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DER SOZIALISTISCHE MENSCH

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Dienstschluss. Der warme Junitag lacht noch sonnentrunken zur Tür herein und wundert sich ob der Menschen, die, anstatt hinauszugehen, eine Treppe höher steigen. Auch die Genossen der SED würden lieber nach Hause fahren, als in einer Versammlung zu dösen. Im Konferenzraum in der ersten Etage des vor einigen Jahren erbauten Gebäudes das allgemeine Händeschütteln. Hatte man sich nicht erst heute gesehen? Die Teilnehmer finden ihren Platz. Genosse König eröffnet das Parteilehrjahr. Es sollten mal wieder, wie jeden zweiten Montag im Monat, die Genossen, aber auch ausgewählte, sozusagen privilegierte Parteilose politisch-ideologisch auf Linie gebracht werden.

Henrike lässt sich im Stuhl zurücksinken und schaut erwartungsvoll auf die weichliche Gestalt von König. Wie ist er unsympathisch! Die Haut grau, die Haare strähnig, der Körper etwas dicklich, der Anzug altmodisch. Er wirkt wie ein übermäßig gestresster Funktionär. Sie sieht es gelassen und ist nach ihrer Krankschreibung gleichsam nervlich erholt. Was wird er sagen? Das Thema verlangt ein Bekenntnis, wie sie alle, die sozialistischen Menschen, sein müssen, um den Anforderungen des letzten Parteitages gerecht zu werden. Der Parteitag ist das höchste Organ der Partei. Die Parteitage sind das Maß aller Dinge und werden auf allen Ebenen bis hin zur untersten Arbeitsgruppe ausgewertet. Was der Parteitag beschließt ist Staatsangelegenheit und für jeden maßgebend. Sich immer mit der Strömung treiben lassen.

Der ‚sterbende Kapitalismus’ steht heute nicht auf der Tagesordnung. Noch nicht. Wie muss der sozialistische Mensch sein, um die vom Parteitag gekennzeichneten Aufgaben zu bewältigen? Henrike sieht die Genossen der Reihe nach an: den aufgeblähten Manta, den abgemagerten Kupferschmied, die dicke Nanette, den rothäutig angehauchten Chef, die braunfleckige Rollau und die anderen. Wieder stören sie an der Rollau deren dicke, ewig wackelnde Daumen. Deren tastender Blick gleitet gleich Stielaugen von einem Blatt Papier zum anderen, welches die Teilnehmer vor sich liegen haben. Henrike folgt ihm wie magnetisiert und schaut ihr dann voll ins Gesicht. Verlegen guckt die Rollau dann auf ihr eigenes Papier. Immerhin, sie spielt in diesem Haus eine wichtige Rolle.

Wie muss der sozialistische Mensch sein? Henrike zuckt zusammen. Sie ertappt sich bei dem Gedanken, die Kollegen und Genossen durch den Kakao zu ziehen. Wie steht es mit deren Ehrlichkeit, ihrer kollektiven Haltung, ihrer Menschlichkeit, ihrer Sachlichkeit? Warum will die Rollau nicht zur Parteischule, obwohl sie keinerlei Ausbildung hat, aber bei Einstellungen, Entlassungen und Qualifizierung ein entscheidendes Wörtchen mitredet und dafür auch noch gut bezahlt wird? Offensichtlich hat sie gute Kontakte. Die Fäden werden im Untergrund gezogen. Henrike drängt ihre Gedanken zurück. Sie will nicht lästern. Sie will nicht mit Steinen werfen. Wenn sie an den Tiefen rührt, wird der Kessel brodeln. Sie fühlt ihren schmerzenden Magen und gedenkt der ruhigen Tage auf ihrem Balkon. Sie wird sich alles gelassen anhören und sich selbst keine Blöße geben.

König ist mit seiner eröffnenden Ansprache bereits am Ende. Hatte er gesagt, dass sich der sozialistische Mensch in allen Lebensbereichen im Einklang mit den Zielen der Partei zu befinden hat? Entgegen ihrem Willen hatte Ulrike nicht gut aufgepasst. Er versprach sich zwei Dutzend Male, fordert nun zur Diskussion auf. Keiner will sprechen. Komisch, der Chef sagt auch nichts. Wie ein Fels in der Brandung sitzt er ungerührt in seinem Sessel. Oder hat ihm der Tag zu viel zu schaffen gemacht? Wer klug ist, der schweigt.

König fragt Nanette, die Sekretärin: „Was meinst Du dazu?“ Nanette sitzt auch da wie ein dicker Stein und ist nicht einmal erschrocken. „Ich meine, wir müssen alle unser Bestes geben, damit die vom Parteitag beschlossenen Maßnahmen erfüllt werden können. Ich meine, damit wir alles besser machen können, wir müssen alles machen und …“, sie findet den Schluss nicht und sagt schließlich noch „tun.“ „Wie recht sie hat“, denkt Henrike, vielleicht meint sie es ehrlich, die Dicke. Vielleicht sollte man die Partei von den Gaunern befreien, von denen, die nur Vorteile wahrnehmen und sich vor gesellschaftlichen Anliegen drücken, besonders vor unangenehmen Aufgaben.

Die Rollau überschlägt sich beinahe. Sie findet es unmöglich, dass manche Menschen sich ihren Vorteil ausrechnen, der aus einer Rentenerhöhung entspringt. „Ich kann das nicht verstehen. Die Maßnahmen der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung sind doch für die Allgemeinheit. So ein Egoismus, wenn jemand anfängt zu rechnen.“ Genosse Manta kann kaum noch an sich halten: „Die Genossin Rollau hat mir ganz aus dem Herzen gesprochen. Alle betrifft es. Unseren Kindern wird die Rentenerhöhung noch zugute kommen. Warum bei der Freiwilligen Rentenversicherung seinen Vorteil ausrechnen! Alle sollten einfach beitreten!“

Henrike ertappt sich, wie ihre Gedanken abschweifen. Mantas Stimme verklingt ihr stets wie der Ruf im Walde. Wenn diese Rentenversicherung so gut ist, warum betreibt die Partei so einen Rummel darum? Die freiwillige Teilnahme wird zur ideologischen Angelegenheit hochstilisiert. Hat die Partei Angst, dass es ein Fehlschlag wird? Das macht es in Henrikes Augen suspekt. Ihr Mann sagte kürzlich dazu: „Bis wir Rente bekommen, herrscht hier ein vollkommen anderes Rentensystem.“ Henrike hat verpasst, warum man nicht rechnen soll. Billiger Propagandatrick, denkt sie. Gegen wen war denn das gerichtet? Etwa gegen sie selbst, weil sie und ihr Mann dieser Rentenversicherung noch nicht beigetreten waren?

Wie muss der sozialistische Mensch sein? Zum Nachdenken bleibt keine Zeit. Genosse König fragt den Kollegen Dr. Gallus, der ehrenhalber am Parteilehrjahr teilnehmen darf, ob man seine Freizeit beliebig verbringen dürfe. Gallus windet sich ein wenig und antwortet wie ein braver Schüler: „Trunksucht und zu lautes Gewese belästigen die Nachbarn.“ Dagegen lässt sich nichts sagen. Aber Genosse Dr. Kupferschmied trifft den Kern: „Die Freizeit darf man nicht nur vergammeln. Keiner darf nur Briefmarken sortieren oder nur im Garten arbeiten. In der Freizeit müssen wir gesellschaftliche Arbeit leisten, etwas Sinnvolles zustande bringen.“ Henrike kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Du Spaßvogel“, denkt sie, „du hast deine Jagd und vereinst darin Hobby, nutzbringende Beschäftigung und gesellschaftliche Arbeit.“ Kannst es immer drehen, wie du es brauchst.

König ebbt die ohnehin schon wellenarme Diskussion noch weiter ab und erzählt von seinem ersten Opernbesuch, bei dem er sich die Ohren zuhielt. Na ja, man soll die Perlen nicht vor die Säue werfen. Da rutscht Henrike doch noch eine Bemerkung heraus: „Fressen, Saufen, Rauchen – das schadet dem Staat.“ Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen. Sie denkt dabei an die Gelage, die einige der Genossen öfter in Saus und Braus abhalten, einer von ihnen säuft auch allein. Genosse Kupferschmied ist empört: „Mit den Steuern auf Zigaretten bestreitet der Staat seine Verteidigungskosten.“ Manta fragt sich und die anderen, warum Schnaps mit den schönsten Flaschen und den herrlichsten Etiketten angepriesen wird, während an Limonade und Most das Etikett gerade noch hält. Endlich mal etwas Kritisches! Jetzt ist die Diskussion so richtig schön im Gange. Genosse Gerich verlangt, dass niemand sein Auto an den Baum fährt (auch das persönliche Eigentum muss geschont werden). Das wundert niemanden, denn die Bestellzeit für einen Trabi währt oft elf Jahre. Manche Omas bestellen schon vorausschauend für ihre minderjährigen Enkel. Manta steigert sich zu der Forderung, dass handfeste Kollegen und Genossen nachts randalierenden Jugendlichen auflauern sollen, denn an der Bushaltestelle verschwand letzten Abend nach Sonnenuntergang die Bank.

Jetzt aber muckt einer auf. Genosse Brotmann sieht seine Individualität bereits im Erbgut bedroht. Er protestiert gegen die Bekämpfung des Individualismus. Nur schwer ist er davon zu überzeugen, dass der Individualismus den Egoismus, die Raffgier, das Spießertum im Schlepptau hat. Wer sich selbst zu wichtig nimmt, lebt gefährlich. Genosse Manta knüpft mit einer handfesten Angelegenheit daran an. Henrike hat vor einiger Zeit ein Buch publiziert und einige Exemplare an Kollegen verteilt. Genosse Manta kam dahinter und verlangt nun, einen Anteil des Honorars an die Partei abzuführen. Na toll, stille Teilhaberschaft, es bleibt ihr nichts anderes übrig als dem zuzustimmen. Das ist Parteidisziplin! Trotzdem wird sie getadelt, nicht von sich aus so gehandelt zu haben. Es geht ihr gegen den Strich. Was hatte die Partei mit ihrem Buch zu tun? Sie kann ihren Standpunkt nicht klar machen. Hatte sie sonst nicht alle Anforderungen erfüllt, Berichte geschrieben, an Demonstrationen und freiwilligen Arbeitseinsätzen teilgenommen? Nun das auch noch! Sie ist wieder einmal nicht ganz in der Spur. Das war’s dann für heute.

Genosse König hat sich ein salbungsvolles Schlusswort zurechtgelegt. Er liest es vor und schließt das Parteilehrjahr: „Die Zukunft der Menschheit wird sozialistisch sein.“ Die Sonne ist schon dabei, am Horizont zu versinken. Henrike läuft langsam zum See. Die Fähre ist pünktlich. Müde schlägt sie den Einkaufsbeutel über die Schulter.

Und wie muss der sozialistische Mensch nun sein?

Manchmal ist er auch müde.

Im Osten geht die Sonne unter: 10 Erzählungen aus der DDR-Zeit

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