nicht-Ausdruckgenaue. Maja ist groß, aus weichem Ton farben, aus Früchten und Brüsten, aus Augen wie Kirschen im nachweiligen Sommer, dunkel und fallend: „Berührt sind sie noch nicht.“ Etwas Nachtschönes geht in sie ein, ein Lösen im Dunkel, zudem ihre Haare den Hals als Schatten bedecken, dessen Haut vom Meere entstieg, sonnengetrunken im Bad. Sie ist inmitten von Pferden gekommen, vom Zelt auf der Weide, dann sesshaft gemacht, den Schleier zerrissen, das Messer der Freier verworfen. Manchmal aber keimt es noch auf, fiebrig, kristallen wie Schnee und geblendet – ein Sturm, eine Braut, die wirbt und nicht gibt, nur den Zorn und die Klage. Maja ist da, schön, diamanten – ein Rohdiamant ohne Fassung am Ring, ein Preis in den Bergen, zur Erde gefallen und tot. Jedoch Maja möchte die Haltung, will den Schliff und die Stellung. Sie wünscht Europa zu sich, möchte die Freiheit, hat aber noch keine Übung darin. Die Männer begehren sie, fachen sie an wie das Feuer, sie aber will nur die Flamme, die Glut, die nicht löscht, ist rechtlos im Geben, im Wunsch, in ihren Gefühlen, und es verfliegt diese Gier vorschnell, vergebens.

Kennengelernt hat Sarodnick sie über Peter – ein Sohn der DDR-Nomenklatura – welcher Russisch beherrscht wie sein Vater das Amt, das seinen Sohn rettet vor Rettung, die freilich unsinnig ist. Denn Peter ist hier nicht am Platze, ist fehltrittig, hingeschoben nur von dem Vater. Es juckt wie auf Zwecken in ihm. Er ist ohne Ruder und Willen: Zehn Jahre Moskau haben in ihm ein Leck eingefressen. Nach jeder durchgefallenen Prüfung kommt eine Mitarbeiterin seines Vaters aus der Botschaft zur Schule und spricht – vier Augen – hinter Türen zur Traute. Man traut ihm über den Weg über den gestandenen Vater, der eine Seele von Mensch und unmenschlich, wie es das Regime so verlangt. Peters Freundin wohnt mit Maja zusammen, und Sarodnick verliebte sich allda, wie Blitze es tun: unangemeldet und heftig. Gemüter reißen Spalten auf in Lawinen, und man heilt, was gut ist, was jedermanns Sache, gut für tausend Jahre und mehr. Maja zerrt sich von der Innenwelt ab, die aus den Fugen geraten – Sippe, Eigentum, Patriarchat. Sie zerbricht an diesem danach, dem Epilog in dem Märchen, trägt sich selbst fort zu den Kindern, zu den Buchstaben und geschriebenen Bildern. Sie wird zum Leser gedruckt, schmilzt zu einfachen Zeilen und schweigt. Manchmal noch blättert sie von der Literaturgeschichte ins Leben zurück, aber ihre Siegel sind bar. Maja vergisst. Sie kann sich nicht mehr erinnern. Das Gestern ist vormals und weit und gelb wie abgestandene Molke. Ihre eigene Sprache hat sie lange verlernt, spricht Russisch, gibt sich europäisch, will frei sein, und kann es bloß nicht. Der Sprung geht in Jahre, und die sind zu viel.

Ausgelassen feiert sie sich, liebt die Abende mit der Musik, die Dämmerung, den Wein und die Tänze, sie liebt neue Gesichter, neue Gedanken, neue Kulturen. Dahinter aber birgt sich die Furcht vor Bewährung und Bleiben. – So ein neues Gesicht ist allenfalls Sarodnick auch –, sitzt ihr in den Augen und traut sich nicht, nicht seinen Augen. Fesseln möchte er sie, zielen, seine Spielregeln geltend machen für sie. – Maja kocht Reis, Hammel mit vielen Gewürzen. Die Becher klingen mit Wein zu der Musik, und man richtet sich ein in dem Zimmer mit den drei Betten. Martin tastet sich vor, befühlt Taten, sucht Gedanken zu setzen, ungesagt bislang in der Sprache. Doch die Ideen versumpfen, verwischen, wirren und treffen sie nicht. Wer kennt schon seine aufgezählten Namen, die Sprüche, die geklopften Zitate? „Novalis schrieb Lasker-Schüler und Conrad Ferdinand Meyer …“

„Bitte? Ich verstehe dich nicht. Geht man von Achmatowa aus, schließt der Ring um Block mit der Zwetajewa ab.“ – Die reden vorbei. Sarodnick kann es nicht nennen, sein Bedürfnis sticht nicht und verleitet, er ist an eine Mauer gestoßen, ein Inkommensurabel, eine Unlänge, die nicht ausdrückt genug. Wörterbücher nur brechen den Rhythmus, kalten, lassen schal, und Peter setzt ein wie ein Mittler, als Überbringer von Botschaften, die keine mehr sind. Man spricht aus seinem Graben heraus. Peter ist mühsam, schön und gut, aber ihm fehlt die Deutung, die eigene Soße, der Faden, der ködert. Man redet und redet – verschieden, verschiedene Welten – und ohne Händel dabei. Goethe ist ihnen nicht heilig, Kant nicht unbedingt Ausgangspunkt. Wo könnte Sarodnick ansetzen, Bezugspunkte gleiten?

„Fische, die liegen zu lange und riechen“, sagt er und lässt sich selbst im Trockenen stehen.

„Sandburgen!“, lacht Maja, „auf Sandkuchen gebaut.“

„Nehmen wir Hegel …“

„Nehmen wir die Bylinen“, schäkert sie.

„Und wenn Hölderlin in den Oden an Gott nebenging von der Erde …“

„Hast du Puschkin gelesen?“, stört sie ihn, und Martin weiß weiße Stellen, zeigt auf freie Rhythmen beim Schreiben.

„Das ‚weiße‘ Gedicht heißt freilich nicht reimen“, ist sie sich sicher dabei. „In Russland galt es lange verpönt solchermaßen zu dichten.“

„Die Deutschen schrieben derweil schon in Prosa.“

„Na und?“ – Ausgequetscht, saftarm, Unbeweise im Schwindel. Holt Martin einfach zu viel? Ihn stört das Atemholen in Sätzen, das Mischen mit Hammel und Wein:

„Zwischen zwei Bissen kann man nicht Kierkegaard klären.“

„Tanzt du mit mir?“ – Sie drückt seine Unzufriedenheit fest in den Griff und gibt ihren Mund: „Entschuldige bitte.“

Peter derweil lächelt betrunken: „Das alte Lied.“ – Seine Freundin holt ihre abgedroschene Platte aus dem Regal. Allein, Martin glaubt an sein Glück. Köpfe drehen und wenden, unwichtig ist das andere jetzt, lächerlich, laut.

„Küss mich und leg meine Haare um deinen Mund.“

„Um die Finger.“ – Wie leicht sagt man, was man gar nicht gelernt. Tausend und eines Gedicht.

„Die Lippen …“ Er fängt sich darin, lauscht auf den Atem.

„Ich möchte allein sein mit dir“, flüstert er kühn, sagt es ohne Gewissen, denn er ahnt, dass sie nie käme: Zu sehr liebt sie das Spiel, liebt den Flirt mehr als den Flirter.

„Ich verbrenne mich nicht“, flüstert sie und tanzt in die Nacht.

„Ich habe Verlangen nach dir.“

„Vor meiner eigenen Schwäche habe ich Angst.“ – Sie haben beide gelogen. Eine Katze. Man tut, als würde man sein.

„Wir sind an Oberflächen gewöhnt.“ – Sie können nicht lieben. „Du schläfst nicht mit mir.“

„Woher willst du das wissen?“

„Beide wissen wir es.“ – Die beiden küssen, ohne zu fragen, ohne Herzklopfen, küssen die Hülle ohne den Kern.

„Wir treiben sie aus.“

„Was?“

„Triebe.“ – Beide könnten es sagen.

„Zutreiben über die Schwelle.“

„Ungetrieben davon.“ – Wie schön zu sagen: „Ich möchte dich haben“, nach dem Verzicht.

„Wir sind sicher im Gehen.“

„Wir tun, als wäre das Gegenteil von.“

„Wovon?“

„Von dem Zauber.“ – Sie bezaubern sich roh, und sie lässt ihren Körper verwundern, befühlen: „Wie schön bin ich so.“

„Du bist ein Wunder für sich.“ – Ein glückliches Paar, ein Plakat, buchstabenlos scheinbar, aber gekonnt. Sie verstreichen den Abend, und Sarodnick legt sich beruhigt ungestillt hin. Er hat sich verliebt, hat Maja in den Schlaf eingewiegt und ihr etwas von Glück, von Freude erzählt. Ungewichtig ist er und gleich, und er schreibt einen Brief sich nach Hause, schreibt von Sehnsucht, die sich gut sieht auf dem Papier, von den Tagen, die kommen, die sich begegnen, und schreibt an Petra in Leipzig.

Gern liest Petra die Briefe, die Tränen, den Wink aus dem Zug, den Brunnen der Zeit. Sie sitzt in der Mensa alsdann, daselbst, wo er einmal gesessen, gegessen ohne Gabel und Messer – und in der Rechten ständig ein abgegriffenes Buch. In sich fraß er hinein, haarstrebend aß er Seiten und Töpfe. „Ein Tier!“, hätte ihr Vater bemerkt oder „so einen“ gar nicht gemerkt. Aber Sarodnick war dies egal, ein langer Weg stand bevor, ein Hunger für sich. Das Mädchen dawider ist Tochter, ist an Wochenenden daheim bei den Lieben, beim Vater, bei sich. Alther stammte das Geschlecht und die Sippschaft, hatte nach allen Kriegen gewonnen und in die vollen Hände gefüllt. Sie überleben, leben lang, und der Staat ist auch nur ein Lied mit einigen Strophen. Alsdann ist der Alltag, und für Habenichtse gibt es nur noch Akkorde – im Tempo bremst sich die Zeit.

Petra gefiel dieser Junge dort zehn Meter weiter. Das Fremde stach sie, zündete sie, das, was sie zu Hause immer verachten, das sie einfach nicht sahen. Zu „erzogen“ war sie jedoch, um ihm dies zu beweisen, um eine Deutung ihm zu gewähren, und nur über „Ecken“ erfuhr Sarodnick es, aus einer halbseidigen Quelle im „Tempel“ von Nerus, der ihm unter dem Dach zuflüsterte: „Unter einer Bedingung!“ Er hatte das doppelte Alter vom Jungen, und er stieg von seiner Zinne über die Straßen, in die Cafés, in die Toiletten vom Park. Seine Haare waren wie Atlas gekämmt, und er puderte sich rosa, zog seine Brauen zum Strich. Hochauf balancierte er dann, fuhr von dem Bahnhof zur Großen Oper und strich die Bedingungen ein. Dies gefiel Sarodnick gut – wie er selbst gerne gefiel –, und er duldete gern sich zu einem Becher zu laden, zu einem Schmaus, ließ unterhalten, ließ es befühlen. Nerus verehrte die Seide, schenkte mit offenem Arm, und reichte Wäsche zum Kleiden, zum Anziehen, aber „sofort!“ – Sarodnick zog in die Hose, über das Hemd und zeigte, was frei war an ihm. „Wenn der mich anfasst, haue ich drauf!“, hielt er sich offen und stand nur in Mode, ging auf den Steg, den Körper vom Dache geneigt.

„Du bist sehr schön“, sagte ihm Nerus, rieb an den Fingern von Martin und ließ sich dann hinter dem Vorhang ins Bett, in dem ein anderer Junge einlag. Sarodnick hörte sie kichern, sah die Schatten kippen im Stoff und packte sich zu, sagte: „Danke. Glückauf!“

„Einen schönen Gruß auch von Petra“, hielt ihm die Stimme vom Jungen hinter dem Store auf, „ich studiere mit ihr.“ – Und dann quiekten sie wieder. Mit Petra in dem Salut ging Sarodnick fort. Er wägte, er zirkelte ab: „Sollte er den beiden da glauben?“ Und er entschied sich für den Versuch.

Sarodnick steigt in die Kantine, nimmt sich die ranzige Butter vom Brot und gießt den Joghurt in die Gedanken. Dann streckt er alle vier zufrieden ins Glas, kauft eine dicke Zigarre und schenkt sie dem alten Wächter am Eingang: „Wenn Monika kommt, lass sie passieren. Das ist diese Blonde mit dem Zeisiggesicht?“

„Wie sieht ein Zeisig denn aus?“

„Sehr fein und sehr blass.“ Der Alte pafft den Qualm durch die Nase: „Ein wenig dick ist sie schon.“

„Kannst du durch die Ohren ausrauchen?“

„Kann ich, aber das Kraut ist zu schwer, es bleibt hängen im Schädel.“

„Das nächste Mal schenk ich dir eine aus Kuba.“

„Oh, Kuba! Das ist eine saubere Sache.“

„Mit Schleife am Bauch.“

„Schleifen sind nicht mehr in Mode.“

„Wieso?“

„So.“

„Ich wollte mich eigentlich baden.“

„Das solltest du öfters noch tun. Die Dusche ist unten im Keller.“ – Sarodnick schlägt das Handtuch gegen den Rauch und bläst seinen Atem gegen die Treppe zum Keller. Leichtherzig verliert er das Hemd und die Hose und hüpft singend und pfeifend aus dem Käfig ins Bad. Dampfwolken stehen im Wege, und er sieht sein Nacktes nicht vor den Augen. Aus dem Brodem steigen Gekicher. Sarodnick nimmt den Nebel als Nebel und zwitschert aufs Horn – er sucht eine freie Kabine.

„Besetzt“, sagt eine sehr hohe Stimme, und Martin erkennt an den Linien die Frau. Nun ist der Dampf bei ihm runter, und die Schwaden klären sich auf. Ein Mädchen ist wie das andere hübsch, und sind dazu noch alle ganz nackt. Sie johlen und jaulen vor Freude: „Ein Mann hat sich verirrt, hat in den süßen Apfel gebissen.“ – Aber Martin ist nicht zumute nach Spaß. Er zieht seinen Mann zwischen die Beine und rennt, was das Zeug hält, durch den Feix und die Äste zum Biegen. Beinahe hätte man ihm ein Loch in den Bauch mit der Schleife gelacht, beinahe wäre alles schiefgegangen in ihm. Jetzt ist er gerettet im Hemd.

„Wieso, was ist los?“, fragt er den Alten mit dem großrunden Stummel in der Hand. „Zieht schlecht, zu feucht.“

„Ich war in der Dusche.“

„Erkälte dich nicht.“

„Da sind Mädchen in ihr.“

„Glück muss der Mensch haben.“ – Aber Sarodnick hat das Glück von der anderen Seite – er hat sich die Finger verbrannt.

„Verdammt heiß!“

„Warum sind die Mädchen da drin?“

„Warte, was ist heute für Tag?“, fragt der Pförtner und die weißmehlige Asche rollt ihm aufs Jackett.

„Dienstag.“

„Dienstag. Natürlich, da baden die Mädchen.“

„Aber du hast doch gesagt …“

„Morgen ihr, übermorgen wieder die Mädchen, Freitag ihr …“

„Und Sonntag?“

„Sonntag sind die Läden dicht und geschlossen. Sonnabend die Mädchen, Montag ihr …“

„Weshalb überhaupt Sonnabend?“, ärgert sich Sarodnick laut. „Weshalb Samstag die Mädchen, weshalb wir Montag, weshalb dieser Scheiß?“

„Die Frau badet vorher, der Mann nachher. Ganz einfach.“ – Und der Alte zieht an dem Rest seiner Zigarre.

4

Die arbeitswillig Gemachten kehren zurück, fröhlich gebräunt mit selbstgebrannten Sprit und alten Ikonen als Dank von den Bauern. Zum ersten Mal begegnet Sarodnick beidem, und er trinkt den Sprit auf den Brettern, die schwarz glänzen und deren aufgemalte Gesichter aussehen wie ein und dasselbe. Wladimir lagert sie verpackt unter das Bett wie einen Schatz, und wenn Martin bittet: „Ich möchte sie sehen“, verachtet ihn Wowa von seinem Estrich herab: „Da. Aber für eine Sekunde. Was verstehst du schon davon!“ – Sarodnick ist verblüfft:

„Ich kenne doch die Heiligen wie du aus der Kirche.“

„Aus eurer Kirche. Es ist nicht die unsere. Die unsere ist gereinigt, sie hat das Bild umgestürzt.“

„Das Bild?“

„Die ewige Form. Bei euch ist es die menschliche Grenze, das Unheilig-Gemachte, die Frau von der Straße. Die Sixtinische steigt herab und nicht in den Himmel, ab zu Fleischmüttern und zu Sybillen. Ihre Heimat ist das florentinische Waschhaus, die Gerberei, und der Vater isst dazu in der Kneipe zu Mittag, in der gleichen Spelunke, in der Winkelmann sich wälzte im Blut.“

„Gott ist zum Menschen geworden“, sagt Sarodnick nur.

„Der Mensch ist sterblich“‚ erwidert Wolodja, „aus seinem Leichnam formt sich die Welt. Auf seinen Schädeln geht der Mensch in die Irre und zerstört die Illusion von dem Ich. Der Mensch hat seine Endform erreicht, er ist bloß ein Elend, und zurückbleibt das Bild.“

„Unseres Bildes, nicht wahr, und es hat …“

„Hat den Menschen vergöttert. Der Unhold trat an die Stelle von Kunst.“

„Er trat aus der Geschichte, aus dem Gemeinen.“

„Du sagst es: aus der Gemeinschaft. Der Dieb ersetzte die Kunst. Wir hingegen in Russland gingen andere Wege. Das Einzige wurde das Werk, das Bleibende, entblättert vom Zufall, vom Ein-Fall. Wir setzten die Messe zum Sakrileg, setzten ins Rituale, ins Zeitlose ein und verklärten.“

Sarodnick ist gelähmt, unfähig zu streiten, kann kein Gegengewicht auf die Waage ihm legen, und er sagt nur: „Und Lenin?“

„Als ob es der Mensch wäre, den man vergöttert! Es ist der Träger einer Idee, wie Johannes für seine Taufe, wie Myschkin bei Dostojewski fürs russische Volk. Steingewordene Schrift ist es, ein Mosaik in dem Chor. Die Symbole aber sind gleich dem Baum Jesse, ein Ausrufezeichen – sie sind Metaphysik.“

„Jedoch gab es die Revolution.“

„Das Volk hat Russland erlöst, nicht das Gewehr, nicht die Schalmei. Unsere Musik ist die Offenbarung, sind die Ketten vom Manifest, sind seine Messer.“

„Es ist wie ein Leitmotiv“‚ schwankt Martin in den Gedanken, „eine Leitmutter, Das Leben an-sich.“

„Neu leben“, erwidert Wladimir nickend, „ein Gedicht für die Taten. Als hätte Lenin ein Menschenantlitz! Das hat er spätestens auf dem Panzerwagen auf dem Finnischen Bahnhof im April 1917 verloren. Er hat es selber zu Grabe getragen, er hat Uljanow zu den Akten gelegt.“

„Und ist in die Geschichte getreten.“

„Aus ihr“, antwortet Wowa‚ „und wir stehen wieder am Anfang: ‚Verehrung des Gottes‘ oder wieder ‚Image‘?“

„Der Anfang vom Bild.“

„Der Anfang von Gott.“

„Steckt eure Ärsche gefälligst unter den Altar! Ich kann das eigene Wort nicht mehr hören“, flucht Samwel darein und wirft die Ikonen Sarodnick auf die Matratze. „Verfeuere sie, Fritz, dann sabberst du wenigstens nicht mehr so dämlich herum.“

„Mit dem 8.Thermidor muss man wieder beginnen“‚ will Wiadimir noch ergänzen, doch Sjoma schreit: „Schnauze!“

„Ich habe gar nichts gesagt“, rechtfertigt sich Martin.

„Dann glotz nicht so hinterfotzig genial!“

„Ich? Ach lass mich!“

„Ich lasse euch beide gleich über meinen Sack springen! Und deine Großmutter kann ihre Gräten auch schon breitmachen.“

Samwel spricht mit einem kaukasischen Sang, voluminös, weit in die Kehle gezogen, und er lässt die Vokale rund auf der Zunge zergehen, bevor sie herausfliegen, behauen, kraftvoll wie Exkremente. „Kellersprache“, denkt Sarodnick‚ „armenisches Ghetto, der Kampf um Behauptung, gegen Verachtung, gegen das Muss des Minderheitseins. Da konnte man nicht zimperlich sein.“

Sjoma besuchte die georgische Schule und lernte Russisch nur als Fremdsprache. Zuhause sprach er armenisch, auf der Straße georgisch und in den Ferienlagern russisch zuweilen. Indes, keine der drei Sprachen beherrscht Samwel gleich, keine perfekt, keine aus vollem Gemüt. Er schreibt grusinisch – spricht aber schlecht, spricht armenisch – schreibt jedoch schlecht, er denkt manchmal russisch und schreibt grusinisch armenische Träume. „Russisch ist unwirklich“, meint er, „Amtssprache nur, eine Verbindung, eine Notwendigkeit.“ – Aus ganzen Rohren wurde Sjoma diese Sprache erst in der Armee beigelernt, bei der Marine: fluchen über dem Bord, ins Wasser spucken und staunen darüber, was es in seiner Haussprache nicht gab. Und der Fluch wurde heilig für ihn.

„Du lästerst wie die Mongolen“, sagt Wolodja schmähend, „die haben uns diese Scheißwörter gebracht, brannten uns ihre Flüche ins Fleisch, und wir latschen sie heute noch aus.“

„Diese Tartarenmongolen haben deine Russen von hinten gefickt!“, winkt der Armenier bloß ab. Er liebt nicht die großen Gespräche, die Ausstellung des Geistes, und er verachtet Sarodnick vor allem dafür. „Ich erschlage ihn tot!“, meint den Deutschen, und Wowa hebt nur abwehrend den Arm. So meidet Sarodnick dieses Zimmer, kehrt sehr spät meist zurück und freundet sich an mit Mais, einem Mann mit Schnurrbart aus Baku, der die Armenier hasst von ganzem Herzen und die Kohle schürt in Sarodnicks Grund:

„Unruhestifter! Alles Kulturemigranten, diese Zucht. Die verschlucken sich noch an ihrer Zivilisation. Immer sind sie auf ihre krummen Riecher gestürzt und haben trotzdem niemals genug. Wohin sind sie denn letzten Endes gekommen? Nach Baku. Stalin hat doch bei uns seine Millionen geklaut und damit die Parteikasse der Bolschewiken gefüllt. Ganz Armenien ist nur eine jämmerliche Provinz.“ Mais ist der Sohn des Ministers für Leichtindustrie Aserbaidschans und hat im vorletzten Studienjahr seinen Platz im Filmstudio von Baku schon sicher. Liebselig warm ist er und gleicht Peter auf Schritt, nennt diesen „meinen Bruder“ und vertrinkt auch die Abende freudig mit ihm. – Eines Abends trifft Sarodnick den Aserbaidschaner wieder bei Peter. Der Wodka brennt in den Augen, und Mais läuft über in Klagen, in Unmut, gräbt eine Herzgrube sich.

„Diese kaukasischen Juden!“, droht er erbärmlich, „meine Freunde beleidigen! Ich werde es ihm schon zeigen!“ – Schwach ist Mais, ziemlich klein in den Beinen: „Die denken, sie wären besser als wir.“ – Die drei trinken sich voll, küssen sich Busengetreue, lieben Maja mit Tränen und fangen von vorn wieder an: „Du bist gut. Der liebe Gott ist ‚einen guten Mann lassen‘.“ – Sarodnick trottet nach Hause.

„Warst du schon wieder bei deinem räudigen Hund?“, stichelt Sjoma und spuckt auf den Teppich. Doch Martin schläft schon friedlich den Rausch aus. An der Tür aber schlägt es: Der Gevatter aus Baku steht auf einem Bein hinter.

„Dein Faschist pennt“, mault Semjon ihn an, „und wacht hoffentlich nie wieder auf. Nacht!“ Indes, Mais hält den Schuh in den Spalt.

„Soll ich dir das Bein aus deinem türkischen Dreckarsche zerren?“, fragt der Armenier und hebt Mais in den Korridor raus.

„Scheißkerl!“, weht der Aserbaidschaner dagegen und krakelt. Ein anderer Junge stellt sich dazwischen:

„Streiten könnt ihr woanders, nicht vor der Tür!“

– „Wichskopp!“ – Mais rennt wutentbrannt gegen die Mauer, zielt mit einem Messer auf Sjoma, stolpert … und trifft nur den Falschen, sticht den vergeblichen Schlichter ins Herz.

Der „Falsche“ verstirbt im Krankenhaus später. Sehr gut war Mais, zu gut für das Leben. Er soll für 10 Jahre in den Knast. Aber … aber sein Vater war doch schließlich Minister. So strich der Vater die Frist und Mais verbrachte nur einige Monate in der Zelle.

Dem Deutschen aber schwimmt seine letzte Hoffnung im Blut, und seine Felle laufen ihm fluchtartig weg durch das Bammeln. Doch unerwartet – ganz über Tag – wirft ein anderer Deutscher den Ring: Werner Kletters, ein Berliner mit blondspeckigem Haupt, hat die Partei am Hemd stecken und studiert im dritten Jahr Dokumentarfilmregie. „Du hättest dich längst schon an mich wenden … gemusst.“

„Ja.“

„Ich werde dir helfen.“ –

Kletters weiß, was er sagt, „auf dem Posten“ ist er allesamt, alleweil, mit Hinz und Kunz informiert und mit Absprachen gesegnet. Er diskutiert nicht lange, er fackelt – Werner Kletters ist Leiter der Gruppe 5 Moskau, für Deutsche. – „Du wohnst vorläufig bei mir in dem Zimmer“, gibt er seine Empfehlung zum Schlechten, und Sarodnick sieht Samwel vorläufig nicht mehr. „Ich überleg’ mir da noch einen Trick, etwas Besonderes für dich“‚ spricht Kletters in Rätseln und rät und verrät wie ein Sieb, das in die Abtritte leert an öffentlichen Gebäuden. Neugierig, aber nicht aufdringlich ist er, hat Ohren wie Ringe und ein Gedächtnis für morgen, für die Stelle anbei. Als Assistent in den Studios von DEFA wusste er schon sehr früh, was man dachte, und wusste auch, was zu denken anstand. Einmal wird er Wissen vermitteln, wisssagen, wissmachen, Wissen befehlen. Im Institut sammelt er auf schickt an, schickt sich zu und füllt das Leben in Akten. Er ist delegiert – assistentenlegiert – von der Nadel der Brust und bewährt sich wie der Nagel im Heu: unmerklich, auf den Kopf zugesagt. Er währt lange und gut.

Kletters ist verliebt über seine großen rosigen Ohren, verliebt in das Unglück, das er in Wodka vergießt. Die halbmondäne Kira braucht Kosmetik und Wäsche aus Deutschland, und Kletters bringt sie in Haufen, bekommt dafür die Hand, selten eine Nacht auch als Gabe, und so sind seine Nächte grüblerisch kalt. Er verdammt die Liebe und Kira, die irgendwo einem anderen Mann ihre deutsche Unterkleidung gerade und geradeaus vorführt. Aufgeschlossen hört Sarodnick diesen täglichen Jammer, verbraucht mit Werner Leid und Trug und er erklärt dem falschen Freunde die deutsche Romantik, das Platonische in einer Beziehung:

„Die Liebe der nutzlosen Träumer, der großen Romantiker verwirklicht, mündet einfach bei Strindberg. Man ist mit den Frauen glücklich – allein.“ – Kletters stöhnt, und Sarodnick zeigt ihm vom Institut einen Brief: „Sie können nicht einfach da wohnen, wo es ihnen so passt.“ – Sollte er womöglich zu Sjoma zurück? „Muss ich alleine mit meinen Problemen mich plagen?“, denkt Werner und setzt sein eigenes Schreiben entgegen: „Im Namen von Sarodnick Martin erkläre ich, dass der noch schlecht schreibende Sarodnick hier bleiben muss, weil ihn ansonsten seine ehemaligen Zimmergenossen stetig beleidigen und bedrohen.“ – Und er ergänzt unter dem Strich, unterstrichen: „Und außerdem ihn mit ‚krummen Geschäften‘ bedrängen.“ – Dieses eingestrichene Wort kann mit Sicherheit alles Mögliche wohl bedeuten: Es steht für vieles – für Stiefel, für Kleider, Rasierwasser und Seife im Kern – verkauft, verhökert, verschoben. Das Wort duftet nach Nebel und Nacht und hat etwas Verbotenes pappen. Sarodnick freilich schnuppert nur dran und setzt naiv seinen Namen dahinter.

„Mach schnell, ich hab’ keine Zeit. Alles wird, wie ich will.“ – Alles.

Wladimir und Samwel erhalten eine Verwarnung: Der Direktor warnt und droht ihnen scharf mit dem Rausschmiss! – Martin aber muss trotzdem zurück in das Zimmer, ins Feuer, zurück in die Hölle. In der Botschaft indes notiert Kletters minuziös diesen Fall:

„Sarodnick handelt mit suspekten Leuten suspekte Ware.“ – So hat Martin einen Minuspunkt sich gehandelt, und Kletters unkte ihn aus.

5

Glattleck, ohne Portal mit einem Blendbogen wie eine Fest-Halle geschmiedet, blickt die Filmhochschule aus etwas zu breiten Fenstern auf die Gärten der Volkswirtschaftsausstellung. Innen verschließt sich ein Foyer mit einer kurzen Barriere, an der der Pförtner seinen guten Tag hockt. Dahinter ist Ende, nur für Eingeweihte betretbar, vom Wächter geprüft, bis klar wird „dieser gehört hier wohl zu“.

„Ihren Ausweis?“ – Martin kramt in der Tasche. „Der nächste!“ –

Er kann nicht verstehen. Der Wächter steht auf, legt die Hand auf die Sperre, um sie dann handlich verlängern zu können: „Sie wollten wohl einfach so durchschlüpfen?“

„Ich studiere doch hier“, erklärt Sarodnick, prallt aber ohne Mitleid auf einen abgewandten Rücken: Durch zu viele Bitten hat der Pförtner die Rührung verlernt.

„Vorschrift“, sagt er nur zäh. – Durchhalten, anhören, abweisen. „Fragen sind dort am Fenster zu klären. Zwei Meter weiter zurück!“

„Aber Sie kennen mich ja.“

„Na und?“

„Ich gehöre hierher.“

„Ich weiß.“

„Also.“

„Dein Ausweis!“

„Ich habe ihn im Internat liegenlassen, habe heute Morgen eine falsche Jacke übergezogen.“

„Ist die gefüttert, Martin?“ –

„Ja, es ist heuer kälter geworden.“

„Bei euch ist es um diese Zeit bestimmt noch warm?“

„Und ob.“ – Sarodnick drückt sich vor die Barriere.

„Deinen Ausweis!“

„Aber ich …“ Martin schaut in das Fenster dahinter: „Guten Tag!“

„Ach, der Deutsche! Wie geht’s?“

„Ich habe mein Büchlein vergessen.“

„Und ich dachte, die Deutschen vergessen nie.“

„Ausnahmeweise“, stellt er sich traurig.

„Geh nach Hause und hol ihn“‚ rät sie ihm freundlich.

„Zum Platzen!“, rutscht es ihm aus dem Mund, erinnert sich aber geschwind: zwei Kilometer hin und zwei wieder her. „Bitte!“, ist er erbärmlich und schön. Die Frau schaut aus ihrem Kiosk, greift zum Hörer und telefoniert. Irgendwann steigt die Sekretärin herab:

„Alle gesund? Wie bist du gestern nach Hause gekommen?“ – Die Schalterdame bedankt sich und erzählt ihre Geschichte. Sarodnick hüstelt dazwischen, die Frau starrt, erinnert sich später und fragt: „Kennst du diesen Jungen?“

„Ja.“

„Studiert er bei uns?“

„Natürlich.“

„Gut. Ihren Namen?“

„Aber …! Martin Sarodnick.“

„Fakultät?“

„Regie.“

„Hier! Ihren Passierschein.“ – Sarodnick nimmt den Zettel und gibt ihn dem Pförtner. Der überprüft und trägt ihn wieder zum Glashaus.

„Alles in Ordnung.“ – Sarodnick steht vor der Barriere.

An der Garderobe grüßt er fünfmal fünf Frauen: „Was stricken Sie heut?“

„Wie geht’s in Berlin?“ –

„War das eine Freundin von dir gestern im GUM?“

„Nur so.“

„Na!“

„Meine Jacke.“

„Ist die von euch?“

„Ja, – meine Jacke!“

„Swetlana ist dran.“

„Nein“‚ streitet Swetlana, „ich habe doch den vorvorletzten Mantel gehängt.“

„Unmöglich!“

„Meine Jacke.“

„Nina, du!

„Wieso?“ –

„Und Ludmila, die schläft.“ – Sarodnick ist es egal, er legt die Jacke über den Tisch:

„Die Marke hole ich mir später.“

Altvertraut-heimisch präsentiert sich das Institut, bringt die Schulzeit ins Gedächtnis zurück und beschützt seine Kinder wie eine langgestrichelte Pute. Jeder einzelne Wurf rückt eng miteinander zusammen, kennt aus- und inwendig sich, arbeitet und verbringt auch die Freizeit gemeinsam. Die Vorlesungen bezeichnen sich so nur, sind in Wirklichkeit Seminare, Unterrichtsstunden mit Partnern, und das Lesen ist Unterhalten, Schöpfen im Spaß. Eine Linie folgt sich befreit, angerissen gekappt, und die Fragen gehen dazwischen, lenken ins Wasser, ins Lose: „Wo waren wir eigentlich stehengeblieben?“ – aber der Unterricht ist schon vorbei. „Lesen Sie selbst nach!“ – Die Stunde ging ein. „Geklärt.“ –

Der Stoff füllt sich – nicht trockenvöllig zur Rampe –, die Zeit wird gesäumt und gedacht.

Sarodnick schaut auf den Mund, schreibt jede Bewegung der Lippen und versteht jede dritte davon. Erstrangig sitzt er, die Sicht nach hinten verlegt zu den anderen Mitkommilitonen, die nie vollzählig, besonders am Morgen, die Distanz halten auf Dauer und dort mehr sehen als er. Vorbild und bildend lauscht er auf seiner Bank, bildet sich ein alles zu hören und hört seine Nachbarn sich streiten. „Pst!“ – ganz hinten träumen Schauspielstudentinnen. Sarodnick lässt sich alles vorlesen, notiert, lernt russisch einschreiben, den Kopf russisch verschmelzen, und er schmilzt mählich ins Land. Manche Studenten sind freigestellt von den Unterrichtsstunden, sie haben schon früher Fächer abgeschlossen und Zweige und haben Diplome im Lohn. Andere wieder kommen frisch von der Schule und backen noch dran. Das Land schüttet mit Formen, die ausgliedernd sind. Man studiert, lernt, wenn es beliebt, und was angetan ist. Jeder beschließt seine zehn Klassen und öffnet sich damit einheitlich gleich – gleich bis zum gleichen Gericht.

Eifrig aber eilt Sarodnick alle Vorlesungen ab. Ihm gefällt das Verschieden im Interpretieren, die Würze in Lücken, der Klang, das asymmetrisch Verdrehte. –

„Die Geschichte unserer Partei …“, Grigorenko atmet eine längere Pause, „ist uns nicht Rednerpult nur.“ – „Die Revolution handelt verschwiegen“, schreibt Sarodnick auf, und er macht ein Sternchen ins Heft: „Wurde da Stalin zitiert?“ Unvorsichtig und wiederholt wird in den alten Schriften gekramt, kleinlaut, verständlich.

„Die Zeit überlebt.“ – Grigorenko legt die wenigen Haare nach hinten. „Ich will Namen nicht nennen.“ – Das Halleluja des Gewissens beginnt. „Sie ist immer einen Abschnitt voraus, eine Walze, die überfährt, über und über – manchmal gar auch den Fahrer.“ Er lächelt verschmitzt. „Frieden bedeutet Umwege gehen – wie der Sieg und die Chance. Die Revolution rettet sich selbst. – Wir können nicht vor Gewehren nur stehen, wir vertuen im Kleinen. Natürlich gab es Rapallo, gab es leise Beziehungen zum Westen, lebten Versprechen. Wir aber mussten uns mausern, häuten. Ein Maul wollte zu fressen, und das Land lag im Brach, der Lehrling stand ohne Meister, das Geld machte sich rar. Bei uns blieb der Letzte zurück. Der Bruder schlug den Bruder und wurde aus dem Paradiese gejagt.“ – Der Professor hält fest und rückt einen Schritt vor, mehr gedämpft: „Man konnte nicht ewig auf Mitziehen warten, auf Nachkünfte, auf neugeborene Erben.

Trotzki musste sterben, wenn man weiterleben hier wollte. Auch schiefe Bahnen sind gerade, und es musste laufen, koste es, was es solle, sei es selbst im Zurückpfeifen, im Zurückschießen der ewig Morgigen, die den Zeitgeist verspielten, die den Karren umstießen und einen neuen haben wollten anstelle. Sicher: Nicht in Gute und Schlechte sondert die Welt, nicht Pfähle werden gepflockt an den Gittern. Erde funktioniert nur als Ganzes, und das Glück als Flucht bricht sich das Genick. Indes, wird nicht der gute Wille aufgesogen von dem Unwill der erschreckt Stehengebliebenen in den ach so klügeren Staaten des Westens?“

Sarodnick zählt die Zeilen, nummeriert das Blatt und findet schwer den geeigneten Platz, ist sich nicht sicher, ob er begriff oder ob er daneben nur hört, und die Logik Grigorenkos bloß mit der seinen vertauscht. Er legt die Feder zur Bank, versucht, sich zu konzentrieren, zu ermessen, was der Professor – kaltmienig fast, ohne die Wimpern – zum Fenster ausspricht. Jedoch irgendetwas hemmt ihn da bei, als traut er sich nicht, als fehlte der Mut.

„Ergo erschoss sich Majakowski, um die Front zu verkürzen, den Ausgleich wider den Kleinhandel, die Kleinlichkeit, den Kleinmut in die Waage zu werfen; ergo schmiss Lunatscharski den Hut, damit die Bildung gedeihe auf Teufel komm raus; ergo blühte der Realismus von Gorki, dem LEF und dem Proletkult zum Trotz. – Wir brauchen die Erde, und wenn es nur für die Brotsamen wäre. Wir müssen suchen, sammeln, zählen wie einst im Mai – was ist da schon ein Oktober? Reden sollen andere, die langen Worte mit dem kurzen Sinn sind zu Ende. Es normt sich derzeit, plant im Namen des Bestehenden, des Bestehens gegen die Welt und mit ihr. Wir wollen so werden wie sie, ja, ein wenig noch besser.“ – Der Professor sieht auf. „Gut, diese Freiheit! Die sitzt in den Köpfen wie Spuk. Wie aber hätte man wirtschaften sollen ohne die Wirtschaft? Diese vielsagende Freiheit ist nichts, die nur erhebt, die nicht einmal weiß, was sie wert ist, nicht wiegt.“ – Draußen klingelt es. Grigorenko dreht sich halb zu der Tür: „Ich hasse Leute, die den Ausgang der Geschichte nicht kennen.“ – Und der Lektor geht rasch raus ohne Gruß.

Sarodnick malt ein Dreieck aufs Blatt. Wie unklar ist doch alles für ihn, wie flau. Mit wem sollte er reden darüber? Die Zunge hat er noch nicht, die Winke, die Gänge. Und so schreibt er Briefe nach Hause, erklärt sich Petra, verklärt in den Seiten an sie. Ein Heimweh fordert ihn ab, eine Unruhe, eine Einsamkeit zehrt. Im Internat stößt er auf volle Räume, findet Briefe von Petra zu spät, findet Monika, die ihn drängt, die für ihn konzipiert, projektiert und hilft, wo es nicht hilft. Und er findet in seiner Stube ein kaltes Bett und ein sauberes Laken darauf. Sarodnick stolziert in das Tun, tut, als wäre er beschäftigt, macht die Zeit rar und rarer, hastet vom Institut zum Internat. Ein Hörgang ist es für ihn, ein Gang in das Nutzen, und lästig wird es ihm bei, zu Lasten geht es, und er besucht nur den Trott, das andere Sich. Die Einzige, die neben ihm wandelt – geduldet – ist Monika noch. Kurzbleibig zwar – der Weg ist lang von der Bahn bis zur letzten –, ist ein welliges Sitzen, ein Blick, eine Frage; dann ist sie wieder vorbei. Martin braucht sie, schöpft wie im Brunnen in ihr, und er wünscht, dass sie ihren Ursprung preisgibt in dieser Sprache, dass sie ihm zuhört, wie er deutsch mit ihr spricht.

„Dein fehlender Ausdruck ist es, der leidet“, sagt sie ihm, und er gibt ihr bloß Recht:

„Ein spröder Stein in dem Mund, und dazu Idiome.“

Monika hält hin, lässt ihn glänzen, der so viel Glanz schon verlor neben anderem Geist. „Ich muss Dampf ablassen“, entschuldigt er sich, „mir fehlt das Glatte, ich zimmere grob.“

„Nicht doch!“, rückt Monika auf. Sie ist müde geworden, möchte einlenken und ablenken: „Fahren wir doch morgen einfach irgendwo hin.“

„Warum?“

„Ich kann es nicht schaffen immer zwischen Bereitschaft und Pflicht.“ – Er will sie hinaushetzen, sich eingraben und heulen, doch küsst er sie zag – wie ein volles Zimmer ihm es erlaubt.

„Mein Anspruch ist zu gesteckt, zum Fassen ganz fern.“

„Ein Geständnis?“, fragt sie.

„Mehr resignativ“, wehrt er ab, „ein Rauschen und manchmal ein Sich-fallenlassen-Wollen, aber wohin?“

„Nicht gut ist es“‚ gibt Monika zu bedenken, „es ist das Nicht-mehr-gut-Zumachende, seinen Hut nehmen oder seinen Schuh stehenlassen und gehen.“

„Ich weiß“, ist Sarodnick selbst überrascht, „der letzte Hinweis, die Spur, und weiter kann keiner mehr folgen – bis zu der Stelle, der Marke, dem Zeichen, dem Fuß in dem Felsen.“

„Ein Pferdefuß ist es, ob Ölberg oder Felsenmoschee.“

„Aber ein Zeichen.“

„Walpurgisnacht“‚ lacht Monika auf. „Du hast’s mit den Hexen, ich sagte es doch.“ –

Die Zweischneidigkeit, dieses Ungewisse lockte Martin, verführte ihn hin bis zur Gefahr. „Ist es das Böse? Die Lästerung? Oder nur nichts?“, fragt er sich jetzt.

„Ein zugeschütteter Abgrund“, wirft Monika ein. „Was sind wir denn sonst?“

„Nein“, widerspricht Martin. „Wir sind mehr – mehr oder minder. Wir sind Ausgang, Übergang, ein Präludium zum großen Stück Wunder, eine Saaltür am Eintritt, ein Torbogen. – Erinnerst du dich? Halle.“

„Natürlich, mein Lieber.“

„Dahinter war nichts. Das Schloss war im Kriege geblieben.“

Sarodnicks Kindheit schaute in die Ruinen hinein. Dieses Noch-nicht-Vollendete, das Nie-Vollendbare geisterte, begeisterte ihn. Ganz egal war ihm die Frage: „Wird es ein Haus oder war es mal eins?“ Um das Weder-Noch, das Zwischendrin-Sein ging es ihm doch, das Halbe im Ganzen, die Trümmer als Werk. Sehr traurig konnte er werden, wenn sie plötzlich geräumt waren, irgendwann nach der Zeit. Gestern standen sie noch, waren beendet und rein, als wären sie ewig, und heuer Enttäuschung, das fertige Haus, an dem Martin das Kribbelige seiner Leitidee misste: „Und möglicherweise ist es gar keins?“ – Er hasste Baustellen, das Fertigstellen, die Schlüsselübergabe. Mit dem Richtfest starb für ihn das Interesse, der Bund und das Eins. Wie traurig war es für ihn, als man in Leipzig die Universitätskirche sprengte. Fremdprotestierend stand er am Platze, an der Sperre vor der Oper da. Auswärtig fern, unsolidarisch drängte er mit der Masse, die Restaurierung wünschte statt Abriss, Kirche statt Mensa, Bewahrung statt Revolution.

Sorgfältig mied er das Ganze. Es zog ihn nach Paulinzella, in die Ruinen zwischen Mauern zu Säulen, die den Himmel abstützten, und wo auf den Altar der Regen jetzt schlug. An der Hand der Großmutter spazierte Martin durch Dresden, und sie erzählte vom Krieg, von diesem Februar 45. Nichts explizierte sie, sagte nicht: „Dies war das gewesen“ und „So sah jenes mal aus“. Sie schwieg, zeigte das Nichtgesichtete nur, das Hinter-Dem, das, was noch stand: die Keller, der offene Stall, die geworfenen Steine. „Von Gott ist es nicht“‚ bemerkte sie und ergänzte: „Es ist für die Ewigkeit da.“ – Für Sarodnick war es vollkommen, aus einem Guss, war Andeutung, unbrauchbar unnütz, war eine Nachhalligkeit. „Kunst“‚ staunte er‚ „außerhalb der Vernichtung und doch nahe daran.“

Das Fast-Fertige, Nie-Fertiggewordene war es, ein „Beinah-Nichtzerstörtes und doch Zerstörtes“, das versteckte Chaos, das nicht geordnete Wachsen – ein babylonischer Turm. Es war das fragmentarische „Fort und fort“, das nicht zu Ende gesprochene Wort, das Sarodnick anzog, das er pries und himmelhoch hob. „Nicht der Goethe, der noch einmal entsiegelt und ändert“‚ sagte er einmal, „sondern der Urfaust, die Marienbader Elegie, die hilflos vollendet, geworfen als letzter Gruß und nicht aus letztem Erdenken, nicht Wilhelm Meister, sondern Mignon, nicht Iphigenie, sondern das Exil dort in Rom.“ – Das Demetrius-Fragment feierte er als Schillers „göttlichstes Werk“, als „Nur-Plan“, der planlos mündet in Tod. „Erst der hingeschlachtete Zarewitsch war der ideale Herrscher geworden, der Große, der Retter am Volk. Und kam Schillers Reife nicht selbst auch kurz vor dem Tod oder gar ein wenig danach?“ – War Martin gesund? Steckte da nicht vielmehr auch seine Angst vor der Steigerung, vor der Ruhe? Erregte er sich nicht in dem Kuss und wich doch der Zärtlichkeit aus? Oder war es kein Ausweichen, war nur ein Unvermögen aus dem Anfang zu kommen und den Schlussstein zu setzen? Häufig war es freilich das andere auch, die Heftigkeit, das Wollen ohne die führende Hand, ohne Verflechtung und Dialog – ein Ausrutschen, ein Erschlaffen, ein Absacken, eine zerstörte Berührung, die den Guss antizipiert ohne Wert, ohne Erlösung. – Und das Spiel mit Petra? Lief es nicht aus den gleichen Bahnen heraus? Ging es nicht aus von den Sinnen, von der Bereitschaft, um jäh abzuknicken, wegzutreten ohne Vollenden? Und trotz des Drängens, des Gärens in ihm, ließ ihm das „Sich-verströmen-Bevor“, vor dem eigentlichen

Ineinandergeflossen, traurig zurückfahren zu sich – in den Schlaf. Auch Monika ist ihm Fragment, abgeschlossen in seiner Latenz und seinem angedeuteten Alles. Unbeholfen genau spürt Sarodnick, dass alles so bleibt und bleiben wird für die Jahre ohne Hoffnung auf Wachsen. Auch möchte er nicht, setzt auf das Nichts, ja, es behagt ihm gar so in der Haut. Und möglichenfalls waren alle seine Beziehungen lediglich ein Torso gewesen, ein steckengebliebener Anfang, der einen miserablen und damit vergessen Sturz in ihm birgt? Möglicherweise. – Martin blickt sich nach Monika um. „Sie ist schon gegangen“, denkt er. „Sie wird gehen und kommen.“ –

Monika ist gerne gesehen, und zuerst und vor allem heizt sich Samwel an ihr, kann „auf Solche“ und „Solche“, „auf Norden“ und „Weiß wie der Schaum und das Sperma“, und in Worten kleidet er sie aus bis zum Grunde: „Meine stehende Angebetete springt mir ins Auge, ins Glied. Komm, leg dich zu mir!“ – Monika zupft an den Lippen und schweigt:

Zu nichtssagend ist ihr der Sturm, das mütterliche Liebeserklären: „Ich muss zwischen deine Beine hinein …!“ – Doch Sarodnick kommt es entgegen, ist ihm gelegen. Monika ist wie vorgeschoben für ihn, ist ein Treppchen zu Samwel vorab, ein Versuch, ein Lockvogel, um ihn für sich zu gewinnen. Und eines Tages ist es dann auch so weit an der Zeit: Der Armenier spricht Sarodnick an. Mit abgewandtem Rücken redet er zu ihm, ohne Schnörkel und Floskel: „Jeder von uns muss etwas spielen, ein Stück von einem Stück. Wir könnten doch zusammen das machen.“ –

„Wir?“ – Doch diese Frage stellte sich nicht. Heimliche Freude, Schaden-Freude erfasst Sarodnick, und darin liegt auch ein wenig von Furcht. „Was sollte es sein?“

„Brecht.“

„Brecht?“ – Die beiden entscheiden, den Hatelmaberg zu besteigen – „Herr Puntila und sein Knecht Matti.“

6

Wochen probieren sich zähe, und ein Problem stellt sich für Samwel und Martin: einsteigen oder dabeistehen? Äußerung oder Selbstäußerung? Wie muss man den Dramatiker spielen? Darf man ihn überhaupt heute noch spielen?

„Spiel ist Trieb – wie eine Frau besteigen“, sagt Sjoma. „Brecht ist die Erklärung dazu“, kontert Sarodnick.

„Hängengeblieben beim Vögeln.“

„Soll man den Herzschlag nehmen oder das zwischen zwei Schlägen?“

„Handeln will ich, nicht quatschen!“, lärmt der Armenier dazwischen, „wie Hamlet am Schluss.“

„Verwerflich“, denkt Martin. „Ist nicht jedes Handeln verwerflich, wenn es vom Einzelnen kommt? – . Brecht ist keine Methode für euch“, sagt er laut. „Weder im Institut noch in Moskau.“

„Keine Mode.“

„Kein Stanislawski.“ Sarodnick ist sich bewusst, dass es mit Hauruck hier nicht geht.

„Klugscheißer“‚ spottet Semjon. Wen aber meinte er damit? Die Sinne begehrt er, den Witz, die Freude dabei, möchte gestikulieren, laut lachen und schmausen, während der Deutsche stoppt, den Knüppel in den Weg wirft und interpunktiert:

„Zäsuren!“, kommandiert er. „Du bemerkst nichts hinter der Nische.“

„Ich pinkele drauf.“

„Prima! Wir markieren die Ecken.“

„Den Schädel rasieren, damit man ihn sieht“‚ grölt Samwel.

„Hier muss ich stoßen, und du haust mit Vergnügen dazu.“ –

„Und rein, rein und wieder rein!“ – Sie lachen gemeinsam, und der Armenier freut sich darüber: „Siehst du wohl selber jetzt, als ob man jedes Lachen erklären kann! Man lacht, wie man’s versteht.“

„Dass man’s versteht.“

„Darauf wichs ich mir einen! Entweder kommt’s oder kommt’s nicht.“

„Und wenn’s kommt?“

„Feix ich.“

„Warum?“

„Arsch! Weils eben kommt.“

„Und warum kommt’s?“

„Weil ich feix .Ach, geh mir nicht auf die Eier!“ –

Samwel spielt Matti, Martin den Herrn. Der Herr ist gut, wenn er trinkt, und er ist, wie er ist, wenn er nüchtern geworden, ist, wie er sein muss – ein Herr. Ein Herz hat er nur, wenn er säuft, denn sonst wäre er doch kein Herr. Man kann nicht gut sein, wo die Dinge nicht gut, und sie sind es nun einmal nicht.

„Es gibt einstige Knechte, die sind nicht mal besoffen human“, konstatiert Martin.

„Einen Dreck hat es sich heute geändert“, brummt Sjoma, „das heißt: Nur die ehemaligen Wichsköpfe sind besser geworden. Ein Hungerleider ist immer ne Jungfer und fickst du sie, tritt sie dir hinterher in den Sack.“

Semjon spielt den „Noch bin ich Knecht“ mit Verwarnung, will er doch werden wie Puntila selbst. – So reicht er die Stühle, die Tische, die Schränke zum Berg, bis es ausreicht zum Haufen und man rechtzeitig nüchtern wird drauf. Sarodnick aber wittert die Nase: Er könnte sein „Herr sein“ versaufen. Ausgelassen schreit er ihm seine Gutmütigkeit ins Gesicht:

„Die Wiese dort ist meine geworden. Der Stall, die Pferde, die Knechte, – der Knecht. Du bist mein!“

„Ja, mein Herr, trinken Sie weiter.“ – Und dies könnte dem Knecht auch so passen, es wird seine Stunde bald kommen.

Jede Nacht ist das Klavierzimmer voll. Sarodnick klebt sich den Text in den Schädel und das oft mit Gewalt, fühlt er doch nicht jedes der Worte, schwingt es nicht so wie im Deutschen für ihn. „Auswendiglernen! Nach dem hundertsten Mal sitzt’s – wie der Nagel in den eigenen Knochen“‚ instruiert Sjoma und korrigiert ihn manchmal falsch: Die Betonung liegt auf Armenisch, und das ist Tausende Kilometer daneben. Martin indes spricht mit Brecht, lernt ihn noch einmal, so wie er Tschechow auswendig lernt, und er holt so manchen Satz aus dem Kasten an unrichtiger Stelle. Wie schön sind schöne Worte getan, Brecht mit Tschechow vertauscht, und am Abend in der Kantine mit den Kameraden darüber sich streiten: „Zum Brechen und Tschechen.“ – Aber Sarodnick möchte ja reden. Und klug reden kann er nur durch Imitation. Im eigenen Kopf ist keine Ordnung gemacht – wie sollte er auch sein Chaos denn übersetzen? Also redet er wie gelesen, und die Mädchen sagen: „Faselt der blöd!“, und: „Er ziert sich wie eine Kanne.“ – So gießt er seinen Inhalt nicht aus und ist ein gehaltener Bursche. Womöglich ist er deshalb Brecht auf der Ferse: Er interpretiert die Gefühle. Und lange noch wird er zu Tschechow nicht finden. – Er trainiert im Heim „Puntila und sein Knecht Matti“, und Semjon langt alle Möbel hinauf. Das Internat steht ihm Kopf, die Stühle sind bereits alle auf der Szene gesetzt. Aber man lacht: „Nur etwas lauter noch, Martin!“ – und Sarodnick hält Hitlers Rede zum ersten Mal. Wie eine Ebbe ist sie, wie ein Zögern die Scham, wie ein Knecht ist der Redner, der sich anbiedert und urplötzlich ausbricht dann als Vulkan, die Stühle zerschmetternd im Steigen. Der Schrei, der Herrenschrei drückt die Faust in den Nacken, ist zur Geste offen unter dem Tisch. – „Dieser Herr hat sich niemals besoffen.“

„Bravo!“, macht Sjoma. „Man könnte sich aufreißen lassen. Ohne Kommas gesprochen, die Zeichen woanders gesetzt, und Millionen Deutsche grölten Sieg Heil! – Ohne Kommas gesprochen?“ – Puntila röhrt nur im Trunk, er hat’s noch nicht nötig, die Umstände sind noch nicht nötig, die Faust sitzt noch unausgesprochen gehorsam. „Die Knechte sind einfach klüger geworden“, weiß Sjoma, „die Knechte spielen Theater.“ –

Am Vorabend der Premiere vom Stück wälzt Sarodnick das Bett dreimal um sich, liegt quer, diagonal, breit, klein wie die Feder und hart – er hat keine Ruhe im Schlaf: „Wie hat man ‚Puntila‘ schreiben können im Krieg? Was geht mich Puntila an? Nur so einen Mist konnte man wohl in dieser Zeit schmieren. Der Krieg war weit, Finnland war von den ‚Freunden‘ besiegt – aber die ‚Freunde‘ luden Brecht gar nicht erst ein. Er war jetzt keiner von ihnen. Aber er wollte nicht daran glauben, setzte trotzdem auf sie und nahm den Zug nach ‚Leningrad‘. Insider warnten davor:

‚Die Köpfe fallen wie Früchte dort bei deinen Genossen‘, seine Kunst wäre reif, viel zu reif, um sie zu kapieren, und Schwieriges wäre suspekt: ‚Wer gegen Deutschland ist, ist eine Deutschstoßlegende.‘ – Wie kann man deutschhassig sein in dem Jahr 1940! ‚Verschwinde nach Deutschland! Verschwinde von uns, und niemand hat etwas bemerkt. Du kannst ansonsten schnell Meyerhold spielen, und der hat sich tragisch verspielt.‘ – Und B. B. versteht, macht kein Theater – die Freunde rieten aus ihren Verstecken heraus: ‚Mach Mücke, es beißt!‘ – Er nahm den Schnellzug – ‚die sterbende Freundin stirbt schon allein im gefährlich gewordenen Moskau‘ – Transit durch Sibirien: Ostexpress nach dem Westen. Zu weit lag die Rettung für ihn: Wilshire-Boulevard. Was ging schon Puntila die Sowjetunion an! Die Knechte waren herrlich geworden, und in Deutschland war Krieg – das Herrenvolk siegte. Kunst war unnütz, missbraucht und gefährlich zu brauchen, ein unnützes Feuer zum Spielen. Manche verbrannten sich dran, sie scheuten das Feuer: ‚Sollte doch alles verbrennen!‘ – Und niemand war unschuldig bei. Theater hatte doch mit Leben gar nichts zu tun, und solche Herren da gab es nur noch in Finnland – nah an der russischen Grenze.“ –

Im Schlaf greift Sarodnick nach dem Schlaf: „Ich krieg’ kein Auge mehr auf. Morgen ist Prüfung.“ – Er steigt den Hatelmaberg auf, und der hat keine Spitze; er schreit: „Mehr Stühle!“, und Sjoma reicht hoch.

„Noch mehr! Es hat keine Spitze. Die Tische! Die Bänke! Höher! Los! Sjomotschka, mach fix! Die Leute gaffen schon alle.“ – Ganz oben – Schweiß in den Haaren – krümmt Martin sich: „Die Spitze! Ich sehe noch nichts, bin noch nicht droben, weiter! Beeil dich!“ – Es sind keine Möbel im Raum, und Samwel reißt an den Dielen: „Baue einen Berg! – Ein Brett nach dem anderen! Es reckt sich schon in den Himmel!“ – Und Martin stößt den Kopf gegen die Decke: „Noch höher!“ – Sjoma reicht ihm die Zimmertür hoch. „Aber die Decke! Mein Kopf! – Gib die Wandtäfelung noch! – Oh je, um Gottes willen die Decke!“

„Hau ein Loch in sie rein! – Keine Spitze! Die Tafeln gib mir! –

Mit dem Schädel hindurch, kraftvoll! Wir bauen im zweiten Stock weiter. – Lass durch, es tut weh! Gegen die Decke.“ – Der Putz fällt. Ein Rieseln beginnt. „Es schmerzt!“ – Die Ohren glauben, plötzlich zu hören: Neben Sarodnick ist auf einmal ein Stöhnen, ein Stoßen, ein Lallen, ein Kichern und Rollen – er kann seinen Augen nicht glauben. Im Dunkeln sieht er nahebei Figuren: Semjon liegt auf einer Frau, bewegt sich darauf, bewegen sich beide zueinander und auseinander, gleiten in Nacht, so dass sie schmatzt wie ein Tier. Vier Mann schlafen in einem Zimmer – drei Mann schlafen in einem Raum, und einer schläft mit ner Frau. Zwei Mann schlafen in einer Stube, einer schläft mit einer Frau, und einer kann es nicht fassen: „Wie kann man in aller Öffentlichkeit nur …!“ –

Das Bett singt mit den rostigen Federn im Takt, Füße kratzen am Boden, Beine liegen oben herum.

„Was für Skandal!“ – Sarodnick möchte die Sachen packen und gehen, beschweren, in die Visage spucken dem „Schwein“: „Wie kann man …!“ Aber der kann. „Es ist der Gipfel! Die Spitze!“ – Doch brav wie die Unschuld liegt Sarodnick aus, die Abscheu erwischt ihn mit Lust: „Ich will es zu Ende erleben.“ —

Am nächsten Morgen senkt Wolodja schwer seine Augen, und er wandelt den ganzen Tag über in Melancholie: „Bitte?“, und: „Entschuldige“, und: „Ich habe ein wenig Schmerzen im Kopf.“ Dann liegt er Stunden im Bett, den Blick an die Decke geheftet. Wasili dagegen aber schlief wie ein Tier nach einem tierischen Abend mit Sprit: „Hast du nicht nachts …?“

„Haltet die Fressen, ihr Tiere!“ – Mit Samwel wechselt Martin kein einziges Wort, und schweigend geht er zur Prüfung: Puntila marschiert den Hatelmaberg auf, und das Publikum kocht. Er schreit dem Knecht in die Gusche: „Alte Sau! Ich bin wahrscheinlichbesoffen, aber ich bin ich. Nichtsnutz! Unstand! Du Knecht!“ Er wird bissig zu ihm: „Du kannst deine kaukasischen Berge berotzen. Nicht aber mit mir!“ – Er ruft ihm Befehle, rülpst ihm ins Auge: „Du glaubst, ich bin voll? Penne? – Alles ist mein Kapiert? – Das Bett, das Zimmer, die Leute. Ich gieß dir die Milchkannen über den Nischel. Was hast du persönlich da drin? Das ist hier kein Puff! Such dir eine andere Ecke!“ Die Zuschauer bekommen eine Hühnerbrust von dem Schauer und applaudieren begeistert: „Fritz, der Faschist!“ – „1940!“ – „Der Herr hat sich zum Nazi gekrönt.“ – „Warum nicht!“ – „Warum?“ – „Der hat den Matti vom Berge geschrien.“ – „Aber Semjon hat nur den Schlauen markiert. Lass ihn ruhig brüllen, hat er gemeint, ‚der hat wohl nachts schlecht geschlafen. Ich dagegen hab mein Vergnügen gehabt‘.“

„Ich wird’ es dir zeigen!“, ruft Puntila aus und weist auf das Weibergefängnis. „Du denkst wohl, es wäre ein Schloss?“ – Alle klatschen vor Beifall: „Samwel hat ihm eines gebaut.“ – „Der Fritz macht ‚Heil!‘ von ganz oben, wenn er über die Leute hinzeigt, ‚Heil! Ihr Schweine da unten.‘“ – „Vielleicht ein wenig komisch“, meint jemand, „zu wenig oder zu viel.“ – „Als wäre Brecht komisch! Brecht ist gar nicht wenig.“ – „Puntila ist klein, nur die Mittel sind groß.“

„Mitsingen! Habt ihr keine Vaterlandsliebe?“, ruft Martin. – Die Leute raffen sich hoch und heben die Hände zum Himmel, zu den beiden, die unter der Decke dichtgedrückt über den Häuptern ausschwingen, und Puntila donnert zu ihnen: „Noch einmal! Da capo! Singt!“ – Und das Publikum singt weise – einer, zwei, alle:

„Die Wellen, sie küssen milchigen Sand.“

„Noch einmal! Und einmal!“ Der Saal schrillt. Puntila nimmt Matti in seine Arme.

„Sie küssen den Sand …“ Alsdann, mit einer harten Bewegung bringt Martin Stille ins Zimmer:

„Sagt, dass euch das Herz aufgeht, wenn ihr das seht.“ – Und er stößt Sjoma vom Berg, dass der sich kopfüber auf der Erde wiederfindet unter den übergeschlagenen Stühlen: Das Herz geht ihm auf, wenn er Sarodnick-Puntila sieht.

Der Professor drückt den zweien die Hände: „Ihr habt da ja etwas ganz Schönes aufgebaut! Von unten kann einem dabei schon schwindlig werden.“ – Martin aber schlägt dem Armenier hart auf die Schulter:

„Was hast du dir nur dabei gedacht heute Nacht und getraut!“ –

„Hättest ja mir sagen können, dass du nicht schläfst“, meint Samwel und grinst: „Wir hätten sie sonst beide gevögelt.“ –

Am Abend kutschiert Martin zu Monika mit dem Bus, streichelt die Hand, sitzt dumm herum, langt in die Brust, tanzt nach den schlürfenden Platten und spürt, dass er nichts spürt. Da verlässt er sie wieder. „Bis Sonntag!“, ruft sie ihm nach. „Wir können nach Archangelskoje fahren.“ – Doch Sarodnick ist die Lust nur lustloses Treiben, ein „Gute-Nacht-Kuss“ vielleicht. Eine lange Nacht bringt nichts Gutes, allenfalls gute Träume mit schlechtem Gewissen.

Im Bus schreibt er einen Brief an Petra, zerreißt ihn, zankt an der Haltestelle wegen der Reihenfolge in der Schlange herum und legt sich angekleidet ins Bett. Ein Tag mit steifen Manschetten verabschiedet sich wieder – ein Tag, ein Monat und drei.

7

Stetig und hartnäckig-grausam lernt er die Sprache, die Geschichte ohne Sprache des Grigorenko, die Sprache mit Breschen und Spalten, mit einem einzigen Zwischenraum und vielen Worten dazu.

„Es gibt Namen, die waren nicht Namen, sie waren versehentlich da, ein Irrtum im siècle, sie waren vor der Zeitrechnung da oder knapp später.“ Grigorenko flüstert, und Sarodnick schaltet ins Aus. „Wer hat die Revolution gemacht?“, überlegt er. „Lenin? Gut. Zuerst aber das Volk.“ – „Es sind Fehler gewesen … Kamenjew, Sinjowew, und es gab noch Trotzkismus“, bestätigt der Professor. „Überall, wo es rauchte. ‚Trotzkismus‘, das hieß Parteiausschluss, weg vom Tisch, unter die Erde, Name gestrichen.“

„Die Kinderkrankheit des Kommunismus … – Zuweilen möchte man den 20. Parteitag zurücknehmen“‚ macht Grigorenko sich einen Spaß und lächelt verschmitzt. „Jeder Staat schämt sich meist seiner Gründer – sie sind in Grund und Asche verstreut. Freilich, der Unterlegene – sollte er überleben! – hat es dann leicht zu erklären: Er hätte und wäre der Beste. Im Ausland schreiben sich Bücher ganz gut, und man wäscht sich die Hände im Blut, das man vormals selber vergoss. Bronstein, der ‚Linkeste links‘, ein ‚linker‘ Genosse, der am weitesten ging – über Leichen. Er hätte bestimmt nicht die Bauern mit so viel Halbherzigkeit abgetan, ihnen mit der Sense schon früher von links unlinkisch den Hals abgesägt. Der Weltwille wäre wie B-stein geworden.“ – Grigorenko streicht die Haare scheitelgerecht: „Natürlich hat man nach dem Leben getrachtet – nach der Revolution wird immer geschossen!

Der Georgier hat sich indes gut in der Mitte versteckt.

Schlimm genug – es hätte noch schlimmer sein können! Wer ist denn von den 1789er am Leben geblieben? Eine späte Figur: Bonaparte, der mit dem winzigen tiefsitzenden Glied …“ Der Professor räuspert: „Revolution war mit der Wahl der Volkskommissare zu Ende.“ – Sarodnick schlägt zehn leere Seiten im Heft.

„Beginnen wir also mit dem Londoner Parteitag. Menschewiki und …“ — Es klingelt.

So lernt der Deutsche am schnellsten die Sprache: Das Wesentlichste wird nicht gesagt, und das ist immer am schwersten. Er sitzt vorne mit in, mit denen, die in jeder Pause den Lehrer bedrängen, die geordnet, ordentlich ihre Hand heben: „Herr Professor, ich hab eine Frage …“ – „Ich wollte gern wissen …“, „Ich habe gelesen …“ –

„Sie haben ganz Recht.“ – Wie eifrig sie sind.

„Gibt es Gesetzmäßigkeiten im Volk?“

„Jedes Volk ist verschieden.“

„Und die Weltrevolution?“

„Darüber sprechen wir später.“

„Herr Lehrer, schönen Dank.“ – In der vordersten Reihe, in Reih und Glied. Sjoma lacht sich darüber halbtot:

„Wie ein Idiot! Jedes Wort bläst du wie eine Nutte ohne zu kauen. Jede Minute hast du im Arsch, und du verdämelst wie blöd! Koks lieber mal einen Tag aus und denke an nichts weiter.“

„Ich mach’s doch wie die anderen auch.“

„Die anderen?“, lacht Samwel. „Willst du wie die anderen sein? Es ist ein madiger Apfel, und du wirfst den ersten Stein ins rosige Beet.“ – Doch Sarodnick schläft nicht aus, geht nicht in die Stadt, fährt nicht nach Archangelskoje mit Monika, hört das Kichern der Mädchen nicht hinter dem Rücken. „Die lachen mich aus.“ – Er hat Heimweh bekommen.

„Ich möchte zu Petra.“ – Und er schreibt: „Liebe … ruf bitte an! Sage, meine Mutter ist krank, und ich soll nach Haus sofort kommen.“ – Petra telefoniert, und im Institut ist man hörig:

„Du musst fahren!“ – Der Deutsche sträubt sich:

„Es geht nicht.“

„Alles geht! Für ein paar Tage.“ – Sarodnick lacht sich ins Herz.

8

„Das halt ich nicht aus dort in Moskau“, hält er Petra im Arm.

„Ohne dich ist bloß Sehnsucht, ich hab ja nur dich, es gibt nichts, ich kann nicht – mit niemandem hab ich geschlafen.“ – Er legt sich auf sie, sieht den Bauch Monikas an, schaut in die Augen von Maja, hört das Röhren Samwels im Bett und lässt sich in Petra. Der Bauch und die Augen. Lautlos gleiten Leiber zusammen. Anständig geht es zu, und anständig bekommen beide genug – nicht über die Ohren, nicht übergelaufen, sondern gerade „bis da“, bis zum Kinn, und man kann noch sprechen dabei. „Als wäre es das Allerwichtigste auf der Welt! Ich erzähl dir lieber von Eugen Onegin. Weißt du, Onegin hat niemals geliebt …“

Petras Familie ist eine liebe Familie geworden, und Sarodnick ist mitten drunter gemischt: der Bruder, die Schwester, die Mutter, die Dienstmagd. „Ein trauter Tisch und die Beine darunter sind Heimat“, denkt Sarodnick. „Hier bin ich sehr gern.“ – Und er erzählt der Familie von Moskau: „So wie ihr es euch schon früher gedacht habt, obgleich … Na ja, ich behalt’ es für mich. Alles ein wenig chaotisch.“ – Der Mund von Maja, das Kichern hinter dem Rücken. „Fünf Jahre stehe ich es nicht durch.“ – Die lieben Leute rücken sehr dicht an ihn ran:

„Ist es wahr? Nicht wahr?“, und rücken schnell wieder ab: „Das muss etwas Extravagantes, Gefährliches sein.“ – Die Familie aber ist stolz auf die Tochter, die Tochter auf Martin, Martin auf die Familie. Das hatte er zu Hause niemals gekannt. Da war ewige Hetze, der Streit: „Kannst du nicht mal …!“, und: „Ich hab’ keine Zeit“, und Martin verschwand in den Büchern. – In Halberstadt jedoch steht das Glück mucksmäuschenstill – das Haus, die Betten, der Dom. Wie Heringe tot und getrennt schläft löblich das Paar – er auf dem Boden, sie im Salon, dazwischen baumelt die Decke wie Scham: fix die Hose herunter, fix in die Scham, fix die Sache erledigt und hurtig den Schwamm drübergelegt. „Pfui!“, stöhnen die zwei und wischen beide daran.

Später reist Martin mit Petra zu seinen Eltern, und die sind erfreut endlich das Mädchen zu sehen: „Was für Blitzmädel das ist! Welche Manieren! Wie geschickt! Und stets ein freundliches Lächeln! – Liebe Petra, kommen Sie doch öfters zu uns!“ Sarodnick war hinter dem Mädchen versteckt und hat so seine Ruhe. Er studiert, studiert schwer in der Ehre, und die Ferien sind zum Ausspannen da. Doch Petra spannt die Spannung in ihm – Majas Augen, die Rücken, die Mädchen vom Schauspieler-Kurs … „Ein besserer Mensch sublimiert“, erklärt er der Braut. „Nimm Hölderlin, Tschechow und Lenin.“

„Wird man dabei nicht krank?“

„Wobei?“

„Beim Sublimieren.“

„Nur die Krankheit gebärt Schönes. Die Kunst braucht den Gebärmutterkrebs.“ – Und Petra hilft in der Küche beim Kochen.

Dann fährt Sarodnick nach Berlin, weint auf dem Flugplatz mit Petra und hat die Arme in ihre gelegt: „Wir bleiben immer zusammen.“ – Stumm schluchzt das Mädchen. – „Die Leute!“ – Sie nickt:

„Ich habe dich unheimlich gerne.“ – Und unheimlich wird dabei Martin zumute:

„Zum Jammern ist das! Wäre ich bloß nie nach Moskau

gegangen.“ – Der Flug. Man serviert kaltes Huhn mit Weißwein und Marmelade. –

In diesem Jahr fliegt Sarodnick Moskau/Berlin und Berlin/Moskau mehrere Male, und Petra hilft ihm dabei. Eine Flugkarte kostet nicht die Welt und die Erde, und Petras Eltern haben viele Kilo im Garten davon. „Ein Fahrschein macht treu, währt am längsten.“ – Auf dem Flugplatz holt die Familie Sarodnick ab. Er wird ein begüterter Mann, und eine Aktie fällt auf sein Haupt – in der DDR gibt es nicht viele von diesem Zeug. „Was kosten die Welt und die Erde?“ – Für Martin eine Lappalie. Die Luft ist darüber – zwischen Moskau/Berlin und zurück – und weniger Petra. Er ist im Flugzeug zu Hause, schnuppert am Heimatgefühl in der Höhe, und in Berlin dann wartet er bereits auf den Tag in der Luft. Zwischen Himmel und Erde sieht er die Braut, und sie ist lediglich ein Häufchen aus Sand. „Wäre sie doch auch das Firmament und der Äther!“ – So aber fliegt er in die Luftsucht zurück. Fünfmal reist er im Jahr, und nur einmal ist es Regel, die anderen Male umgeht er heimlich die Botschaft, meldet die Meldepflicht ab.

„Mich sieht hier niemand so leicht“, meint er sehr kühn, „zehn Kilometer von meiner Botschaft entfernt.“ Und Peter und Werner haben mit sich selber zu tun: Der eine hat eine schwangere Frau, der andere geht schwanger mit ungelegten Liebeswehen zu Kira. So fährt Sarodnick einfach und basta! Und wenn jemand fragt: „Wo ist denn der Martin?“, sagt Samwel bloß: „Der hat sich den Tripper geschnappt.“ Und die Neugierigen gehen erschrocken von dannen.

Glücklich lernt Petra in Leipzig, und Sarodnick ist ihr treu, ist ein Flieger, fliegt in die Nähe und hat den Finger in ihr. „Ich hab meinen Freund.“ – Wie ein Ring ist sie sozusagen verlobt. „Fremde Hände sind fremd.“ Sie schlägt die Beine übereinander und wartet zwei Monate wieder. Weich wie ein Kissen liebt sie ihren Martin, und es ist besser als nichts. – Fünfmal im Jahr ins Weiche geflossen. Eine treue Tomate, die platzt. –

In der Diele schiebt Monika ihren Mund hin zum Küssen, und Sarodnick greift in die Schläfe: Er hat ihre Nagelspuren am Hals. „Du warst schon wieder zu Hause gewesen?“

„Meine Mutter … ich muss … da sind …“ – Monika aber möchte besser nichts wissen. „Ich will nicht nach Archangelskoje, ich will nicht nach Sagorsk, ich will nicht nach Jasnaja Poljana. Nirgendwohin will ich. Es interessiert nicht, ist mir zu ausländisch-fern, ist ein anderer Stil, eine andere Religion, sind andere Leute. Ich habe anderes Blut.“ – „Im Urin. Pinkel dich aus!“, denkt Monika, doch sie schüttelt nur ihren Kopf: Sie hat die Tage geweint. „Sinnlos ist es“, hat sie gemeint, und „Martin ist trotzdem mein Freund. – Das ist alles?“ – Martin versteht:

„Ich habe Petra“‚ sagt er und ergänzt, wie sich entschuldigend noch: „Wenn’s beim ersten Mal nicht funktioniert, geht es wohl nie. Mit Petra geht es ganz gut.“ – Es geht.

9

Hungrig sucht Sarodnick die Bibliotheken an Sonntagen auf, denn im Heim kann er nicht bleiben. „Es sei denn, man ist ein lustiger Kerl, laut lustig zum Brüllen“, denkt er „oder man ist ein todgemütlicher Mensch, dem nichts aus dem Gleichgewicht bringt. Heisa popeia, Ringeltingel und Fassen.“ – Nach einem versoffenen, hoch-fraulichen sonnabendlichen Abend bis in den Morgen stehen die Toiletten über dem Rand, liegt die Verdauung darin, und Zeitungen darauf flattern gebraucht. Die Waschbecken sind unbenutzbar geworden vom übernutzten Gebrauch, und der Fußboden ist zum Übergeben ganz glatt: Man schlittert auf der eigenen Soße: „Es ist darauf geschissen!“, und der Magen dreht sich nach unten. In den Aborten sind die Kabinen besetzt, und die Besetzer schlafen bis Mittag.

Martin nimmt seine Sachen, steigt in den Morgen, und in der Bibliothek auf dem Waschhaus setzt er sich aus – eine saubere Stunde, er hat es schließlich verdient. Alsdann kramt er in Büchern, leiht sich Jack London und möchte seinem Professor einen Wohlwillen machen. „Der liebt den amerikanischen Film“, erinnert er sich. „Hat er nicht selbst amerikanisches Kino gemacht?“, fragt er sich und überlegt in den Tag.

„Er hat als Löwe begonnen und landete später im Zoo“, spottet Sjoma über den Meister und spielt an auf den Namen von diesem: Lew heißt Löwe in der russischen Sprache.

„Man hat ihm den Namen genommen“, behauptet André, der Junge von nebenan im Internat, der Leningrader, der „Älteste“, der Weiseste aus der Gruppe, der hochgeschossen – ein Reis in die Sterne –, gezogen, gestreckt, mit Narben wie ausgeschlagene Knospen und Haaren aus Stroh, ausgedroschen, verwelkt.

„Als er sich mit einem F schreiben ließ, hat man ihm auf das Maul gehauen, und so blieb ihm nur das LEK mich am Arsch übrig.“

Lew Kuleschow ist Professor, Mitbegründer der Filmhochschule 1919, Rektor von einst, Regisseur vormals, war ein LEF, ein Biomechanischer, ein Natur-Modell aus Tambow, wo sein Großvater den Gutsbesitz in die Kehle schluckte, und der Enkel die Oberwelt von einem Ufer zum anderen über den Fluss kahnte. Mit den Kopeken dafür fuhr er nach Moskau in die Kinofabrik. Die Revolution entfesselte das Talent, und so wollte er das Entfesselte mit Kino und nur mit dem Kino realisieren.

„Kuleschow ist unser Vater“, meint André.

„Und der Vater wurde von den Söhnen gehasst“, kontert Sjoma. „Er hat völlig neue Dinge gemacht, die andere später benutzt haben wie neu. Die Dinge waren wohl aber zu spitz für die Zeit.“

„Er wollte den russischen Krimi, den Detektiv, die Spannung, den Schlag, den Mord und den Totschlag-Effekt.“

„Er hielt den Schnitt im Salto mortale, und der Schauspieler wurde ihm ein bewegender Körper. Seine Psyche stand ihm am Leib, entpsychologisiert, enttheatralisiert, Entbund und Entlast – und man flog durch den Raum. Kuleschow hat die Massen montiert, und zum ersten Mal wurde mit vollem Bewusstsein, mit dem Selbst-Bewusstsein einer Idee, die Einstellung, der Einstellung en face und danebengeschnitten, selbst konfrontiert und dieselbe mit anderen zum Wechseln gebracht.“

„Und der ,Kuleschow-Effekt‘ wurde so durch Onanieren geboren“, witzelt Semjon. „Der Effekt war groß bei jenen und bei den anderen auch. Die machten nach, meinten, eine neue Kunst ist am Werke, und meinten nicht schlecht. Jene warteten ab und warteten da nicht umsonst. Ihre Zeit sollte noch kommen.“ –

„Noch aber galt die Einstellung, der Buchstabe als Klippe und Klare, galt das Symbol“, lässt André sich nicht stören. „Lissitzky malte die Lenin-Tribüne, Eisenstein malte den ‚Streik‘ und die fallenden Kanonen, die Treppe, den Schrei seiner Mutter, Majakowski brüllte: ‚Alles ist gut‘, und Malewitsch formte sein Schwarzes Quadrat. Alles war flächig geworden wie Mägen, zum Greifen wie das Ziel vor den Augen, und das Leben war das Plakat, zum Ankleben, zum Wechseln: ‚Was Neues muss ran!‘. Immer was Neues, und das Alte kam auf den Müll, wurde nicht wieder gespielt, war im nächsten Jahr schon vergessen. ‚Schaffe, baue, laufe, höre!‘“ –

„Und schon saßen Leute auf ihren Ärschen und wollten nicht mehr vom Stuhle herab: Heute sitze ich, morgen sitze ich, übermorgen … – Was heißt ‚flache Wampe‘, was heißt ‚der Schlag der Pumpe gemäß‘? Die Revolution war erfolgreich beendet. Da zog man zwar noch nach links, nach rechts, in die Mitte – Proletkult, ACHRR, VAPP, Pereval, Litfront, Serapionsbrüder und Schwestern mit hochgeschürzten Neorealisten und Imaginisten. Kuleschow würgte, wälzte die Reste, die Trümmer zusammen. K-Effekt, das ist: Rote Front im Lande der Bolschewiki – Schnitt: bis auf die Knochen – Schnitt: bis in das Kahle – Schnitt: bis in die Sonne.“ Sjoma schnappt verzweifelt nach Luft.

„Kuleschow zeichnete die Bedeutung ins Bild und das Bild bewegte in Angst, war immer Bewegung, war ein Licht, war der biologische Teil“, erwidert André ganz leise.

„Und dann hing man diese Ideen an ihren biologischen Eiern auf“, macht der Armenier sich lustig, „man bremste den Regisseur Kuleschow aus und schob ihn ins Amt, zu einem Professor ab. – Leeres Stroh war’s, nicht das, was man denkt, sondern man hatte die Lehre gezogen, sonst nichts. Majakowski hatte den Löffel schon abgegeben. Kuleschow dagegen versuchte noch den Großen Tröster zu spielen – er tröstete sich selbst: ‚Gott sei Dank hat es mich nicht erwischt!‘ Man war zufrieden damit. Von ‚Effekten‘ quatschte nun keiner mehr, es stank nach gefesselter Kulturpolitik, und man hielt mitten im Akt das Herz stille.“

„Spannung wollte er nichtsdestotrotz zeugen“, wehrt der Leningrader sich leise, „Energie und Furore. Er wollte den Amerikanern eins auswischen: ‚Wir können es besser.‘“ –

„Jedoch wünschte man keine westliche Kunst, sondern wünschte nur sie selber zu gaffen“, spielt Sjoma auf die geschlossenen Vorführungen der Parteibonzen an. „Ich! Ich allein, bin allein. Licht aus! Ruhe! Bitte nicht stören! – Im Kreml flimmerten diese verbotenen Filme. ‚Bei uns aber keine und niemand!‘ – Und der Mann im Kreml – ganz alleine im Staat – sagte dann nachdenklich rauchend: ‚Diese dürre hässlich Rote – wie heißt sie doch gleich? Chochlowa? Richtig, die Frau von dem da … – Sie wissen schon – Kuleschow, dass ich diesen stinkigen Stockfisch nicht mehr hier auf der Leinwand erblicke!‘ – Die Hässlichen hatten verspielt. Die Schönheit triumphierte – Russland war schön. Eisensteins Bäuerin in der Generallinie war das aus der Mode gekommene Alte. ‚Solche brauchen wir nicht! Es ist nicht typisch! Was soll man in Amerika denken!‘ – Greta Garbo, Katherine Hephburn, Julie Harris, Joan Crawford, Rita Hayworth – ‚der rote Fisch!‘. Zu untypisch war das für die hässlichen Jahre. – Die große Angst machte sich breit, das Donnerwetter begann – Gott strafe! Gerechte Strafe muss sein! Generälen fiel das Herz in die Kugel. Hatte Kuleschow nicht den Armeegeneral Tuchatschewski einst in der spitz-endigen Budjonny-Mütze gezeigt? Drehte er nicht ‚Die Pfeife von Stalin‘ – ohne jemals drehen zu können.“

„Die Idee war sehr gut“, verteidigt André den Professor. „Natürlich. Kuleschow hatte endlich gefressen, und die Pfeife kippte ihm die Asche aufs Haupt: ‚Ich tue dir nichts, wenn du weiter nichts tust.‘ – Der Professor ist ein guter Professor. Eigentlich ist er schon lange gestorben. Ein Museum. Modell.“

„Er ist die zwanziger Jahre, der Anfang, die Erfindung, die Hoffnung, die Revolution noch im Schwung“, resümiert weise der hochgetriebene Junge vom Norden.

„Jetzt schwingt er dreißig Jahre seinem Ende entgegen, ist ein Wärter der entwerteten Werte, ein ausgestopfter Weihnachtsmann-Löwe.“

„Eisenstein, Pudowkin, Wertow, Dowschenko hat er überlebt …“

„Und ist viel älter als sie. Wer überlebt hat, hat sein Leben vermurkst. Er hätte besser tot sein müssen, um weiterzuleben.“ –

Schwerkrank sitzt Kuleschow an dem Tisch, hüstelt, quält sich im Husten, am Auswurf. Seine Frau, die Chochlowa, streicht ihm den Rücken, und die Assistenten warten nervös und devot. Der Professor erzählt von damaligen Freunden, von dazumal, von den „Zeiten“: „Schwierig war es – viele Kinder der Bourgeoisie studierten damals noch hier. Einige gingen ins Ausland, die anderen hatte die Tscheka selber geholt …“ – Der Professor ist krank. „Jetzt sind nur noch die braven Bürgersöhne geblieben.“ – Er räuspert sich leise vor Schmerz.

„Lew Kuleschow schreibt seine Memoiren“, flüstert André.

„Und er wird sich an die Wahrheit nicht mehr erinnern“, winkt Samwel ab. „Eine Epoche könnte er sein. Er war doch mit allen befreundet. Verschwunden, vergessen im Ruhm, im Schweigen, in Schande. Warum schreibt er nicht, wie es war?“

Der Husten peinigt den Mann, und er verzerrt sich in Qualen. Ist er zerbrochen wie alle, die weitergemacht? – Die Studenten ehren, verehren ihn, streuen ihm einen Kranz auf das Haupt. Er ist der Letzte der Letzten.

„Der Letzte ist nicht immer der Beste“, sagt Sjoma sarkastisch. „Er geht über Leichen hinweg oder stellt sich bloß tot. – Ein anerkannter Meister ist er geworden.“

„Er schreibt seine Erinnerungen auf.“

„Kranke, mit Löchern.“

Wenn Lew Kuleschow da ist und schweratmend spricht, gibt es keinen einzigen freien Platz mehr im Saal.

„Jeden Film müssen Sie sorgfältig antizipieren, vorbereiten, sorgsam mit allen, mit den Schauspielern vor allem. Ich habe als Erster ein detailliertes Drehbuch verlangt. Es war mit den Akteuren bis zum letzten Komma besprochen, erdacht. Und jeder Film wurde danach meist mit den gleichen Leuten gedreht. Den ‚Großen Tröster‘ habe ich zunächst auf der Bühne inszeniert, durchexerziert, habe da schon Kino gemacht ohne Film. Bergmann tut es übrigens auch – dreißig Jahre nach mir … Habt ihr die ‚Mutter‘ gesehen? Pudowkin hat in seinem Film jede Einstellung vorher gezeichnet, jedes Detail war erkennbar, lesbar gemacht und genau definiert. Alles im Film sollte etwas bedeuten, aussagen, verfechten, verteidigen oder anklagen … Es war ein ganzes Jahrhundert darin. Die Montage danach schnitt sich den Sinn und gab die sublime Überhöhung. Das Innere des Menschen wurde durch die Bilder ersetzt, die Psychologie hing an der Schere … Alles entstand im natürlichen Raum. Ich habe Kulissen vermieden, immer nur Natur zusammengesucht – den Fluss, den einsamen Baum, die Wiese, den Schnee auf den Hügeln, von überallher einzelne Stückchen genommen und habe es dann am Tisch zur Einheit montiert … Solch ein Film machte den aristotelischen Regeln den Garaus. Schon Meyerhold hatte ein Bein aus dem Theater gestellt. Modernes Theater kann sich nicht vor dem Vorhang verbeugen. Es wurde demokratisiert, war nicht mehr Salon, sondern das Vorzimmer, die Gesindestube mit dem Hofe dazu. Der Raum erweiterte sich zum Kosmos, das Volk sprengte ihn auf. Dies aber kann in dieser Großartigkeit eigentlich nur der Film realisieren, oder das Theater muss seine heiligen Hallen endlich verlassen … Wir haben zuerst mit den Massen gearbeitet. Später dann kam erst der ‚Streik‘, ‚Potemkin‘, kam Griffith …“ – Kuleschow hüstelt stark, macht eine Geste, bricht ab und blickt sich plötzlich auffahrend um: „Zu viel ist schon gesagt worden, zu weit bin ich gegangen … Alle guten Filme heute schöpfen von dort, entwickeln sich in dieser Tradition weiter … dank unser neuen Gesellschaft … Alles verdanken wir ihr …“

Jetzt hustet er stärker, die Halsadern schwellen wie Stricke beim Henken, das Gesicht ist bläulich ein Weiß, und die Augäpfel bluten vernehmlich. Seine Frau streicht zärtlich über sein Jackett: „Ist gut!“, und der Professor erhebt sich duldend, lehnt sich über den Arm vom devoten Assistenten anbei: „Nach der Pause werden wir spielen.“ –

Die Rast aber zieht sich ungemein hin, und als die Assistenten endlich zum Eintreten bitten, ist der Professor schon mit dem Dienstauto nach Hause gefahren. Seine Frau indessen klatscht in die mageren welken Hände: „Na dann wollen wir mal.“ – Doch die Lust ist weg mit der Zündung. „Wir sind alle nur Assistenten“‚ spricht die Frau traurig gen Tür.

Alexandra Chochlowa – Schauspielerin, Professorin, Ehefrau. Und manches noch mehr war sie ihrem Leben. Sie sprach niemals darüber, dürfte nicht sprechen, dürfte sich überhaupt an vieles nicht mehr erinnern – wer sie war und nicht war, wie alt sie ist – alterlos und verbraucht. Keiner weiß es, und sie weiß es auch nicht genau, hat es vergessen oder musste vergessen. Hat alles vergessen gemusst. Ihr Onkel war Dr. Botkin gewesen, der Leibarzt von Nikolaus II., der am 17. Juli 1918 gemeinsam mit der gesamten Zarenfamilie in Jekaterinburg umgebracht wurde. So konnte sie natürlich nicht mehr diesen Namen tragen, es käme einem Todesurteil gleich. Sie wurden ihre Memoiren gelöscht, sie viel jünger gemacht und hatte somit ihren Onkel nie gesehen oder gekannt. Nach dem Namen ihrer Mutter wurde sie zu „Tretjakow“ umgewandelt. Doch dann erwies sich ihr Vetter, der große Dramatiker und Futurist, Gründer der Künstlergruppe LEF, Sergei Tretjakow, als Volksfeind und fiel 1937 dem Großen Terror zum Opfer. Da konnte sie auch nicht mehr „Tretjakow“ sein, sondern wurde simpel zu „Chochlowa“ sowjetisch geformt. Sehr einfach, unschuldig, anonym, Proletarierin – nur nicht vom Blut.

Besorgt und etwas müde nimmt Chochlowa den zurückgelassenen Zettel ihres Mannes zur Hand und liest dessen Willen den Anwesenden vor: „Jeder Student hat eine Etüde zu schreiben, ohne Worte, eine Stummfilmgeschichte, um sie später auf der Bühne zu stellen.“ Eine ungesprochene Sache soll es sein, in der alles gesagt ist im Raum, in der Gestik, im Körper. Kein abgedrehter, ausgeschalteter Ton also müsste es werden, auch kein ‚Er hat die Sprache verloren‘ oder ‚ein Taubstummer‘, sondern das Wort ist überflüssig geworden, nicht am Platze, zu viel – hier ist gerade genug gesprochen, weil niemand mehr etwas sagt. – Die Ehefrau, Schauspielerin, Mitarbeiterin kneift ihre Augen zusammen, holt ihre Brille hervor und liest weiter: „Der Stummfilm ist die schwierigste Sache der Welt, der Höhepunkt in der Geschichte des Films. Das Bild muss die Sprache substituieren, ersetzt sie und totalisiert die Gestaltung, verbildlicht die Realität. Der Regisseur ist ein Dichter, sein Wort ist die Spiegelung auf der Leinwand und der Rhythmus ihre Montage. Der Stumm-Film – nicht der taub-stumme Film! – der Nicht-Sprech-Film, der Sprech-Film ohne den Mund aufzureißen, ist das große Geheimnis. Er ist in Bildern geschrieben, und man liest das Bild als Poem.“ – Aleksandra Chochlowa faltet den Zettel ihres Mannes zusammen und steckt ihn sorgfältig in den Briefkuvert wieder zurück. –

Hinter einem Tisch zeichnet ein kranker Mann an seinem Leben. Ein Gesicht erscheint im gefrorenen Fenster, weiß, mit einem Auge, das sticht. Es ist der Freund an dem Guckloch, der, mit dem der Kranke weiland auf der Schule malen gelernt hatte. Hastig haspelt der Leidende auf. „Um das Haus gehen, die Tür!“, weist seine Geste dem Freund. Der hebt eine blutige Hand: „Du musst mich verstecken!“, will sie ihm sagen. – „Um das Gebäude und rechts!“ – Auf der Glasscheibe malt der Atem sich ab, und Finger krallen sich draußen ins Holz. – „Einmal herum!“ Der Kranke setzt sich zurück in seinen Stuhl und zeichnet von neuem am Blatt. – An der Tür klopft der Freund, leise, ängstlich, vergeblich – die Tür ist verschlossen und stumm. – In der Stube indessen radiert der Maler am Kopf, es ist eine Arbeit im Stillen. Dann setzt er die Teekanne auf, nimmt zwei Tassen vom Schrank und prüft das Holz in dem Ofen. Er reibt an den Händen, rückt an dem Stuhl und legt die Decke aufs Knie. Da fällt ihm der Freund wieder ein, und er geht über den Flur zu der Tür. Draußen friert der Winter sich aus, und in dem Schnee sind Spuren in dunklen Flecken gerahmt. Der Mann schüttelt den Kopf und dreht den Schlüssel wieder im Schloss. Ihn fröstelt, und er legt einige Holzscheite nach, nimmt die eine Tasse vom Tisch und stellt sie in den Schrank auf ihren Platz. Dann schlürft er zum Fenster: Zwei Männer führen durch den Schnee seinen Freund. Der Atem des Mannes erblindet das Glas, und er wischt mit dem Ärmel darüber. Ein Gesicht starrt in das Fenster: der Freund. – Der Mann schließt die Augen, geht zu dem Stuhl und nimmt die Zeitung zur Hand. Draußen ist Winter. In der Scheibe blendet blakig die Sonne den Schmutz. –

10

Wladimir lockt Sarodnick ins Zimmer und riegelt hinter sich ab. „Setz dich hier an den Tisch“‚ sagt er erregt. „Ich will dir was zeigen.“ Und leise fügt er hinzu: „Aber niemandem davon ein einziges Wort!“

„Gut“, nickt Martin gespannt.

„Nicht ‚gut‘. Schwöre!“

„Ich verspreche es dir.“

„Auf die Ikone!“, verlangt Wowa, und er kramt unter dem Bett ein rechteckiges Brettchen vor mit einer hingedunkelten Farbe. „Es ist Johannes der Täufer.“ – Wladimir bekreuzigt sich und küsst das Gesicht des Propheten. „Leg deinen Zeige- und Mittelfinger darauf“‚ fordert er Sarodnick auf. Der tut, wie es ihm geheißen, setzt sich dann aufs Bett wieder zurück und wartet in Schweigen. Wolodja rückt den Tisch an die Seite, stellt die Stühle darauf, so dass sich ein Freiplatz zwischen den eisernen Schlafstätten bietet. Hiernach legt er Zeitungen auf die Bretter des Bodens und breitet eine große Landkarte aus. Liebevoll streicht er darüber: „Eins zu viertausend.“

„Was ist das?“, fragt ihn der Deutsche.

„Der Plan der entscheidenden Schlacht, der großartigsten, der Großen Schlacht unseres Krieges.“

„Stalingrad?“

„Ach was. Stalingrad war doch nicht das!“, wehrt Wladimir ab, „war die größte Kapitulation vielleicht, war Elend, Kälte und Hunger. Keine Munition, keine Moral und eine Handvoll taktischer Fehler. Stalingrad war kein Kampf, sondern war ein Vernichten, Ausbluten, Tod. Stalingrad war einfach die Hölle.“ – Erregung sprüht in ihm, und er drückt sich dichter an Martin: „Der wahre homerische Schau-Platz ist Prochorowka für mich, ein Borodino des Zweiten Weltkrieges – ein Mann gegen Mann, Held gegen Held, ein Gleiches mit Gleichem.“ – Er zeigt auf die Karte: „Kein Ausweichen, keine Ausreden, kein Ausfall – jeder wollte den Kampf, jeder wollte dasselbe, jeder suchte die Offensive. Ein offener Schlagaustausch war es gewesen mit gleichen, mit ausgewogenen Mitteln: gleiche Waffen, gleiche Truppen, gleicher Plan.“ – Mit einer erhitzten Bewegung öffnet Wowa seinen Koffer, der vollgepackt ist von winzigen Spielzeugen, Figuren, Bleisoldaten, Kanonen. „Ein Panzer von mir steht für hundert“‚ erklärt er und postiert die Fahrzeuge fachgerecht auf die Karte. „Dies hier sind die 500 Panzer und Sturmgeschütze der SS-Panzergrenadierdivision ‚Leibstandarte Adolf Hitler‘, des ‚Totenkopfs‘ und des ‚Reiches‘, da sind die 850 Panzer unserer 5. Gardepanzerarmee.“ – Und im Taumel verteilt er die Miniaturen auf dem Karton: „Auf diesem leicht hügeligen schmalen Geländestreifen von fünf Kilometer Breite zwischen dem Psjol und dem Bahndamm der Strecke Belgorod–Kursk wälzten sich dröhnend und hohe Staubwolken aufwirbelnd die Panzerlawinen aufeinander und gegeneinander“, beginnt Wolodja seinen Bericht und schiebt die kleinen Pappfiguren langsam zur Mitte. „Im Schutze des kleinen Wäldchens dort bewegten sie sich durch die Steppe in Gruppen, und das Geböller der Panzerkanonen flossen zu einem gewaltig anhaltenden Grollen zusammen. Die erste Staffel unserer 5. Gardepanzerarmee drang voller Fahrt in die deutsche Gefechtsordnung ein. Sie hatten enge Berührung, es blieben weder Raum noch Zeit sich vom Gegner zu lösen und die Gefechtsordnung wiederherzustellen. Aus kürzester Entfernung abgefeuerte Granaten durchschlugen die Bugpanzerung der meisten Kampfwagen. Häufig explodierten dabei Munitionen und Treibstofftanks, und die abgeschmetterten Panzertürme wurden Dutzende Meter weitergeschleudert.“ – Wladimir hatte seine Spielsachen auf das Schlachtfeld geschoben und ließ sie abwechselnd von beiden Seiten beschießen, um sie danach mit einem exaltierten Enthusiasmus zu vernichten. Alsdann holt er neues Material aus dem Koffer und ordnet es rasch auf die Ränder der Karte: „Als sich gegen Mittag erwies, dass es nicht möglich war, direkt auf Prochorowka durchzubrechen, entschloss sich das Oberkommando der 4. Panzerarmee, mit der SS-Panzergrenadierdivision ‚Totenkopf‘ und der 11. Panzerdivision über diesen Brückenkopf da im Psjol-Knie linksflankierend in den Rücken der 5. Gardepanzerarmee vorzustoßen. Nach mehreren mit 100 Panzern und Fliegerunterstützung geführten Angriffen erreichte der Vorstoß den Ort Poleschajew am nördlichen Ufer des Psjol, wo er jedoch zum Stehen gebracht wurde, – während die von Westen auf Prochorowka vorgehenden Verbände des II. SS-Panzerkorps in heftige Kämpfe verwickelt wurden, unternahm das III. Panzerkorps Anstrengungen, von Süden auf das Schlachtfeld durchzubrechen, den gegen die SS-Divisionen fechtenden Verbände unserer 5. Armee in den Rücken zu fallen und die zwischen den beiden Quellflüssen des Donez hier stehenden Kräfte einzuschließen. Der Angriff mit 200 Panzern, den die Luftwaffe gut unterstützte, erreichte bereits in den Morgenstunden Rschawez. Es gelang, einen Brückenkopf auf dem rechten Ufer des Donez zu bilden und von dort aus weiter nach Nordwesten zu dringen. Angesichts dieser Flanken und Rückenbedrohung musste die 5. Armee einen erheblichen Teil ihrer Reserven mit 200 Panzern dem deutschen 3.Panzerkorps entgegenwerfen. Diese hielten die Deutschen verlustreich etwa 15 Kilometer südlich Prochorowkas zwar auf, aber trotzdem blieb die Lage für sie äußerst gespannt. Unsere übrigen Armeen, die im Laufe des Nachmittags erst zum Angriff übergehen konnten, erzielten an den Flanken einzelne kleine Einbrüche. Damit verhinderten sie das weitere Vordringen der deutschen Truppen in Richtung Obojan. Entscheidende Resultate erreichten sie aber nicht. Die Offensive der beiden größten Armeen war aufgehalten und heroisch gescheitert. Zu Ende war die größte Panzerschlacht aller Zeiten, unentschieden, remis wie Borodino. Und wie damals war es der Wendepunkt, war es die Grundlage für unseren endgültigen Sieg.“ Feucht glänzt Wladimirs Wange. Er scheint aufgerührt gewallt und von Fieber. Martin nimmt seine Hand, drückt sie anteilig-teilend, und unergründlich unerklärlicherweise bleibt er lange noch auf dem Bett Wolodjas ruhen und starrt auf die Karte mit ihren Haufen von geworfenen, zerstörten und umgekippten Figuren.

11

In den Winterferien reist Sarodnick nach Haus, wählt sich einen Kamerastudenten aus Babelsberg und dreht mit diesem die Fastnacht in seinem sorbischen Heimatort.

Als Kind hatte Martin stets teilgenommen an dem Fest, an diesem Spiel, hatte sich verkleidet und war von Haus zu Haus durch das Dorf Zampern gegangen: „Gebt mir ein bisschen Geld oder Eier, Speck oder Butter!“ – Später zogen die Großen, die Männer, und die Kinder und Frauen blieben erwartungsvoll ängstlich daheim.

Zeitig am Morgen sammeln sie sich auf dem Platz vor dem Gemeindebüro, und der Frost treibt den Korn in den Rachen, treibt der Korn den Frost aus dem Bauch. „Wer ist dort gekommen?“ – Ein Paar mit Wasserköpfen am Hals.

„Sicher Paulick und Jatzwack.“ – „Nein. Paulick ist doch der Schornsteinfeger daneben.“ – „Ach was! Das ist Lehmann.“ –

„Der Bär …dieser Riese ist wer?“ – Brombog reitet auf der Ziege einher, und eine Braut in dem Schleier, ein Zigeuner, ein Bettelstudent, eine Alte mit einem Storch und Kinderwagen promenieren dahinter. In der Karre plärrt wütend der Balg. „Bolke ist das, könnte ich wetten.“ – Ein Teufel mit mistiger Gabel, eine Stadtdame unter einem riesenradigen Hut, ein Advokat auf dem Schimmel, ein Apotheker mit giftgrünen Tabletten treiben einen Leiterwagen mit Marionetten beladen. Pamarz schreitet als trächtige Kuh mit einem Euter wie vier große Schläuche, Wietsent trompetet als Feuerwehrmann und spritzt Wasser aus einem Kübel vorbei. Ein Polizist trillert, und ein Engel fliegt schnell hinter den Busch mit unschuldiger Miene. Aus dem ehemaligen Kaiserreich aber marschieren Soldaten mit Pickelhauben und Bajonetten, drei leichte Mädchen flirten wie Grazien, und ein Fliegenspritzer spritzt auf sie ein. Ein Indianer, zwei Schauspieler, ein Gaukler, ein Mohr, ein Gespenst. Eine Hexe reitet rücklings in einer dreirädrigen Kutsche, die mit lahmen Pferden geschirrt. Auf dem Bock sitzt Krabat verschmitzt und kaut an Gedanken. Nun sind sie alle beisammen, die „Körner“ gesammelt, geschüttelt, die Kleider gezogen, hat man dahinter geblickt und geraten, gewusst, wer wer ist und wer nicht. Noch einmal wird heftig gelacht, am Euter gezupft und Bier in die Gläser gekippt. „Zum Fotografieren bereit!“ – „Die Kleinen nach vorn! Die Braut, die mit den Brüsten, die ohne Löcher, in die Mitte zum Mann! Die Pferde nach hinten! Ruhe! Das Bild wackelt. Steht eine Minute mal still. – Der mit der Leiter! – Der Engel! Der Hut! – Alle mal freundlich!“

„Und die Musik?“ – „Die Kapelle mit Pauken und Posaunen! Und dahinter die Frauen in den sorbischen Trachten.“

„Keine Musik!“

„Haut auf die Pauke!“

„So. Fröhlich das Herz! – Die Hochzeitsbitter links und rechts von dem Ganzen! Nach außen! Die Flasche ist nicht zu sehen! – Klick!“

„Jeder auf seine Plätze!“ —

Vorn marschiert die Musik, alsdann kommen die Bitter, die „Damen“, die Herren, die Kühe, die Pferde, die Engel, die Teufel – zu aller guter Letzt Krabat in seiner alten wackligen Kutsche. „Das den keiner nach hinten überholt! Man wüsste sonst nicht, wer uns fehlt.“ – „Eins, zwei, drei – einen Marsch!“

„Wir fangen beim Bürgermeister an und danach geht’s linksherum weiter.“ Die Blasmusik paukt, das Schifferklavier klirrt, die Teufelsgeige krächzt und die Engel fliegen dreimal über das Dorf. In seinem dicken Strafregister blättert der Advokat: „Herr Bürgermeister schönen Tag!“ – Alle sind aus dem Häuschen, die Trompeten zwitschern ein Ständchen und die Hochzeitsbitter bitten zum Tanz. Den wendischen Frauen wirbeln die roten, grünen oder himmelblauen Röcke, und im Takt drehen die Schleifen die Runde. Schnaps verschenkt sich wie Freude, man schüttelt sich, lacht, wischt an den Lippen. In die Liste tragen die Bitter die Namen: „Wie viel wolltest du gleich geben?“

„20 Mark.“ – Es wird notiert und bedankt und ins nächste Haus eingezogen: „Schönen Gruß!“ – Die anderen besetzen den freigewordenen Platz. Die Kuh spritzt ihr Bier in die Eimer, die Soldaten drohen mit Krieg, der Schornsteinfeger jagt Kinder und verschmiert seinen Ruß an den hübschen weißen Mädchengesichtern: „Man hätte sich auch loskaufen können.“ –

Auf dem Hof demonstriert das Brautpaar die Liebe, und die Beglückte zeigt stolz das Falsche von ihr. Der Engel aber sammelt brav Eier für seine verlorenen ein, und allen hängt eine Büchse am Hals: „In den Schlitz bitte werfen das Geld.“ – Genau um die Hälfte betrügt die Zigeunerin ihre Klienten. Sie hatte es aber ihnen schon vorher geweissagt.

Auf jedem Hof singt die Musik, jauchzen die Stimmen, rollt das Geld in die Büchsen verhext, und der Feuerwehrmann löscht mit dem Wasser die hitzigen Köpfe. Der Polizist indessen schreibt die Strafzettel aus. Der Zug rattert durchs Dorf, und die Kinder verfolgen ihn ängstlich mit Abstand: „Ist das ein Fest!“ – Der Bär tanzt mit der Tschertschick eine Runde für Speck, der Fliegenspritzer schüttet tote Fliegen aufs Haupt, und die Ziegen lecken die Stiefel. Jedem Haus gilt die Offerte, jedes Haus ist zu einem offenen, öffentlichen erklärt, und die Lust biegt sich vor Freude den Buckel. – An dreien der Häuser aber baumelt ein Schloss, und man sagt: „Das sind Zeugen Jehovas. Für die ist das Zampern vom Teufel, wie auch die Wahl, die Gemeindeversammlung, das Erntedankfest im Herbst.“ – Die Hexe macht drei Kreuze ans Tor, und der Feuerwehrmann wirft einen Knallfrosch über den Zaun, dann torkelt man weiter zu den offenen Türen. Die Kutsche aber mit den vier lahmen Pferden in ihrem Geschirre fährt auf, und die Peitsche schlägt gegen das Tor. Erschreckt weicht das Holz, der Wagen rollt auf den Hof, und Krabat, witzig gewitzt, erzählt seine Geschichte. Die Kinder klammern sich vor Schreck an die scheckigen sorbischen Trachtenröcke, die Frauen kichern in ihre Tücher, und die Alten blicken mit zwinkerndem Auge misstrauisch hinter den Schwank: „Das ist doch Sarodnicks Jüngster!“

12

Hinter vorgehaltener Tür hat Tretin dem Ältestenrat des Kurses etwas zu sagen. Inständig lange drängt ihn der Professor, dass er noch einmal auf gut Freund melde, was er unlängst ihm selbst bereits angezeigt hatte: Das Verhalten Sarodnicks ist nicht kursgerecht, wäre sowjetfeindlich gar. Tretin aber hält hinter dem Berg, lauscht bloß dem kurzfliegenden Atmen seines Professors.

„Bitte, Jakob, wiederhole, was du mir und dem Rektor mitgeteilt hast.“ Tretin erhebt sich, fühlt plötzlich Schwäche in seiner schmalen Brust, lässt sich jedoch nicht von den rosshaarigen Beinen holen. Mit gesenkten Lidern kaut er genüsslich jedes Wort auf der Zunge:

„Ja. Sowjetfeindlich!“ – Ratlos muckt sich das Kollektiv: „Wir verstehen das nicht.“

„Na schon raus mit der Sprache!“, drückt der Professor kraftvoll auf die Tube, und unehrenvoll tropft es von den auftragenden Lippen Tretins zu Boden:

„Sarodnick macht oft Bemerkungen … zum Beispiel über die Tschechoslowakei, über Dubček, über die Panzer …“ – Jakob sucht die Blicke seines Beschützers: Kuleschow kann ihn doch jetzt nicht alleine hier zappeln lassen!

Zu Hause würde er ihm jetzt einen Fisch braten, bis er blau wär. Zu Hause! Ist nicht Lew schließlich und endlich sein Vater, „wie ein Vater“, „an Vaters statt“ – ein versprochener Vater nun doch?

Kuleschow hatte mit Tretins Vater einst mal Freundschaft geschlossen – hinter verschlossenen Türen – und hatte sich hinter dessen Rücken geschickt versteckt in den Jahren der „Der Großen Zeit“, der wechselnden Ämter, des „Heute-was-und-morgen-Nichts“. Sein Vater war schließlich ein angesehener Maler, „offiziell“, war angesehen, genehmigt, gelobt von der Hohen Stelle im Staat, und daher wohlgesehen von allen, ein liebend gesehener Gast: „Mit dem kann man sich sehen lassen! Der malt nur die festgesessenen Köpfe, solche die nicht wackeln, die keine Miene verraten, die man sich unbedenklich in sein Arbeitszimmer aufhängt.“ – „Der kennt sogar ‚Den‘ persönlich!“, flüsterte man. – „Der ist höher als der!“ – „Das ist eine ‚Persona mit Grata‘!“ – „Wer den kennt, wird nicht mehr verkannt, und dies hieße, sein Süppchen im Sicheren kochen!“

Mit Jakob und dessen Vater hatte Lew Kuleschow häufig an einer Tafel gegessen, aus einem Topfe gegessen, hatte ihm seine Sorgen verborgen und ihm einige Male im Vertrauen gesagt, dass die zwanziger Jahre für ihn endgültig vorüber, über, über Bord wären. Von dem Maler hernach erfuhren die Leute, die mehr waren als Leute, was für ein fortschrittlicher und parteilinienfrommer Mensch Kuleschow geworden ist, dass er keine Projekte mehr hat und nie und nimmermehr davon träume, einen Film fürs Kino zu machen. Sein Freund gab ihm da von hinten und vorne vollkommen recht. Und Recht gab ihm Lew wieder dankend zurück, als der sich von der Ehefrau trennte und sich den gemeinsamen Sohn aneignete wie die öffentliche Meinung Gewalt. Die Mutter wurde nicht für „würdig“ erklärt, musste Moskau mit leeren Händen verlassen und wurde später ins Lager geschickt. Den Sohn hatte der Vater, und er ließ ihn nach seinen eigenen Bildern erziehen.

Als jedoch nachmals eine ganze Epoche ins verwelkende Gras biss und des Malers Gönner ihre Lorbeeren büßten, stürzte der alte Jakob wie eine Laus in eine selbstgezündete Kugel: Er hatte es nicht für möglich gehalten. Wer hätte auch bei ihm noch bestellt? Der Laden war dicht. So aber war er in allen Ehren rechtzeitig verschieden: „Man muss in Würde abtreten mögen!“, bewunderte ihn sein Freund Kuleschow. – Noch kurz bevor Jakobs Vater die Pistole in den staunenden Mund zielte, verfasste er einen Brief an diesen: Er möchte doch um seinen Sohn sehen, kümmern, schützen und fördern. Und der frühe Regisseur schwor es auf dem Staatsbegräbnis des tragischen Mannes. – Die Mutter aber erreichte ihre staatliche Gutmachung erst an ihrer Bahre – Mühlen mahlen nicht wie Maler so schnell.

Die Großmutter nahm sich des Waisen an mit dem Wink von dem Freunde: „Für immer auch mein.“ – Tretin wuchs dem Alten ans Herz – hatte er doch seines – und mit ihm seinen Sohn – im Kriege verloren. Er „bemutterte“ ihn, ließ ihn rufen, prüfte die Arbeiten in der Schule und übergab ihn überdies den alten Erziehern, den alten Lehrern, den alten Genossen: Blieben diese doch ihrem glücklicherweise nicht vorzeitig „entlarvten“ Meister treu bis ans Grab und auch darüber hinaus.

Tretin fiel dadurch die Freude in seinen zu kleinen Schoß: Er bekam bessere Noten, bessere Kleidung, bessere Nahrung – er war ein Kind mit „vorbildlichem“ Vergangenheitsgrad. – „An Vaters-Statt“ nahm Kuleschow ihn ins Filminstitut, anstatt und an Statt – staatlicher Aussteuer-Statt. Und Tretin hielt die Klinke von Lews Wohnung in seiner eigenen Tasche. Das wissen alle im Institut, das nutzen viele, das nützt einigen auch: „Jakob, nimmst du mich zum Professor nach Hause mit?“ – „Was hat der Professor gesagt?“ Tretin lässt es sich auskosten im Munde. Jedoch Martin schmeckt das nicht sehr: „Was geht mich deren Vergangenheit an!“ –

„Was meint die Gruppe dazu?“, fragt Kuleschow. Und der Kurs ist gegruppt und gespalten: „Von wo weht der Wind eigentlich?“ – „Ist es nicht gut Kirschen essen dabei?“ – „Ist es rot?“ – „Eine Ampel?“ – Samwel steht auf:

„Ich bin zehn Jahre in der Partei und fresse mit Sarodnick an einem Tisch. ‚Antisowjetisch‘ – ist doch eine Fatz. Martin ist, wie er ist, und wie die meisten von uns. Der hat es im Kasten, sabbelt, wie er einfach so denkt und ist Kumpel und Kimme. Ich bin sein Freund und lege meine Hand ins Feuer für ihn. ‚Antisowjetisch!‘ – dass ich nicht lache. Tretin soll seine Worte vorsichtig wählen! Ich warne dich Zapp!“, wendet er sich an den Verräter. „Das Kollektiv bist nicht du, das Kollektiv bin ich und die anderen.“ – Tretin ist in seinen Holzsitz geklappt.

„Das, was Samwel sagte, kann ich nur noch bestätigen“, nickt Ljuba, die Lehrerin Ljuba, deren Mann und ihr Kind in Woronesch blieben und mit Ungeduld duldend warten auf sie. Ljuba, die jeden Morgen leise klopft an die Tür, auf die Bettkante zu Wowa sich setzt und ihm zart unter der Decke auf und ab streicht: „Wowotschka, du musst jetzt aufstehen, mein Kater.“ – Diese Ljuba knüpft eine neue Schleife in ihre Bluse, und ohne aufzusehen, sagt sie: „Das ist die Wahrheit!“ – André der Gruppenälteste, dreht sich zwei Meter in die Luft und saugt diplomatisch daran:

„Herr Professor, ich glaube, das ist alles ein großes Missverständnis. Jakob hat, seiner Jahre wegen, einfach nicht den Hintergrund, den eigentlichen Sinn in den Späßen, in den ironischen Äußerungen Martins begriffen.“

„Damit wäre die Sache abgeschlossen“, wischt der Professor die Unannehmlichkeit von dem Katheder, und mit einem Blick zu Tretin fügt er hinzu: „Mit Jakob red’ ich später noch selbst.“ –

„Die hätten dir ganz schön die Eier gebraten!“, meint Sjoma am Abend zu Martin. „Und das mit der Tschechoslowakei – behalte es lieber für dich“‚ ergänzt Wladimir. „Prag liegt zu weit weg, um es von hier richtig sehen zu können.“

„Mein Vater hat persönlich Dubček gekannt“, sagt plötzlich Wasili und drückt sich seine Locken zurecht.

„Dein Vater ist in der Partei?“, fragt Sarodnick neugierig den Bulgaren. „Sein Vater ist die Partei“‚ antwortet Sjoma. „Er hat im Politbüro sein Büro.“

„Sie haben auf der gleichen Schulbank gesessen“, erklärt Wasili‚ „auf der Parteihochschule in Moskau.“

„Die gleiche russische Küche und auf die gleiche russische Bank – für ihre Dienste den Lohn“‚ lacht Sjoma.

„Aber sie haben daraus nicht die gleichen Lehren gezogen“‚ ergänzt Wladimir schlau. „Die eine war kurz, die andere tief.“

„Alle zehn Jahre rückt er weiter nach oben“, glossiert der Armenier die Karriere von Wassilis Vater. „In dreimal zehn Jahren hat er nur noch unter sich einen winzigen Rest von den auserwählten Gesalbten: dreimal gewünscht, dreimal darfst du raten, dreimal geht es in die Hosen. Es hängt an der einmaligen Höhe, und die hängt bis sie fällt – die hängt, bis sie henkt. Sein Vater hofft auf das Letzte. Er will in den Himmel.“

„In dreimal zehn Jahren ist sein Vater dort, wo sein Banknachbar stand“, unterbricht ihn Wolodja.

„Vielleicht. Aber die Überlebenden leben heute sehr lange“, widerspricht ihm der andere.

„Zu Hause bei uns klebt ein Foto im Schrank“, erzählt Wasili weiter, „die ehemalige Klasse des Vaters von Moskau: In der vordersten Reihe, Seite an Seite, sitzen mein Vater und Dubček.“

„Es war nicht die richtige Seite gewesen“‚ weiß Samuel jetzt.

„In Moskau waren sie das allererste Mal zusammen, und auch das letzte Mal war es in Moskau gewesen. Das war Jahre danach.“

„Vor dem letzten Tag Dubčeks“, ironisiert der Armenier.

„Sie saßen da noch vor kurzem in Moskau hart auf der Bank, alle gemeinsam, die Genossen. Mein Vater sagte zu ihm: ‚Wir sind doch Freunde gewesen!‘ – Dubček sah sich um und fing an zu … weinen. Von den Bänken tröstete man ihn. ‚Wir sind das letzte Mal Freunde gewesen!‘“.

„Danach hat er ihn nie wieder gesehen.“

„Siehst du, Fritz, so schnell kann das gehen! Einmal probiert und dann in die Sterne gerotzt. Und du willst im Institut Vorträge halten! So etwas ist für die Fotz. Nimm dir ein Mädchen und schlaf mal darüber!“

„Ein Mädchen? Als wäre das hier bloß so einfach.“

„Du Klöppel bist natürlich verwöhnt. Bei euch lassen ja auch die Kinder schon an die Möse.“

„Na, na.“

„In Europa nehmen die kleinen Mädchen bereits Pillen“‚ bestätigt Wasili. „Was heißt ‚kleine Mädchen‘?“, fragt Martin.

„Dreizehn, vierzehn, fünfzehn usw.“‚ sagt Sjoma.

„Das glaube ich nicht“‚ zweifelt Wolodja.

„Oh ja! Ich leg dir die Eichel unter den Hammer. Da findest du garantiert keine mehr, die Jungfer noch wäre.“

„Ganz so schlimm ist es nicht“, streitet der Bulgare. „Samwel übertreibt wieder wie immer.“

„Meine Fresse! Übrigens, Fritz, erzähl doch mal! Bei euch gibt es jedes Jahr im Frühjahr ein Fest.“

„Hm. Und?“

„Und? – Da werden die kleinen Schnecken geknackt. Alle vierzehnjährigen Mädchen springen über die Klinge. Stimmt doch?“

Sarodnick wird rot, stottert, lacht hilflos und spürt die Augen auf sich gerichtet: „Na?“, fragen sie, und „Das kann doch nicht sein!?“ – Was soll er ihnen nur antworten? „Es gibt bei uns sicher für die Kinder, die die achte Klasse beenden, eine Feier …“

„Na bitte!“

„Nein! Das ist so eine … das ist die Konfirmation.“

„Was für Zeug?“

„Oder auch Jugendweihe.“

„Was hab ich gesagt? Weihe. Sakrale Weihe, wie zu vorchristlichen Zeiten: Das Mädchen wird dem Schwanze geweiht.“ – Und Sarodnicks abwehrende Worte verschlucken sich unhörbar im lauten Gelächter.

13

Beides hatte Martin damals gewollt, wünschen müssen unter Nachhilfe und Druck: Konfirmation für die Eltern und für das Dorf, die Jugendweihe jedoch für die Schule, für seinen Lehrer, der geradeheraus ihm erklärte: „Ohne Weihe – keine Oberschule, und ohne Oberschule – kein Studium.“ – Damit hatte man ihm freilich die Unschuld genommen, die Unschuld der freien Entscheidung, das, was vor der Vergewaltigung steht.

Die Bibel und „Weltall, Erde, Mensch“ schenkte man ihm: zwei Bücher – für jede Hand eins, für jeden Glauben einen Titel oder für den Nicht-Glauben eine Erklärung. Als Vorhang oder als Fortsetzung las sich die Heilige Schrift als ein hinter dem Weltall, ein „Was kommt nach dem Buche der Erde und unseres Alls“. – Sie war Strenge für Martin, schwarzer Ornat, war weiße Gesichter und auswendig gelernte Gesänge. Die Konfirmation indes war das Dorf, die Isolation, war das Ghetto der Religion.

Manchmal hörte man hinter dem Altarraum Gelächter, das aus den Ruinen kam, welche die Kirche – die selbst fensterlos, turmlos, mit abgeschlagenem Haupte – umgaben, umtrauten, trauerten, den Krieg beschworen und „Gott bewahre“ noch schrien. Dieses Lachen war ein Schieflachen also, eins aus den Trümmern, in denen die Stadtkinder Tabak verteilten und Seiten aus ihren Heften fetzten, um sich Zigaretten zu drehen. Zu Hause sagten sie „Religionsunterricht!“, hier aber starrten sie in die Asche, die glühte, verschluckten das Husten, und ihre Augen warteten auf das Wunder.

Zwei Mal in der Woche, zwei Mal Gottesdienst mit ängstigen Fragen, die oben hängenblieben im dritten Gestock, im wurmkränkelnden Gestühl, das knarrte, wenn man dranstieß. Unten freilich saßen bloß die Dorfkinder in der Buße, Kinder mit Eltern, die von früh bis abends auf den Feldern rackerten, die wussten, dass es zu Essen nichts gab, wenn die Ernte verreckte. Wer könnte da schon helfen, wenn nicht der liebe Gott? Wer könnte die Arbeit verfluchen, sonntags und feiertags und abends und nachts? Und wer könnte verzeihen und die Verzweiflung nehmen und geben und nehmen und weinen und wissen, dass jemand einem zuhörte, wenn die Eltern schon nicht, die abgenutzt, Ohren verschlossen, und verschlissen die letzte Kraft gaben für Schläge, um den Ärger irgendwo in die Ecke zu werfen? Die Schuldigen saßen zu weit. – Zwischen diese Kinder, zwischen Dorf und die Stadt, zwischen Arbeit und Tun, zwischen Demut und Trotz hatte sich Martin gesetzt. Er fuhr die fünf Kilometer in die Schule und nur in die Schule, denn für mehr, für Freundschaften, für Spaziergänge war die Stadt für ihn Ende der Welt, „für den Hund“, unrückbar, unreichbar, und selten gewährte man ihm den längeren Atem dorthin. Immer war es nur ein Moment, ein Blitzmoment, ein Sprung, ein „Satz“ und geschafft. – Das Dorf lag näher gewiss, aber für Martin war es noch weiter, um in sein Leben zu greifen: Andere Kinder, andere Fragen, andere Welten wuchsen da drin. Er wohnte dazwischen, war Zwischenkind – mitten hinter dem Walde, mitten hinten und vorn. Sein Vater war Lohnarbeiter, seine Mutter und Großmutter waren Bauern, das machte zusammen einen schönen Arbeiter- und Bauernsohn wohl. Wäre es bloß so einfach dieses Gemisch aus Eigentum und geeignet fürs Schuften! Der Bauer gab dem Arbeiter Fressen, und am Sonntag gingen beide zur Kirche. Ein Rucksackarbeiter war der Vater, und auf dem Rücken hatte er immer etwas in stiller Reserve – kein Arbeiter also, kein echter, keiner nach Marx, denn er ging freiwillig in die Fabrik. Aber auch kein richtiger Bauer, denn zwei Kühe machten die Sahne nicht fett. Dafür waren die Brotstullen dicker, und der Sohn lief zum Religionsunterricht – wie alle im Dorf. In diesem Punkt war Martin also das Dorf, im anderen hingegen standen die Jugendweihe und die Arbeiterluft. Martin schnüffelte an beiden: Fuhr zur Schule in die Stadt und war nachmittags auf dem Feld, ging in die Kirche und ebenso zur neuen Aufklärungszunft.

„Weltall, Erde, Mensch.“ Da gab es Filme und Exkursionen, und da besuchte man das Hygienemuseum mit mahnenden Worten: „Wer onaniert, dem steigt es zu Kopfe! Oder: Wer onaniert, dem bläst es den Geist aus, und er wird demzufolge ein Blöder. – Finger davon!“, sagte der Leiter, „das könnte ins Auge gehen und tiefer.“ – Und die Kinder schauten sich in die Augen und suchten darin zu begreifen, wer unter ihnen ein Blödian wär’.

Im Frühjahr reisten die Kinder nach Weimar zu Goethe und Schiller, während Nietzsche stillschweigend im Grabe verblieb, grabstill, ohne ein Wort, denn bestimmt hat so einer auch nicht gelebt, hat vielmehr den Geist sich überschnappen lassen von der Un-Onanie, vom Gar-nicht-geliebt oder doch von Onanie auch: Sich ruiniert in dem Kopf von der Sich-Liebe, vom „Immer nur begatten das Ich“. – Darüber aber sprachen sie nicht, diese Kinder, die sich aufklären ließen von deutscher Klassik und vor Goethes Ei im Gartenhaus staunten. Von Weimar chauffierten sie zu Fichte und ins Weltplanetarium nach Jena. Das war eine Kugel in Weiß, oder eine Halbkugel besser, ein zerschnittener Globus, in dem die Bänke drum herum ellipsenförmig aufgestellt waren. Die Kinder starrten auf die Decke, warteten auf die Erscheinung, dass die Tünche zerfließt und der Globus zerplatzt. Ziemlich dicht saßen sie, waren erregt, und auch Angst spielte dazu, als das Licht schnell verlosch und lange nur Dunkelheit herrschte. Eine Hand fasste plötzlich Martins, ein Mädchen drückte sich enger an ihn, suchte die Augen und suchte den Mund. Die Sterne kreisten um ihn, und die Schatten zogen über Gesichter, die hinauffuhren in Monde, in Milchstraßen – ins All. Martin hatte die Lippen des Mädchens, hatte seine Zähne im Mund, sah die Sterne in seinen Haaren, auf seiner Brust, und er tastete in die Sonnen, berührte die Wangen, spielte zu den Himmelskörpern hinauf. Aufgerührt spürte er den Kosmos in sich, griff in das All, das mählich sich drehte, und die Lichtpunkte flohen und flossen ins Ich. „Nicht gehen!“, flüsterte sie, „ich halte sie fest.“ – Und Martin nahm die Sterne, saugte das Licht zwischen das Dunkel und atmete es gierig in sich. Schmerzhaft erschrocken rauschte es hin. Ihre Hände glitten herab, er küsste ihre Brüste im Wall, und seine Finger fanden die Bahnen in Gräben. Das Blut rann auf der Lippe, die Hände klammerten, öffneten die Gestirne und ließen die Freude, steigen ins All, in die Unendlichkeit, in den Fluss, in den Sprung, in das Nichts. –

Das Kreisen wurde ein Karussell, die Lichtfetzen jagten die Bahnen, und zwei Sterne stürzten in eins. Das Mädchen schütterte, taumelte, das Beben lief wie eine Schlange zu ihm, kehrte im Kreise, zog über die Erdwelle hin. Fasern spannten in Lust, und die Hände glitten am Ende ins Zittern, ins Herz mit dem Schlage aus Glut. Er ergoss in die Wonne, lief über die Arme, mischte sich mit den Sternen – wurde zum Milchstraßenfluss. – Hernach erloschen sie alle, das Kreisen beschloss, der Globus wurde zur Decke, und die Decke zum Kalk. Man rieb sich die Augen, die Lampen schmerzten darin, man suchte zu kennen und verzagte vor Mut. Sie war Ricarda, mit Lippen, die rot-schwollen waren. „Martin“, sprang es von ihnen, „ich fühl dich im Fuß.“ – „Du hast Sternschnuppen im Kleid“‚ sagte er und war für lange entsprungen. –

Später traf er sie wieder – am ersten September, am Tag, als für ihn eine neue Schule begann: Ober-Schule, ein Gymnasium für heute, eine Schule für die, die besser waren als die anderen, besser nach Meinung der Lehrer, nach Meinung der Zettel, die man zweimal im Jahre verteilte. Eine Belohnung war es, und die zog über vier Jahre sich hin, eine Standleiter, die von Grundschule, Mittelschule, Oberschule bis zur Hochschule sich streckte. In die andere Richtung aber wäre nur Sturz, wäre ein infantiles Geheule. Nach acht Klassen waren es vier für Sarodnick noch in der oberen Schule – angesammelt, gesiebt, geordnet aus den vielen mittleren Schulen im Kreis. Ein kleines Häufchen sammelte sich zum Viellernen, Besserlernen, Vergessen. – Unter ihnen saß auch Ricarda aus Neudorf. Neudorf, weil neues Dorf, und neues Dorf hieß ein Ort mit einer schon vor Jahren geschaffenen Genossenschaft für die Bauern, war so viel wie Vorreiterposten, eine Aktivistengemeinde, ein Voraktivist. Ricarda Kaiser war das Kind vom Vorsitzenden dieser Genossenschaft, der ein Abkommandierter vom Landwirtschaftsrat im Bezirk war, der den rückgewandten Bauern der anderen Dörfer auch vorführen konnte und vor allem sollte, was Zukunft hieß und was ihre Stunde geschlagen. Aus diesem Grunde konnte seine Tochter auch nur eine Jugendweihtochter sein – ohne dieses Halbe und Halbe. Noch dazu damals in diesem entscheidenden, in diesem wichtigsten Jahr, als der Sturm auf die Bauern anhob, als der Auszug der Vorposten begann und zum Einzug der Noch-Besitzer ins Allgemeinwohl und Habenichts Stadium führte: Die Proletarisierung der Bauern, das vollprozentige Genossenschaftsdorf nannte es sich.

Ricardas Vater streifte durch Lande, rührte kräftig die Trommel, redete Stunden, zerredete Nächte, hob warnend den Finger, die Fäuste, gab zu denken, zu schenken: Den Ersten kam er mit Autos, den späteren mit Zement und mit Schlachtscheinen – die Letzten bissen die Schweine. Auch in Martins Dorf, in Sorbwinkel war Vater Kaiser gewesen – bei Metaschk, bei Paulik, bei Petschick, bei Sarodnicks in dem Haus und agitierte, propagierte und drohte. Seither kannte man ihn nicht mehr, wollte man ihn nicht mehr sehen und hören, sagte: „Was mischt der sich hier bloß ein!“ – Martins Mutter hatte schnell ihre Kühe verkauft, hatte sich verkleinert, verwinzigt von sechs Hektar auf ganze drei Morgen, wurde vom Bauern zum Groß-Schrebergarten-Besitzer. „Schuld hat die Kolchose“, schimpfte sie, „die LPG, der Fortschritt, der Kaiser.“ – Zwar kam man gerade noch einmal herum – von dem Genossenschaftlichen, von dem Gemeinen – , aber zurückblieb der Bauer, zurück blieben die eigene Milch und die Butter, blieben die fetten Jahre, der Acker, der 16-Stunden-Tag und das Jahr ohne Urlaub. Martin wurde zum Arbeiterkind, zum ganzen, zum echten, ohne Geruch von Sahne im Haar. — Ricarda jedoch war stolz auf den Vater. Die Schlacht war gewonnen, der Staat 100-prozentig – ein Volk, eine Gemeinde –, und der Bauer eingegliedert ins Wohl und Wehe für alle. Ricardas Vater schritt ganz vorne mit an. Martin indes verfluchte die Tochter oder schämte sich wegen der verlorenen Sterne.

So oder so, er ging ihr aus dem Wege, obgleich sie in derselben Klasse saßen und lernten. Er konnte den Vater ihr nicht verzeihen oder ihren Fortschritt, ihr Weiter-Sein, ihre Überlegenheit in den Fragen – „In welchen eigentlich denn?“ –, in Fragen der Liebe. Martin spürte es, fühlte, dass sie ihn mochte, möchte für immer, für lange, für mehr – für das ganze Milchstraßensystem. Allein, er hatte ihr nur die Furcht zu bieten und ein wenig seichtes Gesabber und kaltes Gelächter dazu: Einer, der nimmt sich selber nicht ernst. Er ging seiner Wege, Umwege, um sie weit herum und sah vier Jahre ihr nicht mehr direkt in die Augen. Ab und an nachts wohl, wenn er träumte, wenn der Stoff haftete am Leib, und er am Morgen sich abwusch vom Schleim, spürte er sie: ein grausames Spiel – Spielverderber, verdorbenes Ei. Vier Jahre. Beinahe.

Einmal noch, in der Hälfte der Zeit drang er in sie ein, verstohlen, wie ein Dieb, in ihre Wäsche, in ihre Gedanken: Er hielt ihr Tagebuch in den Händen, wollte lesen, blätterte drin. Seinen Namen konnte er entzifferte, und der Kopf tat ihm weh – das Kreisen wie damals begann, die Nacht, das Zeitlose, das All. Dann war sie plötzlich in die Klasse getreten, berührte ihn, sagte irgendetwas und suchte den Blick. Der aber war in dem Absatz, im Wegfall, mit Augäpfeln ganz weiß und Erschrecken. Roh stieß er sie fort, und das Buch fiel schreiend zur Erde. – Martin wurde daraufhin, als Konsequenz und wegen sträflichen Verhaltens aus dem Schulensemble ausgeschlossen, erhielt einen strengen Verweis, und sein Name wurde ausgehängt in der Halle wie vor dem Richter: „Sarodnick, Martin – ein Dieb!“ – Ricarda hatte sich beklagt und geklagt: „Der dort hat mir die Tasche gestohlen!“ –

Endlich aber war da noch einmal ein kurzes Aufblitzen, ein Zusammenstoß, ein „Noch-einmal-Vergessen“. Das war kurz vor dem Abitur, vor dem letzten, vor dem Auseinandergehen für immer. Ricarda sollte Nachhilfestunden in Mathe bekommen, und der Lehrer bestimmte Martin dafür. Seltsamerweise. Obwohl Sarodnick in Mathematik nicht schlecht gewesen, gut, vielleicht sehr gut war. Aber warum er, warum ein Junge, warum überhaupt dieser Kram? Doch es gab kein „Nein“ und kein Aufbäumen: Vor dem Abitur hielt jeder das Maul, „bloß durchkommen“, „Glück haben“, „nur nichts verscherzen!“ – Sarodnick nickte und ließ sich seine Arbeit diktieren. Drei Mal lief alles recht gut. Sie lernten gleich nach dem Unterrichtsschluss, und sehr viele Leute rumorten auf den Korridoren laut. Martin streifte nicht seine Hemmungen ab, das ist, seinen Humor oder, besser, seinen Sarkasmus, streifte nie seinen Blick ab von der Tür und ließ sich die Zeit abrollen in bloßer Routine. Eines Tages freilich konnte Ricarda nur am Abend erscheinen, und ihr Vater sollte sie dann abholen um elf. – Leicht erhitzt betrat Martin die Klasse. Die Sonne stand schon tief, und wie ausgebrannt wirkte die Schule. Ein Windlächeln drückte von außen ins Fenster, und Ricarda spielte im Haar. „Es ist heiß“, sagte sie. „Früher haben wir bei so einem Wetter Hitzeferien bekommen.“ – Aber nun waren sie Abiturklasse, und niemand gab ihnen frei. „In vierzehn Tagen ist alles vorbei“, antwortete Martin lässig. „Dann machst du sowieso, was du willst.“ – Und der Sinus huschte über die Tafel, die Kreide zeichnete auf der Haut und fiel mehlig auf die nackten Füße von ihm. „Wir müssen nochmals Kurven berechnen!“, versuchte er besonders wichtig zu sein. Wenn nur die Sonne noch bliebe und der Abend noch einen Tag währte – vor dieser Nacht! Draußen heulte ein Motorrad laut rufend auf, und Martin erhob seine Stimme. „Da könnte man singen.“ – Der Schwamm schmierte trocken über die Tafel. Man müsste ihn waschen, man müsste alles neu wischen, saubermachen, wieder ins Reine bringen. Drunter auf der Tafel tauchten die Konturen des Vormaligen auf: „Man sollte wenigstens einen Lappen hier haben. Die alten Kurven erscheinen, verwirren das Bild. – Verdammt, es ist schon zu dunkel. Aber kein Licht! Das Geschmiere – kein Licht! Ich sehe, was du nicht siehst …“

Und Ricarda war still, sagte etwas später bloß: „Ich setze mich näher, von hier sehe ich nichts.“ – Doch „Licht“ sagte sie nicht. „Das hat sie vergessen. Vielleicht haben sie in Neudorf auch keins? Nur Kerzen. Oder liegen um diese Zeit schon im Bett. – Quatsch! Ein Dorf ohne Licht! Außerdem hat ein Vorsitzender alles. – Noch einmal von vorne! Von Anfang. Wir waren bei Minus …“, reflektiert Martin.

„Du hast Kreide im Haar“, meinte sie plötzlich, und Martin verhaspelte sich, schluckte Mut und schielte auf ihre Stimme. Ihre Zehenspitzen drückten sich ab, und ein Mund hauchte ihm Wärme ins Ohr. Sie knickte ein in den Knien, lachte: „Ich bin wohl zu klein“, und Martin hielt ihre Schultern im Arm. Schatten gerannen, die Helle machte sich rar, und auf den Boden glitten zwei Rücken. Ihr Hals beugte sich zu den Lippen, und von der Tafel sprangen die Kurven ins Kleid. Haut suchte Kühle, sprengte die Hülle, wollte die andere Haut reißen an sich, und die Finger spielten im Hirn. Eine Öse rollte über die Dielen, und er spürte das Heiße, spürte die Beine an ihm, fühlte das Vibrieren unter dem Nagel, benetzt von dem Haar. Herzschläge zerrten in ihm, Hochschläge und Auffall – ein leichtes Rauschen im Sinn. Es verlangte Unendlichkeitsgründe, wünschte den Abgrund, die Metamorphose, begehrte das eine: über in sie. – Ihre Füße krümmten sich weg, legten sich breit. Martin ging über Nacktes, über den Leib, und das Mädchen strebte zu ihm. „Nein!“, löste sich überströmend sein Schrei in die Angst, und der Sinn sickerte ihm über den Boden – dem Mädchen zum Trotz. – Sarodnick suchte den Schwamm, suchte das Du und fand sein eigenes nicht. Fluchtträchtig entleert in der Hoffnung, hatte das Mädchen auf den Falschen gesetzt.

Draußen aber heulte wieder dieses Motorrad, und die Schläfe litt von dem Klang. Ein Vater schaute nach seiner Tochter, und in dem Zimmer brannte kein Licht.

„Ach guten Tag, Herr Kaiser! Wir sind gerade fertig.“ – Doch fertig war Sarodnick bloß, und Ricarda fiel durch das Mathematikabitur. Die Schuld war wohl in den Sternen verwirkt.

14

Im Frühjahr reist Petra nach Moskau. „Oh, endlich!“ – Sarodnick wird ihr die Stadt zeigen, den Kreml, die Universität, die breiten Boulevards. Doch Martin kennt die Stadt nicht, kennt die Straßennamen nicht, nicht die Plätze, die Vororte, die Museen – er sollte anfangen bei null: „Hier ist null. Siehst du von weitem die Stellen hinter dem Komma? –

Ein Buch sollte ich kaufen. Drei Tage Moskau, von hinten bis vorne, auswendig lernen und hinbeten zum Staunen: ‚Wie viel hat der doch gelesen!‘ Ein Buch – drei Tage für Petra, im Frühling in Moskau. – Was habe ich nur die übrige Zeit angestellt? Studiert bis in die Nacht und gedacht, das Internat stände mitten drin in der Welt. Mit Monika hätte ich die Gegend abfahren sollen. Aber von Monika lieber kein Wort, kein Wort an Monika für die paar Tage mit Petra!“ —

Mit Wolodja holt Sarodnick Petra vom Flugplatz. Der Freund ist besser im Bilde.

„Das ist übrigens …“ Sarodnick drückt Petra ungeschickt mit dem Mund auf den Mund. „Wie schön!“

„Guten Tag, Petra!“, artikuliert Wiadimir geschickt. Er hat Deutsch in der Schule gelernt. „Und das dort ist ein Denkmal, Panzer-Stopp. Hier waren Deutsche – bis hier.“

„Oweia! So weit? Man kann von hier Moskau schon sehen“‚ ist Petra überrascht. Normalerweise sieht sie Moskau von den Ansichtskarten nur, die Martin ihr schickt, formt dieses Land aus den Albträumen des Vaters einst und der vielen Väter daheim.

„Von dort fahren die Schiffe ab über die Moskwa zur Wolga. – Hier an diesem Bahnhof bin ich angekommen mit dem Zug, damals im Sommer.“ – Petra streichelt die Hand:

„Ich bin sehr glücklich bei dir.“

Sarodnick schläft im Hotel Bukarest an dem Fluss, und die beiden sind froh, sich wiederzusehen, wieder zu spüren nach so langer Zeit. „Wann habe ich bloß das letzte Mal im Hotel …? Habe ich überhaupt im Hotel …?“ Im Hotel ist alles inklusive: die Wäsche, die Liebe, das Wasser im Bad. „Wie lange haben wir uns nicht mehr gefasst?“

„Es ist wie …“

„Du.“ – Ein Hauch weht über die Lippen.

„Hast du etwas bemerkt?“

„Nein. Das ist Moskau, über dem Fluss.“

Sie fahren mit der reisenden Gruppe im Bus, und Sarodnick erlebt die Stadt zum ersten Mal als ein Tourist.

„Ist die aber groß!“

„Da kannst du mal sehen.“

„Jeder Pavillon war früher unseren fünfzehn Sowjetrepubliken gewidmet“, erklärt Wolodja in der Volkswirtschaftsausstellung. „Man kann die Konturen und Buchstaben von den vormaligen Losungen noch erkennen: Stalin und Stalin und Stalin … – Lissitzky hatte dem Bau die Hand anlegen wollen. Als wäre man noch bei 1920 gewesen!“ Im Panoramakino kugeln sich die drei fast ihren Kopf aus für hundert Kopeken, als seien sie mitten dabei. Und sie ducken sich von den Schmerzen im Rücken.

„Das ist die Zukunft des Films“, erläutert ihnen Wladimir. –

„Das ist Semjon-Sjoma, das ist Ljuba, das ist Jura – ein Film-Ökonom“, stellt Martin seine Freunde ihr vor.

„Zum Einfließen schön ist deine Petra“, sagt Samwel, und geniert öffnet Wladimir die Flasche mit Wodka. „Ich tuckel nur Wein“, bemerkt der Armenier, und Wladimir gesteht:

„Ich trinke eigentlich nicht.“ – Galant ausgeschwungen spricht er zu Petra, aber das Mädchen kann nicht schwingen mit ihm – sie lässt es sich übersetzen, unübersetzt.

„Dieses mit den Kanonen vor der Blende über dem Tor …– haben Sie es schon visitiert?“ Petra lacht über den Ton.

„Das ist das Museum der Revolution!“ Sie entschuldigt sich rasch: „Bei meinen paar Tagen! Ich kann nicht alles besuchen.“

„Schade. Sehr schade. Einmal war es der englische Club, und man speiste dort ein Menü à la Zar – extravagant und superb.“

Jura hat für Samwel Portwein für einen Rubel zwanzig besorgt.

„Auf ihrer ersten Voyage in unserem Land!“, prostet Wowa und hebt das Glas. Rasch hat der Ökonom, der Ukrainer aus Kiew, den Klaren aus dem Auge verloren, und er lacht nur noch aus Spaß.

„Das kann heiter noch enden!“ –

„Auf Deutschland. Prost!“

„Ihr Vater war in Russland gewesen?“

„Keine Geschichten!“, ermahnt Samwel den Ukrainer.

„Dort in der Passage hat sich Majakowski erschossen.“

„Dann wollen wir nicht mehr stören“, rüstet die schüchterne Ljuba zum Abgang. Doch die Getroffenen bleiben stumm und stumpf in den Sesseln. Nur Wladimir weiß, was sich gehört, und er küsst die Hand der „Deutschen Madame“: „Auf Wiedersehen! Es war mir eine sehr große Ehre, mit einer solchen Dame zu konversieren.“ – Wolodja und Ljuba verlassen das Paar. Die anderen aber prusten, lallen und lecken den mickerigen Rest aus den Flaschen.

„Du musst nämlich wissen, Wowa, der spinnt“‚ wird der Armenier sehr deutlich. Für Petra aber ist alles prima und „nett“: „nette Leute“, „netter Abend“, „nettes Gespräch“. „So viel habe ich lange schon nicht mehr getrunken!“

Ein normaler gewöhnlicher Tag: Alle besaufen sich, umarmen sich, schlecken sich ab und finden – „welch ein Wunder!“ – hinterher noch ihre Betten. Am nächsten Morgen kommt man natürlich zu spät zu den Seminaren, und der Kopf brüllt zum Schreien: „War ich gestern voll leerem Stroh!“ – Jetzt aber spielt es keine Geige, die Saiten sind vollzählig, sind mit Seife geschmiert, und es rutscht wie in den besten Konzerten. „Auf unser schönes deutsches Mädchen!“ – Und man prostet die ganze Familie und lässt sie in Toasten und Trinksprüchen hochleben. Es bleiben die Toten noch über: „Tränke man bis zum Jüngsten Gericht …!“ „Um die Ecke, zur Neglinnaja hin, war einst der deutsche Bezirk“‚ weist Samwel ausschweifend breit aus und lässt noch einmal sich nachschenken. „1914 wurde er reif zum Prügeln und Massakrieren geschlagen.“

„Was konnten denn die armen Leute dafür, für den Krieg?“, fragt Petra.

„Wer konnte dafür? Pogrome sind Abwehr. Das geht weit ins Abstrakte“, antwortet Jura.

„Einige wurden sogar selbst von den eigenen Leuten inszeniert und dann an die große Glocke gehängt. Siehe Odessa“, erinnert der Armenier.

„Stimmt! Wie im Film.“

„Bloß die Ausländer hatten die Genehmigung mit Wodka zu handeln.“

„In Russland! Stellst du dir das mal vor? Das Trinken kommt hier noch vor dem Saufen.“ –

Sehr spät löst man das Häufchen auf in dem Glück. Man hat sich getroffen. Halb fallend stützen sich Jura und Samwel in die wartende Taxe.

Martin schläft sich bei Petra, hält inne, überlegt: „Ist es Zeit? – Noch ein Weilchen. Es ist so gut, nahe zu sein.“ – Er küsst ihre Zähne, wechselt den Takt und verendet im Nabel: „Es ist kummervoll, sich trennen zu müssen.“

Auf dem Flugplatz, am Arm, ist Petra wieder sehr traurig. Der Koffer, die Souvenirs, der Sekt … „Wann seh’ ich dich wieder?“

„Im Sommer. Du organisierst ihn wie immer für mich?“

„Martin.“ Sie küsst ihn und schaut noch einmal über die Barriere vom Zoll, schaut prüfend, streichelnd, ein klein wenig jedoch höher auf seine Stirn, da wo die Augenbrauen beginnen.

„Wie ihr Vater damals, als er uns zum Bahnhof gefahren“‚ fällt es – wie die Schuppen vom Haar – Sarodnick ein.

Martin hatte sich damals mit Petra im Hecksitz versteckt, brav, ängstlich: Der Vater führte vorn auf dem Bock. Ihre Finger berührten sich keusch, und der „Fahrer“ sagte den Weg über kein Wort, hatte die Hände, die durch lederne, kleinlöchrige Handschuhe mattfarben schimmerten, spielend auf das Lenkrad gelegt. Ordentlich hielt er das Wagenfenster geschlossen, wegen der Hitze draußen und auch der Haare schon wegen, die im Fahrtwinde ihre Fasson einbüßen könnten und selbst ihren pomadigen Glanz. Er blickte nicht in die Seite, und er fuhr sehr schnell durch die Stadt. „Hat er es eilig? Oder ist er nervös?“, überlegte Martin. Petra hatte ihm doch bestätigt, dass der Vater nicht dagegen war, dass sie verreiste mit ihm. – Der Handschuh fingerte an dem Spiegel, und der Blick des Vaters in ihm fiel auf den Jungen. Der stahl sich hinaus, wich diesem Blickfeld, drehte zum Fenster sich ab, kam zurück, zu Petra, knöpfte am Hemd. Der Blick aber spiegelte ihn. „Was begafft er mich wie einen Esel“, fragte er sich und wurde sesshaft, standhaft, heftete sein Auge ins andere Auge, ins Auge im Spiegel: „Na und?!“ – Der frierende Guck wurde weicher, vom „Lang-Sehen“ weich, streifend-streichelnd. Und abweit verschleierte er sich in den Brauen des Jungen. Wieder und wieder spiegelte Martin – eine Wand, eine Fläche, ein See. „Es kann mich sehen, wer will!“ – Plötzlich stieß sein Kinn hart gegen die Lehne des Vordersitzes auf. Er rieb es, schaute auf: Der Rückspiegel war ein Hochhinaus-Spiegel geworden, abgedreht in den siebenten Himmel, mit mattem Gesicht – ein Stückchen Plastik und Glas.

Der Vater chauffierte langsamer nun, bremste alsdann, streifte den rechten Handschuh vom Arm und reichte der Tochter die Hand: „Und keine Dummheiten, hörst du!“ Und er ließ sich die Wange küssen von ihr. Mit dem löchernden Handschuh aber klopfte er Sarodnick auf die Schulter: „Seien Sie vor-sichtig!“, mahnte er leicht, vorbeischauend am Haar. Er dehnte das „vor“, als würde er es verschluckt haben in irgendwelcher starken Erregung. –

Drei Wochen später wurde Petras Vater verhaftet. Er hatte in seinem Betrieb einen Lehrling verführt. Nach dem 12. Verhör verstarb er plötzlich. „Herzinfarkt“ war die offizielle Version. Obwohl er in seinem Leben schon ganz andere Verhöre erlebt und überlebt hatte. Das war damals nach Stalingrad, als er in die russische Kriegsgefangenschaft kam und als hoher Wehrmachtsoffizier so manches Märchen zu erzählen hatte. Die einfachen Landser dagegen wühlten inzwischen in der sibirischen Taiga im Morast, fällten ausgehungert bis zum Umfallen riesige Bäume und krepierten dabei wie das Ungeziefer in den löchrigen Decken und die Ratten in den winddurchlässigen schiefen Baracken. Die höheren Grade indes, hochgradig schuldig und mit viel Dreck an den Knochen, schliefen tatenlos ihren vierjährigen Totentanz auf weicheren Eisenmatratzen und aßen Doppelportionen vom Schwarzbrot, vom Magermilchbrei mit gelegentlich Fleischklößen dazu. Die dienten danach zum Aufwärmen, zum Reinbeißen, Reiben, Lecken und Striegeln der Offiziere, um kraftspendend an die Reserven, ans frische Fleisch der ehemaligen Kriegskameraden gehen, besser liegen zu können – bis zum Absprung und verbotenen Abspritzmanschetten. Die Rangordnung – die strammsten und wuchtigsten Mit-Glieder – bestimmte das Untergestelle dabei.

Petra hat darüber geschwiegen, auch vom Erfurter Gefängnis wollte sie nicht reden, von dem bezaubernden Lehrling mit dem Besenstil von seinem Meister im Griff seiner Faust. Das war alles ein Schandfleck für sie, ein Stoß in die falsche Richtung, ein Schiss in die Hose oder einfach nur ein Fauxpas, der letztlich nach hinten losging.

15

„Mein Katerchen, du musst deine Träume verlegen“‚ hält Ljuba die Hand ihres Freundes unter der Decke. „Hast du gut geschlafen? – Guten Morgen, Semjon? Guten Morgen, Wasili! Guten Morgen, Martin!“

„Hm.“

„Petra ist wirklich sympathisch.“

„Allen ist sie sympathisch“, antwortet Martin.

„Mit größtem Vergnügen würde ich sie von hinten vernageln.“ „Semjon!“, mahnt Ljuba vergeblich.

„Was ist? Sind kleine Kinder im Raum?“, fragt Sjoma und dreht sich verwundert um. „Ach so! Wowa. Ich habe vergessen.“

Ljuba streicht Wolodja die Haare aus seiner Stirn: „Zieh dich jetzt an, Wowotschka, mein Sternchen, mein Katerchen, ich warte auf dich in der Diele“, zirpt sie und geht aus dem Zimmer.

„Ich hatte mal eine Mieze, die hat beim Vögeln immer wie eine Biene gesummt“, rollt Samwels Satz gegen die eingezogene Tür.

Sehr musikalisch ist Ljuba. Sie hat Musikpädagogik studiert und danach in der Schule Gesang unterrichtet. Sie kennt alle Volks- und Kinderlieder im Kopf – hat nur diese Lieder dort oben. Ihr Mann ist zu Hause geblieben. Rotborstig, mit einer grobhornigen Sechser-Brille auf der russischen Nase, ist er einmal bescheiden nach Moskau besuchsweise gekommen. Wer hätte ihn da schon bemerkt, wenn Ljuba nicht jedem Einzelnen ausdrücklich gesagt hätte: „Mein Mann!“ Er hatte höflich gegrüßt, nach rechts und nach oben – das Filminstitut ist für die Leute in Woronesch eine ganz hohe und ernstzunehmende Sache. Beim Abschied dann hatte er bewegt Ljubas Hand gefasst und ihren kurzen Mund durch seine dick gläserne Brille gesucht.

„Das war mein Gatte. Und nach meinem ersten Film wollen wir Kinder haben. Bestimmt fünf“, sagte sie ausgesprochen melodisch. Ljuba greift immer in Dur: ausgeglichen, allfreundlich, mit den Pädagogen lehrerbezogen. „Mein Pfötchen, es ist jetzt an der Zeit!“ – Wladimir belässt unter der Bettdecke die Hand in der ihren – mehr lässt er ihr nie. „Es ist angenehm, unter einer Frau zu erwachen“, stöhnt er vor Glück. Ljuba indessen sendet „Die Grundlagen der Filmregie“ an ihren Mann: „Viele Grüße von Semjon, Martin und Wladimir.“

In dem Buch steht eine persönliche Widmung von Lew Kuleschow, und sie legt eine Pelzmütze mit hinein ins Paket, die ihr Venka aus Bulgarien mitgebracht hat: „Für dich, liebes Hündchen. – In Bulgarien ist es viel wärmer als in Woronesch. Dafür aber gibt es in Sofia Mützen aus echtem Fell.“

Venka bekommt den Mund nicht ganz zu voller Zähne, und ihre obere Lippe versucht verzweifelt, verspannt dieses Weißgelb zu decken. „Wie ein Hauch. Eine zweite Sarah Bernhardt“, soll der Professor über sie einmal gesagt haben – hat jedenfalls Tretin behauptet. Schließlich hatte er die Bernhardt persönlich gekannt. Und mündig ironisch spitzen die Dilettanten im Kurs ihren Mund: „Venka, das Stummfilmidol.“

„Sie darf beim Rezitieren bloß nicht den Rachen aufsperren“, meint Sjoma. „Dann kann sie sein, wer sie will.“ – Nach der ihr zugeflüsterten Eloge des Meisters gibt sich Venka sehr schön und lässt sich nicht zwei Mal nur bitten. „Sarah-Venka!“, ruft man ihr nach, und ihr Kiefer fällt vor Stolz beinah auf die Treppe. Unten steht Martin und krabbt ihn fast in den Keller: „Der rollt!“ – Hat er nicht mit ihr schon sieben Worte gewechselt? „Ich war noch nie in Bulgarien gewesen.“ – Sie hätte nicht laut lachen gesollt! So ist alles verdorben – die Treppe hinunter. Hinterher wird gesagt, Martin hat sie gestoßen. „Wenn ich doch unten gestanden habe in diesem Moment! Oben stand doch zu diesem Zeitpunkt gerade Kim-Lan.“

Wer weiß genau, wie alt sie ist, wie viel Jahre sie hinter sich hatte? Dreißig? Fünfunddreißig? Noch älter? Altlos, weit an der russischen Sprache vorbei, ist Kim-Lan ein Geheimnis, ein Kriegsgeschenk aus Hanoi. In Dutzenden Filmen hat sie bereits bei sich zu Hause gespielt und wurde ein Ur-Stern über dem Wald, eine vietnamesische Diva. Jetzt wird die Schauspielerin zur Regisseurin geformt, denn der Krieg in Vietnam hat Akteure genug. Unter den Bomben sind die Studios zu Pulver, und das Geld für das Kino wird in die Gewehre gesteckt. Wer aber filmt die Taten der Toten? – Kim-Lan wird einmal Spielfilme drehen. Ihr Mann jedoch bleibt als Flieger am Himmel, den Amerikanern zum Fraß: Wer hat die besten Kanonen? Stets, wenn ein Flugzeug über den Moskauer Himmel pfeift, senkt Kim-Lan ihre unendlichen Haare – sie denkt an ihn, an den Krieg: „Die Ausländer können uns mal!“ – eine leise Unruhe ist dann auf ihrer leicht faltigen Stirne zu lesen, und sie kann darin sogar ein wenig erstarren.

Zwei Jahre ist sie nicht zu Hause gewesen – „Ob es noch geht?“ – und sie hanoit lautlos über die Flure. „Kim-Lan!“ – Wie aus Scham biegt sie den Hals. Sehr schön war sie sicher einmal gewesen – und ist es immer noch heute. Das wenige, welches sie spricht, was sie überträgt aus den sechsgestrichenen Ton-Leitern ihrer eigenen Sprache, will sie nicht sprechen, singt sie, möchte nicht singen, bleibt hängen in ihrem Hals. Eine dunkle Ader läuft dort ihr

darüber, und kleinschrittig huscht Kim-Lan hinaus aus dem Saal: Sie kann keine Kriegsfilme mehr sehen und ist zur Toilette geeilt. Dorthin verfolgen sie die infernalen Sirenen im Sinn. „Du bist traurig, Kim-Lan?“

„No.“ – Sie ergreift die Finger von Martin, beißt sich in sie, so dass er aufschreit, und seine Stimme fast die Höhe der ihren erklimmt. „Glücklich du bist, Martine?“, haucht sie, gibt sie nicht los und schiebt ihre Hand in den Ärmel.

„Ich … weißt du … Wie gefiel dir der Film?“, fragt er unpassend ungeschickt nicht am Platze und fühlt sich in den oberen Wolken, verblüfft.

Ihre Ader schlafft ab, entleert sich, und sie schaut ihn gleichgültig-achtlos nur von der Seite.

„Du bist nicht richtig hier – Damentoilette“, sagt sie in ihrem singenden Ton. – Eine Wunde bleibt Martin zurück, und er saugt sich fest an der Stimme:

„Entschuldige bitte!“ – Sie aber ist plötzlich wieder Kim-Lan, bloß wieder ein Rätsel.

„Ta-Scha, Ta-Scha“, verballhornt Dascha den Jungen, spült das Wasser im Klo und ordnet ihr Kleid.

„Dumme Gans!“, tut Martin verdrießt.

„Tumme Tascha“, macht sie sich her über seine Konsonanten, die weich sind wie schimmliges Obst. „Teine Sprache ist pfaul. Im Teutschen pist tu ein Schwuler mit so einem ‚Tu‘. – Alle Teutschen sint schwul. Tu aper pesonters!“

„Du spinnst! Als würde ich nicht Dascha sagen zu dir, wie die anderen auch.“ – Er reißt ihr wütend die Schleife vom Zopf: „Wenn du noch einmal …!“ – Sie prustet:

„Noch einmal!“, und ergänzt wonnig: „Rasum“ – russisch „Verstand“ – und rollt das „R“ wie eine Säge im Holz, so dass Sarodnick vor Neid sich die Zunge fast schneidend abbeißt. „Du Kind!“ – Sie ist blutneu, blutjung, blutunerfahren.

„Dtdtdascha!“, wiederholt sie ironisch. Ihr Vater hatte ihr die Filmhochschule vorgeschlagen, sie hat eingeschlagen ohne ein Wort: Er ist ein bekannter sowjetischer Filmregisseur. Alles bleibt in der Familie.

„Als wäre es so wichtig, welches ‚D‘ man sich wählt!“ – Wie ein Kreisel tanzt sie um ihn:

„Gehen wir Eis essen ins Café ‚Zu den zwei Rosen‘? – Schnell! Keine Furcht! Ich bezahle.“

„Du kleines Kind.“

„Mit dir bleibt man es natürlich bis in das Grab“, sagt sie und küsst ihn auf den Mund. „Tatjana wartet auf uns.“ – Tatjana studiert im Parallelkurs, und ihr Vater ist der stellvertretende Rektor vom Institut. „Ein Teutscher, ta!“, ruft ihr Dascha von weitem schon zu, „mit tunklen Augen und tunklem Haar – ganz wie der Führer.“ Ein Kind.

Helläugig, rotwangig ist sie, noch grün hinter den Ohren, mit einer kleinen knorpligen Nase; und die vollen Brüste sind auffällig rundbäckig prall schon für ihre kaum sechzehn ein halb. „Die wird mal ein ganz schönes Kaliber!“ – Aber noch – Gott sei gelobt! – ist sie ja ein frischer Kuchen zum Schleckern und Naschen, und Martin folgt ihrem Hintern wie blinde Kuh: „Dascha! Das Eis!“

„Tasch-Eis“, schlenkert sie ihm die Brüste entgegen, und Martin stolpert vor Wut: „Blöde Pute! Geht doch allein. – Was ist schon daran!“ –

Vier Mädchen studieren mit Martin – vier von zwanzig im Kurs. „Man sollte sich vielleicht was Besseres besorgen!“, reflektiert sinnig Sarodnick. „Vier verschiedene – und wer ist die Beste davon? – Bestimmt nicht, bestimmt. Man müsste probieren.“ – Venka ist von der Treppe geschlittert, und wie Sarah Bernhardt steht Kim-Lan stummtaub – ein Dschungel – daneben, als Ljuba am Flügel die Lieder begleitet. Dascha aber ist in den Zirkus gegangen. Sie braucht eine Hand. Die vier Mädchen reichen sich beide.

„Was ist los nur mit Martin?“ – „Alleine nur träumt er davon. Mit den Mädchen ist dies etwas ganz andres.“ – Klein bei geht er zurück in die Probe. Der Professor müsste heute persönlich erscheinen – eine Erscheinung trügt Schein. Die Schüler hoffen mit den Assistenten und die mit der Frau Kuleschows.

„Erst einmal Pause!“

„Mein Mann wird bald wieder gesund.“ – Der neunte Monat ist schon im Gange. Ljuba liest persönlich den Text von dem Mann vor:

„Die Arbeiten meiner Gruppe …“ – Eine fernere Gruppe ist sie, und im Bett urteiltest sich leicht.

„Wir werden ihn morgen besuchen!“

16

„Ich hab es geahnt“, sagt Kletters wagehalsig und flüstert dem Botschaftsrat etwas ins abgestandene Ohr. „Wie viel Male waren Sie schon zu Hause“, rät nun der Mann im Halbdunkel rum.

„Zweimal“, untertreibt Sarodnick seine Antwort. „Das erste Mal und das zweite.“

„Wir haben aber andere Informationen bekommen“, hat die Botschaft gehört.

„Es muss ein Missverständnis vorliegen“, legt Sarodnick nach. „Die andere Zeit war ich krank.“

„Krank?“

„Ja. Eine Verstauchung.“

„Genosse Kletters, was meinst du dazu?“

„Ich? Ja, der Sarodnick … Wir sind gute Freunde“, redet Kletters um Martin herum. „Das Weitere steht im Bericht.“

„Geben Sie mir Ihren Pass!“, verlangt der Botschaftsrat von dem Heimfahrer.

„Den habe ich verloren“‚ rutscht es Sarodnick wie aus der Tasche.

„Was?“ Schreiend erhebt der Mann sich in seiner Stellung. „Verrückt geworden! Da sind doch die ganzen Stempel gewesen.“ – Jeder Stempel ein Flug. „Los, geben Sie uns einmal Ihr Märchen zum Besten!“

Und Sarodnick zählt auf seine letzten Stunden im Leben: „Um 16 Uhr befahl mir Kletters, dass ich sofort mit dem Pass in der Botschaft erscheinen solle. Um 17 Uhr war ich schon auf dem Weg. Um 18 Uhr hab’ ich plötzlich Hunger bekommen, aß eine Kleinigkeit schnell, und um 19 Uhr bezahlte ich an der Kasse fürs Essen. Um 20 Uhr war ich dann bei Ihnen hier.“

„Eine miese Geschichte“, verdrießt der hohe Genosse sich rastlos und glotzt auf das Porträt von dem Ulbricht. „Weiter! Wo ist nun der Pass?“

„Irgendwo zwischen 16 und 20 Uhr.“

„Das können Sie in der Kneipe erzählen!“, schenkt der Mann redekarg aus, und Sarodnick gibt ihm voll Recht:

„Daran habe ich auch gleich gedacht, aber die Kassiererin hat nichts gesehen.“

„Die lügen doch alle hier wie die Reiher!“, vergisst der Mann sich im Land. „Eine Hand klaut die andere.“ Und er haut auf den Tisch. „Wir prüfen die Sache!“ Und zu Kletters gewandt: „Du hättest ihn niemals aus den Augen sollen lassen, Genosse!“

„Ich habe es nicht.“

„Und von 16 bis 20 Uhr? Was war da?“ – Kletters nickt, er hat seine Lücken begriffen.

17

Ein Sommer wie jeder andere. Ein Meer wie jedes. Ein Mädchen wie andere auch. Auf der Rückfahrt vom Sommer, vom Meer und von Petra macht Sarodnick eine Rast. Sie ist kurz und bescheiden, denn der Sommer wollte nicht enden, wie das Meer endet am Strand. Das Auto bleibt auf der Straße, es hat inzwischen das Motorrad ersetzt, hat die Gefahr ein Stück in die Wege gerückt, und die Rast steht vor dem Hause nun auf vier Beinen.

„Grüß dich!“

„Grüß dich!“

„Setz dich, mein Schatz!“

„Oh. Danke.“

„Erzähle von dir.“

„Das ist Petra.“

„Ich kenne sie schon von dem Bahnhof.“

„Petra ist eine Freundin von mir.“ – Monika zerrt an dem Mund: „Weiter, mein Schatz.“

„Wir sind von der Ostsee.“

„Das sehe ich wohl.“

„Wir fahren wieder nach Hause.“

Die Mutter stellt Kuchen: „Meine Tochter hat so viel von Ihnen berichtet.“

„Mutti!“

„Sie studieren also in Moskau?“

„Bitte!“

„Monika hat ja nun ihr Diplom absolviert.“

„Mutti, geh in die Küche!“ –

„Was wirst du jetzt tun?“, fragt Martin und sieht der Mutter hinterher zu der Tür.

„Ich möchte …“, Monika ziert sich zickig im Stuhl, „fotografieren.“

„Ist dies denn möglich?“, fragt Petra aus der hinteren Reihe, doch Monika hat die Frage gar nicht gesehen.

„Ich mache ein Buch.“

„Und worüber?“, staunt Martin.

„Nicht hier!“, flüstert Monika leicht und guckt wie durch die Wand in die Küche und durch Petra hindurch wieder zur Wand. „Wir reden unter vier Augen darüber. – Du hilfst mir dabei?“

„Klar!“, couragiert sie Martin lautstark.

„Ich komme noch öfters nach Moskau.“

„Schön.“ Martin verschluckt sich im Magen und dreht sich geniert zu Petra herum.

„Ich werde da schon aufpassen auf dich“, schäkert Monika, himmelblau in den Augen.

„Wieso aufpassen?“, stellt sich Sarodnick dumm.

„Na, na!“, zieht sie sich hoch. „Keine anderen Mädchen, mein Schatz!“ Und sie schmettert diesen Satz Petra ins Gesicht wie eine Fanfare.

Die Rast geht zu Ende. Jeder Abschied tut weh. Petra sitzt in dem Auto, und Sarodnick schnappt noch ein Foto vom Kuss, den er Monika gibt.

„Ciao! Auf Bälde.“

„Grüß Moskau von mir!“

Ostexpress in den Westen

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