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Falsche Freunde und die Folgen
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Alina war müde. Der alte Diesel-Triebwagen heulte bei jedem Gasgeben auf, als wollte er seine abgelaufene Lebenserwartung hinausstöhnen in die schwarzen Wälder. Er zuckelte und ruckelte und drohte ständig, aus den Schienen zu springen. Dann ratterte er wieder gleichmütig schicksalsergeben dahin. Die Bäume neben der Bahnstrecke flogen vorbei, kaum erleuchtet versanken sie wieder im Dunkel der Nacht.
Alina war erstaunt, dass es hier noch so alte Züge gab - und so dichte Wälder. Typisch Oberpfalz, dachte sie. Ist halt doch etwas dran an den meist humorvoll vorgetragenen Vorurteilen über diese raue und leere Landschaft mit ihren urtümlichen Bewohnern, die angeblich mit dumpfen Vokalen die Auswärtigen verwirren.
Ein wenig unheimlich ist es hier schon...
Und wieder heulte er auf. Und als wäre das nicht genug, krächzte er einen Pfiff hinaus, um auch das letzte Wildschwein vor einem Überqueren der Gleise zu warnen. Dann rollte er wieder dahin, als wäre alle Kraft verloren gegangen. Aber doch so schnell, als sollte es nie ein Ende der Fahrt geben. Immer weiter, unaufhaltsam. Und immer diese vorbeirasenden Bäume.
Keine freundliche Stimme, die eine pleasant journey wünschte, drang aus irgendwelchen Lautsprechern. Kein sächsisch sprechender Schaffner störte. Kein Handy klingelte. Und auch das bei jedem Halt gegenwärtige Problem, zu spät den spärlich beleuchteten Namen des Zielbahnhofs zu erkennen, hielt Alina nicht davon ab, die Augen zu schließen. In die Nase stieg ihr der kalte, schwarzbraune Geruch, metallisch, Diesel, Maschinen und Schweiß. Im Waggon saßen einige Bundeswehrsoldaten, die es zum Wochenende nachhause zog, ein Polizist, der uniformiert kostenlos fahren konnte, ein Student, der auf seinem Smartphone herumspielte, aber überwiegend Arbeiter. Die Arbeiter hatten die Augen geschlossen und ihre zurückgelehnten Köpfe schienen mit Magneten festgehalten: Sie fielen immer wieder in die Ausgangslage zurück, obwohl der Zug die Oberkörper hin- und herschüttelte.
Am Freitag mit dem letzten Zug. Zurück. Alle wollten nach Hause. Nur für Alina wartete irgendwo in den Wäldern ein Wochenendurlaub. Die anderen erwartete die Wochenendarbeit. Nebenbeschäftigungen für ein paar Euro zusätzlich oder die notwendige, mehr oder minder lästige Arbeit an Haus und Hof. Dazwischen vielleicht ein Kirchgang, ein Vereinslokal, der Fernseher, das Bett. Ein gutes Essen?
Der schweflige Geruch eines hart gekochten Eis weckte Alina auf. Ihr gegenüber saß ein Mann. War er zwischendurch zugestiegen oder saß er vorher in dieser dunklen Ecke, in der das Licht ausgefallen war? Er starrte sie an.
Sie wich seinem Blick aus. Sie starrte hinaus.
Die Spiegelung in der Fensterscheibe zeigte einen dunkelhaarigen Mittdreißiger mit welligen und seltsam in die Stirn gezogenen Haaren, einer markanten Nase und einem schlecht-rasierten Kinn, der vorsichtig in sein Ei biss und gemütlich kauend unentwegt die Frau gegenüber anschaute. Alina fühlte sich gemustert, zog ihre Jacke zu. Der Fremde im Fensterscheibenspiegel strich sich mit der Hand über seinen Mund. Als er das Ei verzehrt hatte, drückte er auf seine Armbanduhr und ließ sich die Zeit ansagen. Erstaunt drehte sich Alina wieder dem Fremden zu. Da öffnete der den Mund, ganz leicht, und schnalzte seltsam mit der Zunge.
Das war Alina zu viel. Sie zog noch im Sitzen ihre Jacke an und wollte aufstehen, um sich einen anderen Platz zu suchen.
„Verzeihen Sie“, sagte er mit einer warmen, freundlichen Stimme, „ich will nicht unhöflich erscheinen, aber ich kann Sie sonst nicht erkennen!“
Bevor Alina über den Sinn des Gesagten rätseln konnte, fuhr er fort: „Ich muss diese Geräusche machen, um Sie zu sehen. Mit meinen Glasaugen geht das nämlich nicht!“ Dabei grinste er, weil er sich vorstellen konnte, wie sein Gegenüber jetzt schaute.
„Oh, Entschuldigung!“, reagierte Alina schnell und sah ihm in die blauen starren Augen. Auch das kannte der Mann schon. Manche entschuldigen sich, ohne genau zu wissen, wofür. Vermutlich für die Vorverurteilung eines Behinderten. Er ging darauf nicht weiter ein, sondern sagte seinen Spruch auf: „Ich bin eine große Fledermaus!“ Und sein Grinsen wurde zu einem breiter werdenden Lachen, so dass seine gelblichen Zähne zu sehen waren. Nun war es an Alina, ihn zu überraschen. Sie brauchte nicht lange. Erleichtert ließ sie die Schultern wieder fallen: „Ach so! Ja, ich habe schon davon gehört. Die Echo-Ortung kann man als Blinder offenbar lernen.“
Walter hieß er. Er war 22, als er erblindete. Das war vor 13 Jahren. Die letzten 6 Jahre hatte er die Echo-Ortung erlernt und immer wieder geübt. Und so schärfte er seinen Blick für die Welt, die er sich vorher über den Gleichgewichtssinn, den Tastsinn und das Hören erschlossen hatte. Und über Gerüche!
Das harte Ei war sein Gegengewicht zu den Gerüchen der Umgebung. Immer wenn er in Situationen kam, die er nicht riechen wollte, etwa ein Aufenthalt in einem vollen, stinkenden Triebwagen, setzte er dem etwas entgegen. Er musste sich schützen vor der Überschwemmung durch unterschiedlichste Gerüche, wollte sie überdecken und kontrollieren durch selbst erzeugten Geruch. Bei Menschenansammlungen im Freien oder im vollen Supermarkt kaute er seinen Kaugummi oder lutschte Mentholbonbons. Dennoch spürte seine Nase die feinen Düfte in seiner Nähe auf. Er erkannte sofort, als er sich zu Alina setzte, dass ihm eine Frau gegenübersaß. Sie wird das Ei schon aushalten, dachte er sich. Problematischer war für ihn die Ungewissheit, ob er sich irgendwo vollgekleckert haben könnte. Ei im Gesicht könnte ähnlich peinlich sein wie eine Nudel. Deshalb wischte er sich öfters mit der Hand ab.
Alina hatte ihre Scheu verloren, schon gar nicht musste sie sich ekeln vor diesem sehenden Blinden. Neugierig und doch vorsichtig fragte sie ihn aus und erfuhr, dass auch er nur übers Wochenende in der Oberpfalz bleiben wollte. Allerdings stammte er von hier - ohne sie mit dumpfen Vokalen zu irritieren.
2
Weil er das gemeinsame Ziel ihrer Bahnreise gut kannte, war er weniger überrascht als sie, dass beide im Hotel zur Glashütte Zimmer gebucht hatten. Trotz des fortgeschrittenen Abends wurden sie mit dem hoteleigenen Kleinbus abgeholt. Die Fahrt dauerte noch einmal 20 Minuten in Richtung tschechischer Grenze. Die Bäume rasten nun langsamer vorbei und ließen ab und zu eine Lücke, in der der Mondschein den Blick auf abgeerntete Felder und Wiesen ermöglichte. Unwillkürlich dachte Alina an die gutenachtsagenden Fuchs und Hase.
Beide schwiegen und Walter schnaufte tief durch. So als würde er sich innerlich auf einen schweren Gang vorbereiten.
„Hab ich vorhin etwas Falsches gesagt?“, fragte Alina, die Walters Bedrückung bemerkte.
„Was?“, antwortete er geistesabwesend. „Nein, wenn ich meine Aufmerksamkeit für draußen nicht mehr brauche, dann richtet sie sich nach innen. Und da kommen halt mal Gedanken und Erinnerungen.“
„Da hätte ich Sie wohl nicht ausfragen dürfen?“
„Ach nein, Alina, das werde ich doch oft gefragt!“
Alina zuckte zusammen. Er sprach sie mit Vornamen an. Hatte sie ihm den verraten? Vielleicht schon, als sie von sich in der dritten Person sprach, von der kleinen Alina, die als Kind ihre erste Bahnreise antrat. Und doch war es seltsam, von diesem kaum vertraut gewordenen Fremden mit dem Vornamen angesprochen zu werden.
Beide versanken sie in ihren Gedanken. Der Bus wurde von einem Tschechen gefahren, der sich wohl auch seinen Gedanken hingab. Er fuhr trotzdem aufmerksam die Straße entlang in Richtung seiner Heimat. Der Hotelangestellte verstand sehr wohl, was geredet wurde, und er konnte die Innenschau seiner Fahrgäste gut nachempfinden. Es sind die Wälder, sagte er sich, die Wälder, die leeren Fluren und die Stille. Da muss man ja melancholisch werden. Bei der Melancholie verstanden sich die Menschen diesseits und jenseits der Grenze. Und beide Sprachen hatten dasselbe Wort für dieses Gefühl: Melancholie! Trotzdem musste František, den sie hier nur Franz nannten, aufpassen, dass er nicht zu viel Melancholie aufkommen ließ. Urlauber sollen ja Spaß haben!
„Wir sind schon da!“, riss er seine Fahrgäste aus ihren Gedanken. „Ich hoffe, Sie haben einen schönen Aufenthalt!“
Während er schnell ausstieg und das kleine Gepäck der Urlauber an sich nahm, verließen auch die beiden anderen den Wagen.
„Danke, Franz! Ihnen noch einen guten Abend. Vielleicht kommen wir morgen einmal zum Plaudern!“
„Gerne, Herr Walter. Ahoj!“ Dabei grinste er, weil er wusste, wie gerne die Deutschen diesen Gruß haben. Ahoj ist selbst bei den Bewohnern der Grenzregion das einzige tschechische Wort, das ihnen vertraut ist.
Auch Alina verabschiedete sich höflich von Franz, der sich schon beim Einsteigen mit seinem Namen vorgestellt hatte. Ihr war klar, dass der Blinde und der Tscheche sich schon vorher gekannt hatten. Ihrem Gesprächspartner reichte sie die Hand. Sie hatte dabei ganz vergessen, dass er die nicht sehen konnte. Deshalb griff sie nach seiner Rechten und nahm sie in ihre beiden Hände.
„War schön, mit Ihnen zu reden. Vielleicht sehen wir uns ja wieder. Beim Frühstück oder irgendwann.“
„Ja, sehr gerne. Ich bin der Walter!“
„Und ich die Alina, aber das wissen Sie ja schon!“
Walter schmunzelte und ging mit leisen Zungenschlägen Richtung Hotel.
„Warten Sie, ich möchte Sie noch ein Stück begleiten!“, reagierte Alina auf sein vorsichtiges Vorangehen und Hin- und Herschwenken seines Stocks. Sie hakte sich bei ihm ein – und Walter ließ es sich gerne gefallen, von dieser wohlriechenden Frau durch die Eingangstür zur Rezeption geführt zu werden.
3
Das Frühstücksbuffet war reichlich. Kaffee oder Tee? Kaffee! Butter aus Oberbayern, Marmelade aus Niedersachsen, Eier aus Käfighaltung. Haben die hier keine vernünftige Landwirtschaft? Alina sah sich um und bemerkte, dass fast alle Hotelgäste früher aufgestanden sein mussten als sie. Die letzten verließen gerade ihren Tisch. Sie war allein. Auch ihr blinder Gesprächspartner war nicht zu sehen.
Sie hatte sich das Ausschlafen gegönnt. Die Arbeitswoche, die sie hinter sich hatte, war anstrengend gewesen. Schwierige Patienten mit schweren Schicksalen hatten ihr ihre Belastungsgrenze aufgezeigt. Sie tat sich schwer, die vielen Psychotherapieanfragen zurückzuweisen, insbesondere, wenn speziell sie empfohlen worden war von den Ärzten, die ihre mehr oder weniger motivierten psychisch Kranken loswerden oder der angemessenen Behandlung zuführen wollten. Wie bei vielen Psychotherapeuten gab es auch bei ihr lange Wartezeiten. Besonders hart fiel Alina der Hinweis auf die lange Wartezeit, wenn die Anfragenden von ihren eigenen ehemaligen Patienten eine Empfehlung hatten. Und so kam es, dass in ihrem Terminkalender immer zu viele Namen standen.
Sie schaute hinaus in die immer noch verschlafene Landschaft. Das Hotel stand am Rande eines Dorfes, das sich wohl hinter der Unterkunft befinden musste. Sie sah über den chinesischen Gräsern des Wellness-Oase-Gartens auf eine durch einen Wald abgegrenzte Wiese. Vom Ort bekam sie nur den Glockenschlag der Kirche mit, der sie schon in der Nacht genervt hatte.
Daheim saß ihr Mann Bernd jetzt wohl auch über dem Frühstück oder schon beim Ausarbeiten von Angeboten. Er hatte es vorgezogen, den Samstag zu einem Arbeitstag zu machen. Nicht einmal ein Gutenachtsagen hatte es gestern gegeben. Alina schrieb ihm eine SMS. Immerhin, der Handy-Empfang war gut. Sie hatte keine Lust zu einem Telefonat. Waren ja auch nur ein paar Tage … Du wirst wohl den ganzen Tag wellnessen, hatte er gemeint, da will ich nicht stören. Vermutlich hatte er nicht nachgedacht oder er kannte seine Frau zu wenig. Alina waren die Wellnessangebote herzlich egal, sie wollte nur einmal raus, weg von daheim. Und sie würde natürlich lieber in der Natur herumlaufen, als im Hotel den Spa-Bereich aufzusuchen.
Als erstes war die Erkundung der näheren Umgebung dran. Das ging schnell. Eine Kirche, ein Friedhof, zwei verlassene Lebensmittelläden, ein leerstehendes Wirtshaus, Bauernhäuser mit leeren Betonwannen, in denen einmal der Mist lagerte, noch einige Leerstände - mit herabbröckelndem Putz, sich biegenden Dächern und offenen Türen, durch die Mäuse und Katzen verkehrten – aber auch renovierte Häuser, die von kläffenden Hunden bewacht wurden, die ihre Besitzer an die Fenster lockten oder von der Gartenarbeit aufschauen ließen. Etwas abseits war eine Siedlung zu erkennen. Auf billigem Grund gab es dort auch neugebaute Häuser. Vielleicht das Hotelpersonal, dachte sie. Die ganze Verwandtschaft hilft beim Bauen mit.
Ihr Weg führte zur Kirche. Die sind doch alle gleich, war der Spruch von Bernd. Aber Alina erkannte mehr das Gegenteil: Alle Kirchen sind unterschiedlich! Ob am Samstagmorgen Gottesdienst ist? Barocker Kirchturm mit Schindeldach, lindgelbe Fassade, eine schwere honigbraune Eingangstür. Als Alina die Tür öffnen wollte, hörte sie hinter sich ein leises Klacken. Sie schaute sich um und sah nicht weit entfernt den blinden Walter durch die Grabreihen gehen. Sollte sie ihn begrüßen oder würde sie ihn damit stören oder gar erschrecken? Sie schaute ihm nach.
Walter ging den Weg, den er jedes Jahr ging. Er ging hinter den Gräbern entlang und klopfte mit dem Stock an die Rückseite der Kreuze und Steine. Er kannte den Klang eines jeden Steines und wenn er unsicher war, dann schnalzte er mit der Zunge, um etwas mehr zu erfahren. Schließlich war er angekommen. Er zwängte sich zwischen zwei Gräbern hindurch und wandte sich von vorne einem großen Familiengrab zu. Es wurde umfasst von einer Begrenzung aus
Granitsteinen und war überwuchert von Mispeln. Walter
kniete sich neben das Gefäß mit dem Weihwasser und tastete das Grab ab: Wie immer lag ein Blumenstrauß auf dem Bodendecker. Was er nicht wahrnahm, waren seine Zuschauer, Alina an der Kirchenmauer und ein dicker Mann, der abseits schon auf Walter gewartet hatte.
4
Der dicke Robert war den ganzen Tag schon aufgeregt gewesen. Wie jeden Tag musste er exakt 11 Mal die Heizplatte seines Elektroherdes an- und ausschalten. Obwohl er morgens nie seinen Herd brauchte, immer nur einen Wasserkocher in Betrieb nahm, das heiße Wasser auf 11 Gramm Kaffeepulver schüttete, sich ein Brot mit Butter und Honig bestrich, darauf 11 Bananenscheiben drapierte und dazu seine Tasse Kaffee genoss. Er war aufgeregt, weil es das Wochenende nach dem 11. September war. Das Wochenende, an dem Walter jedes Jahr das Grab seiner Eltern besuchte.
Robert wartete schon eine halbe Stunde. Walter hatte sich dieses Jahr verspätet. Vielleicht verschlafen. Oder beim Frühstück mit jemand geplaudert? Schon das machte Robert unruhig. Er legte seinen Strauß schon immer vorher aufs Grab, seit 2002, also seit genau 11 Jahren. Letztes Jahr war er sich sicher: 2012 war nach 11 Jahren wieder ein Jahr erhöhter Sonnenaktivität. Selbst die Sonne hat den 11-Jahres-Rhythmus! Dieses Jahr war er sich aber total unsicher: Sollte er die Blumensträuße oder die Jahre zählen? Es war heuer sein 12. Strauß. Was würde geschehen? Er spürte, wie sich seine Aufregung zu einer richtigen Angst auswuchs, als Walter am Grab kniete. Aber nichts Ungewöhnliches passierte. Der tastete wie üblich das Grab ab, bemerkte den Strauß, erkannte die Sonnenblumen, alles wie jedes Jahr. Nach einer Weile stand der Blinde auf und suchte sich wieder mit Hilfe seines Stocks den Weg nach draußen. Der dicke Mann atmete auf. Auch er machte sich davon. Aber da entdeckte er das Ungewöhnliche: Er sah, dass an der Kirchenmauer eine Frau lehnte, die offenbar die ganze Szene beobachtet hatte. Er wurde von ihr direkt angeschaut. Er kannte sie nicht. Sie grüßte mit einem Kopfnicken. Er nickte kurz zurück und verschwand.
Seinen Weg nach Hause fand er unbewusst, gedanklich war er beschäftigt mit verunsichernden Fragen. War das nach dem 11.9.01, der zweite Wink des Schicksals? Wer war diese Frau? Was hatte sie gesehen? Was wird die denken? Was hatte sie mit Walter zu tun? Sollte er ihr nachgehen?
Bevor er die Haustür aufschloss, drehte er um und ging wieder zurück in Richtung Kirche. Vorsichtig lugte er in den Friedhof hinein, schlenderte dann harmlos durch die Grabreihen, umrundete das Gotteshaus, traute sich sogar in den Innenraum. Die Frau war verschwunden. Aber der blinde Walter konnte ja so schnell noch nicht in seinem Hotel sein, auch wenn es gar nicht so weit entfernt stand. Der dicke Mann ging also Richtung Hotel. Wenn die beiden etwas miteinander zu tun haben, könnten die sich unterwegs begegnen. Und überhaupt – wo sollte eine Fremde schon wohnen, wenn nicht dort? Aber wenn alle zwei dort wohnen, dann haben die sich auf jeden Fall schon kennengelernt. Aber das macht doch nichts, wenn die sich kennen? Ist doch nicht schlimm, oder?
Er bemerkte nicht die Leute, die hinter den Vorhängen hervorlugten und sich ihre Gedanken machten: Heute früh ist aber etwas los! Da fahren nicht nur die Hotelangestellten, der Zeitungsausfahrer und der Bäckerwagen vorbei, nein, auch Spaziergänger sind unterwegs. Zuerst eine junge Frau, die dahinschlendert, dann ein blinder Mann. Ist das nicht der Walter? Ist der auch wieder einmal da! Und dann auch noch der Robert! Der ist auch wieder dicker geworden. Hoppla: die Frau spricht den Walter an! Die kennen sich! Hat der Walter endlich eine gefunden? Da muss doch die Nachbarin gegenüber auch wieder neugierig hinter dem Vorhang herauslugen! Die lässt sich das nicht entgehen. Die glaubt wohl, man würde sie nicht sehen. Die hat auch nichts anderes zu tun! Und warum bleibt der Robert jetzt stehen? Der tut ja so, als ob er die beiden verfolgen würde und nicht gesehen werden möchte. Jetzt dreht der sogar um. Naja, die sind ja schon bald im Hotel. Oh, jetzt hat die Nachbarin mich entdeckt: Hast du des gsengn? Des is doch da Walter gween. Der haadt eetzt a Freindin. Naja meinetweng. I vaguns eahm. Und schaah hii, da Robert, da wird a ahwaal wampada.
5
Das Mittagessen war ausgezeichnet. Alina schämte sich für ihr neugieriges Beobachten und fragte Walter nicht aus. Aber sie unterhielten sich über das sterbende Dorf und über die gestorbenen ehemals deutschen Dörfer jenseits der Grenze.
„Wir können da ja einmal hinfahren?“, schlug Walter vor.
„Aber ohne Auto?“ Alina dachte, er habe das vergessen.
„Aber nein, Franz würde uns sicher die kurze Strecke fahren!“
Die jahrhundertealten Siedlungen waren in den 50er Jahren dem Erdboden gleich gemacht worden, nachdem als Folge des zweiten Weltkriegs die deutsche Bevölkerung dort vertrieben worden war. Aber einige Gebäude standen noch in dem einsamen Waldgebiet. Sie wurden nach dem Krieg von tschechischen Grenztruppen genutzt. Jetzt schienen sie leer zu stehen, waren aber seltsamerweise mit starken Vorhängeschlössern gesichert. Von anderen Gebäuden waren nur noch Grundmauern zu erkennen. Ein alter Friedhof wurde aber gepflegt. Alina schilderte Walter ihre Eindrücke und löste auch bei ihm eine gewisse Beklemmung aus. Die verstärkte sich noch, als ein tschechischer Wagen mit drei Männern auf dem Schotterweg vorbeifuhr. Was wollen die hier? Auf dem Friedhof grüßten sie einen Mann. Der wie viele Tschechen in der Grenzregion auch deutsch sprechende Mann pflegte die Gräber der Deutschen. Auch er schaute missbilligend dem Geländewagen nach. Aber er sagte nichts dazu.
Von dem verlassenen Dorf aus wollte Walter auf einem Wanderweg zu einem Bergrücken hochsteigen.
„Dort oben sind wir schon wieder in Bayern. Ich war in der Kindheit öfters dort.“
„Aber wird das nicht zu anstrengend?“, warf Alina besorgt ein.
„Ich habe eine gute Kondition und eine aufmerksame Begleiterin!“, gab Walter lachend zurück.
„Also gut! Kommen Sie!“ Und dabei hakte sie sich wieder unter.
An die ehemalige Grenze erinnerten hier nur noch ein Waldweg mit zwei geteerten Spuren, einige Grenzpfähle und ein breiterer waldfreier Streifen, den sie überqueren mussten.
„Da waren früher mehrere Linien hoher Stacheldrahtzäune. Und so Betonklötze dazwischen. Das sollten wohl Panzersperren sein.“
Nun wurde es steinig. Aber es waren Stufen erkennbar, aus Granitsteinen zusammengesetzt, die sich hier massenweise im Wald fanden. Wenn der Steig schmal wurde, ging Alina voraus und beschrieb die Schwierigkeiten des Weges. Walter war gerührt von ihrer Fürsorge. Manchmal lachte er in sich hinein, weil er sich viel sicherer fühlte, als es seine Begleiterin wohl glaubte.
Dann veränderte sich alles. Die Tannen und Fichten traten immer mehr auseinander, der Wald öffnete sich. Riesige Granitfelsen drängten die Bäume beiseite, es kam Licht herein. Plötzlich mischten sich Buchen und Eichen in den Nadelwald. Das erste Herbstlaub ließ bunte Tupfer im Sonnenlicht leuchten. Und es schauten hohe Lärchen und Kiefern auf die beiden Wanderer herab. Der Weg wurde weich von herabgefallenen Blättern und Nadeln vieler Jahre.
Alina ging staunend und tief atmend. Sie wurde von einer mystischen Stimmung erfasst. Und Walter an ihrem Arm spürte es. Vor seinem geistigen Auge sah er das Licht. Er roch die würzigen Kiefern. Auch nahm er das dampfende Moos war, das sich über die Felsen gelegt hatte. Alina beschrieb ihm die Wollsackverwitterung mancher Felsen, aus deren Spalten Farne wuchsen, und die alleinstehenden runden findlingsartigen Riesen mit ihren silbrig glänzenden Flechten.
„Ich weiß, Alina“, sagte er leise und strich Alina über die Hand, die ihn immer noch fest geleitete. „Ich kenne mich hier aus. Ich war hier oft mit meinen Eltern.“
Walter schob seinen Stock zusammen und steckte ihn ein.
Langsam, ja fast andächtig, gingen sie weiter bis auf die letzte Anhöhe.
„Hier war ein Windwurf. Schau, man hat einen wunderbaren Blick hinüber nach Tschechien“, sagte er. „Und man kann sogar bis zum Cerchov sehen!“
Alina bemerkte, dass Walter sie geduzt hatte, aber das war in Ordnung. Den Cerchov kannte sie nicht und als sie danach fragen wollte, spürte sie ein leichtes Zittern an ihrem Arm. Sie schaute in Walters Gesicht und sah, wie sich seine Mimik zu einem Weinen verzog. Walter senkte seinen Kopf. Sein Oberkörper begann zu zucken. Mit dem linken Arm presste er Alinas Arm fest an sich und seine rechte Hand legte er über seine linke, so als wollte er sein Herz festhalten, damit es nicht herausspränge. Unter seinen Glasaugen quollen Tränen hervor. Alina stellte sich vor ihn hin und nahm ihn in die Arme. Sie ließ ihm Zeit für seine Tränen. Dann sagte sie:
„Nichts ist mehr so, wie es war. Alles ist zugewachsen. Der Wald hat seine Wunden geschlossen. Die Sicht ist verstellt.“
6
Der dicke Robert war jetzt 39 Jahre alt. In der Küche der Glashütte arbeitete er als Spüler und tat darüber hinaus noch vieles, wofür man ihn gebrauchen konnte. Man hatte sich an ihn gewöhnt. Die Hänseleien hatten immer mehr abgenommen. Kein Vergleich zu früher. In seiner Kindheit hatten die Eltern gerne den Struwwelpeter als Erziehungsratgeber benutzt. Gegen die angeblich schlechte Esserei ihres Sohnes - Ich esse meine Suppe nicht - hatten sie nicht nur den Suppenkaspar, sondern gleich auch noch den fliegenden Robert eingesetzt. Wenn er nicht dicker würde, würde es ihn, den abgemagerten Suppenkaspar, wohl genauso davonwehen wie den Robert. Die Namensgleichheit war dem damals noch dünnen Robert sehr suspekt. Und da sein magisches Denken wesentlich ausgeprägter war als seine Intelligenz - heute würde man von einer Lernbehinderung sprechen – versuchte er schon in der Kindheit, die Gefahren durch allerlei Rituale zu bannen. Ab der Schulzeit gelang es ihm dann tatsächlich, durch Gewichtsaufbau – eine Adipositas wurde das schon damals genannt – eine Grundlage für Stabilität zu schaffen.
Mehr schlecht als recht bewältigte Robert die schulischen Anforderungen, wobei ihm der Spott vieler Mitschüler und Lehrer sicherlich eher abträglich war. Öfters versuchte er sich anzubiedern durch Gefälligkeiten, die er den anderen tat. Oder er ließ sich verführen zu Mutproben, deren Sinn er manchmal gar nicht verstand. So tappte er naiv in manche Falle und wurde einerseits zum Gespött der „Auftraggeber“, andererseits zu einem Ärgernis der Geschädigten. Seine Eltern hatten ihm einen weiteren Bestseller der eigenen Kindheit zugesteckt, Geschichten von Wilhelm Busch, die ihm aufzeigen sollten, was einem passieren kann, wenn man wie Max und Moritz den Mitmenschen Streiche spielt. Für Robert war das Zerstückeltwerden in einer Getreidemühle, wie viele ähnlich unsinnige Strafandrohungen, keine unrealistische Gefahr. Aber wie sollte er für sich ähnlich schlimme Folgen vermeiden, wenn er doch erst im Nachhinein bemerkte, dass er etwas angestellt hatte? So gewöhnte er sich mehr und mehr an präventive Schutzmaßnahmen, die ihm eigenes Fehlverhalten und schreckliche Bestrafungen ersparen sollten. Zwangsstörungen und paranoide Tendenzen hätte eine Diagnose in der Jugendzeit lauten können, wenn Robert jemals deswegen fachlich beurteilt worden wäre. Aber er galt bei den meisten als harmloser Tölpel, der einem hilfreich sein und mit dem man auch Spaß haben konnte.
Seine sexuelle Neugier und sein Durcheinander hielt er weitgehend verborgen. In der Pubertät bekam er von Älteren Einweisungen in Selbstbefriedigung und diverse, teils völlig seltsame Sexualpraktiken. Pornographische Zeitschriften und Filme ließen ihn überrascht und verängstigt zurück. Als er sich 16-jährig dem 12-jährigen Walter näherte, tat er es nicht, weil er sich zu Kindern wirklich hingezogen fühlte, sondern weil er sich dem 12-Jährigen nicht unterlegen fühlte. Und er tat das, was er selbst in den Jahren davor immer wieder bei Älteren erleben musste: gegenseitige Masturbation und Analsex. Auch das Experimentieren mit Gegenständen, die sich in die Analöffnung stecken lassen, ließ er nicht aus, obwohl ihm das noch seltsamer als alles andere vorkam und in ihm noch größere Ängste auslöste. Immerhin glaubte er, durch Strafandrohungen, die er dem kleinen Walter mitgab, dieselbe Verschwiegenheit zu erreichen, die auch bei ihm durch entsprechende Drohungen erreicht worden war.
Mit seiner Arbeitsaufnahme im Hotel verlagerten sich seine Aufmerksamkeit und sein Interesse auf einen Bereich, der endlich einmal keine Schuldgefühle auslöste. Robert erlebte eine gewisse Befreiung, ohne aber nachlassen zu können bei seinen Zwängen. Als eine bildhübsche 17-jährige Praktikantin im Hotel arbeitete - Robert war inzwischen schon 26 Jahre alt - konnte er nicht mehr die Augen von ihr wenden. Wann immer möglich, versuchte er, sie zu beobachten und sich vorzustellen, wie glücklich ihn eine Beziehung zu ihr machen könnte. Seine selten gewordenen homosexuellen Kontakte verloren jeglichen Reiz. Aber leider hatten auch andere Männer Augen für die schöne Michelle …
7
Alina Winner war wieder daheim. Sie berichtete ein wenig von ihrem Wochenende nicht nur ihrem Ehemann Bernd, sondern auch ihrer Patientin Michelle. Die 30-jährige Michelle hatte noch nichts von ihrer Ausstrahlung verloren, mit der sie seinerzeit die Männer betörte. Sie hatte Alina das Hotel zur Glashütte in der Oberpfalz empfohlen, in dem sie als Jugendliche ein Praktikum absolvierte und ihre ersten Erfahrungen mit Männern sammelte. Sie hatte sich sehr verliebt in einen allgemein sehr begehrten, einige Jahre älteren Mann, der scheinbar ihre Gefühle erwiderte, sie nach ihrem Praktikum aber vergaß. Er war ihre „erste große Liebe“. Und sie hatte einen anderen dort kennengelernt, der ihr folgte und bis heute ihr „ewiger Verlobter“ war. Und leider auch der Papa ihres 12-jährigen Sohnes Ben und außerdem der zukünftige Schwiegersohn ihres hoffnungsfrohen alten Vaters, der den Verlobten nun schon lange als Rezeptionschef in seinem Hotel Polder beschäftigte. Michelle hatte in der psychotherapeutischen Behandlung bei Frau Winner schnell kapiert, dass die Beziehung zu ihrem Verlobten der Grund für die häufige Obstipation war, unter der sie seit 13 Jahren litt. Sie setzte sich zu wenig mit sich, mit ihm und ihrer Enttäuschung auseinander. Sie war zu jung, hatte sich zu schnell an ihn gebunden, vielleicht weil sie den anderen nicht haben konnte, und glaubte, sich nicht mehr von ihm trennen zu dürfen. Immerhin gab er sich stets als großer Verehrer, was ihr anfangs auch schmeichelte, gab dort in der Glashütte sogar seine Stelle auf, reiste ihr nach, zeugte ein Kind mit ihr, der Naiven, und engagierte sich sehr im Betrieb ihres Vaters. Und wie das so ist bei einer unerfüllten ersten großen Liebe, die zweite Liebe reicht nie mehr an die erste, die verlorene und verklärte Liebe heran. Wer weiß, was daraus geworden wäre, tröstete sie sich. Der war doch ein Hallodri. Und ich war dumm und naiv. Das andere, das mit meinem Verlobten, das ist etwas Handfestes, Realistisches. Vielleicht sind die Gefühle, die ich habe, ausreichend, ganz normal für eine gute Beziehung und das andere war nur eine Spinnerei. So dachte sie zumindest vor der Therapie. Fast hätte sie den ewigen Verlobten geheiratet! Nun war sie aber ins Zweifeln gekommen. Jetzt befürchtete sie, dass sie sich mit zu wenig zufrieden gab und dass sie nur zu feige war, mit dem Verlobten Schluss zu machen. Freilich wusste sie auch nicht, wie sich eine Trennung auf den Sohn auswirken würde. Vielleicht würde auch ihr Verlobter bei einer Trennung ganz mit ihrer Familie brechen. Und je länger sie mit ihm zusammen war, umso schwieriger schien es ihr, das Ganze zu beenden. Sie war auch schon immer eine Hotelierstochter, die es sich nicht hätte verzeihen können, wenn sie das Ansehen der Familie und des Hotels gefährdet hätte. War doch ihre ungewollte Schwangerschaft schon schlimm genug. Zum Glück konnte diese durch eine Verlobung legitimiert werden ...
Die Therapeutin Alina erzählte ihrer Patientin Michelle nichts von dem Blinden. Das war zu privat. Sie berichtete Michelle aber von ihrer Begeisterung für die Natur dort an der Grenze, von dem guten Essen, von der Freundlichkeit des Hotelpersonals, der einsamen Landschaft und der Melancholie, die einen dort überfallen konnte. Und dabei dachte sie auch an ihre eigene Beziehung …
Ihrem Mann hätte sie gern mehr erzählt. Aber sie spürte nicht sein Interesse an ihren Erlebnissen. Nur bei der Echoortung des Blinden horchte er kurz auf. Später fragte er noch, ob die Dächer dort voller Fotovoltaikanlagen wären oder es mehr Biogasanlagen gäbe. Alina war sich nur sicher: Es gab viel Wind, aber keine Windräder. Und dann philosophierte der Energiefachmann über Vor- und Nachteile der grünen Energie. Und er betonte, dass er am Wochenende sehr gut ohne seine Frau ausgekommen sei.
8
Alina bekam in der Praxis Besuch von einem unscheinbaren, kleinen und blassen Menschen. Der hatte sich nicht angemeldet, sondern stand vor der Tür und fragte nach ihrem Namen. Er nannte sich Hauptkommissar Flinker und zeigte seinen Polizeiausweis. Alina bat ihn, nachdem er verneint hatte, dass etwas mit ihrem Mann oder anderen Verwandten passiert sei, sich etwas im Wartezimmer zu gedulden, die Therapiestunde sei gleich zu Ende. Aber sie konnte sich nicht mehr konzentrieren und schickte Michelle vorzeitig hinaus. Die ging noch durchs Wartezimmer auf die Toilette, grüßte den Kommissar und wunderte sich auch über dessen Blässe, über die sie aber erst auf dem Heimweg nachdachte. Alina bat den Polizisten in den Behandlungsraum und wartete gespannt auf seine Ausführungen.
„Frau Winner, wir haben diesen Zettel in der Jackentasche eines Toten gefunden.“
Dabei reichte er ihr einen Notizzettel, der in einer Klarsichtfolie steckte. Darauf stand in etwas kindlicher Schrift Alinas Adresse.
„Ja, das ist meine Adresse. Wer ist denn gestorben?“
„Das ist ja das Problem. Das wissen wir nicht. Also, wir können den Mann nicht identifizieren. Vielleicht ist es ja einer Ihrer Patienten.“ Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Vielleicht könnten Sie ihn identifizieren.“
Alina erschrak. Sie dachte an die Fernsehkrimis, an eine sterile Pathologie mit großen Kühlfächern.
„Ich zeige Ihnen einmal ein Foto“, sagte der Kommissar und legte ihr die Aufnahme eines toten Gesichts vor. Alina wandte sich ab.
„Ich weiß, das schaut nicht gut aus“, gestand ihr der Kommissar zu, „aber Sie sind derzeit unser einziger Anhaltspunkt.“
„Wie kam der denn ums Leben?“, fragte Alina, ohne auf das Bild zu sehen.
„Es war ein Unfall. Ein Verkehrsunfall.“
Nun wagte sie einen zweiten Blick. Der Mann war wohl etwas jünger als sie. Er hatte ein rundes dickliches Gesicht. Seine toten Augen schauten ins Leere. Dem Kopf schien ein Stück zu fehlen, er war auch deformiert, aber kaum blutverschmiert.
„Ich kenne den nicht. Es ist keiner meiner Patienten!“ - und schon wandte sie sich wieder ab. „Vielleicht wollte er zu mir in Therapie“, fügte sie noch an.
„Das habe ich auch schon überlegt. Aber stünde dann nicht vor allem Ihre Telefonnummer auf dem Zettel?“
Das leuchtete ihr ein. „Ich muss mir zuerst einmal etwas zum Trinken holen!“, sagte sie. „Wollen sie auch ein Wasser!“
„Ja gerne“.
Während Alina aus dem Wartezimmer zwei Gläser und eine Flasche Mineralwasser holte, schaute sich der Kommissar ein wenig im Raum um. Sehr wohnlich. Ganz anders als eine Arztpraxis. Alina machte einen guten Eindruck auf ihn. Aber sie musste den Toten doch kennen!
„Also, wenn ich einmal mitspekulieren darf“, redete die zurückkehrende Alina weiter, „der muss meine Adresse von jemand erhalten haben. Denn offenbar wusste er nicht, wo ich wohne!“
„Klar, aber die Adresse könnten ja auch Sie ihm gegeben haben!“
Jetzt schaute Alina verblüfft – was der Kommissar sehr wohl bemerkte. Und er schwächte ab: „Deswegen müssen Sie ihn ja nicht unbedingt gut kennen. Vielleicht hat er Sie bei irgendeiner Gelegenheit einmal angesprochen.“
„Nein, in letzter Zeit habe ich niemand meine Adresse gegeben. Vielleicht irgendwann einmal vor Jahren.“ Aber vielleicht eine kurze Begegnung? Sie dachte nach. Glaubte ihr dieser Flinker womöglich nicht?
„Zeigen Sie mir noch einmal das Foto!“, bat sie ihn.
Dann schaute sie doch etwas länger. „Wie schaut der denn sonst aus? Ich meine figurmäßig.“
„Der ist dick, untersetzt“, erwiderte der Kommissar gespannt.
„Er könnte es wirklich sein!“, flüsterte Alina. Sie war sich nun fast sicher.
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Der dicke Robert war von einem Auto überfahren worden. Mitten in der Stadt. Zeugen hatten ihn schon vor dem Unfall den Straßenrand entlanglaufen sehen, als sie an ihm vorbeifuhren. Er kam ihnen verwirrt vor und sie fragten sich, ob er womöglich in suizidaler Absicht so herumsprang. Einige Schritte ging er auf dem Gehsteig, dann wieder etliche Schritte auf der Straße. Ein Passant hatte ihn angesprochen, aber statt zu antworten, lief Robert erschreckt davon. Ein Autofahrer hatte sogar die Polizei darüber informiert. Als die aber zum Nachschauen kam, lag der Robert schon tot vor einem schwarzen Toyota. Der Fahrer saß schockiert am Straßenrand. Kommissar Flinker fragte sich später, warum der nicht hat ausweichen können, so wie es die anderen Autofahrer auch geschafft hatten. Vielleicht war der Fahrer unaufmerksam gewesen oder Robert hatte sich tatsächlich unvorhersehbar vor das Auto geworfen.
Flinker hatte sich von Alina die Begegnung mit dem dicken Robert auf dem Friedhof in der Oberpfalz erzählen lassen. Sie erwähnte auch den blinden Walter Bellitzka. Der Robert musste durch das Treffen auf dem Friedhof einen handfesten Grund bekommen haben, der Psychotherapeutin nachzureisen, aber welchen? Flinker kannte sich: Solange er nicht Licht in das Dunkel gebracht hatte, konnte er diesen Unfall oder Suizid nicht zu den Akten legen.
Er genehmigte sich eine Dienstreise in die raue Oberpfalz.
Die 100-minütige Autofahrt brachte ihn in der melancholischen Grenzregion zu dem Entschluss, doch eine Nacht in dem annavigierten Hotel zu verbringen. Er ahnte, dass es länger dauern würde. Hier schien nämlich alles entschleunigt. Die Polizeikollegen stammten alle aus der Region. Sie bemühten sich aber, ihr wenig gebrauchtes Hochdeutsch hervorzukramen. Die Hotelangestellten sprachen hochdeutsch. Sie waren darauf getrimmt, auswärtige Gäste zu begrüßen. Das als Spezialität angebotene Zoiglbier schmeckte Flinker, ebenso die vorzügliche Küche des Küchenchefs, der hier eine weitere Stufe seiner Karriereleiter erklomm, bevor er woanders eine wohlhabendere Kundschaft beglückte.
Alle kannten den dicken Robert und den blinden Walter. Die Kollegen wussten viele Geschichten über den seltsamen Dicken. Der sei zwar etwas verrückt, aber im Übrigen völlig harmlos gewesen. Sie zeigten dem Kommissar den Weg zu Roberts Eltern. Über den Verbleib von Walter wussten die Kollegen nichts. Der sei vor 13 Jahren weggezogen. In der Gemeindeverwaltung könnte man ihm vielleicht weiterhelfen. Und der Walter tauche nur selten hier auf. Und ja, die beiden hätten sich sicher gekannt. Hier kenne jeder jeden. Ein paar Jahre Altersunterschied machten da nichts aus.
Nach dem Besuch bei Roberts Eltern, die ein solches Schicksal ihres ungewöhnlichen Sohnes vorausgeahnt hatten, ging Flinker auf den Friedhof. Die Eltern des verstorbenen Robert wussten nicht, warum er sich in der entfernten Stadt aufgehalten hatte, vielleicht barg der gemeinsame Treffpunkt der drei Beteiligten auf dem Friedhof einen Hinweis. Flinker fand das Familiengrab der Bellitzkas. Es waren Walters Eltern, die dort lagen. Sie waren bei einem Unfall am 11.09.2000 verstorben. Was sollte so aufregend daran sein, dass Robert entdeckt hatte, dass Frau Winner ihn beobachtete, während er dem Bellitzka am Grab zuschaute? So aufregend, dass er sich Frau Winners Adresse besorgt und ihr umgehend nachgereist war? War das etwa ein Eifersuchtsdrama? Flinker hatte bei seinen hiesigen Kollegen Andeutungen herausgehört, die auf eine Homosexualität des Opfers hinwiesen. Hatte Robert die Befürchtung, die Psychotherapeutin könnte ihm seinen blinden Liebhaber ausspannen? Vielleicht hing aber alles mit dem Unfall der Bellitzkas zusammen. Er musste sich die Akten des Unfalls besorgen, den Blinden ausfindig machen und ihn befragen.
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Walter war auf halber Strecke umgestiegen, um in seinen Wohnort weiterzureisen. Er arbeitete dort als eine Art freiberuflicher Geschmackstester für Getränke und für verschiedene industriell hergestellte Speisen. Es war nach dem Unfall ein mühsamer Weg gewesen, bis er zu dieser Tätigkeit fand. Es vergingen Monate, ja Jahre, bis er nach mehreren Kopfoperationen körperlich wieder einigermaßen hergestellt war. Und psychisch? Er gab sich immer die Schuld an dem Unfall, zumal die Polizei- und Gutachterberichte ihm diese nahelegten. Er selbst hatte keine Erinnerung an das Geschehene. Er wusste nur noch, wie er mit seinen Eltern ins Auto gestiegen und losgefahren war. Dann war er irgendwann im Krankenhaus aufgewacht. Im Dorf war er bekannt als schneller Fahrer. Das Auto sei rechts von der Fahrbahn abgekommen, er habe nach links gezogen und sei übersteuert über die Straße geschossen. Der Wagen habe sich einen kleinen Abhang hinunter mehrfach überschlagen und sei schließlich in einem Sonnenblumenfeld gelandet.
Walter hatte sich nach mehrwöchigem Koma, Klinikaufenthalten und Rehabilitationskuren nicht mehr ins Dorf getraut. Still und leise hatte er das geregelt oder regeln lassen, was nach dem Tod seiner Eltern dort noch zu regeln war, das Haus verkauft und sich in ein Blindenheim zurückgezogen. Dort war er vor Jahren wieder ausgezogen in seine jetzige behindertengerechte Mietwohnung. Nur einmal im Jahr besuchte er seinen Heimatort und ging auf das Grab seiner Eltern. Anfangs hatte er Angst, man könnte ihn kritisch auf den Unfall ansprechen, aber offenbar schützte ihn seine bemitleidenswerte Blindheit vor verbalen Attacken. Im Verlauf der Jahre gab er sich das Recht, mehr und mehr zum Leben zurückzukehren. Er erwarb sich Fähigkeiten, die ihm das Zurechtkommen erleichterten und wagte sich schließlich sogar ins Berufsleben. Keinen Zugang fand er aber zu einer engeren partnerschaftlichen Beziehung. Hier hinderte ihn schon innerlich seine Behinderung und körperliche Entstellung, die er aber mit Sonnenbrille und verdeckenden Frisuren zu verbergen wusste. Als er Glasaugen bekam und man ihm bestätigte, wie gut er damit aussehe, traute er sich wieder mehr unter die Leute.
Er war immer sehr eitel gewesen. Den Mädchen stieg er schon als 15-Jähriger nach. Ein richtiger Angeber! Wenn er in ruhigen Zeiten nach dem Unfall darüber nachdachte, kam ihm die Vermutung, dass ihm seine sexuellen Erfahrungen mit dem dicken Robert geschadet hatten, dass er kompensatorisch umso mehr hinter den Mädchen her war und seine Attraktivität von denen immer bestätigt sehen wollte.
Seine diesbezüglichen Strategien waren sehr erfolgreich, was sicher auch mit einem von der Natur geschenkten anziehenden Äußeren zu tun hatte. Wenn der Reiz des Äußeren aber nach einigen Wochen verflogen war und die Mädchen bei ihm innere Werte vermissten, wurden die jungen Frauen zu blöden Weibern, die ihn ja gar nicht verdient hatten. Dank seines Schulbesuchs im Gymnasium der Kreisstadt gab es genügend Auswahl, um das Spiel von vorne beginnen zu lassen.
Schulisch lavierte er sich durch zwischen einem bei seinen Anlagen durchaus möglichen Streber und einem Schulversager, der er auch nicht sein wollte. So galt er immer als begabter Schüler, der, statt seine Möglichkeiten zu nutzen, faul, manchmal frech daherkam, aber immer die Lacher auf seiner Seite hatte.
Zum achtzehnten Geburtstag schenkte ihm sein Vater ein Auto, um ihm die umständliche Busfahrt zur Schule zu ersparen. Der Vater tat das auch aus Eigennutz, weil der Sohn den Anspruch hatte, von einem Elternteil abgeholt zu werden, wenn sein Stundenplan nicht den Fahrzeiten des Busses entsprach. Nun, jetzt konnte er selbst fahren. Was er leidenschaftlich gerne tat und was seinen Kredit bei den anderen noch erhöhte, wenn er sie mitnahm auf rasante Fahrten durch die oberpfälzischen Wälder. Nicht geplant war, dass der verzogene Bengel, statt nach dem Abi zu studieren, lieber eine Lehre und Anstellung als Autoverkäufer in Angriff nahm …
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Robert war schon immer einer, der den anderen gerne zusah, sie beobachtete und auf diesem Wege teilnahm an einem Leben, zu dem er selber keinen Zugang fand. Als Kind imitierte er das Verhalten anderer Kinder, ohne dessen Sinn zu verstehen. Und meist fehlte ihm das letzte Quäntchen Intelligenz, das ihn damit erfolgreich gemacht hätte. So war er oft ein Dummerchen, über das man lachte. Seine einfachen Eltern hatten viel Arbeit und vernachlässigten den Sohn. Seine Lernbehinderung taten sie ab mit dem Hinweis, dass auch schon der Vater so gewesen sei und aus dem auch etwas geworden wäre. Überfordert waren sie mit den aggressiven und sexuellen Verhaltensweisen ihres Sohnes. Unschuldige Doktorspiele in der Vorschulzeit bestraften sie mit Schlägen, Quälereien an Fröschen oder Mäusen quittierten sie mit Lachen. Dass der Sohn seine Sexualneugier mit Spannereien befriedigen musste, von denen das Aufbohren von Löchern in Umkleidekabinen des Naturbadeweihers noch das Harmloseste war, bekamen sie nicht mit.
Roberts Beobachtenwollen war gepaart mit dem ständigen Gefühl des Beobachtetwerdens. Das trat natürlich dann besonders in den Vordergrund, wenn er vermeintlich oder tatsächlich Verbotenes im Sinn hatte. Oft fühlte er sich regelrecht verfolgt. Manchmal war er sich sicher, dass die anderen von ihm Dinge wussten, die er verbergen wollte.
Die fremde Frau auf dem Friedhof ist sicher von Walter beauftragt worden, mich zu beobachten. Sie hat dem ja anschließend gleich Bericht erstattet. Wer ist diese Frau? Was weiß die über mich? Hat ihr der Walter auch von den Sex-Sachen erzählt? Sicher weiß die auch von dem Unfall!
Es war für den Hotelangestellten Robert nicht schwierig, sich heimlich die Adresse zu besorgen. Im Hotel hatte er zudem erfahren, dass Alina Winner eine Psychologin war, eine Tiefenpsychologin sogar.
Die kennt sich aus. Hatte der Thorsten damals doch recht gehabt! Irgendwann, so hatte der Thorsten gesagt, wird man mir auf die Schliche kommen. Dass ich schuld am Unfall bin.
Robert hatte Thorsten damals von seinen Gedanken erzählt, die er vor dem Unfall hatte und die nach seiner festen Überzeugung den Unfall herbeigeführt hatten: Er wünsche es dem Walter, dass der einmal mit dem Auto verunglücke. Dem Angeber, der alle Jungs und Mädchen haben kann. Noch am Unfalltag hat er ihm diesen Denkzettel gewünscht. Aber dass die Eltern dabei sterben, nein, das wollte er doch nicht!
Und dann kam der erste Jahrestag des Unfalls. Und am selben Tag stürzten in Amerika die Türme ein! Das ist ein Zeichen! Buße tun, sonst passiert noch mehr! Aufpassen, dass man nicht erwischt wird! Immer der 11.! Die 11 ist meine Schicksalszahl. Nur nicht nachlassen!
Dann musste Robert doch einmal nachgelassen haben: Am 11.03.11 überrollte ein Tsunami die Küsten Japans mit schrecklichen Folgen! Das befeuerte seine psychotischen Qualen. Nur nicht nachlassen!
Robert musste der Psychologin nachfahren. Als er am nächsten Tag vor dem Haus von Frau Winner stand, kam eine junge hübsche Frau aus dem Praxiseingang heraus.
Die kenn ich doch. Das ist doch … Das ist doch Michelle! Und wer ist der Mann, der sich da versteckt und die Michelle beobachtet? Wer ist das? Den kenn ich doch auch. Der Thorsten? Wirklich wahr, der Thorsten! Michelle und Thorsten hängen also auch noch mit drin! Um Himmels Willen, was soll ich nur tun? War denn alles umsonst? Schnell weg hier! 11 Schritte auf dem Gehsteig. 11 Schritte auf der Straße. 11 Schritte auf dem Gehsteig. 11 Schritte auf der Straße. Schnell weg! Nur nicht nachlassen! Schnell weg!