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Ko
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"Wie wenn in meine offene Hand ein Tropfen hineinfällt. Ein Tropfen so klar und trotzdem aufregend. Ein Tropfen, der seine Form verliert, sich in den Linien der Hand ausbreitet und wartet, was passiert. Ich frage mich, ob ein zweiter Tropfen nachkommt und ob sie sich vereinigen. Oder ist der erste Tropfen bis dahin längst verschwunden, vom warmen Körper aufgesogen. Oder hat er sich in die Luft aufgelöst? Ist mir verloren gegangen. Für immer.
Jeder, der Zeilen aufs Papier schreibt oder mit Farben eine Geschichte auf eine Leinwand bannt oder sie in Stein meißelt, wird irgendwann gefragt, wie alles beginnt und warum es weitergeht und wie es endet.
Der Tropfen darf nicht aus großer Höhe fallen, sonst zerstiebt er beim Aufprall. Zurück bleibt zu wenig Wasser auf einer zu großen Hand. Ein Abklatsch, inhaltsleer, kaum zu erkennen und schnell verflogen.
Die Inspirationsquelle muss dicht bei mir sein. Der Tropfen findet mich. Ich muss ihn nicht suchen. Die meisten Tropfen gehen daneben. Umso mehr, je weiter weg ihr Ursprung ist.
Wenn der Tropfen nachts im Halbschlaf oder Traum hineinfällt, ist er am Morgen verschwunden und mein Suchen hilft nicht.
Wie soll ich wissen, wohin seine Reise geht? Auf meiner großen Hand, voller Höhen und Tiefen. Klar, ich kann ihn bewegen, ihm eine Richtung geben, aber mein Einfluss ist begrenzt. Der Tropfen hat ein Eigenleben."
"Mein lieber Ko, du drückst das wieder wunderbar aus, mittels einer schönen Metapher, aber erinnerst du dich nicht, dass du mir vorgeschwärmt hast, wie toll es sei, dass du so viel Macht besitzt ..."
"Na, ja, Macht hab ich nicht gesagt, Alina. ...",
"Natürlich hast du Macht gesagt. Und es stimmt ja auch: Du als Schriftsteller hast die Macht über deine Romanfiguren, du kannst sie sogar sterben lassen, wenn du willst. Von wegen die Geschichte entwickelt sich von selbst!"
"Aber ich sagte doch eben, dass natürlich auch ich Einfluss darauf nehme!"
"Ja. Und der Tropfen führe ein Eigenleben."
"Okay. Okay. Beides stimmt."
"Vor allem dein Einfluss! Denn wer ist denn der Empfänger der Inspiration? Das bist doch du! Du wählst doch unbewusst aus, was dich inspiriert! Und der Fluss deines Tropfens wird doch von deinem Bewussten und Unbewussten gesteuert! Von deinem!"
Warum muss die Psychologin immer so gescheit sein? Sind alle schöpferisch Tätigen unabhängig von außen? Das ist doch Quatsch! Die Inspirationen werden uns doch von außen herangetragen. Eine Tragödie, die passiert, ein Wunder, das geschieht, eine Landschaft, die uns berührt, das meiste, was uns inspiriert, kommt doch von außen! Aber meinetwegen, soll sie Recht behalten.
Der liebe Ko malt sich seine Welt, wie es ihm gefällt. Kürzlich hat er mir erzählt, dass er seine Bücher nur für sich schreibt und sie dann losschickt wie eine Flaschenpost. Und wenn sie dann irgendwo anstranden, am liebsten an Herzland, dann freue er sich. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ist er wirklich so intrinsisch motiviert, dass es ihm genügt, einen Roman zu schreiben, der nur ihm gefällt? Ist er glücklich, wenn er nach seinen Maßstäben etwas Schönes geschrieben hat, nur nach seinen Maßstäben? Geistige Onanie fällt mir dazu ein. Und was ist, wenn ein Leser seine Bücher schrecklich findet oder wenigstens banal?
Die liebe Alina hält mich für egozentrisch. Als ich ihr eine Zitat von Celan nannte, der seine Gedichte als Flaschenpost auf die Reise schickt - eine wunderbare Metapher, stimmt´s? - da meinte sie, dem sei es also nur wichtig, dass ihm selbst seine Gedichte gefallen, was die anderen davon halten, sei dem egal.
Wenn Menschen kontrovers diskutieren, dann wollen sie nicht auf die Nuancen eingehen. Klar, eine Meinung lässt sich besser kontern, wenn man die Feinheiten ignoriert. Aber von einer Psychologin hätte ich schon erwartet zu erkennen, dass auch Celan erfreut ist, wenn sein Gedicht an Herzland anstrandet, also anderen ans Herz geht, ihr Herz erreicht.
Andererseits: Vielleicht muss eine Psychologin so sehr auf die anderen fixiert sein, nur deren Gefühle im Blick haben, zumindest, wenn sie, wie Alina, als Psychotherapeutin arbeitet. Das ist ihr Job. Wenn die Schriftstellerei mein Job wäre, müsste ich sicher auch mehr für die LeserIn schreiben, damit sich meine Bücher verkaufen. Was bin ich froh, dass ich mein Geld anderweitig verdiene und mir den Luxus des Egoismus leisten kann.
2
"Birtele, heute kommt der Neue".
"Ich weiß."
"Begeisterung sieht anders aus!"
"Ich weiß."
Hauptkommissar Flinker war auch nicht sehr erfreut, dass ihm und seinem Kollegen Birtele ein Frischling zugeteilt wurde. "Schauen Sie sich den einfach mal an!", hatte man ihn aufgefordert. "Wer sonst, wenn nicht Sie, könnte den jungen Kollegen führen!", hatte man ihm ums Maul geschmiert. Flinker befürchtete, er solle den als seinen möglichen Nachfolger aufbauen. Oder der Neue solle ihn beobachten, ob er als Endfünfziger noch gut genug in seinem Beruf wäre.
"Flinker, ich hörte, der ist ein Umsteiger, der hat davor was anderes studiert."
"Ja, Wirtschaft. Irgendwas mit Wirtschaft. Oder war´s Philosophie?"
Birtele grinste. Die Wirtschaft würde er dem Neuen hinreiben. Wirtschaften sterben aus, hier in der Oberpfalz. Philosophen gibt es deswegen auch zu wenige. Aber seine Vermutung war eine andere gewesen: "Ich dachte Psychologie. Der kennt doch unsere Alina gut, hörte ich."
"Was Sie nicht alles hören!", erwiderte Flinker.
Flinker selbst war von Alina auf den Neuen vorbereitet worden. Der sei außerdem auch noch ein Bücherschreiber. Na, das konnte was werden! Flinker dachte an Castle, den Erfolgsschriftsteller in einer amerikanischen Krimiserie, der mit seiner attraktiven Kommissarin seltsame Fälle löst.
"Der schreibt Bücher!", sagte er zu Birtele.
"Was? Bücher? Wie Castle?" Offenbar kannte auch Birtele die Serie. "Aber was will er dann bei uns? Wir haben keine hübsche Kommissarin!"
"Vielleicht steht er auf Kommissare", erwiderte Flinker nüchtern, ohne eine Miene zu verziehen.
Birtele schwieg. Das konnte natürlich sein. Oder war das nur einer von Flinkers Scherzen? Sein Chef zog ihn ja gerne auf, wenn es um junge Frauen ging. Warum nicht auch bei jungen Männern? Gerechterweise musste Birtele zugestehen, dass Flinker sich in letzter Zeit mit seinen Scherzen über ihn und die Frauen zurückgehalten hatte. Sein Chef hatte doch bemerkt, wie schwer ihm die Trennung von Marie gefallen war. Doch er wollte gar nicht mehr daran denken. "Schnee von gestern", sagte er zu sich selbst, wenn ihn die Melancholie überkam.
Ko war der Neffe irgendeines Kriminalrats. Genaueres wollte man Flinker nicht mitteilen, weil sich der Kriminalrat nicht dem Verdacht der Vetternwirtschaft stellen wollte. Man bat Flinker, seinen Neuen nicht mit Fragen zu löchern.
Ko war vielleicht so um die Vierzig, also ein Spätberufener, was die Polizeiarbeit angeht. Er war lässig, aber dennoch "wertig" gekleidet, mit einem modern zerknitterten hellen Sakko und teuren Jeans. Seine Haare waren schon leicht angegraut, sein Gesicht gebräunt, so als käme er gerade aus einem Urlaub aus südlichen Gefilden zurück. Wenn man genau hinschaute, erkannte man auch an seinen schönen braunen Augen, dass ein fernöstlicher Vorfahr für die Gesichtsfarbe mit verantwortlich war. Ko lächelte, was ihn noch hübscher machte. Birtele erfasste sofort der Neid und auch Flinker musste wieder einmal wegen seiner auffallenden Blässe schlucken.
"Ko", stellte sich der Neue vor. "Ich nehme an, wir duzen uns!" Grinsend gab er Flinker die Hand, dann auch Birtele, der sich als "Joe" vorstellte, während Flinker sehr betont seinen Nachnamen genannt hatte.
"Nennen Sie mich Flinker!", sagte der Kommissar. "Und mein Kollege ist der Birtele."
"Ko?", fragte Birtele. "So wie der Ko aus der Fernsehserie?"
"Kenne ich leider nicht", antwortete Ko und sein Grinsen wurde noch ein Stück breiter. "Also Flinker und Birtele - und Sie?"
Flinker nickte. "Das sind wir so gewohnt."
"Willkommen!", sagte Birtele und rang sich ein Lächeln ab. Und Flinker bat den Neuen, sich zu setzen.
"Sie spielen Schach?", fragte Ko, der das Schachtischchen einmal aktenfrei bewundern konnte - vermutlich das letzte Mal. Flinker hatte sich, auf Anraten von Birtele, zu einer Aufräumaktion durchgerungen, um den Neuen nicht gleich mit der gewohnten Unordnung zu schockieren. Auch das Schachtischchen war bei dieser Gelegenheit von dem Aktenstapel befreit worden.
"Ein wenig", erwiderte Flinker, der befürchtete, der Schönling könnte ein gewiefter Schachspieler sein. "Birtele spielt auch", ergänzte er in der Hoffnung, damit von seinen eigenen Schachkünsten abzulenken.
"Auch nur ein wenig", sagte Birtele, als ihn Ko anschaute. Auch Birtele hatte gehörig Respekt vor dem Spielvermögen des Neuen.
"Ich kann es leider gar nicht!", bemerkte Ko. "Bin froh, wenigstens ein Spielbrett zu erkennen. Ich schreib lieber Bücher." Dabei tippte er mit der rechten Hand auf die beiden Bücher, die unter seinem linken Arm klemmten. Die Kommissare schauten sich an und sagten nichts dazu. Ko erschien ihnen als Angeber und sie wollten seinem Ego nicht mit Nachfragen weitere Nahrung verschaffen.
Etwas verunsichert bemerkte der Schönling, noch einmal Richtung Schachbrett schauend: "Ist wohl wenig los, auf der Dienststelle?"
Flinker, der sofort verstand, dass Ko meinte, er würde täglich mit Birtele zum Zeitvertreib Schach spielen, schüttelte mit dem Kopf. "Das Brett haben wir bei einem wichtigen Fall gebraucht. Wir beide spielen hier nicht miteinander."
"Interessant!", sagte Ko. "Ein Mord mit dem Schachbrett."
Nun hatte Flinker keine weitere Lust, die Sache richtig zu stellen. Er zeigte Ko einen kleinen Schreibtisch, der etwas abgerückt an einer Wand stand. "Was Besseres kann ich Ihnen nicht anbieten."
"Ist in Ordnung!", entgegnete Ko. "Oder wie ihr Ur-Bayern sagt: Passt scho!"
Wieder reagierten die Kommissare mit einem gequälten Lächeln auf das breite Grinsen des Neuen. Auf dem leeren Tisch legte er Bücher und ein paar andere persönliche Sachen ab. "Der Rest ist noch im Auto."
Das Telefon klingelte. Flinker nahm den Anruf entgegen. Dann sagte er: "Von wegen wenig los!" Ohne weitere Erklärung stand er auf, nickte Birtele zu und ging aus dem Raum. Beim Vorbeigehen am Tisch des Neuen tat er dann doch noch ein wenig interessiert. "Passt scho", murmelte er und rollte mit den Augen.
3
Im Rückspiegel sah Flinker Kos Auto, ein rotes Cabrio. Den Blick über seine geliebten Hügel und Berge des Oberpfälzer und des Oberen Bayerischen Waldes konnte er kaum genießen. Zu schnell war er unterwegs und zu wichtig war es ihm, einen flotten Eindruck bei Ko zu machen. Birtele lächelte auf dem Beifahrersitz in sich hinein, aber er verstand seinen Chef nur zu gut.
"Kommt er nach?", fragte er.
Flinker nickte. "Basst scho."
Birtele lachte. Und beide spürten, wie so ein Neuer die Alten zusammenschweißen kann.
"Was gab es denn?", wollte Birtele nun wissen.
"Die Kollegen haben einen anonymen Anruf erhalten. Ein Toter am Regen. Genauer im Regen auf einem Felsen."
"Bei Hochwasser?"
"Vermutlich hängengeblieben."
Die letzten Tage war endlich der ersehnte Regen gekommen, der Regen vom Himmel, der in den Fluss Regen, aber auch auf das trockene Land fiel. Doch natürlich konnte der harte, ausgedörrte Boden das Wasser nicht aufsaugen, sondern es strömte in braunen Sturzbächen in die Flüsse hinein, samt Gülle, Plastikabfällen, Ästen und Heu, das nicht rechtzeitig von den Wiesen in die Scheunen gebracht werden konnte. Und einer Leiche, vielleicht. Oder einem Betrunkenen, der zu einem Ertrunkenen wurde.
Als sie ankamen, standen zwei Polizeiautos am Ufer und mehrere kopfschüttelnde Beamte. Sie hätten schon einige Kilometer weiter oben und weiter flussabwärts abgesucht, berichteten sie, aber keine Leiche gefunden. Entweder sei sie fortgespült worden oder es habe keine Leiche gegeben.
Unterdessen gab es am Absperrband einen lauten Disput, weil dort partout ein flotter Cabriofahrer zu den Kommissaren wollte.
"Der gehört zu uns!", rief Flinker den pflichtbewussten Streifenbeamten zu. Sie ließen ihn durch.
"Ich weiß nicht, wo ich meinen Ausweis habe", erklärte Ko die Situation mit hochrotem Kopf.
"Sie sollten ihn nicht auf dem Schreibtisch liegen lassen!", sagte Flinker und reichte ihm schmunzelnd den Ausweis.
"Ach, Sie haben ihn", sagte Ko. Er wusste nicht, was er von der Geschichte halten sollte.
"Eine fehlende Leiche", klärte Birtele den Neuen auf und deutete mit einer Kopfwendung zum braunen Fluss.
"Oder ein saudummer Scherz!", fügte Flinker an.
Ko jedoch ging auf das Ufer zu, vorsichtig auf eventuelle Spuren achtend, stellte sich zwischen das indische Springkraut, das hier überall das Ufer säumte, und schaute nachdenklich in den braunen Regen. Dann schüttelte er mit dem Kopf, drehte sich wieder um und ging zu den Kommissaren zurück.
"Ist was?", fragte Flinker.
"Nein, nein", sagte er. "Weiter flussabwärts kommt doch ein Wehr?", fügte er an.
"Ja", bestätigte Flinker. "Sie meinen, der Tote könnte dort hängenbleiben?"
Ko antwortete nicht, sondern sinnierte wieder vor sich hin.
Ein Streifenbeamter berichtete Flinker vom Telefonat: "Klang sehr glaubwürdig", sagte er. "Ich hab das Telefonat entgegengenommen, beziehungsweise mit angehört, als es in der Dienststelle ankam. Ich bin mir sicher, dass dort auf dem Felsen mitten im Fluss ein Toter lag. Er hat mir die Stelle genau beschrieben."
"Er?", unterbrach ihn Flinker.
"Ja, nicht der Tote. Die Stimme am Telefon, mittelalt, schätze ich."
"Okay, aber ich meinte ja eine Männer- oder eine Frauenstimme. Also ein männlicher Anrufer. Was ist mittelalt?", fragte Flinker nach.
"So um die Vierzig", erläuterte der Polizist.
"Akzent?"
"Nein, ein Deutscher, hochdeutsch redend, also nicht von hier."
"Na ja, bei uns gibt es auch welche, die Hochdeutsch reden können."
"Meinetwegen", brummte der Polizist. "Glaub aber trotzdem, dass der nicht von hier ist."
"Und was hat er gesagt, als Sie nach seinem Namen gefragt haben?"
"Der tue nichts zur Sache, hat er gesagt."
"Danke, Kollege!", erwiderte Flinker. "Mal sehen, was draus wird. Hier können wir jedenfalls nichts mehr tun. Geben Sie es mir durch, wenn eine Vermisstenmeldung reinkommt oder was gefunden wird!"
Der Polizist nickte und ging.
"Der hat mir was verschwiegen!", murmelte Flinker in sich hinein, während er in den Rückspiegel schaute.
"Der Kollege von der Streife?"
"Nein, der da hinten."
Birtele blickte sich um und sah Ko hinter dem Steuer seines Cabrios, wie er versuchte, sein Verdeck in Schwung zu bringen, denn es hatte erneut das Regnen begonnen. Er schmunzelte in sich hinein. "Der Philosoph wird nass!", spöttelte er. Beide grinsten.
Auf der Dienststelle richtete sich der Neue häuslich ein: Akkurat legte er seine eigenen Büroutensilien, die er leicht angefeuchtet aus seinem Auto herausgeholt hatte, auf den blank geputzten Tisch. Allerdings war die Fläche nicht groß genug. Der Tisch hatte auch keine Schubladen, denn Birtele hatte ihn aus der Kantine holen müssen, weil ein richtiger Schreibtisch nicht aufzutreiben gewesen war. Birtele hatte sich aber auch nicht besonders bemüht, sich nicht angelegt mit irgendwelchen Kollegen der Schutzpolizei, die im selben Gebäude etliche Räume und Schreibtische hatten.
Amüsiert sahen die beiden dem Neuen zu, wie er überlegte, welche Auswahl seiner Utensilien auf der Tischplatte Platz finden könnte. Ein Techniker kam im Verlauf des Tages hinzu und installierte ein Telefon und einen Computeranschluss. Dafür mussten andere Utensilien wieder weichen. Offensichtlich schien es aber so, als ob der Neue sich auf einen längeren Aufenthalt einrichtete.
"Ich müsste einen Schreibtisch beantragen", sagte er kurz vor Dienstschluss zu Flinker.
Der zuckte nur mit den Schultern und sagte: "Probieren Sie ihr Glück!" Dabei grinsten sich Birtele und Flinker zu.
Am nächsten Tag stand ein nagelneuer Schreibtisch an der Wand, größer als der von Birtele und auch größer als Flinkers Tisch. Den beiden Kommissaren verging das Grinsen. So schnell war ihnen noch nie etwas genehmigt worden. Das trug Ko nicht gerade mehr Sympathie ein.
4
Diesmal war Ko der Erste. An dem Wehr, vor dem sich der Regen staut und dann in malerischen Katarakten einige Höhenmeter über abgeschliffene kleine Felsen hinabstürzt, sollte sich zusammen mit viel Geäst und allerlei Unrat eine Leiche verfangen haben. Flinker und Birtele nahmen an, dass dies der Tote sein musste, der vor Tagen von dem Felsen herabgespült und davongetrieben war. Ko jedoch hatte Zweifel, aber er teilte sie nicht den Kommissaren mit, sondern beeilte sich nur, der Erste zu sein. Und er schien auch gar nicht besonders überrascht, dass wiederum nichts zu finden war.
Erneut war der Anruf anonym an eine Dienststelle gegangen und Flinker war sich sicher, dass es derselbe Mann gewesen sein musste, der die Polizei foppte. Noch während er seinen Blick über das rauschende Wasser schweifen ließ, nahm er sich vor, das nächste Mal nur die Schutzpolizei hinzuschicken und nicht wieder selbst an eine vermeintliche Leichenfundstelle zu fahren - bei aller Schönheit der oberpfälzischen Natur.
"Das wird nicht funktionieren!", sagte Ko, als hätte er Flinkers Gedanken erraten.
"Was?", fragte Flinker.
"Beim nächsten Mal nicht hinzufahren."
Flinker war erstaunt, dass Ko wusste, was er dachte. Und Birtele, der bisher nur seinem Chef eine solche Begabung zugetraut hatte, flüsterte ihm zu: "Haben Sie das gerade gedacht?"
Doch Flinker reagierte auf Ko: "Wieso sollte das nicht funktionieren?"
Ko wich aus: "Ach nur so. Hoffentlich gibt es kein nächstes Mal."
Es dauerte nicht lange. Ko hatte mit stundenlanger Sorgfalt seinen Schreibtisch samt aller Schubladen perfekt eingerichtet und auf seine dafür vorgesehene Ablage zwei alte Fälle gelegt bekommen, damit er nicht unter negativen Stress geriete. Doch bevor er sich am nächsten Tag in die Cold Cases einarbeiten konnte, kam der befürchtete Anruf.
Statt die Schutzpolizei hinzuschicken, beauftragte Flinker seinen neuen Kollegen, der doch alles besser wusste, am Regen nach dem Rechten zu sehen. Doch Ko rief eine Stunde später von seinem Auto aus an, dass er sich wohl total verfahren habe. Birtele meinte, der habe wohl Regen ins Navi eingegeben, nicht wissend, dass es eine Stadt dieses Namens viel weiter flussaufwärts gibt. Flinker erläuterte Ko nochmals ausführlich den Weg. Einfach ein paar Kilometer weiter flussabwärts als beim letzten Mal. An das Wehr habe er doch auch schnell hingefunden ...
In der Zwischenzeit bekam Flinker einen weiteren Anruf, diesmal von einer besorgten Bürgerin, die eine Schwimmweste im Regen treiben sah. Eine halbe Stunde darauf - Ko war wohl immer noch nicht angekommen - erhielten die Kommissare einen dritten Anruf, der sich wohl auch auf dasselbe Vorkommnis bezog: Ein Kanu-Verleiher berichtete, dass eines seiner Boote abgängig sei. Der Tourist, der das Boot gemietet habe, hätte sich nicht wie vereinbart gemeldet. Nun musste sich auch Flinker aufraffen. Er fuhr mit Birtele zu dem vom anonymen Anrufer und von der besorgten Bürgerin beschriebenen Stelle, einem gefährlichen Schwall im Regen, wo schon mancher Kanufahrer gekentert war. Ko hatte also Recht gehabt: Das Ignorieren der Anrufe funktionierte nicht!
Ko war inzwischen da. Die besorgte Bürgerin, eine Radlerin, war längst weitergefahren. Ko stand alleine am Regen, diesmal nicht im Regen, denn die Wolken hatten sich in der Nacht verzogen und die Sonne strahlte am frühen Nachmittag von einem blauen Himmel. Ko schaute gebannt auf die Schwimmweste, die vom Sog des Schwalls festgehalten wurde und lustig auf und ab tanzte. Ein Kanu war nirgends zu entdecken. Der anonyme Anrufer hatte ja wiederum behauptet, es läge eine Leiche im Schwall - und zwar unter Wasser!
Flinker dachte nach und entschied sich dann doch dafür, aus Regensburg Polizeitaucher anzufordern. Er schickte Birtele ins nächste Dorf zu einem Supermarkt, um drei "Leberkassemmeln" zu besorgen. Er strengte sich an, dieses Lieblingsgericht der Altbayern in besonders breitem Dialekt auszusprechen, was Birtele zu einem Grinsen motivierte. Er solle möglichst auch alkoholfreies Bier mitbringen und irgendetwas, auf das man sich setzen könnte. Flinker rechnete mit ein bis zwei Stunden, bis die Taucher hier wären. Ko fragte nach, ob nicht vielleicht er selbst einen Tauchversuch wagen sollte. Das untersagte Flinker strikt.
Birtele kam mit der gewünschten Verpflegung und drei einfachen Campinghockern. Die drei Kommissare machten es sich auf der Wiese gemütlich, die sich hier am Fluss entlangzog. Sie blickten über den Streifen rötlichen Springkrauts, der zwischen Weiden und Erlen das Ufer säumte, auf eine enge und deshalb eher tiefe Stelle des an sich harmlosen Regens. Hier war durch auf dem Grund versteckt liegende Felsen ein Schwall mit einem tückischen Strudel entstanden. Das dunkle Regenwasser rauschte und die rote Schwimmweste tanzte dazu.
"Gut, dass Sie nicht schon vor einer Stunde in der Dienststelle die Taucher angefordert haben!", sagte Ko, "sonst könnten wir hier nicht die Idylle genießen."
Flinker wusste nicht, ob diese Bemerkung ironisch gemeint war, als eine erneute Kritik an seiner Arbeitsmoral. Birtele aber stimmte sofort zu:
"Unser Chef weiß sehr gut, wann er welche Schritte einleiten muss, damit alles zusammenpasst."
Mit einem großen Biss verkleinerte Birtele seine Leberkassemmel gleich mal um die Hälfte. Es war für Ko nicht zu erkennen, ob Birteles Aussage eine Rüge für ihn und ein Lob für Flinker sein sollte, oder ob sich der Kollege über seinen Chef lustig machte. Flinker ging von einem Lob aus.
"Wunderschön ist es hier!", sagte er. "Und das Wetter passt auch."
"Dafür kann er aber nichts!", raunte Birtele Ko zu. Und der Neue registrierte zum ersten Mal einen Verbündeten.
"Wenn da jetzt wirklich eine Leiche drinläge ...", sinnierte Flinker.
"Ach, glauben Sie jetzt doch an diese Möglichkeit?", erwiderte Ko.
Flinker zuckte mit den Schultern. Dann schaute er den Neuen an: "Woher wussten Sie eigentlich, dass wieder ein anonymer Anruf reinkommt, den wir nicht ignorieren können?"
Ko wurde verlegen. Es fiel ihm nichts ein.
"Das ist Intuition, Chef", kam ihm Birtele zu Hilfe.
"So was haben auch die Schriftsteller!"
Flinker schaute skeptisch und sein Blick schien Ko zu durchdringen: "Schon am Felsen, auf dem ein Toter liegen sollte, haben Sie irgendetwas bemerkt und sind stutzig geworden. Und dann haben Sie nach einem Wehr gefragt, so als hätten Sie gewusst, dass dort der nächste Einsatzort wäre ..."
Ko errötete und Birtele wurde jetzt auch neugierig. Doch Ko entgegnete: "Reine Intuition, wie Birtele schon sagte. Ist doch aber eigentlich auch alles logisch."
"Logisch oder Intuition ... so, so", erwiderte Flinker und seine Augen wurden schmal und signalisierten, dass er sich mit diesen Erklärungen wohl nicht zufrieden geben würde.
5
Die Taucher nahmen es mit Humor. Sie waren es gewohnt, zu erfolglosen Einsätzen gerufen zu werden und eine Fahrt ins Hinterland war etwas Ungewöhnliches, das der Abwechslung diente. Die Szenerie mit den drei Kommissaren auf Campingstühlen betrachteten sie amüsiert, denn an den Regensburger Einsatzorten an Strudeln oder dunklen Altarmen der Donau standen gleich mehrere Polizeifahrzeuge mit Uniformierten, Feuerwehrautos und Rettungswagen herum. Aber hier in dem lächerlichen Sog eines Schwalls im Regenfluss bei wunderschönem Ausflugswetter wäre der Einstieg wie ein Besuch im Freibad - mit drei interessierten Neugierigen. Die Taucher ließen sich allerdings die Ausweise der Kommissare zeigen, denn persönlich bekannt war ihnen keiner und sie wollten nicht drei sich in der Sonne räkelnden Touristen zu Diensten sein. Als sie aber hörten, dass Leberkassemmeln zur Belohnung auf sie warteten, wollten sie schnell den Einsatz hinter sich bringen.
"Wenn wir Ihnen helfen können ...", zeigte per forma Flinker ein Entgegenkommen, das mit einem "Nein, danke!" freundlich zurückgewiesen wurde.
Der Regen hatte an dieser Stelle tatsächlich eine Tiefe von gut zwei Metern, denn die Taucher verschwanden, nachdem sie die tanzende Schwimmweste an Land geworfen hatten, ganz von der Bildfläche. Und sie blieben erstaunlich lange unten ... Schließlich beförderten sie etwas an die Oberfläche, alte zerfetzte Kleidung, schien es, die sie, mit größter Vorsicht vor sich herschubsend, Richtung Ufer bewegten. Noch bevor die Fracht das Ufer erreicht hatte, konnte man den Inhalt der Kleidung vermuten, denn aus dem Durcheinander ragte eine skelettierte Hand hervor!
Nachdem die Taucher die Kleidungsreste und viele lose Knochen sorgfältig am Ufer abgelegt hatten, mussten alle erst einmal durchschnaufen. Die Anfahrt und der Tauchgang hatten sich gelohnt, doch nach einer Leberkassemmel fragten nun die Taucher nicht mehr. Sie stiegen vielmehr nochmals ins kalte Wasser, um einige größere Steine heraufzubefördern, die über dem Skelett gelegen hatten.
"Diesmal hat er Recht gehabt", stellte Birtele fest, doch auch er vermutete, dass der anonyme Anrufer wohl kaum diese Art von Leiche gemeint hatte. Ko war inzwischen hinter einen Busch gegangen und hatte sich übergeben. Die anderen glaubten, seine Übelkeit läge an dem Zustand der Leiche, aber er selbst nahm an, dass der Gedanke, sein Bruder könnte damit etwas zu tun haben, ursächlich für sein Unwohlsein war.
Während die Taucher wieder Richtung Regensburg unterwegs waren, rückten Spurensicherer und der Rechtsmediziner an. Die Kommissare holten aus dem Auto ein Absperrband, denn so langsam wurden Spaziergänger und Radfahrer auf das Geschehen aufmerksam. Der schöne Ausflug an den Regen war den Kommissaren gründlich vermiest. Zu allem Überfluss nahte ein Gewitter, das sich weiter flussabwärts schon austobte.