Читать книгу Familienlieben - Helfried Stockhofe - Страница 7

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Als ich in den Spiegel schaute, sagte der Mann, der sehr meinem Vater ähnelte: „Ich bin keine fünfzig mehr“. Nach dem ersten Schreck wegen meines Selbstgesprächs, nahm ich an, ich hätte es gesagt, um mich über das alt gewordene Gesicht hinwegzutrösten – sagen wir besser das reif gewordene - oder vielleicht aus Selbstmitleid oder gar zur Verteidigung gegen Kritik. Letzteres hätte gut sein können, weil ich mir ein Leben lang Bemerkungen zu meinem Gesicht anhören musste, allerdings meist zu seiner Farbe: Bist du aber blass! Du solltest nicht ständig hinter dem Schreibtisch sitzen! Gab´s keine Sonne auf Mallorca? Und ähnlichen Quatsch. Aber nein, ich wehrte mich vor dem Spiegel nicht gegen Kritik, sondern hatte mich vielmehr mit meinem Vater identifiziert, der gerne solche Sprüche losließ. Nicht nur vor dem Spiegel. Und den Altersspruch sagte er vermutlich, weil er sich wirklich alt und verbraucht vorkam.

Früher bereitete man sich ab Anfang 50 auf die Rente vor, heutzutage hat man endlich die Midlifecrisis hinter sich und beginnt in gefestigter Existenz seinen dritten Berufsabschnitt. Einen Abschnitt, der frei ist von weiteren Aufstiegen und in dem man als Beamter den berühmten silbernen Löffel stehlen muss, um seinen Job zu verlieren.

Ich merke schon, ich rede wieder nur von meinem Vater und von mir, also einerseits von dem Fabrikarbeiter, der in meinem Alter mit genügend Behinderungen in die vorzeitige Rente ging und andererseits von dem 56-jährigen Kriminalhauptkommissar, der keine Ambitionen mehr hat, sich besondere Fleißkärtchen zu verdienen. Ich muss nicht mehr buckeln und anderen gefallen, lebe hier in der Oberpfalz eher ruhig – aber keineswegs mit gelangweilter Miene! - und denke mir: Flinker, das wird noch eine gute Zeit bis zur Pensionierung!

Ich gehöre offenbar zu den Privilegierten!

Auch privat ist alles in trockenen Tüchern. Weder bin ich ein besonders kauziger und schon gar nicht schwieriger Typ. Ja, ich bin völlig normal, keine verkrachte oder seltsame Existenz wie die Kommissare in Kriminalromanen und Fernsehkrimis. Vielleicht bin ich ein Langweiler. Auch meine familiären Verhältnisse sind in Ordnung. Es fehlt mir an nichts. Selbst gesundheitlich bin ich – im Großen und Ganzen - auf dem Posten, wenngleich man mir das, wie eben gesagt, nicht ansieht. „Der Flinker ist heute wieder einmal besonders blass!“, flüstern manche Kollegen hinter meinem Rücken. Blödsinn, rufe ich denen zu, die es noch nicht wissen: Ich bin immer blass! Schon seit meiner Kindheit! Weil es meiner Mutter nie gelang, mir mit dem Rotbäckchensaft die nötige „gesunde Farbe“ einzuflößen! Inzwischen trauen sich nur noch wenige, meine Blässe anzusprechen. Den meisten fällt sie ohnehin nicht mehr auf. Sie haben sich daran gewöhnt.

Außer meinem blassen Teint ist also alles ganz normal. Deshalb gibt es bei mir, wie bei jedem Menschen, auch Ungewöhnliches:

Meine Mutter ist viel zu früh gestorben und mein Vater hat sie lange überlebt. Das ist ungewöhnlich. Aber jetzt ist er auch schon lange tot. Auch zu früh gestorben. Ich bin also ein Waise. Sagt man das auch bei einem erwachsenen Mann? Etwas verwaist fühle ich mich jedenfalls ab und an, besonders weil hinzukommt, dass ich weder Geschwister habe – was vielleicht mit Mutters frühem Tod zusammenhängt – noch Kinder, was damit zusammenhängt, dass … Doch das tut hier nichts zur Sache. An meiner Frau lag es jedenfalls nicht! Aber dieses Verwaistsein, so hat mir das einmal meine Freundin Alina erklärt, sei für mich eine Grundlage für besondere Außenbeziehungen. Die Psychologin muss es ja wissen …

Also, ich habe eine Frau und eine Freundin. Und natürlich nette Kollegen! Besonders meine „Rechte Hand“, den Birtele. Aber damit kein Missverständnis aufkommt: Die Psychologin Alina ist wirklich nur eine Freundin, keine Geliebte! Sie spielt mit ihrer Bemerkung an auf meine Beziehung zu einer früheren Kollegin, auf meinen engen Kontakt zum Birtele und wohl erst ganz, ganz am Schluss auf mein Faible für sie selbst. Sie weiß, dass ich sie mag! Suche ich Eltern, Kinder, Geschwister in den mir nahestehenden Mitmenschen? Fehlt mir also doch etwas?

Birtele merkt wahrscheinlich gar nichts davon, dass ich ihn ins Herz geschlossen habe. Daran sei mein besonderer Charme schuld, meint Alina. Dass er nichts merkt. Ich weiß nicht so genau, was sie darunter versteht. Aber ich frage lieber nicht nach.

Es ist nichts Ungewöhnliches, dass ich mich mit Birtele gelegentlich nach Dienstschluss treffe. Manchmal wundert es mich, dass er nicht endlich einmal privat sein will, wo er mich doch den ganzen Tag über sieht. Vermutlich hat er auch nichts Besseres vor. Aber immer windet er sich, schaut in seinem Terminkalender nach … Doch dieses Mal wollte er unbedingt mitkommen, weil ich mich mit Alina verabredet hatte. War er eifersüchtig? Natürlich ließ sich sein Interesse auch beruflich erklären – und das hat er dann auch ausführlich getan. Was wollte ich da schon dagegen sagen!

Wir warteten in einem „Restaurant“ auf Alina, nicht einfach nur in einem „Wirtshaus“. Nun es war nichts Vornehmes, aber etwas Besonderes. Seltsame Stahlsäulen stützten eine Stuckdecke und alles hatte einen Jahrhundertwende-Charme. Da meine ich den Beginn des 20. Jahrhunderts. Woher der Stuck kam, weiß ich nicht. Und welchem Zweck früher einmal dieses Gebäude diente … Na, ja, vielleicht würde mir Alina das verraten.

Mir fiel auf, dass nur wenige Paare den Weg hierher gefunden hatten. Nein, eigentlich ist das falsch: Überall saßen Paare, aber nicht Mann und Frau, sondern gleichgeschlechtliche Paare. Waren das „Paare“? Also ich meine, es könnten auch „nur“ Freunde oder Freundinnen gewesen sein, nicht einmal homosexuelle - aber vielleicht auch „nicht verpartnerte“, „verpartnerte“ oder richtig verheiratete Schwule und Lesben. Bewege ich mich auf dünnem Eis?

Doch, es waren wohl „Paare“, die meisten jedenfalls, denn statt Alina tauchte ein Rosenverkäufer auf und bat uns „Blumen für den Liebsten“ an. Natürlich wandte er sich an den Älteren, also an mich. Nicht, weil er selbst schon recht alt war – oder vielleicht doch deswegen? Der Ältere muss dem Jüngeren Blumen kaufen! Ich verlor bei dieser Ansprache meine Blässe, aber nur kurz, später amüsierten wir uns aber darüber, weil er glaubte, Birtele und ich wären schwul. Vorher aber erklärte ich dem alten Mann, dass meine Liebe zu meiner Frau keines Rosengeschenkes bedürfe. Für den anderen war damit aber nicht klar, ob ich Birtele als „meine Frau“ bezeichnete oder ich meine daheimgebliebene Frau mit Birtele betrog. Der Verkäufer zog aber davon, als ich zu Birtele sagte, dass meine Frau daheim wohl misstrauisch sein würde, wenn ich mit Rosen nach Hause käme. Ob der Rosenverkäufer jetzt erst recht über ein Fremdgehen spekulierte?

Alina hatte sich wohl etwas dabei gedacht, uns in dieses Lokal zu bestellen. Doch eigentlich war es umgekehrt: Ich hatte Alina gebeten, mir wieder einmal zur Seite zu stehen, bei einem Fall, der mir Kopfschmerzen bereitete. Alina schlug das Lokal vor und wir hatten nichts dagegen, auswärts zu speisen. Mit „auswärts“ meine ich die Heimatstadt meiner Freundin. Ein Münchner oder gar ein Berliner würde nicht von einer „Stadt“ sprechen, aber für oberpfälzische Verhältnisse ... Vielleicht war mir eine Verabredung „in der Fremde“ sogar lieber, denn, 56 hin oder her, ein wenig sicherer fühlte ich mich bei solchen Verabredungen, wenn sie woanders stattfanden. Wer weiß, was daheim die Leute alles reden würden? Aber musste es ausgerechnet ein Schwulen-Lokal sein?

Das mit meinen Kopfschmerzen meine ich wortwörtlich.

Und damit nicht genug: Ich somatisierte außerdem mit Rückenverspannungen und Kniebeschwerden – und fühlte mich gar nicht mehr wie Mitte 50! Hing das mit dem Fall zusammen?

Dass ich überhaupt auf solche Ideen kam und mir solche Begriffe wie „Somatisierung“ so locker über die Lippen gehen, hängt natürlich mit ihr zusammen, „meiner“ Psychologin.

Und endlich tauchte sie auf. Sie trug wieder die auffallende Gürtelschnalle, die den Blick auf ihre schlanke Taille lenkte. Mit Mitte 40 ist sie noch schlank! Warten wir mal ihre Wechseljahre ab!

Wir Männer standen zur Begrüßung beide auf und ließen uns nacheinander umarmen. Der alte Rosenverkäufer schaute noch einmal herüber und wusste nun gar nicht mehr, wie er dran war. Ich winkte ihn schnell heran und nahm ihm eine Rose für Alina ab. Dass ich daran nicht schon vorher gedacht hatte ... Alina schmunzelte und bedankte sich höflich. Vermutlich fand sie es unpassend.

„Ein nettes Lokal haben Sie uns ausgesucht!“, bemerkte ich leicht spöttisch. Das verstärkte ihr Schmunzeln zu einem Grinsen. Man konnte es in ihrem Gesicht lesen, welche Freude sie dabei empfand, so konventionelle Typen wie uns in solche Situationen zu bringen.

„Ja, finde ich auch!“, erwiderte sie und machte keine Anstalten, auf den Kern meiner Feststellung einzugehen. Vermutlich wollte sie keine Homophobie-Diskussion führen.

„Was hat sich da die Tiefenpsychologin wieder dabei gedacht …?“, traute sich Birtele, kess einzuwerfen.

„Ja, das fragt mich mein Mann auch immer, wenn ich hierher gehe“, antwortete sie lachend und dachte offenbar nicht im Traum daran, eine wirkliche Antwort zu geben. Stattdessen sagte sie: „Ich bin sehr gespannt, warum Sie mich heute treffen wollten!“

„Mein Chef braucht doch keinen besonderen Anlass, um sich mit Ihnen zu verabreden!“, setzte Birtele mit einer wohl scherzhaft gedachten Bemerkung und einem unschuldigen Lächeln fort. Das war ganz schön frech! Aber ich wollte gnädig sein und ließ es so stehen. Eigentlich hatte er ja Recht. Seit Jahren schon genoss ich jeden Kontakt mit Alina und redete mir ein, dass dies mit den vielen ungewöhnlichen gemeinsamen Erlebnissen zusammenhängen müsste. Immer wieder kam mir zum Beispiel eine nächtliche Wanderung am Osser in den Sinn, bei der sie sich ängstlich an mich schmiegte. Ich muss hinzufügen, dass wir dort dienstlich unterwegs waren! Und es ist auch nichts weiter passiert!

Dem Birtele bin ich nicht böse, er darf ruhig solche Spitzen abschießen. Ich gehe ja auch nicht gerade zimperlich mit ihm um. Mit meinem „besonderen Charme“ ...

„Also, nun rücken Sie doch endlich mal raus mit Ihrem neuen Fall!“, drängte Alina. Scheinbar hatte sie es eilig. Vermutlich hatte sie ihrem Bernd versprochen, dass sie bald wieder daheim sein würde. Birtele meint, ihr Ehemann sei eifersüchtig auf unsere Beziehung.

„Ach nun“, erklärte ich, „da ist halt einer mit dem Auto gegen ein Bushäuschen gefahren und dabei ums Leben gekommen.“

„Aha. Das hört sich leider wirklich tragisch an, aber nicht psychologisch oder kriminalistisch besonders kompliziert!“, reagierte Alina fast ein wenig enttäuscht.

„Tödlich für den war, dass der Airbag nicht aufging und dass sich unglücklicherweise eine Holzlatte in seinen Hals bohrte. Der Aufprall an sich war offenbar gar nicht so heftig.“

Alina verzog ihr Gesicht. Sie stellte sich wohl die Szene vor.

Ich sollte zum besseren Verständnis ergänzen, dass Bushäuschen auf dem Oberpfälzer Land immer aus Holz gebaut sind. Und besonders stabil scheinen sie auch nicht zu sein – zumindest nach etlichen Jahren ostbayerischen Wetters. Dieser Bretterhaufen jedenfalls war nach dem Unfall nicht mehr als Bushäuschen zu erkennen und ich fragte mich als Laie, ob denn überhaupt ein Airbag bei so wenig Widerstand ausgelöst wird. Fraglich war außerdem, ob bei einem ausgelösten Airbag die Holzlatte nicht genauso ihren Weg zum Hals des Verunfallten gefunden hätte.

„Und Sie sollen jetzt den Unfall wegen des defekten Airbags untersuchen?“, fragte mich Alina.

„Ja. Allein schon wegen der Versicherungen. Der von denen beauftragte Gutachter – wer weiß, aus welchem Hut sie den gezaubert hatten - meinte, der Airbag sei manipuliert gewesen.“ Aber dann ließ ich doch die Katze aus dem Sack: „Ein kriminalistisches Schmankerl ist schon dabei: Der getötete Fahrer war in einer Firma beschäftigt, die Airbags herstellt und einbaut!“

„Aha, da wird’s schon interessanter“, antwortete Alina. „Aber das ist immer noch nichts, was eine Psychotherapeutin scharf macht!“

Birtele erschrak demonstrativ, rutschte mit seinem Stuhl hinter die Stahl-Säule neben unserem Tisch und schaute sich nach dem alten Rosenverkäufer um. Grinsend sagte er: „Nicht so laut, sonst kommt der Alte wieder!“

„Sie haben heute aber Ausdrücke!“, gab auch ich Alina zurück und schüttelte spaßeshalber den Kopf.

„Nun ja, wenn Sie sich alles aus der Nase ziehen lassen!“, rechtfertigte sie ihre Sprachwahl.

„Natürlich. Ja. Also, wir hofften ...“, sprang mir Birtele bei, „Sie würden sich einmal mit den Angehörigen unterhalten. Es ist eine vom Schicksal gebeutelte Familie. Etwas für eine Psychologin.“

„Ja“, erläuterte ich, „es wäre schön, wenn Sie dabei wären. Der Verunfallte, ein gewisser Fred Plose, war schon viele Jahre Witwer. Er lebte mit seiner 18-jährigen Tochter zusammen. Ein jüngerer Bruder von ihm arbeitet auch in dieser Airbag-Firma. Die Hinterbliebenen sind natürlich tief betroffen über die erneute Tragödie, besonders die Tochter: Nach einer Oma und der Mutter, beide Todesfälle vor etwa 15 Jahren und einem Opa, der irgendwann danach starb, verlor sie nun ja auch den Vater.“

Ich bin da immer ganz offen. Zwischen Alina und mir gibt es ein Übereinkommen völliger Verschwiegenheit. Also anderen gegenüber! Wir untereinander – und da beziehe ich Birtele mit ein – vertrauen uns alles an. Freilich, manchmal kommt Alina daher mit einer „Schweigepflichtentbindung“, wenn es um einen ihrer Patienten geht. Nun, eigentlich sagt sie es nur, dass sie sich eine solche hat geben lassen. Vielleicht stimmt das gar nicht und sie will nur seriös erscheinen.

„Und da soll ich mit denen sprechen?“

„Nun, von Frau zu Frau, also mit der 18-Jährigen …“, erläuterte ich. „Die scheint mir sehr labil zu sein. Und dem Birtele kann ich bei jungen Frauen nicht trauen ...“

Birtele warf mir einen bösen Blick zu. Er hat da wohl keinen Humor. Vermutlich verstand er meine Anspielung auf seine „Affäre“ mit einer Tatverdächtigen. Aber damals hatte er zum Glück noch die Kurve gekriegt.

Alina schmunzelte, legte ihre Hand auf Birteles Arm und und flüsterte ihm zu: „Der Chef traut sich selbst ja auch nicht ...“.

So konnte sie auch meinem Assistenten ein Lächeln entlocken. Mein Lächeln aber gefror ein, denn ich ahnte, wie Recht Alina hatte mit ihrer lustig gemeinten Bemerkung. Irgendetwas war an diesem Fall dran, was mir ganz persönliche Kopfschmerzen bereitete.

Alina schaute mich irritiert an: „Alles okay?“ Und sie spürte, dass ihr Scherz für mich nicht nur ein Scherz war. Sie wartete aber keine Antwort ab. „Natürlich helfe ich Ihnen gerne!“, sagte sie. Und es war uns allen recht, dass die Bedienung unser Gespräch unterbrach und wir zum gemütlichen Teil übergehen konnten.

Ein paar Tage später besuchten wir zu dritt die betroffene Familie.

Als wir im Haus des verstorbenen Fred Plose ankamen, war die Familie – kann man überhaupt noch von „Familie“ reden, wenn nur noch zwei übrig geblieben sind? - also die Tochter und ihr Onkel waren anwesend. Alina kondolierte und stellte sich noch im Hauseingang als psychologische Beraterin der Polizei vor.

„Wir brauchen aber keinen Seelsorger, wir kommen schon klar!“, sagte Jan Plose, der Bruder des Verunfallten. Er schien etwas erschrocken zu sein.

„Es ist gut, wenn Sie sich gegenseitig helfen können“, antwortete Alina beim Hineingehen. Und dass sie beim Betreten des Wohnraums über eine Türschwelle stolperte, nahm sie gerne als Anlass zur Ablenkung. Vielleicht hat die geschickte Psychologin sogar absichtlich … oder unbewusst … Egal, jedenfalls ermöglichte ihr der Stolperer ein „Hoppla!“ und Jan konnte als „Retter“ mit einer letztlich aber unnötigen Auffangbewegung seine Hilfsbereitschaft zeigen. Alina lächelte verlegen, reagierte aber wie gewohnt spontan: „Da sehen Sie, wer Hilfe braucht!“ Damit war das Eis gebrochen.

Jan erzählte etwas über die Türschwellen, alte Häuser und Stolperer und wurde dabei plötzlich wieder recht ernst. Und als Birtele einen Scherz probierte - irgendetwas mit Airbag beim Stolpern - waren wir fast ungewollt beim Thema.

„Dass gerade Ihrem Bruder so etwas mit dem Airbag passiert ...“, sinnierte Alina. Dann ging sie gleich in die Vollen: „Da machen Sie sich doch sicher so Ihre Gedanken?“ Die Tochter verstand sofort die Anspielung. Sie begann zu weinen!

„Hab ich´s dir nicht gesagt“, wandte sie sich an ihren Onkel, „das ist gar nicht so eine absurde Idee. Der hat sich vielleicht wirklich umgebracht. Die Polizei glaubt das auch.“

„Nein, nein, so ist das nicht“, ruderte Alina zurück, „das ist eine reine Routinespekulation. Wir Psychologen denken schnell mal an so etwas. Aber: Könnte es denn einen Grund dafür gegeben haben?“ Zurückrudern und gleich wieder wenden!

„Siehst du“, wurde die Tochter wieder aufgeregt, „die Psychologin meint das auch!“

„Nein, nein“, versicherte Alina . „Nur mal theoretisch.“

Theoretisch, so eine Formulierung! Aber die Tochter schien sich zu beruhigen. Sie schnäuzte sich.

Jan unterbrach und bat uns an den Wohnzimmertisch: „Darf ich Ihnen etwas anbieten, einen Kaffee oder ein Wasser?“

Er musste schließlich in die Küche und beides bringen. Wir nutzten seine Abwesenheit, um mit seiner Nichte weiter zu reden.

„Er war halt immer so depressiv“, erklärte uns schließlich Vanessa.

„Hat er denn etwas angedeutet?“, hakte Alina nach.

„Nein, nein, mein Papa war immer verschlossen. Wenn man ihn gefragt hat, dann ging es ihm gut. Aber irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Ich hab ihm nie geglaubt, dass es ihm gut geht.“

„Der hat wohl nie den Tod der Mama verkraftet“, sagte der hereinkommende Jan zu seiner Nichte. Jan hatte wohl seine Kaffeezubereitung unterbrochen, um nichts von dem Gespräch zu versäumen. Dann zog er sich wieder zurück. Vanessa senkte den Kopf.

Wir schwiegen einige Zeit und ich stand auf und schaute mir die Fotos der Verstorbenen an, die auf einer kleinen Kommode standen. Das Hochzeitsfoto, auf dem beide nicht ganz glücklich dreinblickten, wurde flankiert von jeweils einem Foto von den Großeltern. Ich zeigte es Alina. In der Küche ratterte die Kaffeemaschine.

„Die Großeltern leben auch nicht mehr?“, fragte Alina eher rhetorisch. Das hätte sie nicht fragen dürfen! Vanessa begann gleich wieder zu weinen – was Jan draußen in der Küche sofort registrierte und wieder hereinkam: “Die Oma ist kurz vor Vanessas Mutter verstorben“, stellte er eher nüchtern fest. Den Opa erwähnte er nicht. Vanessa schluchzte und schnäuzte sich.

Jan ging zurück in die Küche und holte die Getränke. Er stellte sie auf den Tisch und nahm die weinende Vanessa in den Arm. „Aber dein Papa hat sich nichts angetan, das kannst du mir glauben!“

Die beiden schienen eine gute Beziehung zu haben.

„Ich bin so froh, dass ich wenigstens dich noch hab!“, erwiderte die Nichte ihrem Onkel. „Du bist meine ganze Familie!“ Und an Alina gewandt: „Mein Onkel hatte kürzlich auch einen Airbag-Unfall!“

„Ja, aber“, ergänzte Plose, „es war nicht der Rede wert.“

Von diesem Unfall wusste ich noch nichts. Bei der ersten kurzen Befragung hatte mir Jan Plose darüber nichts erzählt. Zwei Airbag-Unfälle hintereinander sind schon sehr verdächtig!

„Aber Sie haben es gut überstanden?“, fragte ich nach.

„Ach, das war ganz anders als bei Fred, meinem Bruder, es war nicht schlimm. Bei meinem Auto löste sich der Airbag aus, als ich die Tür zuschlug. Leider saß ich drin ...“

„Du bist gut!“, sagte die Nichte, „Immerhin musstest du deswegen ins Krankenhaus!“

„Ja, aber es war nur ein Kratzer!“

„Nur ein Kratzer?“ Die Nichte begann wieder zu weinen.

Plose warf mir einen Blick zu, mit dem er andeuten wollte, dass es wirklich nicht so schlimm gewesen sei und die junge Frau mächtig übertreibe.

Die Psychologin Alina erzählte mir danach, dass wohl jede geringe Gefahr, wieder eine wichtige Bezugsperson zu verlieren, Ängste bei der 18-Jährigen auslösen würde. Also habe wohl nicht nur der Ehemann den Tod seiner Frau schwer verkraftet, sondern auch die Tochter sehr unter dem Verlust der Mutter gelitten. Das sei natürlich verständlich, weil die Tochter damals erst drei Jahre alt gewesen sei und der Vater wohl schon immer recht instabil war. Außerdem war kurz vor der Mutter auch die Oma gestorben. Umso bedeutsamer sei seitdem der Onkel gewesen.

Das verstand ich sehr gut und ich war richtig verwundert, dass mich Alina nicht gleich auf die Parallele zu meiner eigenen Familiengeschichte aufmerksam machte. Doch es konnte schon sein, dass sie in diesem Moment nicht daran dachte. Vielleicht, weil ich schon sechs war als meine Mutter starb. Mir kam später auch in den Sinn, dass ich womöglich wegen dieser Parallele meine Freundin Alina mit diesem Fall konfrontiert hatte. Unbewusst natürlich!

„Vanessa“ hieß also die Tochter des Unfallopfers Fred Plose. Anfangs dachte ich, die 18-Jährige wäre noch viel jünger. Alina meinte, dass es bei ihr wohl wegen der tragischen Familienereignisse zu einer Entwicklungsverzögerung gekommen sei und sie auch innerlich noch keine junge Erwachsene, sondern noch eine Jugendliche wäre. Alina hatte, nachdem wir die Ploses verließen, noch einen Spaziergang mit Vanessa gemacht. Sie würde sie gerne in Therapie nehmen, berichtete sie, aber die junge Frau zögere noch. Sie hielt es auch für möglich, dass ich Vanessa nochmals genauer befragen könnte.

Wir baten Vanessa diesmal auf die Dienststelle, was ihr nichts ausmachte, da sie sowieso in der Stadt etwas zu tun hatte.

Ich wollte außer Birtele auch Alina dabei haben. Man weiß ja nie … In der Anwesenheit der Psychologin bemühte ich mich besonders um Einfühlsamkeit.

„Vanessa“, begann ich, „wir haben uns Gedanken gemacht zu der Beziehung zwischen Ihrem Vater und seinem Bruder. Können Sie uns da weiterhelfen?“

Vanessa schaute etwas verwundert: „Warum haben Sie sich da Gedanken gemacht?“ Ich antwortete nicht und sie dachte nach: „Für meinen Papa war Familie sehr wichtig. Und dazu gehörte auch sein Bruder. Aber vielleicht war mein Papa doch etwas eifersüchtig auf meinen Onkel.“

„Du meinst, weil der beruflich größere Erfolge hatte als er?“, fragte ich. Das „Sie“ war plötzlich verschwunden. Doch Vanessa schien meine Duzerei nichts auszumachen.

„Nein, davon weiß ich gar nichts. Ich mein, weil ich mich mit meinem Onkel immer so gut verstanden hab. Vielleicht war da mein Vater ein wenig eifersüchtig.“

„Und mit deinem Vater war das nicht so gut? Hast du dich mit dem nicht verstanden?“

„Ach, der tat immer alles für mich.“ Sie begann wieder zu weinen. „Aber irgendwie war das alles nicht so richtig ...“ Sie brach den Satz ab.

„So richtig von Herzen?“, sprang Alina bei.

„Genau. Der kaufte mir immer alles – und das war nicht wenig – und hatte auch immer ein gutes Wort für mich. Aber das kam mir so … so irgendwie unpassend vor.“

„Er wollte dir zeigen, dass er dich mag“, versicherte ich ihr. Vanessa weinte wieder. Langsam nervte mich das Geheule.

„Und von mir, von mir wollte er das auch immer hören“, sagte sie schluchzend. „Aber jetzt wollte ich das nicht mehr sagen. So hätte es auch nicht gestimmt.“

„Irgendetwas hat nicht gestimmt“, bekräftigte Alina ihre Aussagen und hoffte wohl, Vanessa könnte das gedanklich weiterführen. Aber sie schwieg.

„Nochmal zurück zur Beziehung der beiden Brüder!“, mischte ich mich wieder ein. „ Konnten die sich leiden, was meinst du?“

„Mein Onkel kann jeden leiden und er wird auch von allen gemocht. Aber mein Papa war schwierig. Vielleicht ja erst seit Mamas Tod. Vielleicht hat Onkel Jan Recht.“

Alina lenkte das Gespräch schließlich in Richtung möglicher Probleme im Zusammenleben eines Mädchens mit zwei Männern. Ich fragte nach Partnerinnen der Männer, auch vorsichtig nach Vanessas Partnern. Es schien aber alles unproblematisch zu sein, zumal andere Menschen in diesem Drei-Personen-Haushalt keine Rolle zu spielen schienen.

Ich war ganz stolz auf meine Gesprächsführung, aber Birtele musste mir danach unter die Nase reiben, dass die entscheidenden Fragen zu diesem Unfall von mir doch viel zu wenig berücksichtigt würden: Warum war der Plose gegen das Bushäuschen gefahren? Und: Wie sollte der Airbag-Saboteur wissen, dass Fred Plose gegen das Häuschen fahren würde?

„Wir suchen also“, sagte Birtele ironisch zu mir, „einen hellseherisch begabten Verbrecher, oder einen, der das Verhalten seiner Opfer fernsteuern kann – oder zumindest deren Autos“. Na ja, damit hatte er eigentlich Recht.

So gesehen war die Suizidtheorie doch nicht so unsinnig. Und vermutlich lag das Verschweigen des Suizids an der Lebens- und Unfallversicherung des Fred Plose, die beide der Tochter Vanessa ausgezahlt würden – aber nur, wenn es wirklich ein Unfall und kein Suizid wäre. Der Fred musste es also wie einen Unfall aussehen lassen!

Aber dieser Suizid wäre schon sehr umständlich und unzuverlässig geplant gewesen! Der Airbag war auch laut den Untersuchungsergebnissen unserer Kriminaltechniker manipuliert worden. Wer sich bei denen mit Airbags auskennt, weiß ich nicht. Vielleicht hatten sie auch einen Fachmann dazugeholt. Ein Suizidaler müsste also selbst den Airbag manipuliert und sich ein instabiles Holzhäuschen als Todeswand ausgesucht haben. Nun ja ...

Wenn es ein Unfall war, musste man von einer Unaufmerksamkeit des Fahrers ausgehen, die das Auto von der Fahrbahn abgebracht hatte. Dann stellt sich die Frage, ob der Saboteur tatsächlich mit dem seltenen Ereignis eines solchen Unfalls gerechnet hatte. Das Auto jedenfalls war ansonsten in einem einwandfreien Zustand, ein Zusammenstoß also nicht durch eine Sabotage herbeigeführt worden.

Ich musste Birtele erklären, dass ich ja genau wegen dieser Ungereimtheiten meine Freundin Alina hinzugebeten hatte. Sie war die Spezialisten für unklare und esoterisch anmutende Vorkommnisse. Birtele frotzelte, dass Alina sicher wieder irgendetwas Unbewusstes proklamieren würde, das die Menschen zu eigenartigem Verhalten treibe, diesmal vielleicht auch die Autos. Birtele ist halt noch kein überzeugter Anhänger psychologischer Theorien. Auch deshalb vermied ich es, ihm von meinem Verdacht zu erzählen, dass mich mein eigener Mutterverlust zu einem Einbezug der Psychologin motiviert haben könnte.

Der Bruder des Verunfallten tat bei einer weiteren Befragung so, als wüsste er nichts von den Manipulationen am Airbag. Hatte ihm das der Versicherungsgutachter noch nicht mitgeteilt?

„Nein, nein“, meinte er, „das war eine neue Entwicklung. Die war noch nicht ausgereift!“ Dann senkte er den Kopf. „Letztlich war ich schuld!“

„Der Gutachter geht aber von Sabotage aus.“

„Wirklich? Warum denn das? Von wem denn? Von mir etwa? Quatsch!“ Plose schüttelte ungläubig den Kopf. „Das war keine Sabotage. Wer sollte denn so etwas tun? Und woher sollte ein Saboteur wissen, dass seine Manipulation jemals bei einem Unfall zum Tragen kommt. Es ist ja nicht an der Tagesordnung, dass man irgendwo dagegen fährt.“

„Ja, das ist uns auch ein Rätsel“, gestand ich ein. „Wurde eigentlich Ihr eigener Airbag-Unfall untersucht?“

„Natürlich. Ich hätte das schon gern selber gemacht, aber ich war ja im Krankenhaus. Mein Bruder hat das alles untersucht, aber der konnte nichts finden.“

„Sie waren wohl doch länger im Krankenhaus?“

„Ein paar Tage halt.“

„Dann war es doch schlimmer?“

Plose zögerte. „Ja, es hätte auch böse ausgehen können. Aber wir sollten Vanessa nicht beunruhigen.“

„Sie kennen sich also beide gut mit der Airbag-Technik aus, also ihr Bruder und Sie?“, mischte sich Birtele fragend ein.

„Nun, sagen wir mal so, angefangen haben wir mit derselben Ausbildung, aber Fred hat sich emporgearbeitet. Mir lag es nicht so, das ganze Kaufmännische, ich bin der Techniker geblieben. Aber ich hab mit ein paar Neuerungen meinen Bruder geärgert!“, sagte er stolz. „Na ja, wie das so ist, wenn der Große Angst hat, dass er vom Kleinen überflügelt wird.“

„War das wirklich alles so locker, wie Sie das jetzt sagen?“, fragte ich nach. „Wir haben gehört, dass es immer Streitigkeiten zwischen Ihnen gab.“

Jan winkte ab. „Nun, so schlimm war es auch wieder nicht. Fred wirkte halt immer gereizt, aber in den letzten Tagen, ich weiß nicht, da konnte er mir gar nicht mehr in die Augen schauen. Im Krankenhaus hat er mich auch nur ein Mal besucht, zusammen mit Vanessa. Da hat er mir zwar viel mitgebracht, so als hätte ich Geburtstag, aber geredet hat er nicht mit mir. Ich weiß auch nicht, was da mit ihm los war. Vielleicht war es doch wegen des neuen Airbags ...“

„Was meinen Sie damit?“

„Ja nun, das war halt eine neue Entwicklung. Eine neue Entwicklung von mir, verstehen Sie? … Die Eifersucht ...“ Und dabei rollte er mit den Augen. „Der dumme Kerl war immer neidisch wegen meiner Erfolge. Dabei war er doch gescheiter als ich.“

Auch in der Firma, in der beide Brüder beschäftigt waren, munkelte man von einem angespannten Verhältnis zwischen dem allseits beliebten Jan und dem grantig-depressiven Fred.

„Sie glauben wohl, der Fred hat den Jan sabotiert?“, fragte mich Birtele nach Jans Befragung.

„Natürlich könnte auch der Jan den Fred sabotiert haben. Aber beide haben kein richtiges Motiv.“

„Wenn Fred an Jans Airbag herumgespielt hat, dann war es ja sehr praktisch, dass er selber seine eigene Sabotage untersuchen konnte! Und vielleicht hat er ja den Airbag in seinem Auto auch manipuliert?“

„Aber, wieso denn das? Als Selbstbestrafung etwa? Jetzt werden Sie aber auch psychologisch, Birtele!“

„Ja, keine Ahnung. Vielleicht wollte der Fred aber auch dem Jan mal sein manipuliertes Auto überlassen und ...“

„Na, jetzt wird’s aber ganz abenteuerlich!“, unterbrach ich Birteles Gedankenspielereien. Sie erschienen mir doch etwas weit hergeholt. „Aber lassen Sie uns noch einmal mit dem Plose sprechen!“

„Sie schon wieder!“, empfing uns der Jan diesmal schon etwas unfreundlicher. Aber er öffnete gleich die Tür und bat uns mit einem Wink herein.

„Ja, es tut uns leid, aber wir müssen doch noch einmal nachfragen!“, sagte ich fast entschuldigend.

„Sie kennen sich ja hier schon aus!“, erwiderte Jan etwas barsch und zeigte auf die Sitzgruppe. „Was wollen Sie denn noch wissen? Glauben Sie denn noch immer nicht an einen Unfall?“

„An zwei Unfälle!“, korrigierte Birtele.

„Wir wollen doch nur jeden Zweifel ausräumen!“, versicherte ich. „Also, Ihre Nichte deutete an, dass Ihr Bruder womöglich auf Sie eifersüchtig gewesen war, weil Sie so gut mit Vanessa zurechtkommen.“

Jan schüttelte den Kopf. „Das war ihm nicht so wichtig! Ich glaube, er war froh, dass ich mich so gut mit Vanessa verstehe. Er war doch ein Familienmensch. Hauptsache, es bleibt in der Familie.“

„Ihre Nichte ist eine ganz Nette!“, warf Birtele ein.

Das war wohl eine geschickte Bemerkung, denn Jans Gesicht hellte sich auf und er wurde richtig gesprächig: „Ja, sie ist mein Augenstern! Sie war schon von klein an mein Liebling. Besonders seit ihre Mutter gestorben ist.“ Nun verfinsterte sich Jans Miene wieder und er stockte.

„Das war für alle ein Schlag“, nutzte ich diese Pause.

Jan nickte und wenn ich es richtig sah, hatte er Tränen in den Augen. Dann schüttelte er den Kopf, so als wollte er traurige Gedanken vertreiben. Und er wechselte wieder das Thema: „Der Fred war als Vater nicht besonders begabt. Er bemühte sich sehr, hatte Vanessa wohl auch gern, aber irgendwie fanden die beiden nicht richtig zueinander. Manchmal ist er sogar ganz bös zu ihr geworden, danach war er wieder überschwänglich verwöhnend.“

„Ja, das ist alles sehr schade. Besonders weil er ja auch noch die Mutter ersetzen sollte.“

„Das wäre wirklich gut gewesen, wenn der Fred nicht alleine geblieben wäre ... Haben Sie´s schon bemerkt?“, wechselte Jan abrupt das Thema.

Wir wussten nicht, worauf er hinaus wollte: „Nein, was meinen Sie?“

„Nun ich dachte, man muss kein Psychologe sein, um zu merken, dass das Mädel manchmal ganz schön neben der Spur ist.“

„Das heißt?“, fragte ich ungeduldig.

„Sie hat eben vor vielem Angst. Fährt lieber im Lift, statt die Treppen zu gehen. Nein, nicht aus Bequemlichkeit. Sie hat Angst vor Treppen. Auch Angst vor offenen Türen. Also alles umgekehrt wie bei den anderen … Wie heißen die? Phobiker! So heißen die doch, oder?“

Ich nickte. „Das stimmt, das ist ungewöhnlich. Wissen Sie denn, warum das so ist?“ Ich war hellwach. Wie wenn er einen Köder legen würde, so kam mir das vor. Schade, dass Alina nicht dabei war.

„Kein Mensch weiß das. Sie will es auch niemand erzählen. Kann das gut verbergen. Vielleicht will sie es selber nicht wissen. Aber ich glaub, manchmal ist das ganz schön schlimm für sie. Nicht so sehr, dass sie darauf Rücksicht nehmen muss, sondern weil sie sich als so gestört erlebt!“

„Dann wäre doch eine fachliche Behandlung ganz sinnvoll!“

„Beim Psychiater meinen Sie? Nein, das will sie nicht!“

„Nun, ich dachte da eher an eine Psychologin, oder konkreter, an eine Psychotherapeutin.“

Plose zuckte mit den Schultern. Aber ich ließ nicht locker:

„Vielleicht sollten Sie ihr mal eine Gesprächstherapie bei Frau Alina Winner vorschlagen. Die beiden haben sich ja jetzt kennengelernt.“

„Ich glaub nicht, dass Vanessa besonders gesprächig ist.“

„Es muss ja nicht eine Gesprächstherapie sein. Frau Winner macht auch ganz besondere Gruppentherapien, bei denen gar nicht so viel geredet wird, sondern mehr mit Bewegung, Malen, Entspannung gearbeitet wird.“

Jan schwieg. Er ging in die Küche und brachte auf einem Tablett Mineralwasser und Gläser herein.

„Bitte, bedienen Sie sich!“

Als wir später mit Alina über die Symptome des Mädchens sprachen, war die Psychotherapeutin sofort mit möglichen Ursachen für die Störungen zur Stelle. Die Psychologen sind da schnell bei der Hand, kommen gleich mit irgendwelchen Theorien daher. Manchmal weiß ich nicht, ob Alina mir damit helfen oder mir nur ihre Kompetenz beweisen will. Ich muss allerdings eingestehen, dass sich am Ende des Tages das meiste davon bestätigt, auch wenn es mir anfangs weit hergeholt erscheint. Der arme Birtele verdreht oft die Augen, wenn Alina wieder mit etwas loslegt. Sie ist da auch wirklich recht unvorsichtig, kommt gleich mit solchen gewagten Dingen wie dem Ödipuskomplex daher. Das mit dem Unbewussten haben wir inzwischen gefressen, der Birtele und ich, aber manch anderes ist uns zu exotisch. Alina sagte mir einmal, sie sei eigentlich sehr zurückhaltend mit den psychologischen Ideen. Du meine Güte, was denkt sich die Frau noch alles!

Nun, was ich bei Vanessas Fall nachvollziehen – oder sagen wir besser akzeptieren - konnte, ist die Rückführung der Symptomatiken auf das dritte Lebensjahr der 18-Jährigen, weil damals der Tod ihrer Mutter sie doch sehr geschockt haben musste. Klar, dass dies nicht in den Kleidern hängenbleibt, sondern sich in die Seele eingräbt.

Auch durch Jans Tränen war ich neugierig geworden. Ich fragte ihn, was damals passiert war. Er berichtete mit spürbarer Trauer und ohne erkennbare Nervosität von einem tragischen Unfall: Seine Schwägerin sei bei einem Treppensturz gestorben.

Die genaueren Umstände entnahm ich dann einem Polizeibericht, den die Kollegen damals natürlich anfertigen mussten, weil eine Gewalttat nicht auszuschließen war. Es hieß, Frau Plose sei nachts an einer Kindersicherung hängengeblieben, an einem halbhohen Gittertürchen, das vor der oberen Treppenstufe angebracht war, damit die dreijährige Vanessa nicht die Treppe herunterfalle. Schlaftrunken sei Frau Plose gewesen und benommen von Beruhigungsmitteln, die sie regelmäßig zum Schlafen gebraucht hätte. Irgendetwas habe sie aufgeschreckt, vielleicht habe sie auch nur zur Toilette gehen wollen, die im Erdgeschoss lag. Der genaue Hergang war offenbar nicht festzustellen gewesen, aber es habe keine Hinweise auf Gewalteinwirkung gegeben. Der Mann sei damals nicht daheim gewesen, sondern in einer Kneipe. Sein Bruder habe im Erdgeschoss geschlafen. Motive für eine Tötung der Frau habe es nicht gegeben.

Jan Plose erzählte uns noch, dass seine Schwägerin Eheprobleme gehabt hätte und wohl deshalb unter Schlafstörungen zu leiden hatte. Aber der Ehemann sei zum Unfallzeitpunkt nachweislich in einer Gastwirtschaft gewesen – das wäre ja eines der Eheprobleme gewesen ...

Warum muss ich immer hinter jedem Todesfall ein Verbrechen vermuten? Weil drei Unfälle in einer Familie zu viel sind? Weil jedes aktuelle Verbrechen Vorläufer hat? Aber, mein Gott, 15 Jahre sind seit dem Tod von Frau Plose vergangen!

Familienlieben

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