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Pfeifend schob Theo sein Fahrrad aus dem Schuppen und schwang sich auf den Sattel. Nach einer Woche Urlaub bei seiner Freundin Julie im Tessin fühlte er sich rundherum wohl und zufrieden. Sie hatten die Romanze,die bei einem Sommerkurs in der Kunsthandwerkerschule begonnen hatte, wieder aufgefrischt und herrliche, sorglose Tage verbracht, waren in Bellinzona auf den Burghügel gewandert und mit dem Boot auf dem Luganosee herumgedümpelt, hatten in Lugano Eis gegessen und in den schicken Straßencafés Espresso getrunken. Ihm zuliebe hatte Julie die teuren Boutiquen links liegen gelassen. Zum Abschied hatte er ihr dann einen Seidenschal von Chanel gekauft und sie hatte versprochen, ihn im Herbst zu besuchen. Theo nahm das Versprechen nicht allzu ernst. Frauen wie Julie waren wie Schmetterlinge. Jeder freute sich, wenn sie sich kurz bei ihm niederließen und bewunderte ihre Schönheit. Wenn sie bald weiterflatterten, so lag dies in ihrer Natur und man durfte sich nicht allzu sehr darüber grämen.

So in angenehme Gedanken versunken, kam erkurze Zeit später auf dem Parkplatz der Schule in Tiefenbach an. Als Schulwart musste er auch im Sommer regelmäßig auf dem Sportplatz und rund um die Gebäude den Rasen mähen. Mit dem Traktorrasenmäher, den sein Vorgänger noch erkämpft hatte, war dies keine große Sache. Theo stellte sein Fahrrad vor dem Schultor ab, als hinter ihm eine Kinderstimme ertönte: „Hände hoch, oder ich schieße!“ Verblüfft drehte sich Theo um und blickte in das grimmig entschlossene Gesicht eines kleinen Buben, der einen Wikingerhelm aus Plastik auf dem Kopf trug und Pfeil und Bogen auf ihn gerichtet hatte. Bevor er dem Befehl nachkommen und die Hände hochnehmen konnte, traf ihn der spitze Pfeil am Bauch. Theo stieß einen Schmerzenslaut aus und bückte sich, um den Pfeil aufzuheben. „Wer bist du und was machst du hier?“, herrschte er den Bengel an. Keineswegs eingeschüchtert,verkündete der Knirps: „Ich bin Wickie, der tapfere Wikinger und ich besiege alle Feinde.“ „Woher weißt du, dass ich ein Feind bin?“, wollte Theo wissen. Statt einer Antwort griff der tapfere Kämpfer in ein Kartonrohr, das er an einer Schnur über der Schulter trug, um einen neuen Pfeil heraus zu holen. Theo, der sich davon überzeugt hatte, dass der erste Pfeil angespitzt war, wollte kein weiteres Risiko eingehen und nahm ihm kurzerhand alle Pfeile weg. Unter lautem Gebrüll ging das Kind nun mit dem Bogen auf ihn los, also entwand er ihm auch diesen. Wickie schien wirklich ein tapferer Krieger zu sein, denn er hörte schnell auf zu schreien und umklammerte Theos Bein, um an Pfeil und Bogen zu kommen. „Wo ist deine Mama?“, fragte Theo. „Hinten“, grunzte der Kleine und setzte seine Bemühungen fort. Theo ging zur Rückseite des Gebäudes und sah einen aufgeschossenen, dunkelhaarigen Jugendlichen in einer abgeschnittenen Jeans und einem verwaschenen karierten Hemd vor der Himbeerhecke stehen, die der ganze Stolz seines Vorgängers gewesen war. „He du, pass gefälligst besser auf deinen kleinen Bruder auf und lass Edwinas Himbeeren in Ruhe!“, dröhnte Theos befehlsgewohnte Stimme. Als Schulwart hatte er gelernt, sich Respekt zu beschaffen. Dies fiel ihm bei seiner Größe von 1,90 m und seinem kräftigen Bass normalerweise nicht schwer. Auch diesmal drehte sich der Beerendieb blitzschnell um und entpuppte sich als Mädchen. Mit den großen dunklen Augen, der kleinen Nase und den feingeschwungenen Lippen sah es dem kleinen Wikinger sehr ähnlich und bei beiden hätte das dunkle, glatte Haar einen ordentlichen Schnitt vertragen.

Theo blieb verblüfft stehen und starrte das große, dünne Mädchen an. „Du solltest auf deinen Bruder aufpassen, anstatt Edwinas Himbeeren zu stehlen“, tadelte er. „Außerdem sind die Pfeile angespitzt. Das könnte wirklich gefährlich werden.“ „Ich stehle keine Himbeeren, ich wohne hier“, verteidigte sich das Mädchen. „Dann bist du also die Tochter der neuen Putzfrau?“, kombinierte Theo. Inzwischen wurde Wickie ungeduldig, da er nicht die geringste Chance hatte, seine Waffen zurückzugewinnen. „Mama, sag ihm, er soll mir meine Pfeile und meinen Bogen wiedergeben!“, heulte er zornig auf. Theo stutzte beim Wort „Mama“. Das magere, junge Ding war die Mutter des kleinen Bengels? Was hatte ihm der Bürgermeister nun wieder aufgehalst? Er übergab der jungen Mutter Pfeile und Bogen. „Hier auf dem Schulhof läuft er aber nicht mit angespitzten Pfeilen herum, das ist zu gefährlich“, warnte er nochmals streng. Ich klinge schon genau wie mein Vater, schoss es ihm durch den Kopf und er bemühte sich um einen freundlicheren Tonfall. Wickie hatte seiner Mutter die Waffen inzwischen abgenommen und sich davongemacht, während sie immer noch dastand und zu Boden schaute. „Dann bist du also die neue Putzfrau? Ich bin Theo, der Schulwart“, stellte er sich vor. „Der Bürgermeister hat mir erlaubt, dass ich jetzt schon einziehe, weil mein Bruder vor der Hochzeit das Haus renoviert und da musste ich unser Zimmer räumen.“ Theo nickte, obwohl er die Zusammenhänge nicht ganz durchschaute. Auch das war typisch für seinen Chef, den Bürgermeister, alle möglichen Versprechungen zu machen, und ihn nicht zu informieren. Er beschloss, auf dem Heimweg bei Melitta, der zweiten Putzfrau, vorbeizufahren. Sie wusste via „Dorftelefon“ bestimmt längst über die Sache Bescheid. Heißt dein Sohn wirklich Wickie?“, entfuhr es Theo. Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Er heißt Viktor aber ich nenne ihn immer Viki.“ Theo nickte. „Und du?“, hakte er nach. „Ich heiße Doro“, murmelte sie und verstummte wieder. Theo, der keine Lust mehr hatte, die einseitige Unterhaltung fortzusetzen, verabschiedete sich und ging Richtung Schultor. Seine gute Laune war längst verflogen. So ein einsilbiges, junges Ding und dazu noch der verzogene Bengel, dachte er missmutig. Dass er Doro mit seinem Auftritt erschreckt haben könnte, kam ihm gar nicht in den Sinn. Er zog Arbeitskleidung an und mähte den Rasen auf dem ganzen Schulgelände. Dann duschte er in der Umkleidekabine der Lehrer und machte sich auf den Weg zu seiner Kollegin Melitta.

Diese wohnte in einem gepflegten Einfamilienhaus, das sie mit ihrem Mann Adelhelm, einem Mitarbeiter der Bankfiliale bewohnte. Der gemeinsame Sohn Mathias, ihr ganzer Stolz, studierte in Innsbruck Medizin und kam nur in den Ferien nach Hause. Theo stellte sein Fahrrad vor dem Haus ab und bevor er klingeln konnte, öffnete sich die Haustür. „Tag Theo, bist du aus dem Urlaub zurück?“, begrüßte ihn die rundliche Melitta freundlich. „Gut siehst du aus. Magst du einen Kaffee und ein Stück Kuchen?“ „Da kann ich wohl nicht nein sagen“, grinste Theo. Er folgte seiner Mitarbeiterin in die Küche und setzte sich an den Tisch. Mit der grauen Dauerwelle, der Schürze über dem Sommerkleid und den Gesundheitsschuhen sah sie aus wie die perfekte Hausfrau. Flink füllte sie die Kaffeemaschine, stellte Teller und Tassen auf den Tisch und holte dann aus der angrenzenden Speisekammer einen Apfelkuchen. Ein Kännchen mit Milch und den Sahneboy entnahm sie dem Kühlschrank. Nebenbei horchte sie Theo über seinen Urlaub im Tessin aus. Dieser erzählte bereitwillig von der Burg, dem See und dass er eine alte Bekannte wiedergesehen habe. Über die heißen Nächte sagte er wohlweislich nichts, denn einen solchen Lebenswandel hätte die streng katholische Melitta aufs Schärfste missbilligt. Als Theo auf die neue Putzfrau zu sprechen kam, erfuhr er gleich deren ganze Lebensgeschichte.„Theodora ist mit unserem Mathias in die Klasse gegangen“, fing Melitta an. „Theodora?“, grinste Theo. „Zu mir hat sie gesagt, sie heißt Doro.“ „Ja, so nennt sie sich jetzt wohl, aber sie heißt Theodora, nach der Schwester ihres Vaters, die ins Kloster gegangen ist.“ Theo nickte. „Nach der Hauptschule hat sie eine Gärtnerlehre gemacht und mit 18 hat sie das Kind bekommen. Man hat gemunkelt, dass es von ihrem Chef ist, aber Genaueres hat man nie erfahren. Dann hat sie zu Hause bei ihrer Mutter und ihrem Bruder auf der Landwirtschaft geholfen.“ „Und ihr Vater?“, erkundigte sich Theo. „Der ist gestorben, als Doro noch in die Lehre ging“, seufzte Melitta. „Er hat im Krieg eine Kopfverletzung erlitten und immer furchtbare Kopfschmerzen und Migräne gehabt. Alwin, der älteste Sohn, hat den Hof übernommen. Er ist sehr fleißig und tüchtig. Vor drei Jahren hat er den Stall vergrößert und jetzt renoviert er das Haus, weil er im Herbst heiraten wird.“ „Und deshalb hat der Bürgermeister Doro erlaubt, jetzt schon in Edwinas Wohnung einzuziehen“, rundete Theo die Geschichte ab. Er schüttelte den Kopf. Franz, der Gemeindearbeiter, und er selbst hätten die Wohnung ausmalen sollen. Edwinas Mann Guido, der frühere Schulwart, war Kettenraucher gewesen und vor zweieinhalb Jahren an Lungenkrebs gestorben. Theo hatte gleich einspringen können und deshalb die Stelle bekommen, obwohl er aus dem Nachbarort Auenfeld stammte und jetzt auch dort lebte. Als er Melitta davon erzählte, zuckte diese die Achseln. Jetzt wohnt Doro schon dort. Sie kommt sicher zurecht. Edwina sagte, sie überlässt ihr die ganzen Möbel. „Wirklich großzügig, ihr den alten, verrauchten Kram zu überlassen“, bemerkte Theo. „Es ist besser als nichts“, verteidigte Melitta ihre alte Kollegin. „Edwina lässt dich übrigens schön grüßen. Es gefällt ihr bei ihrer Tochter und sie genießt die Pension.“ „Darauf wette ich, jetzt kann sie den ganzen Tag rauchen und fernsehen“, grinste Theo. Da er nebenbei zwei große Stücke Kuchen gegessen und drei Schalen Kaffee getrunken hatte, bedankte er sich höflich und verabschiedete sich. Sie würden sich spätestens beim Generalputz Anfang August wiedersehen, falls Theo nicht vorher Lust auf Kaffee und Kuchen hatte, bekräftigte Melitta, als sie ihn zur Tür brachte. Wieder weitaus besser gelaunt fuhr Theo heim. Dort musste er auch den Rasen mähen, nur leider ohne Traktor.

Theodor, Geschenk der Götter

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