Читать книгу Die Trevelyan-Schwestern: Flüstern der Freiheit - Helene Henke - Страница 5

1. KAPITEL

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„Nein, Mutter, ich kann dir noch nicht sagen, wann ich nach Lelant komme.“ Emilia schloss genervt die Augen und hielt sicherheitshalber ihr Smartphone ein bisschen weiter weg von ihrem Ohr.

„Aber wie redest du denn? Man könnte ja meinen, Lelant sei nicht dein Zuhause. Du bist schon seit Monaten in Frankreich“, kam es vom anderen Ende der Leitung.

„Ich arbeite hier“, wandte sie ein und ärgerte sich im selben Moment, dass es wie eine Rechtfertigung klang.

„Ach ja, zusammen mit deinem Freund …“, wandte ihre Mutter ein.

Emilia unterdrückte ein Seufzen. Schon allein wie ihre Mutter das Wort Freund aussprach, deutete auf nichts Weiteres hin, als dass sie mehr Informationen über ihr Privatleben erwartete. Nichts schien sie mehr zu interessieren als der Beziehungsstand ihrer Töchter. Daran änderte nicht einmal die Entfernung etwas, die zwischen ihnen lag.

Was sollte sie ihr erzählen?

Phillip war ihr Freund, ja. Sie schliefen auch miteinander, aber das tat sie auch mit anderen Männern. Allerdings blieben ihr die Nächte mit Phillip in Erinnerung, während die One-Night-Stands stets im schummrigen Rausch durchzechter Nächte verblassten. Eigentlich seltsam. Emilia runzelte kurz die Stirn bei dem Gedanken. Ganz sicher war dies jedoch kein Mutter-Tochter-Gesprächsthema. Sie konnte ihr kaum erzählen, dass sie im Gegensatz zu ihren Schwestern völlig anders war, was die Einstellung zu Männern betraf. Weder war sie so verklemmt wie die jüngere Rebecca noch so sittsam wie die ältere Cynthia, die vermutlich nur deshalb nicht ins Kloster ging, weil es dort keine Pferde gab. Ihre Mutter predigte Moral ohne Unterlass, wobei Emilia es ihr nicht immer ganz abnahm, was sie von sich gab. Vielmehr war sie davon überzeugt, dass Melisande Trevelyan kein Kind von Traurigkeit gewesen war, bevor sie einen englischen Lord geheiratet und diesem drei Töchter geboren hatte.

Doch Emilia hatte sich in der Familie fehl am Platz gefühlt, solange sie denken konnte. Sie stieß hörbar die Luft durch die Nase.

„Ich habe dir schon so oft gesagt, dass dieses Schnaufen nicht besonders elegant klingt.“

„Mutter, du weißt genau, dass ich mit Phillip hier bin“, erwiderte sie genervt.

Wie sie ihr Leben gestaltete, ging niemanden etwas an. Schon gar nicht ihre Mutter, die zu ihrer üblichen Tirade angesetzt hatte. Emilia hörte nur mit halber Aufmerksamkeit zu und hielt das Telefon weg von ihrem Ohr.

Herrgott, sie war erwachsen und konnte tun, was sie wollte.

Während die Stimme aus ihrem Smartphone nur als leises Säuseln zu ihr herüberdrang, lehnte sie sich in ihrem Liegestuhl zurück. Es war Nachmittag, doch Emilia fühlte sich matt wie andere in den frühen Morgenstunden. Sie war nach einer langen Partynacht erst vor zwei Stunden aufgestanden und nicht besonders aufnahmefähig. Den meisten Gästen der La Bastide de Saint-Tropez schien es ähnlich zu ergehen. Sie lagen ebenfalls dösend auf den Liegen, nur die sportlichen schwammen durch den weitläufigen Pool. Vielleicht täte auch ihr eine Erfrischung gut. Ein verlockender Gedanke, den sie aber sofort wieder verwarf. Danach müsste sie sich aufwendig zurechtmachen für ihren Fototermin. Dazu fehlte einfach die Zeit. Stattdessen genoss sie den Blick über das Schwimmbecken hinweg zum Meer, das still unter der schweren Hitze des strahlend blauen Himmels lag. In der Ferne zirpten die Grillen. Sie schob die Sonnenbrille ein wenig hinunter und betrachtete ihre mit unterschiedlichen Neonfarben lackierten Fußnägel. Ihre bronzefarbenen Beine benötigten eigentlich keine Sonne mehr, ihre Haut harmonierte auch so mit dem schneeweißen Badeanzug, dessen raffinierter Schnitt ihren braunen Bauch zeigte. Mit der freien Hand fuhr sie sich durch das Haar und schüttelte kurz ihren hellblonden Pagenschnitt in Form. Sie zog scharf die Luft ein, weil sich der pochende Schmerz in ihrem Kopf verstärkte. Das war keine gute Idee gewesen. Wenn sie schon die Nacht durchfeierte, sollte sie sich am nächsten Tag ruhig verhalten.

„Mhm“, murmelte sie in das Telefon, um ihrer noch immer redenden Mutter Aufmerksamkeit zu bekunden, und winkte den Kellner heran.

Emilia deutete auf ihre leere Espressotasse und gab dem Kellner außerdem mit Gesten zu verstehen, ihr zwei Aspirin mitzubringen.

Mit einem Seufzen legte sie den Hörer wieder an ihr Ohr.

„Hörst du mir überhaupt zu?“, rief ihre Mutter empört.

„Ja, natürlich. Ich bin nur gerade etwas gefragt worden“, log Emilia.

„Also, ich finde schon, dass du dich langsam wieder hier blicken lassen könntest.“

In Emilia regte sich der altbekannte Widerstand, wenn jemand ihr Vorschriften machen wollte. „Warum? Du hast doch Cynthia.“

„Jetzt lass doch mal diese Eifersüchteleien. Du machst es einem auch wirklich schwer, Kind. Deine Schwester ist nicht für alles zuständig.“

Emilia presste die Lippen zusammen. Sie hatte keine Lust, mit ihrer Mutter zu diskutieren. Sie war nicht eifersüchtig auf ihre Schwestern, sie liebte Cynthia und Rebecca, aber sie war die ständigen Vergleiche und Nörgeleien ihrer Mutter so satt. Warum sagte sie nicht einfach, sie solle nach Hause kommen, weil sie sie vermisste? Weil sie es gar nicht tat, sondern nur mit aller Gewalt ihre Vorstellung vom Leben ihrer Töchter durchsetzen wollte. Wenn Cynthia sich dem beugte, war es ihre Sache. Sogar Rebecca, ihre jüngere Schwester, hatte sich nach Italien abgesetzt, um ihre Unabhängigkeit zu genießen.

„Ich komme schon zurecht. Hältst du mich nicht für vertrauenswürdig?“

Ein alter Schmerz kroch Emilias Kehle hinauf. Sofort bedauerte sie ihre Frage und das kurze Schweigen am anderen Ende der Leitung machte es auch nicht besser.

„Nun ja, du warst immer ein sehr lebensfrohes Kind, daran hat sich nicht viel geändert.“

„Lebensfroh ist nur ein netteres Wort für vertrauensunwürdig“, murmelte Emilia in den Hörer.

„Ich habe dich nicht verstanden.“

„Macht nichts, war nicht so wichtig.“ Emilia lehnte den Kopf zurück und versuchte gegen den Knoten in ihrem Magen anzukämpfen. Sie konnte es sich nicht einmal erklären, doch die Gespräche mit ihrer Mutter verdarben ihr regelmäßig die Stimmung.

„Und was ist mit Weihnachten?“

„Weihnachten?“, erwiderte Emilia und setzte sich wieder auf. „Ich sitze hier bei über 30 Grad am Pool in Saint-Tropez. Kannst du dir vorstellen, dass der Winter das Letzte sein könnte, an das ich derzeit denke?“

„Man wird doch mal fragen dürfen.“

Emilia sah Phillip durch die Glastür kommen. Er trug ein weißes Hemd, leger über einer hellen Anzughose, was seiner schlanken Gestalt schmeichelte. Das blonde Haar ordentlich frisiert, die Sonnenbrille locker in der Hand, bot er eine willkommene Abwechslung. Erleichtert lächelte sie ihm entgegen. Wie so häufig tauchte ihr Freund im richtigen Moment auf. Im Gegensatz zu den meisten hier sah er überaus erholt aus, obwohl er mit ihr zusammen bis zum Morgengrauen auf der Party gewesen war. Wie machte er das bloß?

„Emilia, Kleines, wir müssen uns auf den Weg machen. Du hast gleich eine Fotosession.“ Phillip hockte sich neben sie und blickte fragend auf ihr Smartphone.

Emilia rollte die Augen.

„Wer hat denn da mit dir gesprochen? Dieser Designerfreund von dir?“

„Phillip Dupont ist sein Name, Mutter, und wir haben gleich einen Termin.“

„Na, wenn dir das wichtiger ist, als sich mit mir zu unterhalten …“

Anklagendes Schweigen.

Emilia seufzte. „Ich muss jetzt auflegen. Wir können ein anderes Mal über Weihnachten sprechen.“

Sie verabschiedete sich von ihrer Mutter und spülte die beiden Aspirin, die der Kellner diskret auf den Beistelltisch gelegt hatte, mit einem Glas Wasser hinunter.

Phillips hochgezogene Augenbraue deutete auf eine unausgesprochene Frage hin. „Entschuldige, meine Mutter raubt mir noch den letzten Nerv.“ Emilia stieß ein leises Stöhnen aus und stand von ihrer Liege auf.

„So schlimm kann sie doch nicht sein“, erwiderte er und griff nach ihrer Espressotasse.

Emilia lachte auf, was ihr sogleich einen stechenden Schmerz im Kopf verursachte. Sie rieb sich die Schläfen. „Du kennst sie nicht. Sie will unbedingt, dass ich Weihnachten nach Hause komme, natürlich mit dem Mann meines Herzens an der Seite.“

„Klingt doch großartig. Wird es Truthahn geben?“ Er nahm einen Schluck aus der Tasse und verzog das Gesicht, weil der Espresso vermutlich nicht mehr heiß genug war.

„Sehr witzig, Phillip.“

„Das war doch kein Scherz“, erwiderte er und ging voraus.

Emilia blickte ihm einen Moment nach und folgte dann kopfschüttelnd.

Als sie neben ihm ankam, wandte er sich ihr zu. „Weißt du, ich liebe nämlich Truthahn.“

Sie knuffte ihm lachend auf den Oberarm.

Gemeinsam verließen sie den Poolbereich. Doch statt direkt zur Lobby zu gehen, um von dort aus einen Wagen zu bestellen, steuerte Phillip auf die Café-Bar zu und orderte beim Barista zwei doppelte Espresso.

„Dafür haben wir doch keine Zeit mehr“, wandte Emilia ein.

„Dann nehmen wir sie uns“, erwiderte er und riss mehrere der in Schälchen aufgestellten Salztütchen auf.

Emilia runzelte die Stirn. „Willst du jetzt auch noch Tequila trinken? Das ist selbst mir zu früh.“

„Eben. Du bist dehydriert, daher die Kopfschmerzen. Dein Körper hat den Alkohol zu schnell abgebaut, nicht aber dessen Zwischenprodukte.“

„Du hättest auch einfach sagen können, dass ich einen Kater habe.“ Emilia rollte die Augen.

Der Kellner servierte den Espresso, woraufhin Phillip in eine der Tassen das Salz kippte, umrührte und sie ihr zuschob. „Hier bitte, runter damit.“

Emilia schauderte und starrte in ihre Tasse. Der pechschwarze Espresso sah ganz harmlos aus.

„Die Kombination aus Koffein und Salz bringt dich schnell wieder auf die Beine. Das wird dir jeder Kneipenwirt beschwören.“ Er zwinkerte ihr zu.

„Wie du meinst“, erwiderte sie und trank in möglichst großen Zügen.

Das starke Kaffeearoma verteilte sich in ihrem Mund, doch im nächsten Moment ließ eine völlig unpassende Salznote ihre Geschmacksnerven explodieren. Sie verzog angewidert das Gesicht. Der Barista drehte sich schnell um, konnte jedoch sein Schmunzeln nicht rechtzeitig verbergen.

„Du bist einfach schrecklich, Phillip Dupont“, scherzte sie, nachdem der Geschmack aus ihrem Mund verschwunden war.

„Das bin ich gerne, wenn es dir dafür gleich besser geht.“

Emilia folgte ihm lächelnd zur Tür und betrachtete dabei seine elegante Gestalt. Natürlich war Phillip alles andere als schrecklich. Er war der sensibelste Mann, den sie je kennengelernt hatte, ohne dabei weichlich zu wirken. Gewiss nicht. Einen besseren Freund konnte man sich nicht wünschen. Seit sie ihn kannte, war er immer für sie da. Er hörte ihr zu, wenn sie stundenlang über Gott und die Welt lamentierte. Er stand ihr bei, wenn sie traurig war, baute sie auf, wenn sie einen Misserfolg durchmachte, und sorgte sich um sie, in jeder Beziehung. Sie hoffte, dass der Tag noch in weiter Ferne lag, an dem die sanfte, liebevolle Frau, die er verdiente, auftauchen würde, um sich ihn zu angeln.

Vor der Rezeption herrschte rege Betriebsamkeit. Eine Gruppe junger Mädchen hatte sich dort versammelt. Immer wieder drangen einzelne Ausrufe oder Kreischen zu ihnen herüber. Emilia reckte den Hals, um zu erkennen, wen die Mädchen mit ihrer Begeisterung bedachten. Doch sie war zu klein.

„Was ist da los?“, fragte sie.

Phillip war zwar nicht viel größer als sie, aber es genügte offenbar, um mehr zu erkennen. „Das ist Lindsey Star, ein amerikanisches Supermodel. Sie ist erst vor einem Jahr auf der Bildfläche erschienen und aus dem Nichts aufgeschossen wie ein Meteor.“

Emilia blickte zu Phillip und ärgerte sich über die Bewunderung in seiner Stimme.

„Ich weiß, wer Lindsey Star ist, wir sind uns schon auf einigen Fashionshows begegnet“, erwiderte Emilia. „Ihr Aufstieg könnte ebenso mit dem einer Sternschnuppe verglichen werden: hell und strahlend, aber schnell wieder erloschen.“

Phillip hob die Augenbrauen.

„Jetzt guck nicht so. Sie hat einen sehr prominenten Vater, allein der Name Jefferson Star öffnet schon Türen. Deshalb auch die Horde von Groupies.“ Emilia deutete mit dem Kopf auf die Gruppe, die sich um Lindsey scharte.

„Immerhin läuft sie nächste Woche für Viktor Gregor“, kommentierte Phillip.

Emilia fuhr herum. „Etwa auf der Mailänder Fashion Week? Ernsthaft? Ich dachte, die Aufstellung der Models sei noch in Planung?“

Sie fühlte Unmut in sich aufsteigen. Seit Monaten arbeitete sie schon darauf hin, auf der wichtigsten Modenschau der Saison zu laufen, und obwohl noch keine Buchungen stattgefunden hatten, war sie sich ziemlich sicher, von Viktor gewählt zu werden. Dass anscheinend schon Models informiert worden waren, irritierte und verärgerte sie.

Eine Reporterin zwängte sich durch die Menge aufgeregter Mädchen und hielt Lindsey das Mikrofon vor den Mund, woraufhin diese zunächst mit einem missmutigen Gesichtsausdruck reagierte. Ein Bodyguard trat hervor und schob mit einer resoluten Bewegung das Mikrofon beiseite. Doch Lindsey überlegte es sich offenbar anders und hielt den großen Mann mit einer Handbewegung zurück, bevor sie sich geschickt auf den Tresen der Rezeption hievte. Die Hotelmitarbeiterin machte eine entrüstete Miene, erhob aber keine Einwände gegen das Model, das nun selbstzufrieden lächelnd vor ihrer Nase saß. Lindseys braun gebrannte Knie wölbten sich durch die franseligen Risse ihrer Designerjeans, während sie keck ihre Beine baumeln ließ. Emilias Blick fiel auf die bunt gemusterten Sneakers, eines von Lindseys Markenzeichen. Angeblich sollte sie sogar eine eigene Kollektion veganer Schuhe auf den Markt gebracht haben. Etliche Smartphones wurden hochgehalten, um einen Schnappschuss von Lindsey Star zu ergattern.

„Ist schon in Ordnung.“ Sie wandte sich der Reporterin zu.

„Miss Star, Willkommen in Saint-Tropez. Sie werden nächste Woche auf der Mailänder Fashion Week in vorderster Reihe die Kollektion des bekannten Designers Viktor Gregor präsentieren. Obwohl Sie noch sehr jung sind, gehören Sie bereits zur weltweiten Oberliga der Models. Wie kam es zu Ihrem Erfolg? War die Bekanntheit Ihres Vaters, des Rockstars Jefferson Star, bei Ihrer Karriere förderlich?“

Lindsey verdrehte kurz die Augen und lächelte die Reporterin an. „Mein Vater hat nicht das Geringste mit meinem Erfolg zu tun. Ich bin siebzehn und heiße Star. Was will man mehr?“

Sie streckte siegessicher beide Hände in die Höhe und blickte in die Runde, woraufhin die pubertäre Fangemeinde aufkreischte.

„Was wollen Sie damit sagen, Miss Star?“, hakte die Reporterin nach.

Lindsey kicherte irritiert. Anscheinend war sie es nicht gewöhnt, dass man ihre Aussagen hinterfragte. „Na, das liegt ja wohl auf der Hand. Die meisten Models sind total alt. Ihre Zeit ist einfach vorbei.“

Der Reporterin klappte die Kinnlade herunter. Doch bevor sie zu weiteren Fragen ansetzen konnte, mischte sich Lindsey bereits flankiert von Bodyguards unter ihre Fans.

„Das hat dieses kleine Biest jetzt nicht wirklich gesagt?“ Emilia verschränkte die Arme vor der Brust und schnaufte. „Was gibt es denn da zu grinsen?“, fuhr sie Phillip an. „Willst du damit etwa andeuten, dass ich alt bin?“

„Nein, wollte ich nicht“, erwiderte er, grinste aber immer noch.

„Sondern?“ Emilia blitzte ihn an.

Phillip zuckte mit den Schultern.

Sie wusste genau, dass er ihr keine Antwort darauf geben würde. Das tat er nie, wenn es um sie ging. Natürlich hatte sie sich selbst wiedererkannt, in Lindseys herablassendem Verhalten. Nicht ganz so zickig, aber durchaus ähnlich.

„Seit wann steht fest, wer für Gregor in erster Reihe läuft?“, fragte Emilia. „Mich hat er auch gebucht, oder?“

„Hat er. Ja“, erwiderte Phillip. „Aber auf seine Aufstellung der gebuchten Models hat niemand Einfluss. Viktor Gregor hat sich nun mal Lindsey als seine Muse auserkoren.“

„Hat er das? Das werden wir ja noch sehen. Organisiere mir ein Treffen mit ihm.“

„Emilia!“ Phillip zog sie ein Stück außer Hörweite der Umstehenden. „Warum ist dir das so wichtig? Du bist überaus gefragt und hast dies in kürzester Zeit erreicht. Wir können uns vor Anfragen kaum retten.“

„Wenn der Gipfel in Sichtweite ist, sollte ich mich nicht ausruhen, sondern versuchen, ihn zu erklimmen. Ich will ganz nach oben, Phillip.“

Er stieß ein leises Seufzen aus. Im selben Moment bedauerte Emilia ihre Worte. Sie hatte ihn gemeint und das wusste er. Sie sah es an dem Schatten, der über seine Miene zog und seine nachtblauen Augen noch mehr verdunkelt hatte, bevor er ihrem Blick ausgewichen war. Seine Wangen waren angespannt, der geschwungene Mund fest verschlossen. Sie konnte beinahe sehen, wie er die Zähne fest aufeinanderbiss.

Phillip war ein erfolgreicher Designer und kreierte nicht nur wunderbare Mode, sondern auch zahlreiche Dekorationsgegenstände. Die Marke Dupont war exklusiv und erzielte beachtliche Umsätze. Doch ihr feinfühliger Freund befand sich seit über einem Jahr in einer schweren Schaffenskrise. Emilia hatte durchaus Verständnis dafür, dass Kreativität nicht abrufbar war, wie Phillip es auszudrücken pflegte. Ebenso genoss sie natürlich die Vorteile seiner Beziehungen, die ihren Weg geebnet hatten, seit Phillip als eine Art Manager für sie agierte. Anderseits konnte er doch keinen Weg aus seiner Krise finden, wenn er seine Zeit damit verbrachte, wie ein Schatten an ihrer Seite zu kleben. Emilia spürte, dass Phillip mehr für sie empfand als bloße Freundschaft, doch sie ignorierte es. Offene Bewunderung von Männern langweilte sie ohnehin und so sehr sie Phillip mochte, verhielt es sich bei ihm nicht anders. Er war ein wahrer Freund, der sich stets auf ihre Bedürfnisse einzustellen wusste, aber eine Beziehung mit ihm konnte sie sich nicht vorstellen. Das wäre ihr zu vorhersehbar in dem, was geschehen würde. Sie hatte schon genug mit sich selbst zu tun, mit dieser inneren Unruhe, diesem Lebenshunger, der sie antrieb und der nicht zu stillen war.

Wie dem auch sei, sie würde sich nicht ausbremsen lassen von seinen Belehrungen. Sie hatte es weit gebracht und lief auf den gefragtesten Laufstegen der Welt. Ihr Terminkalender war voll, aber die Königsdisziplin war nun einmal die vorderste Reihe der Fashion Week in Mailand. Dort würde die gesamte Prominenz der Modebranche aufwarten, dort standen die Models im Fokus der Weltpresse und genau das wollte Emilia.

Die Reporterin beendete ihre Befragung unter lautstarken Bedingungen. Auch kein einfacher Job, dachte Emilia und beobachtete das Getümmel. Lindsay Star blickte zu ihr herüber und winkte zum Gruß, bevor sie sich aus ihrer Gruppe löste, um auf Emilia zuzugehen. Ihre hüftlangen Locken wippten bei jedem Schritt und beim Näherkommen musste Emilia sich eingestehen, dass das Mädchen verdammt hübsch war. Ihr Gesicht war nahezu symmetrisch, das kastanienfarbene Haar brachte die grüngrauen Augen zum Leuchten. Wahrscheinlich war der dichte Wimpernkranz auch noch echt, dachte Emilia missgestimmt.

„Du bist doch Emilia Trevelyan, die Adelige?“, fragte sie mit breitem texanischen Akzent.

„Und du die Tochter des Rockstars Jefferson Star. Hast du nicht kürzlich ein Album mit deinem Vater aufgenommen, das quasi über Nacht die Chartlisten erobert hat? Klingt ganz anders als das, was du der Reporterin eben erzählt hast.“

Lindsey lachte perlend auf, woraufhin Emilia die Luft durch die Nase sog.

„Denen muss man ja nicht alles erzählen. Das Leben einer Prominenten ist eben nichts weiter als Schein“, erwiderte Lindsey.

Im nächsten Moment fand sich Emilia in einer Umarmung wieder. „Ich finde es toll, dich zu treffen. Ich habe schon viel von dir gehört. Dein Aufstieg als Model war ja kometenhaft. Was für eine Leistung.“

„Und das trotz meines hohen Alters.“ Emilia setzte ein Lächeln auf.

Lindsey blinzelte und fing sich wieder. „Ach, das habe ich doch nur so gesagt. Alles Show, weißt du doch.“

Eine Gruppe junger Mädchen scharte sich um Lindsey wie Küken um die Henne. „Das ist Emilia Trevelyan, ihr kennt sie doch sicher.“ Sie wandte sich an Emilia. „Und das sind meine Freundinnen.“

Emilia musterte die Mädchen, von denen die meisten wie kleine Kopien von Lindsey Star aussahen. „Groupies sind keine Freunde, Lindsey.“

Allgemeines Gekicher.

„Jetzt hast du aber wirklich geklungen wie meine Mutter.“ Lindsey zwinkerte ihr gönnerhaft zu. „Komm doch heute Abend auf meine Suite, dort startet eine coole Party. Genau genommen sind unsere Partys immer ziemlich cool.“

Emilia verkniff sich ein genervtes Aufstöhnen und lächelte stattdessen, als hätte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als einem Teenagergelage beizuwohnen. „Das klingt lustig. Ich werde es einrichten.“

Nach einer weiteren Umarmung rauschte Lindsey Star samt Gefolge davon.

„Das war jetzt nicht dein Ernst.“ Phillip trat neben sie.

Emilia zuckte mit den Achseln. „Es spricht doch nichts dagegen, sich anzusehen, was unsere kleine Lindsey so im Privatleben treibt.“

*

Sie parkten den Wagen an der Promenade Bateau und gingen auf die eng beieinander liegenden Häuser aus Sandstein zu. Die Mittagssonne stand hoch am Himmel, doch die Meeresbrise milderte ein wenig die Hitze. Der salzige Küstengeruch wurde abgelöst durch das Aroma von frisch gebackenem Brot und Kaffee, als sie durch eine schmale Gasse den Marktplatz erreichten. Es herrschte reges Treiben unter den Sonnenschirmen der zahlreichen Cafés. Touristen flanierten an den Schaufenstern der edlen Boutiquen vorbei. Modebewusste saßen lässig auf Bistrostühlen und trugen ihre neusten Outfits zur Schau. Die meisten der in die Jahre gekommenen Häuser, deren abbröckelnder Putz einen gewissen Charme hatte, wurden aufgewertet durch die Geschäfte im Erdgeschoss. Inmitten des belebten Platzes thronte der imposante Bau des zweistöckigen Modehauses. Die im edlen Grün gehaltenen Schaufenster umrahmten die Eingangstür, in der sie die Geschäftsführerin, Madame Girard, erwartete.

„Das sind Sie ja endlich“, rief die elegante Mittvierzigerin im cremefarbenen Wickelkleid aufgeregt. „Es hat für heute eine spontane Änderung gegeben. Die Vorbereitungen laufen bereits auf Hochtouren.“

„Was denn für Änderungen?“, fragte Phillip.

„Viktor Gregor hat eine spontane Modenschau in unserem Haus angekündigt, weil sich derzeit seine Lieblingsmodels in der Stadt befinden.“ Sie wandte sich an Emilia. „Sie zum Beispiel, ich hoffe, Sie stehen zur Verfügung, und diese Amerikanerin, Lindsey Star, seine aktuelle Muse.“

Emilia nickte und nahm mit Genugtuung Madame Girards Augenrollen zur Kenntnis. „Natürlich werde ich an der Modenschau teilnehmen.“

„Er meint, eine solche Gelegenheit könne man sich nicht entgehen lassen.“ Sie warf die Hände in die Luft. „Er hat gut reden. Die Organisation bleibt natürlich mir überlassen. Ich habe keine Ahnung, wie ich bis heute Abend die richtige Kollektion zusammenstellen soll.“

Eine Modenschau war immer etwas Besonderes in der Karriere eines Models, doch ein exklusives Fotoshooting eben auch. Dass dies nun nicht stattfinden würde, fand Emilia alles andere als gut. Aber nun gut, sie würde sich den Umständen anpassen. Immerhin handelte es sich um Viktor Gregors Session. Um ihren Unmut darüber zu verbergen, setzte sie ein Lächeln auf, das allerdings verkrampft wirkte. Worte fand sie nicht, aber das übernahm glücklicherweise Phillip.

„Keine Sorge, Madame Girard, ich helfe Ihnen. Sie sind doch ausgezeichnet ausgestattet. Ihr Sortiment verfügt über die neueste Gregor-Kollektion, da werden wir doch problemlos eine entsprechende Auswahl treffen können.“

Madame Girards Gesichtszüge entspannten sich unter Phillips Lächeln. Emilia schüttelte innerlich den Kopf. Auch wenn die Boutique exklusiv ausgestattet war, blieb es dennoch ein nicht zu unterschätzendes Unterfangen, in wenigen Stunden eine Modenschau auf die Beine zu stellen. Ob dies gelingen würde, blieb zu bezweifeln, doch Phillip gelang es mit seinem Charme ohnehin, jeden um den Finger zu wickeln. Und siehe da, noch bevor Emilia von ihrem Exklusivrecht Gebrauch machen konnte, ihre Kleider selbst auszusuchen, hatte Phillip ein paar Handwerker organisiert, die auf die Schnelle einen hölzernen Laufsteg mitten in Madame Girards Boutique aufbauten. Emilia testete selbst das Bauwerk, nachdem es mit einem dezenten Filzteppich überzogen worden war. Die Bretter unter ihren Füßen wirkten stabil. Sie sprang lachend zur Seite, als Phillip und zwei der Handwerker zu ihr auf die improvisierte Bühne sprangen und mit stampfenden Schritten auf- und abmarschierten. Aus einem benachbarten Atelier wurden noch ein paar Scheinwerfer gebracht, um das Ganze ins rechte Licht zu rücken. Emilia betrachtete verblüfft, was die Männer mit ein paar Handgriffen in so kurzer Zeit zustande gebracht hatten. Zwischen den cremefarbenen Wänden, an denen geschmackvoll die Ware präsentiert wurde, beleuchtet von glitzernden Kristallleuchtern, machte sich die kleine Bühne wirklich gut. Nicht zu vergleichen mit den Bühnen der Mode-Hochburgen, aber dennoch heimelig elegant. Emilia trug bereits ein cremefarbenes Kostüm aus der aktuellen Gregor-Kollektion, als sie nach draußen trat, wo Phillip mit den Helfern stand und sie zu einem kleinen Umtrunk eingeladen hatte. Es hatte sich unter den Geschäftsleuten in der Nähe schnell herumgesprochen, dass gleich eine Modenschau stattfinden würde, zu der auch zahlreiche prominente Gäste zu erwarten waren. Der Wirt aus einem benachbarten Café eilte geschäftig herbei und ließ von zwei Kellnern Getränke servieren. Das ganze Viertel schien sich zu der kleinen Zusammenkunft im Freien dazuzugesellen. Emilia lächelte bei dem Anblick der gestikulierenden, laut redenden Franzosen, die einander ständig zu umarmen und zu küssen schienen. Welch einen Gegensatz zu den Engländern sie boten, mit ihrer Fähigkeit, sich überall völlig zu entspannen. In Lelant hatten Treffen stets ein gediegenes Flair, bei dem stets Contenance bewahrt wurde, was für Außenstehende leicht angestaubt wirken konnte. Die Stimme erhob man nur selten, sondern redete in sanften Tönen, nahezu einschläfernd, fand Emilia. Sie ließ sich einen Latte macchiato bringen und schaute sich amüsiert das Geschehen an. Sogar Madame Girard hatte sich entspannt, bis die Ankunft der ersten Limousine sie erneut aufscheuchte.

Viktor Gregor stieg mit seinem Assistenten aus dem Wagen und eilte in die Boutique, ohne einen Blick um sich zu werfen. Kurz darauf fuhren schon die nächsten Wagen vor. Aus einem stieg Lindsey Star, gefolgt von ein paar anderen Models. Sie winkte Emilia freudig zu, was sie nicht ganz so überschwänglich erwiderte. Glücklicherweise blieb keine Zeit für ein Gespräch oder dergleichen, weil bereits die ersten Zuschauer auftauchten. Offenbar gab es eine Art geheimes Netzwerk für Prominente, die sich derzeit in Saint-Tropez aufhielten. Kurz darauf war die Boutique bis auf den letzten Platz gefüllt und gespannte Stille legte sich über den Raum, als Gregor auf die Bühne trat und sich für das zahlreiche Erscheinen zu seiner doch sehr überstürzten Aktion bedankte. Das Publikum lachte und hing an seinen Lippen. Unter dem Applaus verließ er die Bühne und die ersten Models traten heraus. Emilia bezog nach ihrem Auftritt Stellung am Ende der Bühne in Türnähe, von wo aus sie den besten Überblick hatte. Phillip gesellte sich mit zwei Gläsern Champagner zu ihr.

Sie konnte nicht umhin, den Atem anzuhalten, als Lindsey in einer regenbogenfarbenen Chiffonabendrobe die Bühne betrat. Ihre Füße und Schultern bewegten sich in einem kraftvollen Stakkato völlig im Einklang. Gleichzeitig schwebte sie voller Anmut über den Laufsteg. Mit einem in die Ferne gerichteten Blick bewegte sie sich mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan, als von innen heraus zu leuchten. Bei jeder Drehung senkte sie die mit Federn geschmückten Wimpern, um kurz darauf ihren Blick über das Publikum schweifen zu lassen.

In der ersten Reihe saß Caroline Summers, die mit Abstand gefürchtetste Kritikerin der Modebranche, und starrte wie paralysiert zu dem jungen Mädchen empor. Einzig ihre Professionalität hinderte sie daran, den Mund vor Staunen zu öffnen. Emilia hatte Caroline Summers schon einige Male auf Modenschauen beobachtet, die steinerne Miene hinter einer großen Sonnenbrille verborgen. Manchmal hob sie sogar nur selten den Kopf, um von ihren Notizen aufzusehen, weil die dargebotenen Kollektionen nicht ihr Interesse erweckten. Durch nichts konnte man ihr anmerken, welches Urteil sie am Ende der Veranstaltung fällen wurde. Doch wie auch immer es ausfallen würde, es war so endgültig wie der Daumenzeig eines römischen Kaisers, der über das Schicksal der Gladiatoren in der Arena entschied. Dieses Mal war es anders. Die Notizen lagen ungeachtet auf ihrem Schoß, während sich irgendetwas im Gesicht der Kritikerin abzuspielen schien, ein leichtes Zucken in den Mundwinkeln, die Andeutung eines Lächelns.

Auch wenn Emilia selbst beeindruckt war von Lindseys Darbietung, erzeugte die Aufmerksamkeit der mächtigsten Modekritikerin eine brennende Eifersucht in ihr. Ein altbekanntes Gefühl, gegen das sie sich nicht wehren konnte. Plötzlich fühlte sie sich zurückversetzt in ihre Kindheit, in der sie ständig versucht hatte, mit ihren Schwestern zu konkurrieren. Wenn Cynthia ihren Eltern die neusten Reitkunststücke vorführte, konnte sie es noch nachvollziehen, auch wenn es sie genervt hatte. Doch sie war die Älteste und ihr entwicklungsmäßig natürlich voraus. Außerdem konnte Cynthia wirklich hervorragend mit ihrem Pferd Nori umgehen. Das Tier tat einfach genau das, was sie wollte.

Emilia interessierte sich ohnehin nicht besonders für das Reiten, schon allein die Gerüche im Stall konnte sie nicht besonders ertragen. Wenn jedoch auch noch die kleine Rebecca vorpreschte und ihre Eltern mit ihren selbst gemalten Bildern verzückte, fühlte sich Emilia endgültig als Außenseiterin. Sie war lieber für sich und konnte nicht verstehen, wieso ihre Schwestern sich ständig in den Vordergrund stellen mussten und damit auch noch die erwünschte Beachtung fanden. Jetzt als Erwachsene war sie zwar nicht mehr die eigenbrötlerische Einzelgängerin, aber eben auch keine Teamplayerin. Sie vertrat die Meinung, dass man seine Ziele aus eigener Kraft erreichen musste. Nur so konnte sie die gewünschte Anerkennung genießen – alleine. Auch wenn Phillip ihr geholfen hatte, verdankte sie ihren Erfolg als Model nicht nur ihm, sondern ihrer eigenen harten Arbeit. Und jetzt kam ihr diese kleine Lolita in die Quere. Gegen Lindseys jugendliche Frische und prominenten Hintergrund würde sie nicht ankommen können. In den Augen der meisten männlichen Modedesigner punktete das Mädchen schon allein damit. Aber wenn sogar eine Frau wie Caroline Summers sich beeindruckt zeigte, musste Emilia mit einer ernst zu nehmenden Konkurrenz rechnen. Vor allem, was die bevorstehende Modenschau in Mailand anbetraf. Jetzt durfte sie nicht tatenlos zusehen, wie ihr die Aussicht auf einen Erfolg streitig gemacht werden würde. Sie musste tun, was sie immer tat, und die Dinge selbst in die Hand nehmen, um ihren eigenen Weg frei zu halten. Emilia verspürte eine grimmige Verbissenheit in sich hochkommen.

*

„Das ist ja so cool, dass du noch mitgekommen bist, auch wenn das hier nicht ganz dein Ding ist.“ Lindsey setzte sich auf die Sessellehne und deutete mit dem Kopf in die Runde.

Sie hatte recht. Emilias Neugierde auf Lindsey Star fernab der Öffentlichkeit war schnell befriedigt und wurde ebenso rasch ersetzt durch Langeweile. Seit einer Weile saß sie in einem Sessel und beobachtete das pubertäre Balzgehabe der Groupies inmitten der luxuriösen Hotelsuite. Lindsey schien es leichtzufallen, sich den kichernden Girlies anzupassen. Anderseits gelang es ihr aber auch, sich in Emilias Gegenwart erwachsen zu geben. Ganz zu schweigen von der bemerkenswerten Professionalität bei ihren Auftritten. Diese Wandelbarkeit mochte ein bewundernswertes Attribut sein, über das Emilia nicht verfügte. Wollte sie auch gar nicht. Sie war immer sie selbst und sah es nicht ein, sich zu verstellen, um anderen zu gefallen. Wenigstens hatte Phillip beschlossen, heute Abend nicht anwesend zu sein. Es hätte Emilia gerade noch gefehlt, dass er sich hier, in einer Gruppe von Teenagern, als ihr Aufpasser präsentierte. So war sie selbst die Erwachsene, der man mit einem gewissen Respekt begegnete, was sie deutlich an den bewundernden Blicken aus sicherer Entfernung vernehmen konnte.

„Wenigstens gibt es Alkohol“, erwiderte Emilia und hielt das kleine Fläschchen Gin hoch. „Allerdings hat die Hotelbar nicht viel zu bieten.“

Lindseys Stirn legte sich kurz in Falten, dann hellte sich ihr Gesicht wieder auf.

„Aber ich hätte da noch etwas anderes“, raunte sie in verschwörerischem Tonfall. „Ich meine, ich weiß ja nicht, wie du dazu stehst …?“

Emilia hätte beinahe laut aufgelacht über die plötzliche Unsicherheit in Lindseys Miene.

„Zeig schon her“, forderte Emilia sie auf und nickte ihr wohlwollend zu.

Sie sprang auf, lief in den angrenzenden Schlafraum und präsentierte Emilia möglichst diskret ein Tütchen mit Marihuana.

Jetzt lachte Emilia tatsächlich und genoss den irritierten Blick des Mädchens.

„Ich brauche nichts zum Runterkommen, sondern etwas zum Draufsein. Hast du Lust auf Party?“

Lindsey nickte eifrig.

„Dann komm mit!“

Emilia ging voraus. Im Bad angekommen verschloss sie die Tür. Ihr Blick fiel auf einen durchsichtigen Karton, der auf einer Anrichte platziert war wie eine wertvolle Schmuckschatulle. Doch darin befanden sich zwei Paar Pumps, nudefarben und schwarz, wie Schaustücke präsentiert. Außer an den leichten Gebrauchsspuren in den Innenseiten waren die Schuhe in tadellosem Zustand. Emilia runzelte die Stirn über diese offensichtliche Marotte, die sie eigentlich eher einer alten Dame zugetraut hätte. Denn wie sie gesehen hatte, neigte Lindsey eher dazu, ihre Schuhe wahllos im Appartement herumliegen zu lassen. Eine Nachlässigkeit, die Emilia ganz normal empfunden hatte, im Gegensatz zu dieser sorgfältigen Aufbewahrungsform. Sie ging auf den Karton zu und strich mit der Hand darüber. „Sind das Erbstücke oder besondere Schuhe von einer berühmten Persönlichkeit?“

Lindsey lachte. „Nein, die sind nur sehr empfindlich. Ich habe sie selbst entworfen. Sie bestehen ausschließlich aus veganen Materialien. Ich trage nur diese Schuhe auf Modenschauen. Eine der Variationen passt immer zur entsprechenden Kollektion.“

Emilia hob die Augenbrauen. „Und das lassen dir die Designer durchgehen?“

„Natürlich. Ich sage von vorneherein, dass ich nur unter dieser Bedingung auftrete. Ich nenne sie nicht umsonst meine Zauberschuhe, wie die von Alice im Wunderland.“ Lindsey kicherte.

„Aha“, machte Emilia und wandte sich ab, damit ihr genervter Gesichtsausdruck verborgen blieb.

Sie konnte kaum glauben, was sie gehört hatte. Als ob sich die großen Designer dazu bereit erklären würden, dass ein Modell sein eigenes Schuhwerk bevorzugte. Unwillkürlich dachte Emilia an die Blasen und Schwielen an ihren Füßen, die sie nach jedem Auftritt davontrug, von den schlecht sitzenden und neuen Schuhen, die man ihr zu den Kollektionen dazustellte. Auch die anderen Models klagten regelmäßig über den Missstand, Schuhe zu tragen, die nicht ihrer Größe entsprachen. Außer der kleinen Lindsey Star? Das konnte doch nicht wahr sein. Mit welcher Berechtigung wurden ihre Sonderwünsche genehmigt?

Alice im Wunderland, dachte Emilia höhnisch.

Lindsey schien auch noch zu glauben, was sie von sich gab.

Emilia zog ein Tütchen mit weißem Pulver aus ihrer Hosentasche und genoss mit Genugtuung, wie sich Lindseys Augen weiteten.

„Oh, mein Gott, ist das etwa Kokain?“

„Quatsch“, entgegnete Emilia. „Nur ein bisschen Speed. Ein kleiner Zug durch die Nase und wir können die ganze Nacht unten im Klub abfeiern. Was meinst du?“

Lindsey presste die Lippen zusammen und wirkte verunsichert. Genau wie Emilia erwartet hatte, war sie eben doch nichts weiter als ein kleines Mädchen, das auf Erwachsen machte.

„Ich weiß nicht …“

„Musst du ja nicht. Aber wenn du nur Hemmungen hast, es dir durch die Nase zu ziehen, kannst du gerne stattdessen eine Pille einnehmen.“ Emilia beförderte ein weiteres Tütchen mit verschiedenfarbigen Tabletten zutage.

Lindsey blickte von den Pillen zu Emilia und wieder zurück. In ihrem Gesicht zeigte sich deutlich, wie sie mit einer Entscheidung rang. Sie wollte Emilia gefallen, das war offensichtlich. Ob sie auch so weit gehen und Drogen nehmen würde, die weitaus härter waren, als ein bisschen Marihuana zu rauchen, blieb abzuwarten.

„Aber wie gesagt, niemand zwingt dich“, sagte Emilia lapidar. „Ich brauche jetzt etwas davon, um in bessere Stimmung zu kommen.“

Lindsey starrte auf das Tütchen. In ihrem Gesicht arbeitete es, als sie um eine Entscheidung rang.

„Und, was ist? Die Wirkung der Pillen setzt aber erst in einer halben Stunde ein. Das Pulver wirkt in wenigen Minuten.“

„Okay, ich nehme etwas davon“, erwiderte Lindsey, griff in ihre Hosentasche und zog eine Dollarnote hervor, die sie auf dem Waschbeckenrand zusammenrollte.

Emilia beobachtete sie dabei mit einem Schmunzeln. Anscheinend hatte Lindsey das aus amerikanischen Spielfilmen abgeguckt. Mit einem verschwörerischen Blick reichte Lindsey ihr das Geldscheinröhrchen.

„Nein, lass mal“, erwiderte Emilia mit gerunzelter Stirn. „Nirgendwo stecken mehr Keime drin als in Geldscheinen. Die sollte man sich wirklich nicht in die Nase stecken.“ Sie zog ein weiteres Tütchen mit Röhrchen aus Plexiglas hervor.

„Hast du das immer dabei?“, fragte Lindsey mit einem Blick auf Emilias hautenge Jeans, als würde sie sich fragen, was sie dort noch alles verstaute.

„Nur wenn ich glaube, mich in vertrauenswürdiger Gesellschaft zu befinden.“ Emilia zwinkerte ihr zu und reichte ihr eines der Röhrchen.

Die sich sonst so souverän gebende Lindsey betrachtete unsicher das Röhrchen in ihrer Hand. Dabei lag etwas Kindliches in ihrem Blick, diese neugierige Bedachtheit, die nicht selten zu den falschen Entscheidungen führte. Meistens war dann der Baum doch zu hoch, das Wasser zu tief oder das Abenteuer zu gefährlich. Emilia betrachtete Lindseys Gesicht, noch unfertig mit einem Hauch von Kindlichkeit. Zusammen mit dem Schmollmund und der feinen Linie unter ihren Augen wirkte ihr Anblick auf die meisten Menschen niedlich. Überhaupt gab sie sich hier im verschlossenen Bad deutlich naiver, wie ein Kind im Körper einer Frau. Beinahe überkam Emilia ein Gefühl von Schutzbedürftigkeit Lindsey gegenüber, doch sofort wischte sie die aufkommenden Skrupel beiseite. Sie war nicht die Mutter des Mädchens, sie war nicht einmal eine Freundin. Sie war nur irgendwer und hatte nicht das Geringste mit ihr zu tun. Es ging sie nichts an, was Lindsey trieb. Emilia wandte sich ab und streute ein wenig des Amphetaminpulvers auf den Beckenrand, während es in ihrem Innern rumorte.

In ihrer Naivität würde Lindsey nicht einmal bemerken, wenn sie Emilias Karrierepläne durchkreuzte. Wie ein tapsiges Kind würde sie von allen gefeiert werden, ohne dass es irgendjemandem auffiel, was sie auf ihrem Weg zertreten hatte. Wie ihre kleine Schwester keinen Blick zurückgeworfen hatte, wenn sie um die Aufmerksamkeit ihrer Eltern haschend mit ihren stämmigen Babybeinchen durch Emilias Spielsachen gestampft war. Sie hätte ihr ein Bein stellen können, aber es war ihre kleine Schwester. Sie konnte sie nicht hassen, aber diese Fremde schon, die im Begriff war, sich ihr in den Weg zu stellen.

Früher oder später würde Lindsey auch ohne ihr Zutun auf jemanden treffen, der sie mit Härterem als Marihuana konfrontieren würde. Da brauchte sie sich nur den Trupp anzuschauen, der sich in ihrem Hotelzimmer breitmachte. Garantiert gab es dort den einen oder anderen, der sich nur zurückhielt, weil Emilia anwesend war.

Außerdem reiste Lindsey alleine durch die Welt und niemanden schien es zu kümmern, dass sie machen konnte, was sie wollte. Trotz ihrer Jugend. Wenn alle sie wie eine Erwachsene behandelten, warum sollte ausgerechnet Emilia ihr gegenüber Verantwortungsgefühl entwickeln?

Emilia setzte das Röhrchen an die Nase und zog eine der feinen Linien aus weißem Pulver mit einem kräftigen Zug auf. Sofort stieg das Pulver in ihre Nebenhöhlen auf und verteilte sich. Von dort würde in Kürze die Wirkung des Amphetamins einsetzen. Sie richtete sich auf und sah im Spiegel, wie sich Lindseys Augen erneut weiteten. Um das Brennen ein wenig zu lindern, rieb sie sich die Nasenflügel und deutete Lindsey mit einem Nicken, dass die andere Line für sie bestimmt war.

Als die beiden wenige Minuten später aus dem Bad kamen, spürte Emilia bereits den Adrenalinschub. Sie lief durch das Zimmer und genoss das Gefühl, ihren Körper in eine Art Ausnahmezustand zu versetzen. Ihr Gedankenkarussell stoppte, ihre Stimmung stieg.

Die Trevelyan-Schwestern: Flüstern der Freiheit

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