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Der See der Träume
ОглавлениеAlinas Reise mit der Wasserfee
„Was machst du hier?“, fragt das kleine Mädchen Alina die Wasserfee.
„Ich lebe in diesem See und sammele die untergegangenen Träume der Menschen.“
„Die Träume der Menschen?“, wundert sich das Kind.
„Ja“, antwortet die Wasserfee, die auf einem großen Stein sitzt und die spiegelglatte Oberfläche des großen Sees betrachtet. „Ist es dir noch nie so gegangen, dass du am Morgen aufgewacht bist und wolltest dich an den schönen Traum erinnern, den du gerade hattest? Aber noch bevor du ihn in Worte fassen konntest, ist er plötzlich weg. Er fliegt fort wie ein Vögelchen oder löst sich auf wie eine Schneeflocke im Sonnenschein. Aber Träume lösen sich nicht auf, sie müssen doch irgendwo bleiben. Soll ich dir ein Geheimnis verraten, Alina?“
„Ja“, antwortet das Mädchen und kann den Blick nicht von der Wasserfee abwenden. Wie schön die Fee ist, denkt Alina. Viel schöner als die Nixen, Feen und kleinen Meerjungfrauen in meinen Märchenbüchern.
Und wirklich, die Wasserfee ist eine ganz besondere Schönheit mit ihren langen blassblauen Haaren, die wie Meereswellen über ihre Schultern fallen. Und mit ihren wasserklaren Augen, die so unergründlich sind wie die Tiefe des Sees, an dem sie sitzt.
Bekleidet ist die Wasserfee mit einem prächtigen Gewand, das in den Farben des Regenbogens schillert. Und das verziert ist mit winzigen Fischen, kleinen Muscheln, Wasserlilien und leuchtenden Kieselsteinchen.
„Das Geheimnis, das ich nur dir anvertraue, Alina, ist dieses:
Im Morgengrauen husche ich durch die Welt. Ich lasse mich auf den hellen Strahlen der Sonne und mit dem Atem des Windes von hier nach dort und von dort nach da tragen. Ich fliege über alle Grenzen hinweg. Ich reise schnell wie die Gedanken und überquere Ozeane, Berggipfel, Wüsten und Kontinente. Wie in einem großen Schmetterlingsnetz fange ich die Träume ein, die den Menschen, wenn sie am Morgen erwachen, entgleiten. Und ich bringe sie hierher zum See der Träume, um sie aufzuheben und zu beschützen.“
„Oh“, staunt Alina, „da hast du aber viel Arbeit.“
„Ja“, antwortet die Wasserfee. „Dabei schaffe ich es gar nicht, alle Träume der Menschen zu erwischen, denn es sind einfach zu viele. Die ganze Welt ist voller Träume. Aber die, die ich nicht selbst einfangen kann, bringen die Vögel in ihren Schnäbeln und die Bienen, Hummeln und Schmetterlinge auf ihren Flügeln hierher. Und langsam sinken sie auf den Grund des Traumsees.“
„Und was machen sie dort?“, fragt verwundert die kleine Alina.
„Sie warten, schlafen, ruhen sich aus, denn sie werden ja noch gebraucht.“
„Das ist schön!“, freut sich Alina und beugt sich tief über das Wasser, um einen der schlafenden Träume entdecken zu können. Aber das Einzige, was sie sieht, ist ihr eigenes Spiegelbild.
„Ich kann nichts sehen!“, flüstert Alina enttäuscht.
„Nun“, lächelt die Wasserfee, „du musst ganz genau hinschauen und etwas Geduld haben. Träume brauchen immer Geduld. Und vielleicht wirst du dann sogar die vielen Unterschiede bei den Träumen entdecken.“
„Was denn für Unterschiede?“
„Da gibt es die Nachtträume, an die sich die Menschen erinnern können und die sie sich gegenseitig erzählen. Die liegen dort, bei der unterirdischen Höhle. Die Träume aber, die ohne Erinnerung davongeflattert sind, lassen sich durch das Wasser treiben wie bunte Quallen in einem Ozean.“
Alina erinnert sich: „In den Ferien war ich mit meinen Eltern und meinem kleinen Bruder am Meer. Da habe ich Quallen gesehen. Huh! Gibt es noch andere Träume in deinem See?“
„Ja, es gibt da noch die Tagträume, die Wunschträume und die vielen unerfüllten Träume. Und natürlich die schrecklichen Albträume, die den Menschen Angst machen und ihnen manchmal sogar den Schlaf rauben.“
„Mein kleiner Bruder wacht manchmal in der Nacht auf und weint. Dann erzählt er mir von seinen schlimmen Träumen.“
„Die bösen Träume halten sich gut versteckt hinter großen Steinen. Sie fliegen nur selten zu kleinen Kindern.“
„Na hoffentlich! Erzähle noch mehr von den Träumen im See!“
„Andere haben sich sogar eingegraben oder liegen flach wie Flundern gut getarnt auf dem Sandboden. Wieder andere tanzen mit den Fischen oder spielen mit den Wurzeln der Seerosen. Viele Träume warten, andere schlafen, einige sogar für immer. Das sind die kleinen Faulpelze, die niemals in Erfüllung gehen.“
„Die kenne ich!“, seufzt Alina.
„Manche ruhen auch nur ein kleines Weilchen. Dann recken und strecken sie sich plötzlich, geben sich einen Schubs, steigen auf wie Luftblasen aus einem Fischmaul, verlassen das Wasser und surren davon wie Libellen. Und wo sie ankommen, geht ein Wunschtraum in Erfüllung.“
„Der Wunschtraum nach einer guten Schulnote oder dass die Oma zu Besuch kommt?“, überlegt Alina. „Der Wunsch nach einer neuen Puppe, einer Reise in den Sommerferien oder einem kleinen Kätzchen?“
„Ja, Alina. Oder die Hoffnung auf einen besonders schönen Tag nach der langen Bettruhe während der Masern“, ergänzt die Wasserfee. „Manche der faulpelzigen Träume, die nur sehr ungern den See verlassen wollen, zerplatzen auf ihrer langen Reise wie Seifenblasen. Denn nur selten erfüllen sich die Träume von Lottogewinnen, Luxusautos oder teuren Weltreisen.“
Alina muss lachen, denn sie stellt sich vor, wie die Träume der Menschen, die in Erfüllung gehen, dem See entsteigen und durch die Luft fliegen. Und plötzlich ist der Himmel über ihr erfüllt von Puppen, neuen Kleidern, kleinen Hunden und Katzen, guten Schulnoten, Großmüttern und Großvätern, Fahrrädern und Eisbechern.
„Wenn dir der See der Träume gefällt, können wir zusammen in ihn hinabsteigen, und ich zeige dir Träume von Menschen in anderen Ländern, denn es gibt viel mehr Wunschträume, als du dir vorstellen kannst.“
„Oh ja, sehr gerne!“, freut sich Alina. „Aber ist es dort unten nicht sehr gefährlich und unheimlich?“
Und fast bedauert sie, dass sie so schnell auf den Vorschlag der Wasserfee eingegangen ist.
„In die Traumwelt einzusteigen ist nicht gefährlich, mein Kind. Komm, gib mir deine Hand.“
Und geführt von der Wasserfee betritt Alina den See der Träume.
Der See, der vom Ufer aus betrachtet aussieht wie jeder andere, ist angenehm kühl, und sein Wasser ist klar wie Glas. Alina kann durch seine Oberfläche hindurch die Sonne glitzern sehen. Wie Wolken am Himmel werfen die Blätter der Seerosen dunkle Schatten, und die kleinen Füße der Enten sehen von hier unten aus wie schwimmende Orangenschalen.
Winzige, fast durchsichtige Wasserflöhe hüpfen vor Alinas Gesicht vorbei, und in den silbernen Schuppen kleiner Fische brechen sich die Sonnenstrahlen. Ein grasgrüner Wasserfrosch springt von einem Blatt und mustert das kleine Mädchen mit seinen großen, runden Augen.
„Quaaaaak!“
„Hallo, Frosch!“, grüßt Alina zurück.
„Quaaak! Hallo, Alina. Schön, dass du uns besuchen kommst.“
„Du kannst ja sprechen, Fröschlein!“
„Klar kann ich sprechen. Quak, quak.“
„Und wie heißt du?“
„Quak.“
„Na klar, wie soll ein Frosch auch heißen? Quak ist ein guter Name.“
Immer tiefer sinken die Wasserfee und Alina zum Seeboden hinab, und hier und da entdeckt das Kind nun auch die ersten Träume. Zwischen Pflanzen, Muscheln und Fischen schweben und tanzen die Träume wie Blätter im Wind. Einige Träume leuchten in schillernden Farben, karminrot, smaragdgrün und goldgelb.
Wie die Wasserfee es erzählt hatte, liegen einige Träume faul herum, andere Träume schwimmen bedächtig wie Karpfen, die mit ihren dicken Lippen an Pflanzenstängeln saugen. Und andere kann Alina beobachten, die an sich herumzupfen und putzen, um sich schön zu machen für die bevorstehende Reise zu den Menschen.
„Komm, Alina“, sagt die Wasserfee zu dem Mädchen, „wir wollen uns hier bei den großen Steinen etwas ausruhen. Und dann zeig ich dir den Traum vom Wasser, den viele Kinder in deinem Alter träumen.“
„Den Traum vom Wasser?“
„Ja, den vom Wasser!“, freut sich Quak, der Frosch.
Alina ist enttäuscht. Sie hatte geglaubt, die Wasserfee würde ihr Träume zeigen so bunt und aufregend wie die Märchen aus ‚Tausend und eine Nacht’.
„Wasser?“, sagt sie etwas mürrisch. „Was kann man denn schon vom Wasser träumen? Wasser kommt aus dem Wasserhahn, und wenn ich Durst habe, trinke ich es.“
„Irrtum!“, protestiert Quak. „Wasser kommt nicht nur aus dem Wasserhahn. Und Wasser ist sehr wichtig, schließlich lebe ich im Wasser. Quaaak!“
„Schön und gut, aber…“
„Warte ab, mein Kind, ich zeige es dir“, antwortet die Wasserfee. Sie rollt einen großen Stein beiseite, und wie im Theater, wenn der Vorhang aufgeht, kann Alina ein Land sehen, von dem sie bisher wenig gewusst hat. Das Land heißt Afrika.