Читать книгу Unter der Uniform geht's weiter - Helen Behn - Страница 5
ОглавлениеWas bin ich? Diese Frage hat nichts mit dem einstigen Ratespiel von Robert Lembke zu tun? Eine ordinäre Hose, ein Hemdknopf? Die Lederjacke, die mir ständig im Nacken hängt, dass es schmerzt? Ein Staubkorn im Weltall? Das Leben – eine Ehre, ein Schicksal oder eine Bürde? Es ist auf irgendeine Weise unglaublich. Befremdlich, bisweilen zutiefst traurig, kommt es daher. Freud und Leid liegen nicht nur dicht beieinander, sondern über- und untereinander. Verbinden sich zu Chaos, zu Unbeherrschbarkeit, zu Fassungslosigkeit. Mittendrin Menschenkinder zwischen Verpflichtung, Hingabe und Aufgabe. Funktionierend und hoffend. Zwischen Albtraum und Wirklichkeit, zwischen Traum, Wunsch und Liebe.
Hans konnte nicht kommen. Warum, wurde mir später erst klar. Miro war nicht da. Meine Mutter, die kam. Sie traute sich in die Stadt. Sie schwang sich mit ihren über achtzig Jahren aus dem Taxi. Lange hatte ich sie nicht mehr im Kostüm gesehen. Meine Güte, wie schneidig sie aussah. Das dunkle Lila passte wunderbar zu ihrem hellgrauen, fast weißen Haar. Die Ohrclips waren als kleines Detail herausragend. Sie hielt eine schlichte Blume in der Hand, ohne Schnickschnack. Der leichte Wind schüttelte die Blüte sanft hin und her. Vielleicht waren es eigentlich ihre zitternden Hände, die sie bewegten. Die Blume drückte all ihren Stolz aus, ohne dass Worte nötig gewesen wären. Überwundene Ängste drückte sie aus. Sie war lange nicht mehr alleine in der Stadt gewesen. Den Stolz der überwundenen Ängste überreichte sie mir mit einem Lächeln und strahlenden Augen, in denen ich Anspannung über das Geleistete sah. Gerne hätte ich diesen Moment eingefroren.
Eine gewisse Leichtigkeit und Eleganz machten sie um vieles jünger. Natürlich nicht wirklich, doch gefühlt ein paar Jahre. Wie lange wird sie mir erhalten bleiben? Wer weiß, ob es nicht unsere allerletzte Begegnung war? Kaum auszumalen, bei unserem nächsten Treffen an ihrem Grab zu stehen, Erde und Blumen nachzuwerfen und zu weinen. Ich weine nicht gerne. Um meine Mutter eines Tages trauern zu müssen, ist für mich heute unvorstellbar.
Es fallen Tropfen. Wie so oft treffen sie erst in großen Abständen einzeln irgendwohin. Hier bei mir treffen sie auf Blätter und einen Sack Blumenerde hinten in der einen Ecke des Gartens. Aus einzelnen dunklen Wolken ist binnen Minuten eine dicke Wolkendecke geworden. Die Welt geht unter. Wieder einmal. Ich zähle nicht mehr mit, wie sich in diesem Sommer heiße Tage in Unwettern entladen, Straßen überschwemmen, Gullydeckel anheben, Keller volllaufen. Der Mensch und Mutter Erde, seine Mutter Erde. Sie hat begonnen, Grenzen aufzuzeigen.
Die alten Turnschuhe stehen neben mir. Sie stinken vor sich hin. Wütend schmeiße ich sie hinaus auf den Rasen. Das Bier läuft eiskalt meine Kehle hinunter. Ich will nicht nachdenken über die Probleme dieser Welt, schon gar nicht über die meiner kleinen Welt. Die ganzen Toten in Afghanistan, die Hungernden in Somalia, die Hochwasseropfer in China, die Sextouristen in Thailand… Heute Abend denke ich nicht. Die Hosenbeine sind auf halb acht gekrempelt. Ein bisschen kommt mir das Leben leichter vor. Zwischen den Zehen pule ich Relikte der schwarzen Socken hervor. Ich rolle sie zu kleinen Kugeln und weiß nicht, wohin mit ihnen. Ich lasse sie in die leeren Bierflaschen fallen.
Wie damals habe ich mindestens jedes zweite Etikett mit den Fingernägeln mit Fratzen versehen. Meine allerliebste Lieblingsbiermarke verwendet nur noch Papieraufkleber. Die sind für solche Zwecke ungeeignet. Umweltschonender sind sie. Umweltbewusstsein hin oder her. Ich hätte die aus Alupapier trotzdem gerne wieder. Für die Gesichter und den Unmut. Was soll’s? Im Vergleich zum allgemeinen Chaos sind diese Probleme Peanuts. Schlichte Fusseln eben und belanglose Etiketten.
Ausfallerscheinungen tun sich auf. Ich kann kaum geradestehen und wanke über die Holzbohlen der Terrasse. Es ist fantastisch, wie die nachgeben. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich das schwankende Gleichgewicht dem Seegang zuschreiben. Es ist der innerliche Seegang durch Alkohol und einen seit Jahren nicht gepflegten Garten.
Die letzten Stufen stolpere ich hinunter. Das geht gerade gut. Barfuß wate ich im Gras hin und her, strecke die Füße in die milde Nachtluft und versuche, auf einem Bein wie ein sterbender Schwan die Balance zu halten. Es muss voll bekloppt aussehen und weil ich mich derart fühle, verfalle ich in ein absurdes Gelächter. Plötzlich habe ich das Gefühl, ich kann nicht aufhören. Ich bekomme Panik. Ich werde tatsächlich bekloppt.
Schließlich falle ich und bleibe total besoffen liegen. Murmele dabei und glaube, dass ich aus voller Kehle singe. Im Gesicht landen die Regentropfen. Auf meinen Füßen sind sie auch.
Es muss früh sein. Oder spät. Zumindest fühle ich mich wie der letzte Regentropfen, der neben mir auf einem Blatt verweilt. Bald verliert er die Konturen unter seinem Gewicht. Das Blatt wird nachgeben. Ich bekomme ihn nicht schärfer gestellt, bevor er runterkullert. Nichts im Garten bekomme ich schärfer vor die Augen. Im Gehirn nicht, dabei ist mir noch nicht einmal richtig schlecht.
Aus dem Wohnzimmer blicke ich zurück ins Chaos. Gerade jetzt besser als zurück ins Leben. Kräuterpflanzen und Obstbäume leuchten mittlerweile viel zu hell in der Sonne. Bierflaschen reflektieren die Sonnenstrahlen und machen das Licht noch gleißender.
„Komm“, rubbelt jemand meine Haare trocken. „Komm her, lass dich festhalten.“
Die Fürsorge habe ich nicht verdient. Ich habe Mundgeruch ohne Ende. Ich träume. Ich stinke wie – na ja, den Vergleich würde ich mir eigentlich lieber ersparen – eine Kuhherde aus dem Allerwertesten. Mir hilft jemand aus dem nassen Hemd. Zärtlich und einfühlsam, ohne zu schimpfen. Jemand wischt den Regen aus meinem Gesicht. Ich weiß nicht, ob es geregnet hat.
Wer ist der nackte Mensch in der Fensterscheibe? Ich habe ihn nie zuvor gesehen. Er ist kurz vorm Hinschlagen. Ich stecke in einem Bademantel. Der Fremde macht mir Höllenangst. Es riecht nach Frühling. Plötzlich stülpt sich eine Kapuze über meinen Kopf. Auf einen Schlag ist es zappenduster. Mir wird schlecht.
Schließlich finde ich mich in fremden Armen wieder. Irgendwo zwischen Nirgendwo und Sofa. Ich sehe Wassertropfen auf dem Parkett vor einer nicht enden wollenden Dunkelheit der Nacht. Die Tropfen, sie verdunsten langsam in einem Déjà-vu. Nie mehr will ich von hier weg. Nichts mehr leisten müssen, vor allem nie wieder saufen. Das große Glück wartet auf mich. Ich muss es nur noch finden. Finden fängt mit einer Suche an.