Читать книгу Kuckucksgeschwister - Helfried Stockhofe - Страница 3
Eine Lesung vor *innen
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Ein kurzer Rock Wie kann man nur Sie hätte es sich doch denken können Schulbank so eine Schulbank vom Lesesaal irgendwie schäbig Provinz eben wird sie sagen und sie schaut verlegen "Liebe Zuhörer innen" wirklich Zuhörer innen nicht Zuhörer und Zuhörerinnen Zuhörer innen mit einer Pause vor dem Innen Verschlusslaut besser Verschlucklaut Eine Sperre beim Sprechen als wollte ihr das Innen nicht von den Lippen kommen Political Correctness muss halt sein Zeit ist Geld Zuhörerinnen und Zuhörer dauert länger Ein Alptraum nein Albtraum sagt jetzt der Duden Anpassung an schlampige Sprache Aus Alptraum wird Albtraum aus Zuhörer und Zuhörerinnen werden Zuhörer innen mit einem Sternchen dazwischen Ist ein Albtraum Aber man gewöhnt sich dran soll sich dran gewöhnen dann kann man wieder zur Tagesordnung übergehen Nächstes Jahr hat man sich daran gewöhnt und frau auch Blödes frau Vielleicht reicht das Sternchen den Frauen Sie schlägt die nackten Beine übereinander hat was zum Vorzeigen Grad dass man das Höschen nicht sieht Sternchen und nackte Beine "Ich freue mich hier zu sein" Political Correctness sag ich doch Freut sie sich wirklich Alle schauen freundlich Ich nicht Ich bin gespannt Nackte Beine Alter schau ihr ins Gesicht nicht auf die Beine!
"Das wird eine tolle Lesung", hatte mir die Lies gesagt, unsere Stadtbibliothekarin, die Leseratte Lies, die schon im Namen ihre Berufung trägt. "Ja, meinst du?", hatte ich zurückgefragt. "Ich hab von der noch nie etwas gelesen." Und sie: "Dann wird es Zeit, dass du sie wenigstens mal hörst!" Sogar an die Wand der Führerscheinstelle hatte sie ein Plakat hingehängt, das für die Lesung warb, mit Tesastreifen an die gegenüberliegende Wand des Vorraums, von dem ich durch eine Glasscheibe getrennt bin, so richtig in meinem Blickfeld und so, dass alle Vorübergehenden es nicht übersehen konnten. „Extra für mich?“, hatte ich sie gefragt und sie hatte gelacht.
Ein schönes Gesicht, dachte ich mir, als ich das Plakat sah, das lassen wir hängen. Tag für Tag hab ich es angeschaut und mich jeden Tag ein wenig mehr auf die Lesung gefreut. Ein schönes Gesicht, aber sicher mit Fotoshop bearbeitet, nahm ich an. Aber man weiß ja nie. Die Augen groß und blau mit einem dezenten Grauton, durch eine Brille mich anschauend, eine Brille mit roter Fassung! Sie will auffallen, dachte ich mir. Die Haare blond, lockig, halblang. Irgendetwas an dem Gesicht war mir rätselhaft vertraut. Das war wohl Absicht, so wie ihr geheimnisvolles Lächeln. Geheimnisvolle Vertrautheit, raffiniert! Kein ganz bestimmter Typ und kein besonderer Typ. Oder war gerade das das Besondere? Natürlich erschien sie auf dem Plakat zeitlos jung. Ich schätzte sie auf Vierzig. Doch sie sah so aus, als wäre das Alter völlig egal. Und jeden Tag, wenn ich zur Arbeit kam, lächelte sie mich an. Das machen die meisten Menschen nicht, schon gar nicht die Frauen, schon gar nicht die Frauen auf der Arbeit, die Arbeiter*innen mit Sternchen. Obwohl: Die Arbeiterinnen brauchen ja das Sternchen nicht. Nur solange das Sternchen noch aufregt, bringt es den Frauen etwas, wenn es Alltag ist, werden sie sich wieder hintanstellen müssen. Arbeiterinnen ist eh keine schöne Bezeichnung, klingt nach Bienen. Oder Ameisen.
Mit den Beinen lenkt sie von ihrem Gesicht ab und von ihrem Buch Will sie das Oder bin ich der Einzige der auf die Beine starrt Die Schuhe interessieren mich nicht Was nur die Frauen mit den Schuhen haben Und erst recht die Männer Ach deshalb haben es die Frauen mit den Schuhen Schuhe interessieren mich nicht Bin ich kein richtiger Mann Jetzt stellt sie die Beine gerade hin geschlossen wie es ihr die Mutter beigebracht hat kein Einblick "Die Sonne hatte sich hinter der Wolke verzogen" Wieso nicht umgekehrt Die Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben Figur-Grund-Problem Soll die Sonne die Aktive sein die Wolke nur eine Randfigur Oder ist die Wolke die Starke hinter der sich die schutzbedürftige Sonne verstecken will Auf jeden Fall hat sich die Wolke vor die Sonne geschoben ist doch wohl logisch Was will sie uns sagen mit "Die Sonne hatte sich hinter der Wolke verzogen" Heißt es nicht „Die Sonne hatte sich hinter die Wolke verzogen“ Sie schaut mich an zögert Hat sie meine Gedanken gehört Lächelt sie?
Ist es ein spöttisches Lächeln für meine Genauigkeit, für meine Erbsenzählerei, wie es manche höflich ausdrücken, für meine Korinthenkackerei, wie es sich manche Kollegen und Kolleginnen, neuerdings Kolleg*innen, nicht zu sagen trauen, oder für meine Tipferlscheißerei, wie es mir der Wigbert vorwirft? Mein Bruder Wigbert, der keine Tipferl scheißt. Dann kommt noch gleich der nächste Vorwurf: meine ewige Prinzipienreiterei! Aber das kann die seltsame Autorin dieses seltsamen Buches ja nicht wissen. „Die Frau auf der Trompete.“ Was soll dieser Titel? Will sie originell sein? Sicher will sie originell sein. Ohne das geht es heutzutage nicht. Soll der Titel womöglich eine Anspielung auf sexuelle Aktivitäten sein? Ohne das geht es heutzutage auch nicht. Ist die Trompete das beste Stück des Mannes? Bläst sie auf dieser Trompete? Oder ist die Trompete nur ein Instrument zur sexuellen Befriedigung wie die obligatorische Schlangengurke oder Banane? „Die Frau auf der Trompete“. Deshalb stand im Hintergrund eine Trompete - auf dem Plakat in der Führerscheinstelle. Der Titel stand nicht mit drauf. Warum nicht? Womöglich befürchtete sie, dass die Originalität den Bogen überspannt hätte. „So ein Blödsinn!“, hätten die in der Führerscheinstelle Vorübergehenden gesagt. Oder hätten sie an den biographischen Film über Udo Jürgens gedacht? Saxophon und Trompete, das liegt nahe. Der Titel soll eine Verbindung zu Udo Jürgens herstellen. Mit allen Tricks wird heutzutage gearbeitet. Vielleicht will sie nicht tricksen oder nicht sich einen Trick nachsagen lassen, deshalb wirbt sie auf dem Plakat nicht mit dem Buchtitel, sondern nur mit sich und ihrem schönen Gesicht.
Stiert in ihr Buch als wollte sie in die Trompete reinblasen Flötet aber runzelt die Stirn Kindheit ja klar auch ohne die geht es nicht Wahrscheinlich stirbt gleich die Mutter oder der Vater missbraucht die Kleine Drama pur Ach sie bekommt eine Trompete ganz banal Eine Trompete für ein Mädchen das ist nicht banal Wozu und warum Sie rasen wieder davon die Gedanken und Fantasien meine Fantasien Warum warten sie nicht ab Werd es schon noch erfahren Sie wird es mir schon noch erzählen Jetzt lächelt sie wieder Nackte Beine wieder übereinander in die andere Richtung diesmal Glatt rasiert kräftig gewadelt Ein Schuh klappt am Fuß herunter Klack kümmert sie nicht ist wohl eine Nummer zu groß Warum Ein Blickfänger Ein Ablenker Alles berechnet durchkalkuliert Weil das Mädchen zu große Schuhe geschenkt bekommt Trompete und Schuhe gehören irgendwie zusammen Alter schau wieder in ihr Gesicht häng an ihren Lippen Rosenrot Schneeweißchen und Rosenrot Sie das Rosenrot das Mädchen im Buch das Schneeweißchen die braven Geschwister superbrav untereinander zu sich und zu der Mutter Kitschiges Rührstück Und wer ist der Bär der verwunschene Königssohn und wer der böse Zwerg Ich bin kein Königssohn Sie schaut mich schon wieder an Warum immer in der ersten Reihe Reserviert wird immer vorne Ich schlage meine Beine übereinander.
Sie sieht, dass ich mir Notizen mache, und das ist wohl der Grund, warum sie mich anschaut. Einer der sich Notizen macht und in der ersten Reihe sitzt … Da braucht man keine kriminalistische Ader – und frau auch nicht. Das blöde „frau“. Angeblich ist meine Meinung gefragt, zumindest zu diesen banalen Ereignissen wie ein Lesung in der städtischen Bibliothek. In der Redaktion werden sie sich wieder lustig machen über meinen Bericht. Vielleicht können sich auch die Zeitungsleser*innen darüber amüsieren. Ich soll neben meiner Genauigkeit auch einen Humor haben, einen eigenartigen zwar, meinen sie, aber immerhin. Wenn ich ihre täglichen Elaborate korrigiere, vergeht ihnen das Lachen. Ob sie es schon bereut haben, mich auch noch zum Korrekturlesen für ihre Zeitung engagiert zu haben? Interessanter als meine alltägliche Arbeit auf der Zulassungsstelle ist es allemal. Doch manchmal wird mir mein Nebenjob zu viel. Nicht nur zeitlich. Doch wer soll es schon machen? Pensionierte Deutschlehrer haben es schon versucht und den Job gleich wieder hingeschmissen. Ach, das kann ich gut verstehen, denn man könnte manchmal verzweifeln, was aus der deutschen Sprache geworden ist!
Sie rutscht auf ihrem Stuhl hin und her zieht den kurzen Rock nach unten schnauft tief ein macht Kunstpausen schnauft aus Ihr Schnaufen dringt in mein Ohr und verfängt sich dort Das Mädchen mit der Trompete und den zu großen Schuhen weint fühlt sich unverstanden kommt nicht zurecht damit Ich setze mich breitbeinig hin bin ja ein Mann Räuspern Lehne mich zurück Husten Warum verdammt müssen Leute räuspern und husten wenn es still wird Gefühlsverweigerung sich orten festmachen in der Realität verharren sich nicht verlieren in der Fantasiewelt Das Mädchen weint immer noch fühlt sich allein alleingelassen nicht geliebt Da helfen Schuhe und Trompete nicht auch nicht die nackten Beine auf denen der Rock wieder nach oben rutscht Sie weint Tränen kullern herunter tropfen auf das Buch Eine Autorin die weint Die Zuhörer mit dem Sternchen betroffen Ich schlucke schaue mich ganz vorsichtig um Links und rechts sitzt niemand alle hinter mir Schau nach vorne nicht auf die Beine auch nicht ins weinende Gesicht Ich schlucke wieder Sie schluckt liest weiter Ist alles Berechnung Emotionalisierung wie das ganze Leben heutzutage überall wo man Aufmerksamkeit will und frau, blödes „frau“.
Überall Spektakel, in jeder Fernsehunterhaltung Lichtershows und fetzige Musikeinspieler bis zum Erbrechen, jedes Interview mit „tiefen Spaltungen“, mit dem Gegeneinanderausspielen, Festnageln auf irgendwann einmal Gesagtes, mit dem plumpen Herausgreifen aus Zusammenhängen, mit „Fake News“ – wie ich das alles hasse! Die Leute in der Redaktion können es nicht verstehen, dass ich Dinge, die in der Vergangenheit passiert sind, grammatikalisch in einer Vergangenheitsform ausgedrückt haben möchte. Nein, es muss unbedingt in der Gegenwartsform gesprochen werde, das sei näher dran, sagen die Leute von der Zeitung. Außerdem machten das alle so – was leider stimmt. „Bei dem Unfall sterben vier Menschen“, so will es der Leser berichtet haben, nicht, dass vier Menschen „starben“, dass es schon vergangen ist. „Es kann nicht sein!“ statt „Es darf nicht sein!“, so muss man es sagen, klare Kante. Deshalb gibt es auch den Konjunktiv nicht mehr – oder nur in halbsätziger Form, im ersten Halbsatz. Möglichkeitsformen sind out, Dummheit ist in. Das große Fressen geht in der deutschen Sprache weiter: Der Indikativ frisst den Konjunktiv, das Präsens das Imperfekt – Pardon, ich will korrekt sein: das historische Präsens das Präteritum – und natürlich: der Dativ den Genitiv. Aber es macht ja nichts, Hauptsache, man versteht´s. Es wird Mode, schlampig zu sein. Und die normative Kraft des Faktischen schafft neue Regeln. Soll ich mich noch über Anglizismen, Jugendsprache und das Hofieren des Dialekts aufregen ...?
Sie steht auf entschuldigend sich streckend über dem Rock hängt die Bluse heraus Neue Mode gepflegte Schlampigkeit nur vorne steckt sie drin Einfach lächerlich Legersein als vorgespielter Protest gegen Anständigsein Mode als Protest von wegen Genau das Gegenteil Mode ist heutzutage Anpassung individualitätslos Kann man Verzeihung frau also kann frau wirklich über dem Rock die Bluse raushängen lassen Weiße Bluse vorgespielte Anständigkeit Gegensatz zu den langen nackten Beinen Schneeweißchen und Rosenrot Rosenrot war einen Tick frecher als die Schwester ach was von frech kann man gar nicht reden Ich schwitze warum Die hinter mir schwitzen und stinken Sie setzt sich schnäuzend hat sich gefangen Ich schaue mich um in betretene Gesichter mitgenommen Schreib das auf Das Trompetenkind fühlt sich gequält wirft das Ding unters Bett Aha Das Kind auf der Trompete Prinzessin auf der Erbse Das Bett schiebt sich über die Trompete die Sonne verzieht sich hinter die Wolke Quatsch mit Soße Figur-Grund-Problem Die viel zu großen Schuhe verschwinden unter dem Bett Sie streift die Schuhe ab klack klack schiebt sie mit einem Fuß weg wackelt mit einem nervösen Bein räuspert sich macht Kunstpausen liest mit festerer Stimme weiter Klare Stimme ein Sopran hochdeutsch makellos mit deutlichen Ts am Schluss obwohl sie aus der Oberpfalz stammt Besser als aus Franken Unterm Bett aber kein Verstecken Nein ein Nichtmehrsehenwollen Aus den Augen aus dem Sinn Große Blaue hinter der roten Brille an die sie öfters fasst sie zurechtrückt Ein wenig Lidschatten dezent Brauen sicher gezupft Stirn gerunzelt intellektuell gerunzelt Anstrengung zeigend Konzentration Nachdenklichkeit Haare drüber dann wegstreichend Lockig sicher blond gefärbt die grauen stören schon oder noch Aha jetzt kommt der Sprung beim Vorlesen Kapitel auslassend Sie trinkt Wasser Knackt im Kehlkopf gluckert im Magen Das Mädchen ist jetzt in der Pubertät trinkt schon mal heimlich einen Feigling Ist doch kein braves Schneeweißchen.
Ich hole mir die mitgebrachte Flasche Wasser unter dem Stuhl hervor. Sie zischt beim Öffnen, was die Vorleserin mit einem erstaunten Blick quittiert. Ich mache eine entschuldigende Geste und sie lächelt. Zur Belohnung ihrer Nachsicht greife ich nun zu meinem Fotoapparat, der auf dem freien Platz neben mir lag. Es wird ihr gefallen, wenn ich sie fotografiere. Nun ist ihr vollends klar, dass sie in die Zeitung kommt, dass ich sie in die Zeitung bringe, dass ich es in der Hand habe, ihre Lesung als Erfolg oder Misserfolg zu interpretieren. Ich fühle mich gut, stehe auf und gehe ohne Zögern einigermaßen rücksichtslos an die Seite des Raums und fotografiere drauflos: die Zuhörer, alle mit „innen“, und die Autorin, die bewusst nicht lächelt, sondern konzentriert ins Buch schaut. Sie merkt nicht, dass ich sie ganz nah herhole, ein Foto für mich privat mache. Gut, dass sie nicht lächelt. Ich hasse aufgesetztes Lächeln. Früher wurden die Menschen beim Fotografieren aufgefordert, keinesfalls zu lächeln. Es gab auch nichts zu lächeln vor, in und nach den Kriegen. Jetzt lächeln sie sogar auf den Traueranzeigen, auf jugendlichen Bildern, versteht sich. Der Tote und die Tote oder die Tot*in? Ist Tot*innen korrekt? Und lächelnde junge Leute müssen sie sein, damit wir sie und die Angehörigen bedauern für den viel zu frühen Tod. Ich setze mich wieder.
Sie holt die Trompete hervor das einst gehasste Instrument Spielt weil es keiner von ihr verlangt Offenbar hat sie es im Kapitel dazwischen gelernt Aus einem Kind ist eine Jugendliche geworden Wie lange will sie noch lesen uns die ganze Geschichte verraten Die Schuhe scheinen dem Mädchen jetzt zu passen Die Beine werden eifrig im Überschlagen gewechselt Dazwischen blitzt das Höschen Es tut sich was in der Jugend Die Autorin zeigt Begeisterung Ich begeistert Ich schaue mehr ins Gesicht und lächele mal mit Es wird humorig Die Zuhörerinnen lachen Aufstoßen Kohlensäure Sie wedelt mehr im Gesicht herum Schlanke Hände Holt Taschentuch hervor für die feuchten Hände Der Bibliothekssaal hat sich aufgewärmt Schwitze ich schon stinke ich Zum Glück sitzt keiner neben mir keiner und keine Ein Fenster wird geöffnet und ihr Parfüm umstreicht meine Nase Die hinauswehende Luft hat mir einen Duft geschenkt Die Kleine ist groß geworden braucht nicht mehr Mutters Parfüm hat sich im Geschäft eines gestohlen So jugendliche Mutproben Dann wird sie krank schwer krank.
Sie müsse eine kurze Pause einlegen, meint sie, und das sei sicher im Interesse aller, Konzentration und so. Sie steht auf und öffnet ein weiteres Fenster. Sie fordert auch die Leute auf, kurz mal Luft zu schnappen, aber in fünf Minuten werde sie weiterlesen. Es ist ein Samstagnachmittag. Draußen fahren stinkende und lärmende Autos vorbei und die klackernden und plappernden Stadtbewohner kommen zu Fuß mit Plastiktüten vom Einkauf zurück. Ich denke an die Amerikaner, die in großen braunen Papiertüten ihren Einkauf herumtragen. Da scheint eine „Mode“ einmal umweltbewusst zu sein.
Der Lesesaal liegt im ersten Stock und die anderen werden wohl nicht den Stadtgeruch wahrnehmen, nur ich mit meiner feinen Nase. Manche versuchen, mit der Schriftstellerin ins Gespräch zu kommen, doch sie versteht es, sich zu distanzieren. Sie brauche eine kurze Pause, sagt sie. Der Blick geht zwischen Häuserfronten hindurch zu den fernen Hügeln oder bleibt hängen an größeren Gebäuden, die mit abgeplatzten Putzen auf ihre Renovierung warten. Sicher leben hier keine Mädchen mit Trompeten. Doch vielleicht haben auch die Menschen dort irgendwelche Besonderheiten, über die man schreiben könnte. Mir kommt der Gedanke, dass unsere Schriftstellerin ein Mädchen aus unserer Stadt, ein Mädchen mit Trompete, engagiert haben könnte und die kurze Pause eigens deswegen eingelegt hat. Ich lausche, doch außer den Autos, einigen aufgeregten Stimmen und dem Schlagen der Kirchturmuhr ist nichts zu hören. Ein paar Mauersegler noch, die sich in ihrem Trupp aufgeregt zukreischen. „Ich würde gerne weiterlesen!“, sagt sie mit fester Stimme. Alle rumpeln zurück auf ihre Plätze.
In der Schwebe alles in der Schwebe Wir Zuhörer*innen spüren nicht mehr die Schwere unserer schwitzenden Körper Mein Schweiß ist egal Wird sie sterben Kann doch nicht sein bei diesem Buchtitel Die Lippen rosenrot Zähne makellos viele Kronen Das Mädchen mit neuer Spange Trompeten mit Spange Zähne schneeweiß und Lippen rosenrot Wer ist der Bär und wer der Zwerg Gibt es den Zwerg oder den Bär daheim Schneeweißchen sie und das Trompetenmädchen das Rosenrot Jetzt blass knapp am Tod vorbei Blasen geht nicht wegen der Spange und der Schwäche Hat sie der Zwerg krank gemacht Das Schneeweißchen wird sie retten Jede Schriftstellerin rettet ihr krankes Geschwistermädchen Nur Frauen im Buch und im Saal Frauenbuch Sie schauen mir in den Nacken schweißnasser Haaransatz Sie zückt ihr Taschentuch das Mädchen fiebert immer noch Wir alle fiebern Atemnot Ruhig bleiben zurücklehnen ausstrecken Nackte Beine ausgestreckt noch in den Schuhen drin Graublaue Schuhe wie die Augen mit mittelhohen Stöckeln auch makellos nicht übertrieben eher anständig Sportliche Waden Knie mit Gesichtern nicht spitz Rock wird runtergeschoben Was für eine Farbe soll das sein Frau mit Unterleib abgeschnitten von der Schulbank Die weiße Bluse mit perlmuttglänzenden Knöpfen ältlicher Look doch Brüste nicht spitz wie damals in den Fünfzigern und Sechzigern auch eher unauffällig Kinn auch nicht spitz Nase auch nicht und ein rundliches Gesicht wie bei ihrem Mädchen das wohl überleben wird vielleicht mit einer Lähmung hoffentlich nur der Beine Zeigt sie deshalb die nackten Beine?
Das hat sie gut gemacht! Der zweite Teil war sehr emotional. Sie hielt ihn kurz und es blieb spannend. Fast erschöpft applaudieren ihr die lesebegeisterten Kleinstadtfrauen. Die Autorin bedankt sich und hat noch geschickte Werbeworte parat, denn sie will ihre Bücher loswerden. Die Bibliotheksfrau bedankt sich auch, sogar im Namen des Bürgermeisters, bei der Schriftstellerin und den Zuhörerinnen und dem Zuhörer – wobei sie demonstrativ auf mich schaut und natürlich ein allgemeines Grinsen auslöst. Scheinbar ist es lustig, dass ich der einzige Mann bin. Dann beginnt der Run auf die Bücher, die auf einem extra Tisch gestapelt sind. Dahinter schaut lächelnd eine Auszubildende von der größten Buchhandlung der Stadt hervor. Sie kassiert und übergibt das Buch. Die Frauen stellen sich damit nun tatsächlich in eine Schlange vor die Autorin und lassen sich ihre Bücher signieren. Meist mit einem netten Satz dazu, mit einer persönlichen Widmung. Ich kaufe mir auch ein Buch von der Auszubildenden und gerate in die Schlange hinein. Da ich überhaupt nicht weiß, warum mir die Autorin schöne Worte ins Buch schreiben sollte, überlege ich auszubrechen, doch ich will als einziger Mann nicht auch noch weiter auffallen. Vorne angekommen schaue ich die Gute nur freundlich lächelnd an. Natürlich ist sie älter als es mir das Plakat in meiner Führerscheinstelle weismachen wollte, was nicht bedeutet, dass sie weniger attraktiv wäre, eher im Gegenteil. Sie nimmt kurz ihre rote Brille ab, öffnet ihre rosenroten Lippen und haucht ein „Schön“ in die Luft, „Schön, dass Sie den Weg in die Lesung gefunden haben!“ Ich merke, dass auch ich mir etwas Rot zulege, weil ich nichts zu erwidern weiß. Ist das eine Bemerkung, die sie an den einzigen Mann richtet, an den einzigen Signierungsverweigerer, an den Zeitungsschreiber oder ist es etwas ganz anderes? Ich bilde mir ein, als klänge es so, als würde sie mich kennen. Und ihr Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor. Aber verdammt, warum habe ich mich angestellt? Ich krame, weil mir nichts anderes einfällt, aus meiner Jackentasche ein Visitenkärtchen hervor und sage: „Damit Sie wissen, in welcher Zeitung der Artikel erscheint.“ Sie nickt und lächelt, ich wünsche „noch einen schönen Tag“ und denke nicht dran, dass von dem Tag nicht mehr viel übrig ist. Ich hätte einen schönen Abend wünschen sollen.
2
Eigentlich hatte Vera ein Einzelzimmer vorbestellt, doch man gab ihr ein Doppelzimmer zum selben Preis. Die Lesereisen waren ihr vertraglich vorgeschrieben und sie hatte schon genügend Erfahrung damit, aber sie konnte sich nur schwer an das Alleinsein in fremder Umgebung gewöhnen. Ein Doppelbett erinnerte sie zudem schmerzlich daran, dass sie zum Single mutiert war, seitdem sie ihr Partner verlassen hatte. Daheim war das zweite Bett auch leer und, genau wie hier im Hotel, sorgfältig aufgebettet, so als wollte man allzeit bereit sein für einen Überraschungsgast, der versehentlich ins Zimmer stolpert oder den man sich unterwegs aufgelesen hat. Natürlich bereute sie es, zusammen mit ihrem Partner ein Doppelbett gekauft zu haben. Werfen die anderen Verlassenen ihr Doppelbett auf den Müll? Zersägen ist nur ein schaler Witz, der dennoch regelmäßig als heißer Tipp empfohlen wird. Verzichten die Verlassenen, die Witwen, Geschiedenen, Getrenntlebenden oder Getrenntschlafenden auf die zweite Bettdecke, legen sie sich breit in die Mitte oder schön brav auf die gewohnte Seite und schauen sehnsüchtig oder wütend hinüber auf das leere Laken? Streichen sie sanft drüber oder hauen sie vor Wut eine Delle hinein? Für Vera stellte sich hier im Hotel diese Frage nicht: Die zweite Aufbettung ließ sie unberührt.
Sie hätte auch nach der Lesung heimfahren können, denn der Termin war an diesem Samstag schon um 18 Uhr beendet gewesen, doch was sollte sie daheim? Seit Wochen hatte sie keine Zeile mehr zu Papier gebracht, respektive in den Computer. Auch ihre Schwester empfahl ihr, den Sonntag und den Montag als Urlaubstage zu genießen, sich mal abzulenken, die kleine Stadt oder die grandiose Natur kennen zu lernen. Vielleicht brächte ihr die Provinz auch ganz besondere Inspirationen. Vermutlich hatte sie in Gedanken dazu gefügt „… oder einen Mann“. Vera schmunzelte. Im ganzen Lesesaal hatte sie nur einen einzigen Mann entdeckt. Und der war nicht freiwillig gekommen. Doch er saß in der ersten Reihe und sie hatte ihn immer wieder im Blick. Besonders freundlich erschien er ihr nicht. Das war schade, denn sie fand ihn äußerlich eigentlich ganz passabel, vielleicht ein wenig zu altmodisch gekleidet. Sie schloss daraus, dem Geschlechtsrollenklischee diesmal nicht abgeneigt, dass er auch alleinlebend seine Tage verbringen würde, denn eine Frau hätte ihn vermutlich für die Lesung einer Autorin, die fast nur weibliche Zuhörerinnen anzieht, etwas moderner ausgestattet. Doch womöglich war es auch umgekehrt: Die Ehefrau empfahl ihm die Kleidung gerade wegen der vielen Frauen, die im Saal auf ihn schauen würden. Man weiß ja nie – und frau auch nicht.
Das Hotel hatte eine ausgezeichnete Küche. Vera saß trotz vieler Gäste allein am Tisch, an einem Zweiertisch, dem kleinsten Tisch im Restaurant. „Katzentisch“ nennt man ihn, wenn er bei Mehrfamilienessen der Absonderung der Kinder dient und dies den Kleinen als Privileg verkauft wird. Immerhin hatte ihr Tisch dieselbe Höhe wie die anderen Tische. Und es gab mehrere dieser Katzentische. Auch in einer eher ländlichen Gegend schien es den Trend zum Singleleben zu geben. Und wenn schon dem Single beim Essen ein Kontakt zugedacht wurde, dann kein Gruppenkontakt, allenfalls ein Kontakt zu einem zweiten Single. Es war auffallend, dass alle Paare in diesem Gastraum an Vierertischen saßen und alle Zweiertische einem einzelnen Gast vorbehalten blieben. Drei Katzentische hatte sie im Blick und an allen dreien saßen Männer. Sie war zumindest in diesem Raum die einzige Singlefrau. Ein wenig bekam sie Mitleid mit den männlichen Leidensgenossen, die an einem Samstagabend alleine zum Essen in ein Restaurant gehen mussten. Sie machten ihr nicht den Eindruck, als ob sie das genießen würden. Vielleicht waren es aber auch Männer, die hier im Hotel wohnten und, wie sie, übers Wochenende irgendwelchen beruflichen Verpflichtungen nachkamen. Nach dem Essen würden sie ihre Ehefrauen daheim anrufen und betonen, wie schwer es ihnen fiele, schon wieder woanders nächtigen zu müssen.
Sie telefonierte nach dem Essen mit ihrer Schwester Fritzi, die sich trotz der lärmenden Kinder im Hintergrund Zeit nahm. Ausführlich sprachen sie über die Lesung. Es war Vera immer peinlich, wenn sie in ihrem neuesten Buch jeweils an derselben Textstelle außer Fassung geriet. Da half es auch nicht, dass die Schwester dies als besonders authentisch pries und ihr riet, das immer beizubehalten. Fritzi fragte nach der Zusammensetzung im Publikum und machte sich lustig darüber, dass sich Vera hauptsächlich an den einzigen Mann erinnerte. Natürlich wollte sie auch wissen, wie sie untergebracht sei und was sie an den nächsten Tagen vorhätte. Sie solle es nicht zu toll treiben, riet sie ihr spaßeshalber. Vera kannte ihre Schwester und wusste, dass sie es immer gut meinte. Manchmal dachte sie: Die hat gut reden, mit einem Mann und drei Kindern! Für die Schwestern war die Familienplanung abgeschlossen, bei der einen, der jüngeren, weil drei Kinder ihr genug erschienen, bei der anderen aus Altersgründen: Vera war 15 Jahre älter als ihre Schwester Fritzi und traute sich nicht, eine Spätgebärende zu werden – ganz zu schweigen davon, dass ihr der Partner abhanden gekommen war und kein neuer bei ihr anklopfte. Außerdem hatte sie ein negatives Beispiel: ihre Mutter! Diese hatte die kleine Schwester auch erst nach 40 bekommen und das nie als Geschenk der Natur empfunden, sondern nur als große Last in ohnehin schwierigen Zeiten. Das war wohl der Grund, warum sich Vera als Ältere um die Schwester gekümmert hatte, so als wäre sie ihr eigenes Kind. Vielleicht hatte sie auch deshalb später selbst keine Kinder bekommen. Das eine Kind hatte ihr gereicht.
Das Samstagsprogramm im Fernsehen war nicht berauschend und es passte somit in paradox-konträrer Weise zum rauschenden Gerät. Sie sah sich eine Sendung nach der anderen an. Vera wollte darauf warten, dass sie der Schlaf überwältigt, um nicht zum Nachdenken zu kommen. Sie fragte sich, wann sie endlich die Trennung überwunden hätte. Doch sie verstand, dass ihr an besonders einsamen Abenden wie diesen die schmerzhaften Gedanken hochkommen mussten. Endlich schaltete sie den Fernseher aus. Daheim hätte sie noch zu einem guten Buch gegriffen, doch bei Lesereisen verzichtete sie darauf. Sie stöberte in einem auf dem Tisch liegenden Wanderführer. Wanderschuhe hatte sie freilich nicht dabei, sie war eher ein Mensch der Wörter und nicht der körperlichen Anstrengung. Doch es gab auch Ausflugsziele in der näheren Umgebung, die ihrem Schuhwerk angemessen waren. Sie nahm sich vor, an einen See zu fahren, von dem sie las, dass man ihn in einer guten Stunde umrunden könne. Außerdem lag angeblich ein gutes Café auf dem Weg!
Die Nacht war unangenehm. Das Fenster konnte sie nicht öffnen, weil sie der immer noch im Innenhof liegend Küchengeruch störte. Andauernd ging irgendeine Dusche oder eine Klospülung, doch sie war schon froh, wenigstens keine Sexgeräusche zu hören. Im Traum begegnete ihr der Zeitungsschreiber, der sie immer so durchdringend angeschaut hatte. Er starrte auf ihre nackten Beine, so als ob die wichtiger als ihr Roman wären. Als sie zwischendurch aufwachte, wusste sie nicht Realität vom Traum zu unterscheiden. Hatte er wirklich immer auf ihre Beine gestarrt? Die Schwester hatte sie gewarnt, den kurzen Rock anzuziehen, weil sie damit bei den älteren Leserinnen wohl nicht punkten könne. Den Rock solle sie sich für die Männer aufheben, wenn sie einen Stadtbummel wagen würde. Fritzi hatte nicht auf dem Schirm, dass er auch für einen Journalisten oder Kritiker prickelnd sein könnte. Manchmal wurden Vera die Ratschläge der Schwester aber zu viel. Immer dasselbe Gerede. Es ist für eine Nahestehende schwer, der Verlassenen beim Trauern zuzusehen. Sie war aber noch nicht bereit, sich auf einen anderen Mann einzulassen. Wie soll man ein paar Monate nach einer Trennung schon bereit sein für die nächste Katastrophe? Bei der Wahl des kurzen Rocks hatte Vera nicht mehr an die Warnung der Schwester gedacht. Der Rock gefiel ihr einfach – und dass er kurz war, störte sie nicht. Das Verkaufsergebnis hatte er jedenfalls nicht negativ beeinflusst. Und dass der seltsame Schreiberling keinen Eintrag in das Buch wollte, hing wohl nicht mit der Rocklänge zusammen. Sicher war er sich zu fein, zu stolz für eine banale Signatur.
In der Nacht war nicht viel Schlaf zusammengekommen. Die Dusche tat gut und auf ein besonderes Äußeres wollte Vera an einem freien Tag keinen Wert legen. Ungeschminkt und ohne Brille würde sie sicher auch unerkannt bleiben, selbst wenn sie neben einem ihrer Plakate stünde, die sie an manchen Stellen der Stadt gesehen hatte. Sie legte privat keinen Wert darauf, als bekannte Schriftstellerin angesprochen zu werden, egal, was ihr Verlag dazu meinte. Im Frühstücksraum waren alle Tische schon mit mindestens einer Person besetzt. Alleine frühstücken war also nicht drin. Sie erkannte ihre Leidensgenossen der Katzentische wieder und setzte sich zu einem dazu. Er war der Vertreter einer Arzneimittelfirma, wie er ihr sehr schnell mitteilte, ungefragt und ohne nach ihrem Beruf zu fragen. Sie hätte gelogen, denn dass sie manchmal in der Redaktion eines Fernsehsenders arbeitete und auch dabei gelegentlich im Fernsehen auftrat, wollte sie ebenso wenig preisgeben wie ihre Erfolge als Schriftstellerin. Doch ihr Gegenüber interessierte sich anscheinend ohnehin nicht für ihren Beruf. Ihm lag eher daran, seine Ortskenntnisse auszuspielen und sich ihr als Fremden- oder Wanderführer anzubieten. Die Schwester würde frohlocken! Vera zögerte, vertröstete ihn, sprach davon, dass sie nicht so gut zu Fuß sei, doch er schob ihr eine Visitenkarte mit seinen Telefonnummern hin. Er sei immer erreichbar und würde sich freuen. So alleine mache alles doch keinen Spaß. Da nickte sie und sagte: „Mal sehen.“ Das Kärtchen warf sie ungelesen in ihre Tasche.
Natürlich ging sie alleine weg. Nach dem Frühstück zog es sie an den Fluss zu einem Spaziergang. Die ersten Meter entfernte sie sich schnell vom Hotel, dann ließ sie sich Zeit und genoss die schon recht angenehme Wärme der Sonne und das frühsommerliche Gezwitscher der Vögel. Erstaunlicherweise war kaum einer unterwegs, auch keine „Eine“ … Selten, dass sie einmal über ihr inneres Gender-Engagement schmunzeln musste ... Als sie die Glocken der Stadtkirchen hörte, vermutete sie, dass sie in einem besonders frommen Landstrich gelandet war, wo sich viele Bürger an einem Sonntagmorgen in den Gottesdienst begeben – beziehungsweise sich nicht auf die Straße trauen, um nicht als unfromm angesehen zu werden. Der junge Angler, den sie am Flussufer aufschreckte und der durchaus zu einem Schwätzchen bereit war, lachte und meinte, die Leute seien müde von ihrer Samstagsarbeit und schliefen sonntags immer sehr lange. Sie wusste nicht, ob sie das ernst nehmen sollte oder ob er sich einen Scherz mit der Fremden erlaubte. Sie lächelte freundlich und wünschte ihm „Petri Heil“. Nachdem sie schon ein paar Meter entfernt war, entdeckte sie ein idyllisches Fotomotiv und ging noch einmal zum Angler zurück. Sie fragte, ob er etwas dagegen hätte, wenn er auf ihrem Foto abgebildet würde. Er grinste nur. Sie erkannte darin eine Zustimmung und lichtete den Fluss mit dem jungen Mann im Vordergrund ab. Ihrer Schwester würde sie weis machen, dass sie ein angeregtes Gespräch mit ihm geführt hätte – was die ihr sowieso nicht glauben würde. Sie schickte ihr das Foto daher mit einer glaubwürdigeren Bemerkung. Da sich der Himmel etwas zuzog und sie nicht die Wetterkapriolen in dieser Gegend kannte, drehte sie um und ging Richtung Hotel zurück. Da dachte sie, einen Mann zu bemerken, der ihr nachgegangen war und sich ebenfalls schnell umwendete und Richtung Stadtmitte zurückeilte.
Das Mittagessen - an einem Tisch allein für sich - schmeckte ihr ausgezeichnet. Die Katzentische waren voll belegt und an den größeren Tischen saßen meist Familien oder gleich ganze Freundesgruppen, die offenbar die Lokalität schätzten. Geld haben die hier, wenn die jeden Sonntag zum Essen gehen können, dachte sie sich. Von einem Tisch wurde herübergeschaut und sie vermutete, dass man sie erkannt hatte. An einem zu kurzen Rock konnte es jedenfalls nicht liegen. Die Leute nickten und sie nickte zurück. Da die Szene nicht unbeobachtet blieb, begannen zwei andere Tische zu tuscheln. Nun wurde es ihr unangenehm. Sie hätte gern ihre Ruhe gehabt, wäre gern anonym geblieben. Sie konnte sich nur schwer in Autorenkollegen hineinversetzen, die erkannt werden wollen und Autogrammwünsche keinesfalls als störend erlebten. Sie machte ein angestrengtes Gesicht und konzentrierte sich voll auf ihr Essen. Glücklicherweise wurde ihre Distanzierung verstanden. Nach dem Pharmavertreter hatte sie schon beim Hereingehen geschaut, aber ihn nicht entdeckt. Sie horchte in sich hinein und dachte wieder an ihre Schwester. „Beim Essen lernt man Leute kennen!“, meinte die. Warum wollte sie das nicht? Sie konnte nicht leugnen, dass ihr das Vorlesen ihrer Bücher gefiel – einmal abgesehen von den Szenen, in denen sie sich gefühlsmäßig zu sehr mitreißen ließ. Ihr gefiel also dieser Kontakt zu den Menschen. Aber was heißt Kontakt? Es war ja nur eine einseitige Präsentation, eine mit einer gewissen Rückmeldung zwar, doch eigentlich hatte sie alles im Griff, sie konnte bestimmen, wie weit sie etwas von sich preisgeben und wie weit sie etwas von den anderen wahrnehmen wollte. Höchstens beim Signieren musste sie mit der einen oder anderen Bemerkung oder kurzen Frage rechnen. Oder war es genau andersherum? Sie scheute weniger die Gesprächsbeiträge und Nachfragen der anderen, wenn sie mit denen zum Beispiel an einem Tisch saß, sondern ihre eigenen. Sie interessiere sich zu wenig für andere, warf man ihr gelegentlich vor, und dass das für eine Schriftstellerin doch sehr ungewöhnlich sei, denn gerade sie müsste doch Interesse an allem und jedem haben. Ach, ich kenne mich nicht einmal mit mir selbst aus, dachte sie mit einer gewissen Resignation, und es kam ihr so vor, als könnten alle im Raum ihre Gedanken hören.
Nach dem Mittagessen legte sie sich hin und schlief sofort ein. An ihrer Tür klopfte es, zuerst sanft und leise, dann ungeduldig und kalt, mit den Fingerknöcheln einer kräftigen Hand. Sie öffnete die Tür einen Spalt, doch der Mann draußen drängte sich sofort herein. Er stieß ihr die Tür gegen ihre Schulter und sie taumelte zurück. Der Mann schlug die Tür von innen wieder zu und schob die Erschrockene weiter ins Zimmer hinein, dann gab er ihr einen Stoß, so dass sie rückwärts auf das unbenutzte Bett fiel. Entsetzt hob sie ihren Kopf und schaute den Gewalttätigen an. Sie erkannte den Pharmavertreter. Sie wollte schreien, doch er hielt ihr mit grober Hand den Mund zu. Sie schnappte nach Luft - und war froh, dass sie sich endlich von diesem Alptraum befreien konnte. Sie richtete sich auf und sprang aus dem Bett. Erleichtert schnaufte sie durch: Es war wirklich nur ein Traum gewesen! Dennoch schaute sie sich auf dem Weg zu ihrem Auto vorsichtig um, ob ihr der Pharmavertreter vielleicht folgen würde. Dann fuhr sie erleichtert hinaus zu dem kleinen See, den ihr das schmale Büchlein als Ausflugstipp empfohlen hatte. Sie genoss die Ruhe und die romantische, liebliche Umgebung des touristisch noch recht unerschlossenen Kleinods. Als sie sich jedoch dem Café näherte, wurde ihr bewusst, dass die Einheimischen wochenends nicht nur gerne ins Restaurant gingen, sondern dass sie sich zu Scharen auch in den Cafés trafen. Viele waren bis zum dazugehörigen Parkplatz gefahren und hatten sich auf die Terrasse gesetzt, um den See aus angenehmer Distanz zu bewundern und den wirklich guten Kuchen zu essen, der dort angeboten wurde. Sie bekam den letzten freien Tisch, doch sie blieb nicht lange allein. Von einem der Nachbartische kam ein Mann zu ihr hin. Er trug in der einen Hand eine Aktentasche, in der anderen einen Teller, auf dem neben dem Kuchen auch eine Tasse Cappuccino hin- und herrutschte.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte er grinsend. Es war der Pharmavertreter, der sogleich, ohne eine Antwort abzuwarten, Platz nahm. „Schön, dass wir uns wiedersehen!“, sagte er. „Und noch dazu in einer so herrlichen Umgebung.“ Ihr muss wohl der Mund offengestanden haben, denn er bot nun doch einen Rückzieher an: „Oder störe ich Sie? Das will ich natürlich nicht! Die Leute an meinem Tisch waren mir nicht besonders sympathisch“, erläuterte er. „Was nicht heißt, dass ich mich im umgekehrten Fall nicht zu Ihnen hergesetzt hätte. Ach, was red ich? Ich red wieder zu viel. Ich weiß. Entschuldigung!“ Er machte aber keine Anstalten wieder aufzustehen. „Nicht, dass Sie glauben, ich würde Sie verfolgen, ich bin immer hier im Café, wenn ich hier in der Gegend bin und das bin ich oft, wie Sie sicher kombiniert haben.“
Sie nötigte sich ein kleines Lächeln ab und blieb nur im Ton höflich: „Ja bitte, nehmen Sie Platz. Es darf sich jeder hinsetzen, wo er will. Meinetwegen.“
„Störe ich Sie wirklich nicht? Ich bin manchmal aufdringlich, sagen die andern. Ist halt mein Beruf, wissen Sie.“ Dabei zeigte er auf seine Aktentasche. „Immer dabei. Muss noch was nachschauen.“
„Ich will Sie nicht aufhalten“, sagte Vera kühl.
„Ach, was! Ich bin doch froh, auch mal Gesellschaft zu haben. Ganz privat. Nicht ständig von Termin zu Termin zu hetzen und meine Sachen anzupreisen. Was machen Sie eigentlich?“
„Ich genieße ein paar Stunden die Ruhe hier.“
„Ach, Sie kommen wohl aus einer größeren Stadt. Da ist es freilich sehr schön bei uns. Ich stamme von hier, wissen Sie. Und außerdem: Das alles gehört zu meinem Einzugsgebiet.“ Dabei machte er eine ausladende Bewegung mit beiden Armen. Die erschien selbst ihm ein wenig peinlich. Er räusperte sich. „Nein, ich meinte, was Sie beruflich machen. Oder bin ich da zu neugierig? Auch so eine Berufskrankheit. Ich verwickle die Ärzte, die ich aufsuche, immer in ein privates Gespräch. Nach ihrem Beruf frage ich die Ärzte natürlich nicht.“ Der Pharmavertreter lachte. „Den weiß ich ja.“ Er machte eine Pause, um eine Antwort abzuwarten.
Sie zögerte etwas, weil sie wusste, wohin ehrliche Antworten führen können. Sie hatte keine Lust, sich mit dem Menschen über ihre Bücher oder ihre Fernseharbeit zu unterhalten. „Nun, jetzt bin ich privat hier und da rede ich nicht gerne über meinen Beruf.“
„Ach so. Muss wohl etwas Besonderes sein. Wahrscheinlich eine Psychiaterin, wenn ich sie mir so anschaue. Ich rieche Ärzte zehn Meilen gegen den Wind. Dann wollen Sie natürlich nicht von mir bequatscht werden. Keine Angst, ich bin ab jetzt auch nur noch privat hier.“ Und wieder legte er ein Grinsen auf, nippte einmal an seinem Cappuccino und stach sich ein Stück seines Kuchens ab. „Ganz privat“, bekräftigte er.
Sie drehte ihr Gesicht Richtung See und konnte es sich nicht verkneifen, mit den Augen zu rollen. Sie rutschte auch ihren Stuhl noch ein Stück in diese Richtung, lehnte sich zurück, legte ihren Kopf nach hinten und schloss die Augen. Er verstummte endlich und widmete sich weiter seiner Käsesahnetorte. Leise murmelte er: „Tut mir leid, wollte nicht stören.“ Sie erwiderte nichts.
Am Abend rief ihre Mutter an und fragte nach der Lesung des Vortags. Für ihre privaten Begegnungen interessierte sie sich scheinbar nicht. Sie ließ sich genau den Ablauf der Nachmittagslesung erzählen, war auch neugierig, ob jemand von der Presse da gewesen wäre. Eine gute Presse sei wichtig, meinte sie. Ja, das wussten beide.
3
Samstagsvorlesung: Die Frau auf der Trompete
Für die jeden ersten Samstagnachmittag des Monats von unserer engagierten Stadtbibliothekarin Frau Lieselotte Brunner ins Leben gerufenen Reihe von Buchlesungen konnte diesmal eine überaus prominente Schriftstellerin gewonnen werden: Frau Vera Weiß-Riebendorf stellte ihr Buch „Die Frau auf der Trompete“ vor. Die mit vielen Auszeichnungen dekorierte Autorin von Romanen, die man gemeinhin der Frauenliteratur zuordnet, füllt ansonsten große Theatersäle und dass sie den Weg in die Provinz und in unsere kleine Stadtbücherei fand, ist sicher der Bekanntschaft von Frau Brunner mit der Verlegerin der Schriftstellerin zu danken. Der Lesesaal war deswegen auch gut besucht mit erwartungsvollen literaturbegeisterten Frauen unseres Städtchens und der Umgebung. Und vorneweg gesagt: Keine blieb enttäuscht zurück!
Die Autorin las einzelne Abschnitte ihres spannenden neuen Romans mit sehr angenehmer Stimme und verstand es, immer die richtigen Akzente zu setzen. Sie trat ohne jegliche Starallüren auf und begeisterte durch ihre sympathische Ausstrahlung und vor allem durch ihr großes emotionales Engagement, das auch die Zuhörerschaft mitriss. Es konnte wieder einmal belegt werden, dass nicht nur in der Lyrik die Art des Lesen eines Textes den Inhalt erklärt oder vertieft, sondern dass dies auch für die Belletristik gelten kann. Man darf sich auch fragen, ob die Protagonistin des Romans nicht sogar autobiographische Züge trägt und sie deshalb besonders intensiv vorgestellt und wahrgenommen werden konnte. Die wechselnden Erzählperspektiven ergaben eine fesselnde Melange aus Distanz und Nähe und der auktoriale Erzähler – oder hier die Erzählerin, denn gendergerechte Formulierungen scheinen der Autorin wichtig zu sein - verriet einiges aus dem Innenleben der Romanfiguren, das dem Zuhörer – und diesmal bleibe ich bei der männlichen Formulierung – einen fast zu intimen Vergleich mit der Autorin gestattete. Das Gesamtbild der Lesung, von der äußeren Erscheinung der Vortragenden über den Stil der Lesung bis hin zu den ausgewählten Handlungsinhalten ihres Buchs, war also sehr authentisch und traf voll den Geschmack des Publikums - nicht nur des weiblichen, darf ich als einziger Mann hinzufügen. Der euphorische Beifall für Frau Weiß-Riebendorf war dafür ein guter Beleg und ein herzlicher Dank an die Autorin.
Ob es sich bei der Frau auf der Trompete tatsächlich um Literatur nur für Frauen handelt, kann der Berichterstatter noch nicht beurteilen. Darüber wird in einer Rezension alsbald zu schreiben sein. Die vorhandenen Exemplare des neuen Werks waren im Nu vergriffen und konnten von den Interessentinnen mit Widmungen der Autorin stolz nach Hause getragen und sicher schnell verschlungen werden. Ein besonderer Dank für diese gelungene Veranstaltung gebührt aber auch nochmals unserer geschätzten Frau Brunner, die wieder einmal ihr gutes Händchen für die richtige Wahl einer Autorin für unsere beliebten Nachmittagslesungen bewiesen hat.
Der Zeitungsbericht machte sofort die Runde: Die Stadtbibliothekarin Lies war zufrieden, besonders auch mit der wirklich schnellen Berichterstattung. Sie schickte den Artikel an die Verlegerin der Schriftstellerin mit herzlichen Grüßen. Diese wiederum informierte ihre engste Freundin Milena, die noch viel gespannter darauf wartete als die Verlegerin. Milena informierte ihre Tochter Vera, dass bereits in der Montagsausgabe der Lokalzeitung ein Bericht stünde. Vera Weiß-Riebendorf hätte diesen Hinweis ihrer Mutter nicht gebraucht. Überhaupt hasste sie es, wenn ihre Verlegerin die Neugier ihrer Mutter immer so bediente. Und immer noch glaubte sie, dass sie seinerzeit von diesem Verlag wohl nur deshalb angenommen worden war, weil die Mutter mit der Verlegerin so „speziell“ war. Schon mehrmals in den letzten Monaten hatte sie der Frauenklub in dieses Provinznest schicken wollen und immer hatte sie dieses Ansinnen mit irgendwelchen Ausreden abgelehnt. Sie wehrte sich nicht gegen die Provinz, gegen Kleinstädte oder gegen „viel Landschaft“, sondern sie wehrte sich gegen die Klüngeleien zwischen Mutter, Verlegerin und dieser Stadtbibliothekstante, ja eigentlich wehrte sie sich gegen das Drängen der Damen, weil es ihr unverständlich war. Dieses Mal hatte es die Mutter als einen besonderen Wunsch formuliert und hinzugefügt, dass sie in dieser Stadtbibliothek in jungen Jahren schon einmal gewesen sei und sie deshalb die Verlegerin gebeten habe, mit der ihnen beiden bekannten Bibliothekarin eine Lesung zu vereinbaren. Nostalgie nannte sie das, worauf ihre Tochter Vera meinte, dann solle sie doch selbst mal wieder hinfahren. Es blieb letztlich ein Rätsel, warum der Mutter so daran lag, dass sie dort ihr Buch vorstellte. Erstaunlich war auch, dass ihre Verlegerin so schnell einen Termin vereinbaren konnte. Frauenklüngel macht vieles möglich ...
Vera las den Zeitungsartikel beim Frühstück und es gab ihr zu denken, dass es dieser Presse-Mann aus der ersten Reihe gewagt hatte, Vergleiche ihrer Romanfigur mit ihr als Autorin anzustellen. Mit seiner positiven Berichterstattung und dem Foto von ihr war sie aber sehr einverstanden. Sie fühlte sich gut getroffen. Der „Berichterstatter“ hieß Hans Wunderfeld und war kein Mitglied der Zeitungs-Redaktion, sondern schrieb Kulturberichte auf Honorarbasis. Das hatte sie auch schon seinem Visitenkärtchen entnommen, für dessen Übergabe er sich im Lesesaal extra angestellt hatte. Gerade als sie den Bericht ein zweites Mal lesen wollte, meldete sich erneut das Telefon. Sie schaute, wer es sein könnte, aber sie kannte die Nummer nicht. Ihre Handynummer war nur wenigen Menschen bekannt, deshalb wurde sie neugierig. Sie verließ den Frühstücksraum und nahm das Gespräch an. Der Gesprächspartner entschuldigte sich, er wolle auch nicht groß stören, rufe sowieso von seiner Arbeitsstelle an, habe ihre Nummer von ihrer Verlegerin, also der langen Rede kurzer Sinn: Er würde sie gerne noch einmal treffen, um ein Interview für die Zeitung mit ihr zu führen. Ach ja, er sei der Hans Wunderfeld, der Mann aus der ersten Reihe. Sie wüsste schon: der Mann bei ihrer Lesung am Samstagnachmittag … Er selbst habe aber heute leider erst ab 17 Uhr frei, ob es ihr denn passe und ob es ihr überhaupt angenehm sei, mit ihm kurz über ihr Buch, das er inzwischen gelesen habe, und über sie als Autorin zu sprechen. Sie stutzte, überlegte kurz und sagte ihm, dass sie zurückrufe. Sie überlegte nun länger, hin und her. War es so ein Interviewtermin wert, dass sie noch einen Tag bliebe? Der Frauenklub schien es zu befürworten, ihre Schwester sowieso. Und sie hatte Zeit. Sie rief zurück und vereinbarte mit dem Zeitungsmenschen einen Abendtermin im Restaurant ihres Hotels. Den Tisch – und es würde diesmal kein Katzentisch sein – wollte sie vorbestellen.
Hans Wunderfeld, der Mann von der Führerscheinstelle, führte selten Interviews. Der Zeitung war diese Ausnahme sehr willkommen, Abwechslung war immer willkommen, und Lies schien es ein größeres Bedürfnis zu sein als bei all den anderen Gelegenheiten zuvor. Hans führte es darauf zurück, dass die anderen Lesungen in der Regel von Autoren aus der Region gehalten wurden, die ihre Bücher vorstellen und verkaufen wollten. Diese Autoren wurden ohnehin im Vorfeld schon für ihre neuesten Werke in der Zeitung gelobt und Lies befürchtete ein wenig, dass Hans deshalb eher einen Tick zu kritisch sein würde, wenn er sich mit dem Werk eines regionalen Autors beschäftigte. So war sie, nachdem sie es mit Hans ein Mal probiert hatte, nicht mehr auf Interviews von ihm scharf, auch nicht auf seine Berichterstattung von den Lesungen. Hans schmeichelte es, dass er gerade bei dieser prominenten Schriftstellerin von Lies angefragt wurde – er kam nicht auf die Idee, dass ganz etwas anderes dahinterstecken könnte.
Veras Schwester Fritzi witterte gleich wieder eine gute Partnerfindungsgelegenheit und auch bei Vera blitzte mit dem Gedanken, dass der Interviewer ausnahmsweise ein Mann sein würde, sofort ein Warnlicht auf. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, dem zuzusagen? Andererseits reizte sie das auch, aber natürlich nicht, wie es eine Frau reizt, die auf der Suche nach einem Mann ist. Ihrer Mutter war das scheinbar egal. Sie freute sich ihr gegenüber, dass wieder einmal ein Interview in der Zeitung erscheinen sollte. Sie maß dem eine Bedeutung bei, die Vera seltsam vorkam. Vermutlich, so dachte Vera, will sie ihrem Frauenklub eine Freude machen. Bei aller Professionalität konnte es Vera nicht vermeiden, sich auch als Frau zu fühlen, die im Restaurant einem Mann begegnen würde. Sie überlegte, welche Kleidung und welches Make-up sie wählen sollte. Der Wunderfeld schien ihr kein besonders moderner Mensch zu sein, aber sein Äußeres könnte ja täuschen, denn sein Zeitungsbericht war auch überraschend für sie. Sie war sich unsicher, ob sie sich äußerlich anpassen oder ganz betont absetzen sollte. Mit der Schwester konnte sie darüber nicht reden, sonst käme die auf falsche Gedanken, doch sie wusste, was sie letztlich sagen würde: Du musst dich wohlfühlen! Sie entschied: Beim Essen muss es ohne Make-up gehen!
Hans ärgerte sich, dass auch er über Äußerlichkeiten Gedanken verschwendete. Ja, er ging sogar noch einen Schritt weiter: Er schaute sich im Internet die Speisekarte des Lokals an und überlegte, was er bestellen sollte. Am meisten plagte ihn die Frage, ob er eigentlich die Rechnung zu übernehmen habe, nicht des Geldes, sondern des Anstands und der möglichen Interpretationen wegen. Endlich fand er eine Lösung: Er würde zahlen und sagen, dass die Zeitung eingeladen habe. In Wirklichkeit hatte ihn die Stadtbibliothekarin darauf gebracht, dass ein Interview doch sicher interessant sei. Und natürlich würde er keinen Cent von der Zeitung für das Essen fordern, denn für ein Interview braucht es kein Essen. Fachlich bereitete er sich selbstverständlich gründlich vor. Zuerst las er das Buch, dann recherchierte er im Internet, dann schrieb er sich einige Fragen auf und lernte diese auswendig – was ihm keine Probleme machte. Sie würden erst nach dem Essen zum Einsatz kommen, das wäre sinnvoll. Während des Essens wollte er so wenig wie möglich als Interviewer auftreten, sondern nur etwas warm werden mit der Berühmtheit. Er hatte aber keinerlei Hemmungen vor großen Namen, das hatte er noch nie gehabt. Dass andere Menschen Autogrammkarten sammeln oder Bücher und Utensilien signieren lassen oder sie gar gegen viel Geld erstehen, kam ihm völlig kindisch vor. Er brauchte keine Idole zum Anhimmeln und keine Gegenstände von denen, so wie er auch nicht irgendwelche Urkunden oder Orden für irgendwelche Verdienste haben oder aufhängen wollte. Wenn er daheim bei seinen Eltern Urkunden von Vereinen an der Wand hängen sah, fand er das lächerlich und genierte sich dafür. Urkunden für eine bloße langjährige Mitgliedschaft, wie lächerlich! In einer Vitrine hatten die Eltern auch kleine wertlose Pokale aufgehoben, die er als Kind für die Teilnahme an Fußballturnieren – nicht einmal für einen Erfolg - erhalten hatte. Sie waren heute noch stolz darauf!
War es doch auch eine Form der Eitelkeit, dieses gute Gefühl, das er empfand, weil er eine bekannte Schriftstellerin interviewen durfte, nein, nicht nur interviewen, sondern auch noch zum Essen ausführen? Oder war es ganz etwas anderes? Er verspürte auch eine ungewohnte Nervosität. Warum wählte die Autorin eine so private Begegnungsform wie ein Abendessen? Er las sich noch einmal seinen Bericht zur Lesung durch. Vielleicht hätte er doch einiges anders schreiben sollen. Sie würde ihn fragen, was er mit der Parallele der Hauptfigur zur Autorin gemeint habe. Er würde sich herausreden, dass er ja das Buch erst nach seinem Bericht gelesen habe, jetzt sehe er es differenzierter. Sie würde aber nicht locker lassen und fragen, was denn das nun wieder heiße. Da würde er sich nur noch darauf zurückziehen können, dass er sie ja nicht kenne und deshalb es doch gut sei, sich bei einem Essen einmal kennen zu lernen. Damit wäre endlich das weitere Nachfragen gestoppt. Und wenn die Sprache auf ganz etwas anderes käme? Ich darf mir nicht die Initiative aus der Hand nehmen lassen!, nahm er sich vor.