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ОглавлениеAm Morgen um fünf Uhr warf der Großvater den Dieselmotor an und Linus wurde jäh aus dem Schlaf gerissen. Er rieb sich die Augen, streifte sich Hemd und Hose über und ging hinunter in die Sennküche, wo er sich Wasser ins Gesicht spritzte und die Hände wusch. Das genügte als Morgentoilette. Aufs Rasieren verzichtete er auf der Alpe auch. Erst, wenn ihm der Bart lästig wurde, musste er wieder weg. Der Großvater hatte sich schon einen Melkschemel und eine Melkmaschine geholt und saß friedlich an die Flanke einer Kuh gelehnt, während die Maschine ihre Arbeit tat. Linus zog eine blaue Stallhose und eine Arbeitsjacke über seine Kleidung, setzte einen alten Filzhut auf und machte es ebenso. Er mochte es, am Morgen zu melken, wenn alles noch ruhig war. Es war eine beschauliche Arbeit. Die Milch wurde wieder gesiebt und kam gleich in den großen Sennkessel. Jeden Vormittag machte der Großvater Käse daraus. Als sie gemolken waren, wurden die Kühe losgebunden und auf die Weide getrieben. Die Großmutter hatte inzwischen das Frühstück zubereitet. „Stopfer“, wie der herzhafte Grießschmarren genannt wurde, dazu heiße Milch und Kaffee. Wobei „Kaffee“ eigentlich nicht die richtige Bezeichnung war für die dunkle Brühe aus Kaffeeersatz. Linus gab immer einen Esslöffel löslichen Bohnenkaffee in seine Tasse und schenkte sich erst dann aus der großen Kanne ein. Die Kinder tranken zu ihrem Stopfer heiße Milch. Sie waren noch verschlafen und friedlich um diese Zeit. Nach dem Frühstück ging Linus seine Runde, um zu sehen, ob die Tiere gut über die Nacht gekommen waren. Normalerweise gab es nach einer so ruhigen, friedlichen Nacht keine unangenehmen Überraschungen aber Nachschauen musste der Hirte auf jeden Fall. „Warte auf mich, Linus!“, rief Angela, als ihr Cousin sich vom Tisch erhob. „Ich geh mit dir.“ „Gut, dann iss in Ruhe fertig. Ich warte draußen auf dich“, versprach er. Wenig später machten sie sich auf den Weg. Beide trugen alte Jeans, Bergschuhe und Hüte, außerdem einen kräftigen Haselstecken, falls man die Kühe treiben mussten. Fröhlich plappernd lief das Mädchen neben dem jungen Mann her, erzählte ihm von ihren Freundinnen und von zu Hause, pflückte nebenbei Blumen für die Großmutter und nannte ihm bei vielen den Namen. „Woher kennst du denn die ganzen Blumen?“, wollte Linus wissen. „Das Säle hat sie mir gezeigt und in der Schule hab ich alle gekannt. Das Fräulein hat gesagt, ich bin echt spitze“, strahlte Angela. Linus nickte anerkennend. „Das ist ein Hornklee“, erklärte sie und hielt ihm eine kleine gelbe Blume unter die Nase. „Stimmt“, bestätigte er. „Also, spielen wir, wer mehr Blumen kennt?“, schlug die Kleine vom Ehrgeiz gepackt vor. „Ich fürchte, gegen dich habe ich keine Chance.“ Das Wissen und der Eifer des Kindes gefielen ihm und natürlich ließ er es gewinnen. Angela durfte sich ein Spiel aussuchen, das er am Nachmittag mit ihr spielen würde. Längere Zeit war nichts zu hören, weil Angela angestrengt überlegte, doch dann hellte sich ihr Gesicht auf und ihre grünen Augen strahlten. „Ich will, dass du mit mir reitest“, entschied sie. Linus war einverstanden und kurze Zeit später kamen sie zur Hütte zurück. Angela brachte der Großmutter freudestrahlend die Blumen und Linus nützte die Zeit bis zum Mittagessen, um die Halfter und die beiden alten Sättel zu reinigen. Der Großvater hatte schon immer Haflingerstuten gehabt, hauptsächlich zum Fahren. Im Frühling bot er Kutschenfahrten an, im Winter Schlittenfahrten. Manchmal fuhr er auch zu seiner eigenen Freude. Die Pferde waren seine Lieblinge und immer ruhige, gutmütige Tiere. Die Kinder durften darauf reiten, wenn sie wollten. Auch Linus' Schwestern waren ganz versessen darauf gewesen. Die Großmutter rief zum Mittagessen. Es gab Tirolerknödel und Kraut. Hungrig machten sich die Kinder und die Männer über das Essen her, während die Großmutter wieder eine Portion zu Elvira ins Zimmer hinauftrug. Auch diesmal brachte sie das Essen unberührt zurück. Linus schaute in ihr besorgtes Gesicht und stand auf. „So, das reicht jetzt. Ich werde mit der Prinzessin ein ernstes Wörtchen reden. Das ist kein Vier-Sterne-Hotel und du nicht ihre Dienstmagd“. Bei seinen energischen Worten schaute der Großvater auf. „Sie ist unser Gast“, bemerkte er kurz. Das hieß im Klartext, Linus solle höflich sein und ihr nicht zu nahe treten. Dieser nickte unwillig, nahm der Großmutter das Tablett ab und stürmte die Treppe hinauf. Er klopfte kurz an die Zimmertür und trat ein, bereit für eine ordentliche Standpauke. Doch der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn augenblicklich verstummen. Auf dem ordentlich gemachten Bett saß Elvira und schaute aus großen blauen Augen ängstlich zu ihm auf. Sie war blass und hatte tiefe Schatten unter den Augen. Das lange blonde Haar hing ihr offen über den Rücken und in ihrem Schoß lag ein dickes Buch. Linus stellte das Tablett auf den kleinen Tisch vor dem Fenster, auf dem ein Strauß Alpenblumen stand. Die Großmutter hatte Elvira wohl einen Teil von Angelas Blumen abgetreten. „Magst du nicht ein bisschen essen?“, frage er dann freundlich. „Das Säle hat schon Angst, dass du hier oben verhungerst.“ Die Augen des Mädchens füllten sich mit Tränen und sie schüttelte den Kopf. Als Linus nur geduldig wartete, schluckte sie schwer und schüttelte abermals den Kopf. „Ich kann nicht“, sagte sie leise und schon rannen ihr Tränen über die Wangen, die sie vergeblich mit den Fingern wegwischte. Linus nahm das Tablett und setzte sich neben sie aufs Bett. Er zerteilte den Knödel, spießte ein Stückchen auf und hielt es ihr hin wie einem kleinen Kind. „Ein Löffel für das Säle“, grinste er und Elvira machte brav den Mund auf. Nach einigen Bissen gab er ihr die Gabel in die Hand und sie aß den halben Knödel und ein wenig Kraut. Auch ihre Tränen waren versiegt. „Danke“, sagte sie leise. Plötzlich kam Linus ein Gedanke. „Bist du nicht als Kind immer geritten?“, fragte er. „Angela möchte am Nachmittag reiten, da könntest du uns Gesellschaft leisten.“ Nach kurzem Zögern nickte sie. Mit dem guten Gefühl, einen Anfang gemacht zu haben, ging Linus nach unten. Dem armen Ding ging es wirklich schlecht, das war nicht nur Theater, wie er zuerst gedacht hatte. Damit war auch das Verhalten des Großvaters geklärt. Als junger Mann hatte er ohnmächtig mitansehen müssen, wie seine kleine behinderte Schwester von den Nazis abgeholt worden und dann angeblich an Lungenentzündung gestorben war. Das hatte er nie vergessen und so setzte er sich immer für die Schwachen und Wehrlosen ein. Zu jenen schien Elvira in seinen Augen zu gehören. Die Großmutter war hocherfreut, als Linus den halbleeren Teller zurückbrachte. „Du bist ein Tausendsassa, Linus“, lobte sie ihn. Der Großvater schmunzelte: „Na, dann bringt ihr in Zukunft Linus das Essen.“ Dieser schüttelte den Kopf. „Ich hoffe, sie kommt bald herunter. Am Nachmittag geht sie mit uns reiten.“ „Au ja“, freute sich Angela. „Von mir aus kann der Virus ruhig in seinem Zimmer bleiben“, verkündete Thomas, dem eindeutig zu viel Aufhebens um den Gast gemacht wurde. „Du kannst von mir aus auch im Zimmer bleiben, wenn ich diesen Namen noch einmal höre“, bemerkte der Großvater ruhig. Doch wer ihn kannte, hörte den stählernen Unterton und auch sein Enkel wusste, dass der Spaß vorbei war.
Linus nahm die Sättel von der Bank vor dem Haus und wartete auf seine Begleiterinnen. Er hatte Angela zu Elvira geschickt. Kurze Zeit später kamen die beiden. Auch Elvira trug alte Jeans und eine karierte Bluse. Die Hose war ihr viel zu weit und so hatte sie einen „Strohspagat“ als Gürtel umgebunden. Die groben Kunststoffschnüre mit denen die Strohballen zusammengehalten wurden, gab es in Weiß, Blau und Orange. Sie wurden auf den Bauernhöfen gesammelt und für alles Mögliche verwendet. Als Gürtel hatte Linus sie noch nie gesehen. „Elvira verliert ihre Hose aber das Säle hat uns einen Strohspagat geholt“, verkündete Angela. Linus ging nicht lange auf das Thema ein, drückte den beiden ein Halfter in die Hand und schlenderte Richtung Weide, wo die beiden Pferde grasten. Wieder hatte er altes Brot mitgenommen und so kamen die Tiere gleich, als sie ihn sahen. Er gab Angela ein Stück Brot und sie hielt es Lisa auf der flachen Hand hin. Als sie die weichen Lippen des Pferdes kitzelten, kicherte die Kleine und wischte sich schnell die Hände an der Hose ab. Linus legte Lisa das Halfter an und sattelte sie. Elvira machte das Gleiche mit Lena. Ihre Bewegungen waren sicher und geschickt, stellte Linus erstaunt fest. „Das machst du auch nicht zum ersten Mal“, bemerkte er. „Nein, ich hatte als Kind ein Pony“, erklärte Elvira und lächelte traurig bei dem Gedanken. „Als ich zu groß wurde, hat meine Mutti es verkauft. Da hat mir das Reiten keinen Spaß mehr gemacht. Ich weiß gar nicht, ob ich es noch kann.“ „Reiten ist wie Radfahren. Das verlernt man nicht“, behauptete Linus und hielt Elvira seine ineinander verschränkten Hände hin. Geschickt stellte sie einen Fuß darauf und schwang sich in den Sattel. Sie tätschelte der Stute den Hals und wartete geduldig, bis Linus Angela in den Sattel geholfen hatte. „Ich hab schon fünf Reitstunden gehabt“, erzählte sie stolz. „Gut, dann halt dich fest, es geht los“, schmunzelte ihr Reitknecht, nahm das Halfter und führte das Pferd langsam Richtung Hütte. Ein wichtiger Teil der Reitstunden waren Säles Bewunderungsrufe. Elvira fiel neben ihnen in einen langsamen Schritt. Nachdem Angela vom Säle ausgiebig bewundert und ermahnt worden war, drehten sie eine Runde auf der Weide in der Nähe der Hütte. Elvira schien sich zu entspannen. Sichtlich mochte sie Pferde gern und konnte gut mit ihnen umgehen. Nach dem Reiten hatten sie Durst und tranken in der Hütte kalten Tee. Linus ging seiner Arbeit nach, während Angela den Sack mit den Strohschnüren vor die Hütte schleppte. Sie wollte mit Elvira einen richtigen Gürtel flechten. Die Begeisterung des Kindes schien die junge Frau anzustecken und sie half bereitwillig. Später saßen alle in der Stube bei der Jause und auch Elvira hatte ein kleines Stück Brot und Käse vor sich. Linus hob fragend die Augenbrauen und sie nickte leicht. Angela führte ihre neuen Gürtel vor. Mit Elviras Hilfe hatte sie Strohschnüre zu einem Zopf geflochten, was gar nicht so übel aussah, wie Linus zugeben musste. Thomas hatte einen neuen Haselstock geschnitzt und zeigte ihn stolz den anderen. Er wollte ihn natürlich gleich ausprobieren und ging mit seinem Cousin mit, um die Kühe von der Weide zu holen. Nach dem Melken gab es Milch und frisches Zopfbrot, weil Samstag war. Elvira trank einen Becher Milch. Sie schaute den Kindern zu, wie sie das Zopfbrot aus der Tasse löffelten. „Das durften wir bei Oma Grete auch immer“, erzählte sie und ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Danach spielten die Männer mit den Kindern Karten, die Großmutter strickte Socken und Elvira verabschiedete sich. Sie wollte sich noch die Haare waschen. Also schöpfte sie mit einem Blecheimer Wasser aus dem Waschkessel, leerte es in die Blechwanne, gab ein wenig von der Molke dazu, die in einem Eimer neben der Wanne stand und füllte dann mit kaltem Wasser auf. Sie zog den ausgebleichten Vorhang vor und stieg in die Wanne. Wenn sie wolle, könne sie jeden Tag baden, hatte ihr das Annele versichert. Die Molke würde ihre Haut und ihr Haar weich und seidig machen. Elvira räkelte sich wohlig im warmen Wasser und fühlte sich angenehm müde. Vielleicht war Oma Gretes Idee doch nicht so schlecht gewesen. Anneles Familie war wirklich nett zu ihr. Niemand machte ihr Vorwürfe, weil sie die Tabletten geschluckt hatte und niemand schimpfte, wenn sie nicht essen konnte. Im Moment fühlte sich auch der Kloß in ihrem Hals nicht mehr so groß an. Nach einer Weile stieg die junge Frau aus der Wanne, wickelte sich in ein großes Badetuch, schlang sich ein Handtuch um die nassen Haare und ging in ihr Zimmer. Dort schlüpfte sie in das lange weiße Nachthemd, flocht die feuchten Haare zu einem Zopf und trat ans Fenster. Es war noch nicht ganz dunkel. In der Dämmerung lagen die Hügel und weiter weg die hohen Berge vor ihr. Die friedliche Stille wurde nur durch das Bimmeln der Kuhglocken und die Stimmen aus der Stube unterbrochen. Elvira atmete die reine, kühle Luft tief ein und auch das Atmen ging wieder leichter. „Danke“, flüsterte sie und legte sich ins Bett, wo sie der Schlaf von den dunklen, bedrückenden Gedanken der vergangenen Tage und Wochen erlöste.