Читать книгу Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers - Helge Hanerth - Страница 5
Das Leben war schön
ОглавлениеDas Leben war so schön. Es war so, wie ich es haben wollte. Alles was ich mir als Kind erträumt hatte, war Wirklichkeit geworden. Ich war im gutbürgerlichen Leben angekommen. Daran hatte ich lange und hart gearbeitet. Nichts war mir in den Schoß gefallen. Jeder Erfolg hatte seine eigene Geschichte und seinen eigenen Kampf. Ich glaube, das Leben war auch deshalb so schön, weil mir die volle Lebensenergie und mein ganzes Bewusstsein zur Gestaltung zur Verfügung standen. Es gab keine Grenzen, weil es auch keine Einschränkungen z.B. durch Alkohol gab. Alles was ich genoss, hatte ich mir durch Fleiß und Beharrlichkeit verdient. Zaubertrank zum Schönreden brauchte es nicht. Meine Welt war gerade nüchtern, also ganz pur und unbefleckt, besonders großartig. Jeden Rückschlag hatte ich mit doppelter Entschlossenheit kompensiert. Mein Ehrgeiz machte mir Spaß, weil er belohnt wurde, spätestens nach einigen Anläufen. So wurde er zu einer Leidenschaft, die ich genoss wie den Willen beim Sport zu gewinnen. Depressionen duldete ich nicht. Ich fand immer ein Rezept für meinen Traum vom Glück. Es war immer ein Glück im Tun. Deswegen ruhte ich mich auch im Beruf nicht auf Erfolge aus. Ich hatte so viele Ideen, von denen ich wenigstens einige in meiner beruflichen Entwicklung noch umsetzen wollte. Meine Beiträge sollten für die Geschäftsentwicklung wichtig sein.
Natürlich plante ich weitere Schritte in meiner Karriere im mittleren Management eines großen Konzerns. Am Anfang meiner beruflichen Entwicklung war ich noch skeptisch. War das wirklich erstrebenswert. Ich bekam Bedenken, weil alle Kollegen, die vor meinen Augen die Karriereleiter hinaufstiegen, sich veränderten. Sie wurden machtbewusster, ungeduldiger, autoritärer zu Untergebenen und Freunden und manchmal sogar arrogant. Würde ich auch so wie sie werden? Nein, mein Aufstieg wurde anders. Heute weiß ich, dass ich da keine Ausnahme war. Man muss kein <Arschloch> sein oder werden, um beruflich erfolgreich zu sein. Diesen Eindruck konnte ich revidieren. Die Summe meiner Eindrücke von meinen Kollegen war eine zu kleine Stichprobe gewesen, um eine allgemein verbindliche Feststellung zu treffen. Meine Bedenken waren also eher ein Vorurteil. Auch wenn Karriere vielen den Charakter verdirbt, gibt es weiterhin andere Persönlichkeiten. Mittlerweile gibt es auch wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Phänomen (Vgl. Bargh, John A.: „When Psychologist try to understand“, S. 27, Scientific American, January 2014).
Ich erzähle von dieser Erkenntnis so ausführlich, weil ich sie mir später gegenüber psychologischen Gutachtern immer wieder einem <deja vú> gleich ins Bewusstsein schoss. Deren Ansichten verdichteten sich manchmal sehr schnell zu Überzeugungen, auch dann wenn die Informationsgrundlage dünn war. Wir neigen nun mal dazu wiederkehrende Eindrücke einer vorher gemachten Erfahrung als Bestätigung zu bewerten. Das gilt auch dann, wenn andere Ereignisse möglich wären. Mir sind solche Erfahrungen wichtig, weil für mich Leben nicht einfach passiert. Leben ist immer eine Herausforderung zum <Bessermachen>. Das haben wir alle nötig, denn auch als Erwachsene bleiben wir unfertig. Selbst der griechische Philosoph Sokrates, von dem gesagt wird, dass er der weiseste der Weisen sei, soll von sich gesagt haben: „Das einzige was ich weiß ist, dass ich nichts weiß.“ Mein Job bot also reichlich Terrain, auch für meine Persönlichkeitsentwicklung.
Nach Feierabend ging ich häufig Schwimmen. Im Verein schwamm ich immer ein Programm über etwa 3000 m in der Wettkampfgruppe der Senioren. Viele waren ehemalige Kaderschwimmer. Viele trainierten auch noch für Triathlon. An Wochenenden verbrachte ich viel Zeit beim Radfahren. Jede Tour war mir eine kleine Tour de France mit den ganz eigenen Königsetappen und <Alpenpässen>. Ich brauchte die physische Erschöpfung. Gerade wenn sie wehtat befriedigte sie. Das ging mir schon als Teenager im Kadertraining so. Alles was wehtut macht bewusster und wirkt deshalb nachhaltiger. Gleichzeitig trainiert es meine Willensstärke. Die wiederum generiert im Vollzug ein starkes Gefühl von Souveränität. Da denkt man schon mal: ‚Die Kräfte, die ich rief, sie folgen mir‘. Nach solchen Sportereignissen würde ich dann gern mal eben den Mt. Everest besteigen.
Wenn der Wetterbericht gutes Flugwetter ankündigte, hatte ich dazu aber keine Lust. Bei gutem Wetter engagierte ich mich an den Wochenenden lieber im Flugclub für die Fliegerei am Gleitschirm und mit Flugdrachen. Wenn ich nicht gerade selber flog, half ich als Windenführer, um die Freunde in die Luft zu bringen. Abends ging ich gerne mit meiner Frau zum Salsa tanzen. Wir waren seit sechszehn Jahren glücklich verheiratet und kannten uns schon aus dem Studium.
Meine Frau hatte auch lange an ihrem beruflichen Erfolg gearbeitet, bis sie entschied, dass die Zeit für ein Kind gekommen sei. Bei mir schlug dieses Baby-Gen nicht an. Ich fand, wir hatten unser Leben gut eingerichtet. Das Lebensgefühl von <Double income and no kids> gefiel mir. Meiner Frau war es mit ihrem Kinderwunsch sehr ernst. Überall, wo sie davon sprach, fingen Leute an auf mich einzureden, um sie so in ihrem Anliegen zu unterstützen. Nicht wenige Frauen sprachen zu mir aus eigener Erfahrung und betonten, ein Baby sei die ultimative Erfüllung als Frau. Selbst Karrierefrauen ohne Kind kamen ins Träumen, wenn sie davon hörten. Ich konnte alle Argumente für ein Kind weder logisch noch emotional nachvollziehen. Zumindest überwogen meiner Meinung nach ganz klar die Nachteile. Meine Bedenken zu äußern schaffte mir regelmäßig Feinde. Im Ton inbrünstiger Überzeugung stellten dann die Protagonisten für ein Baby fest: ‚Ich werde das schon anders sehen, wenn das Kind erst mal da ist. Das ist immer so‘. Je öfter diese Behauptung wiederholt wurde, umso stärker glaubte ich an deren statistische Relevanz.
Naja, wenn es meiner Frau so viel bedeutete, durfte ich diesem Wunsch dann im Wege stehen? Die Rahmenbedingungen waren schon okay. Ich rang mich nach gründlichen Überlegungen, die mir viel Bauchschmerzen verursachten, zu der Entscheidung durch: ‚Im Zweifelsfall für ein Kind‘.
Daraufhin haben wir uns ein Nest eingerichtet und ein Haus im Grünen in der Nähe einer Großstadt gebaut. Der Stress als Bauherr hielt sich in Grenzen. Die Situation war auch nicht schlimmer als in den Projekten, die ich im Job betreute. Ein wenig spießig fand ich meine neue Umgebung schon. Ans Rasenmähen samstags, musste ich mich gewöhnen. Ich fiel in der Nachbarschaft gleich auf, weil ich mich für einen Handrasenmäher entschieden hatte. Ich fand das sportlicher. Mein Nachbar fand mein Argument ehrenwert, um dann darauf hinzuweisen, dass Handgeräte keine ordentlichen Flächen produzierten. Ganz großzügig bot er mir seinen Zweitakter zum Testmähen an. Meine spätere Entscheidung für ein Elektrogerät konnte er akzeptieren.
Meine Frau war gerade erst offiziell schwanger. Damit meine ich, dass man noch gar nichts sah, aber die Schwangerschaft ärztlich diagnostiziert war, als ich spürte, dass ich mich mehr zu Hause, als auf dem Flugplatz engagieren sollte. Ich sollte einfach auch mehr Zeit mit meiner Frau verbringen. Also schlug ich vor, mit ihr zu den verschiedenen Babyausstattern in der Umgebung zu fahren, um das zu kaufen, was für Aufzucht und Pflege eines Neugeborenen gebraucht wurde. Das wurde zum Ritual und blieb auch so, als wir schon alles Notwendige gekauft hatten. Meine Frau war auch der Meinung, dass ich im Haushalt mehr Aufgaben übernehmen sollte. Besonders Putzen sei wichtig und zwar häufiger und gründlicher als bisher. Das Putzen ging schon im dritten Schwangerschaftsmonat so weit, dass ich die Fliesen nicht nur täglich saugte und zweimal wöchentlich wischte, sondern auch alle vierzehn Tage jede Fliese einzeln mit einer Handbürste schrubbte. Das war aufwendig, denn das ganze Haus war außer dem Parkett im Wohnzimmer gefliest. Teppichboden gab es nicht.
Ich fand, dass mein Putzen sehr gründlich war. Ich benutzte nur zertifizierte Reiniger, geprüfte Reiniger und Öko-Reiniger. Das Haus wurde so klinisch rein. Gerade deshalb ertrug ich es nicht, wenn meine Frau trotzdem wortlos zu putzen anfing und mir so subtil zu verstehen gab, dass sie im schwangeren Zustand tun musste, was eigentlich meine Aufgabe wäre. Dieser Putzwahn, in den ich mich mit hineinsteigerte ging zu weit. Auch wenn es nichts zu tun gab, gab mir meine Frau zu verstehen, dass es besser war, wenn ich zu Hause bliebe. Selbst das gemeinsame Salsatanzen fiel von nun an aus.
Was immer meine Frau forderte, ich tat es. Ich wollte unbedingt den Frieden wahren, gerade unter den anderen Umständen. Diese Sondersituation war schließlich zeitlich und hormonell befristet. Ich wusste doch, dass sie so ganz anders sein konnte. Da war es doch nur fair, wenn ich auch mein, Schwimmtraining, Radfahren, Joggen und Fliegen etwas einschränkte. Das waren doch alles nur Freizeitaktivitäten. Meine Frau fand es sowieso immer schon etwas merkwürdig, dass ich fürs Training abends noch rausging, meist bis nach 23 Uhr. Niemand sonst, den sie kannte, tat das. Musste so viel Sport sein? War das nicht ein bisschen zu extrem? Wo blieb die Zweisamkeit. Immer hatte ich mich durchgesetzt. Es drängte mich zu sehr. Sport hat neben der Arbeit, die mir Lebenssinn gibt die stärkste Wirkung auf meine Befindlichkeit. Meist transformiert er meine überschüssige Energie in wache Entspannung. Nach Feierabend erlaubt er die kritische Reflektion meines Arbeitstages um dann Abstand zu finden. Erst ein paar sportliche Härten, die den Puls ordentlich treiben, helfen schließlich in einer weiteren Phase, mich von beruflichen Gedanken loszureißen und wirklich in einen anderen Modus zu schalten. Wegen meiner Vergangenheit und Gegenwart als Leistungsschwimmer braucht noch heute mein gepflegtes Sportlerherz eine viel höhere Dosis, um ein Training befriedigt beenden zu können. Ich bin stolz darauf, dass auch mit Mitte vierzig mein Lungenvolumen immer noch überdurchschnittlich ist und ich beim Streckentauchen nach der 25m-Wende noch fast eine ganze Bahn schaffe.
Spätestens mit der nun heraufziehenden Dreisamkeit sah auch ich die Zeit gekommen sportlich kürzer zu treten. Meine Familie durfte mehr Aufmerksamkeit erwarten. Aus kleinen Einschränkungen beim Sport wurde so nach und nach im Rahmen einer freiwilligen Selbstbeschränkung eine neue Gewohnheit. Immer, wenn ich mit dieser Gewohnheit brach, wurde mein Sport nicht mit einer Endorphinausschüttung belohnt, sondern mit einem schlechten Gewissen bestraft. Außer lesen und Putzen passierte zu Hause in trauter Zwei(drei)samkeit aber nichts. Gleichzeitig fing ich an meine geliebten, sportlichen Leidenschaften zu vermissen.
Dies war meine erste Auszeit vom Sport seit ich mit sechs Jahren in den Ruderverein und wenig später in den Schwimmverein eintrat. Selbst während meiner Bundeswehrzeit, auch in der Grundausbildung, wurde ich unterstützt mein Wettkampftraining fortzusetzen. Sport war immer schon mein Lebenselixier. Selbst als Student nahm ich noch lange regelmäßig an den Deutschen Hochschulmeisterschaften teil. Ich brauchte den Sport als Ausgleich und zum Denken. Nur beim Sport konnte ich durch das Verbrennen von Kalorien neue Lebensenergie gewinnen. Im Sport fand ich zu mir. Eigentlich machte ich nicht Sport, ich war Sport. Meine sportfreie Feierabendzeit führte zu Entzugssymptomen. Ich wurde zunehmend unruhiger und gereizter. Verzweifelt suchte ich nach Beschäftigungsalternativen.
Da kam ich auf die Idee, dass zu tun, was einige meiner Kollegen abends regelmäßig machten. Sie machten es sich bei einem Fernsehabend mit dem Wein gemütlich, den wir reichlich von der Firma gestellt bekamen, um ihn an Geschäftskunden zu verschenken. Ein Kollege erinnerte an den Marketingleiter, der gesagt hatte, dass man nur einen Wein empfehlen kann, den man selbst probiert habe. Auch das zeuge von der Qualität unserer Mitarbeiter und ihren Leistungen. Ich machte es meinen Kollegen nach und trank von nun an von dem Wein, den ich seit Jahren im Keller lagerte. Warum hatte ich das nicht schon früher getan. Es war so bequem und auch gemütlich. Meine Kollegen mochten gar nicht glauben, dass ich noch nie eine Flasche von dem Wein der Firma aufgemacht hatte. Es war also völlig normal. Das Beispiel der Kollegen gab den Anlass einen Fernseher zu kaufen, der auch von der Größe her in ein Wohnzimmer passte. Bislang hatten wir nur ein uraltes, tragbares Schwarz/Weiß Gerät. Zum gelegentlichen Sehen der Nachrichten hatte das gereicht. Ich saß dann meist wegen des kleinen Bildschirms auf dem Teppich davor. Mit dem neuen Gerät konnte man auch bequem vom Sofa aus sehen. Für einen ganzen Fernsehabend war das einfach besser. Meine Frau war mit dem Kauf auch zu frieden. Es unterstrich eine Häuslichkeit, die zu einem Familiennest passte.
Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich zu viel trank, denn meine Kollegen tranken schon seit Jahren und sie tranken viel mehr. Nebenbei waren sie alle erfolgreich und hatten den Status außertariflich bezahlter Mitarbeiter erreicht. Auch bei den Prämien für besondere Zielerreichungen, hatten sie stets die Nase vorn. Bei offiziellen Anlässen auf Kongressen und Symposien tranken sie nie und gingen souverän ihrer Arbeit nach. Nur wenn es im Anschluss im kleinen Kollegenkreis einen Grund zu feiern gab, nur dann tranken sie und tranken sie reichlich. Selbst dann verabschiedeten sich die meisten Kollegen recht zeitig mit Hinweis auf die Termine am nächsten Tag. Der Rahmen für Exzesse musste passen. Das war Teil ihrer professionellen Einstellung. Ihre Fähigkeit zu zielführender Kontrolle und Ordnung, die sie über viele Jahre entwickelt hatten, machte sie souverän und erfolgreich. Ich wähnte mich auf jeden Fall in guten Kreisen, in denen der korrekte Umgang mit Alkohol in jeder Situation gewährleistet war.
Der Alkohol vertröstete über den entgangenen Sport und ließ mich zeitig Schlaf finden. Das war auch wichtig, denn sonst hielt meine latent überschüssige Energie mich bis lange nach Mitternacht wach. Auch in diesem Punkt ersetzte Alkohol den Sport. Ich liebe den Sport auch, weil er mich <fertig macht>. Ich brauchte das, mich mental niederzuknien vor einer eigenen Leistung, die mich überzeugt. Körperliche Erschöpfung ist mir Belohnung für den Schweiß. Das macht sie so befriedigend und schafft so nebenbei die Bettschwere, die befriedigenden Schlaf schenkt.
Hier entsteht eine erste Dissonanz zum Alkohol, der zwar auch Schlaf schenkt, weil er überschüssige Energie bindet, aber mit geringerem Wohlgefühl. Es fehlt die Leistung. Der alkoholische Schlaf ist nicht hart erarbeitet und somit weder befriedigend noch wohlverdient. Vorübergehend ist das in Ordnung, nicht aber auf Dauer für jemand, der den Sinn im Leben und damit seine Lebensberechtigung in den Früchten seines engagierten Wirkens sucht. Schon dieser Aspekt unterstreicht, dass die Rolle von Alkohol befristet sein musste. Alkohol konnte eben nicht vollständig ersetzen, was an metaphysischer Kraft im aktiven Sport steckt. Nachhaltigkeit fehlt Alkohol. Nach einem Fernsehabend mit Alkohol bleibt am nächsten Morgen nichts zurück, von dem ich beeindruckt sein kann. Ganz im Gegensatz zu einem Schwimmtraining, wo ich mich immer messen kann. In der Riege meines Schwimmvereins sogar mit Leuten, die zu Juniorenzeiten viel besser waren als ich. Damals war ich gut genug um im Kader mit dabei zu sein. Die Titel gewannen sie. Alkohol hilft einen verlorenen Tag zu Ende zu bringen. Alkohol ist nie der Aufbruch zu neuen Taten. Das macht Alkohol zweitklassig. Beim Sport erreiche ich mehr und Arbeit mit Projekt- und Umsatzverantwortung adelt mich.
Alkohol schafft zwar Ruhe, weil die Energie entweicht. Es entsteht aber keine Muße, wie ich sie brauche um z.B. Ideen für meine Projekte zu finden oder zum Schreiben. In Muße fische ich normalerweise ab was hochkommt. Ganz leise registriere ich dann was sonst ungehört bleibt. Muße erlaubt einen assoziativen Cocktail von Eindrücken etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Drogen helfen dabei nicht wirklich. Sie favorisieren ohne zu erklären. Sie verstärken Eindrücke, aber lösen keine Rätsel. Drogen entführen auf und davon oder gleich einem <Reset> zurück zum Anfang. Sie feiern sich selbst, bauen nichts auf, an das man am nächsten Tag anknüpfen könnte. Macht man sich Notizen, sind diese am nächsten Tag wertlos. Alles ist zusammenhanglos. und banal. Allein deshalb braucht Alkohol eine Schranke. Die hatte ich doch klar definiert. Ich wollte weiterkommen. Um die Zeit totzuschlagen ist mir mein Leben zu kostbar. Ich habe zu viele Aufgaben, Pflichten und Träume im Kopf. Nur der Feierabend, der Bettschwere sucht, legitimiert Alkohol. Das war der abgesteckte Rahmen. Mehr ging nicht. Zu mehr fehlte Alkohol die Potenz.
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Der Entscheidung standen meinerseits also keinerlei Bedenken im Wege. Im Gegenteil. Alkohol hatte noch nie eine Rolle in meinem Leben gespielt. Das sollte sich nicht wesentlich ändern. Als Jugendlicher mied ich jedes Bier, weil ich das so pubertär und besoffene Mitschüler so peinlich fand. Ich verstand nicht, wie man freiwillig durch exzessives Trinken bereit sein konnte, öffentlich die Kontrolle zu verlieren. Kontrolle war doch so wichtig, um sich gerade in der Pubertät einigermaßen angemessen zu verhalten. Es war doch so schon schwer genug, sich nicht zu blamieren und ausnahmsweise mal zu bewähren.
Ich tat mich schon als Kind schwer meine Umwelt klar zu erkennen und mich darin zu orientieren. Noch schwerer zu entschlüsseln war mir das Verhalten meiner Mitmenschen. Es mangelte mir vollkommen an empathischem Talent. Es dauerte lange bis ich einigermaßen funktionierte. Ich konnte zwar mit einer konkreten Handlungsabsicht in eine Situation hineingehen, aber ich konnte die nicht situationsrelevant variieren. Ich war der Eloquenz der anderen ausgeliefert. Ich steckte dann wie in meinen Alpträumen in einem Film fest, der einfach ablief, ohne dass ich ihn ändern konnte. Was mir allein so klar war, funktionierte nicht unter anderen. Da war ich der dumme August, weil ich nicht ruhig und entspannt überlegen konnte bevor ich sprach.
Die Situation musste ich ändern. Deshalb fing ich an mich konsequent auf alle möglichen Situationen vorzubereiten. Das war einfach. Es brauchte nur Fleiß. Aber es dauerte lange zähe Hürden zu überwinden. Speziell mein Unverständnis über das menschliche Verhalten löste sich nur widerwillig auf. Auch aus der Entfernung oder reflektierend dessen was ich erlebt hatte, konnte ich das Verhalten der anderen nur unzureichend einordnen. Warum hielten sie nicht, was sie versprachen? Warum meinten sie nur manchmal was sie sagten? Warum sagten sie manchmal das Gegenteil von dem, was sie noch kurz vorher beschworen hatten? Wieso konnten sie so schnell Meinungen bilden wo ich lange nachdenken musste? Warum waren sie so irrational und bezogen sich nie auf eine klare Linie? Warum machten sie mich lächerlich? Warum logen auch die Erwachsenen? Das Spiel des Lebens verstand ich nicht. Es widersprach jeder Logik. Was immer mein Hirn dachte, es entsprach nie ihren Gefühlen. Gefühle schienen mir Taktiken zu sein, um ehrliche Positionen zu verschleiern und auf Umwegen Ziele unfair zu erreichen. Wer Offenheit und Ehrlichkeit ausweicht und Gefühle vorschiebt, der hat etwas zu verbergen. Fleiß und Ausdauer über Jahre im Umgang mit einer emotionalen Umwelt zahlten sich aus. Vom Dummkopf der Grundschule stieg ich langsam auf zum Primus und Streber. in fachlichen Dingen und erarbeitete mir in Sachen Empathie immerhin Grundwissen. Ein Außenseiter blieb ich trotzdem, und so blieb ich auch dem Alkohol im gesellschaftlichen Rahmen fern.
Mein erstes Bier trank ich als Wahlhelfer bei einer Landtagswahl. Ich vermute, dass mein Engagement im Stadtjugendring als Repräsentant eines örtlichen Sportvereins zu meiner Berufung führte. Das Wahllokal war eine Kneipe an einer Hauptstraße. Die Arbeit war einfach. Ich war der einzige Neue. Alle anderen wurden zu jeder Wahl angeschrieben. Die meisten der Wahlhelfer arbeiteten im öffentlichen Dienst. Es gab auch eine Vergütung, aber die fiel geringer aus, als ich es von meinen Nachhilfejobs gewohnt war. Gegen Mittag brachte der Wirt mit einem kurzen Prosit das erste Pils für die Wahlhelfer an unsere Tische. Mein fragender Blick an den Wahlleiter wurde beantwortet mit: „Eine Spende eines anonymen Wählers.“
So schmeckte also Bier. Es schmeckte so wie es roch. Nicht gerade süß, also nur bedingt weiterzuempfehlen. Eine zweite Bierspende konnte ich noch akzeptieren. Danach winkte ich ab. Die anderen Wahlhelfer waren zwar überrascht, sorgten aber gern für Abhilfe.
Damals war ich mit grenzenlosem Elan in meinen Vereinen engagiert und träumte davon, einmal an einer Olympiade teilzunehmen. Quälerei gehörte für mich ganz selbstverständlich dazu. Überrascht war ich, dass aus Quälerei Spaß werden konnte. Immer wieder suchte ich den Schmerz, weil der Endorphin-Kick zwar Bestzeiten schaffte, aber auch verführte mit dem Erreichten zufrieden zu sein. Wenn man besser sein wollte als die Besten, dann musste man nachlegen. Richtig gut war erst ein Training, das jede neue Quälerei wieder mit Endorphinen belohnte. Die größte Erfahrung meiner Siege war die Genugtuung über die Macht der Kräfte, die in mir wohnten.
Nie hatte ich nur daran gedacht, in Cliquen abzuhängen und Bier zu trinken. Meine abendlichen Selbstgespräche trainierten eine Achtsamkeit und ein Bewusstsein gegenüber dem Alltag. Mein permanentes Hinterfragen führte zu ganz eigenen Ansichten, die mit den Überzeugungen in meiner Umwelt kollidieren konnten. Ich fing an das Diktat der emotionalen Mehrheit zu hassen. Wie konnte man die eigenen Überzeugungen zum Maßstab für alle erklären. Der Rückenwind, in einer Clique Teil der Mehrheit zu sein, ließ meine Mitschüler maßlos werden.
Unüberwindlich wurden Konflikte in der Pubertät, als Gleichaltrige mir eine pubertäre Welt mit einer festgeschrieben Kultur und Mode aufzudrücken versuchten. So manch durchgeknallter Teeny konnte dann gerade aus einer Clique heraus sehr polemisch und bisweilen aggressiv gegen mich agieren. So wurde ich zum Sonderling erklärt, weil ich auch hier alles hinterfragte, was den anderen so selbstverständlich war. Dabei war ich nicht grundsätzlich gegen alles. Ich suchte nur einen Weg der individuelle Wünsche berücksichtigte. Ich konnte nicht pauschal Dinge verurteilen oder ablehnen, mit denen ich mich nicht auskannte, nur weil eine lautstarke Mehrheit das forderte. Dazu reichte mein Vertrauen gegenüber den führenden Mitschülern nicht aus. Ich mochte mich guten Gewissens nur dann festlegen, wenn ich einen Sachverhalt geprüft und für gut befunden hatte. Meine Meinung aufzugeben, um die zweifelhafte Sympathie supercooler Mitschüler zu gewinnen, wäre ein Verrat meiner innersten Bedürfnisse gewesen. Es war schon bizarr, wenn man dann für Widerstand emotional gebrandmarkt wurde, obwohl man einem logisch, nachvollziehbaren Gedanken folgte. Es weckte Bedenken in mir, wenn auf Argumente mit dem Impetus leidenschaftlicher Überzeugung reagiert wurde, während gleichzeitig sachliche Argumente ignoriert wurden. Im pubertären Ausnahmezustand war manch einer sogar beleidigt, wenn ich eine anerkannt, obercoole Attitüde für <voll scheiße> erklärte. Dabei war das doch nur der Blick aus meiner Sicht. Unabhängig davon, war es mir doch recht, wenn er in seinem Selbstempfinden so mit seiner Coolness glücklich war. In einem solchen Fall hatte wohl eher die Kränkung über einen Mangel an Aufmerksamkeit und Anerkennung Gewicht, als der vorgeschobene Vorwurf der Beleidigung. Trotzdem blieb ich in den Augen der anderen doof, minderwertig und uncool. Zu den anderen fand ich nur, wenn uns ein Interesse verband. In der Schulpunkband konnte ich mitmachen, weil die nicht ohne Bassist konnten. Ich wollte ordentliche Musik in einer Gruppe machen. Kammermusik wäre mir genauso recht gewesen. Es ging mir über den Musikstil hinaus nicht auch um eine Lebenseinstellung. Das trennte uns weiterhin. Man respektierte sich im Rahmen des gemeinsamen Interesses und konnte nicht Freunde werden.
Meine abendlichen Selbstgespräche waren damals äußerst wichtig. Sie halfen das Tagesgeschehen zu ordnen und zu verarbeiten. Damit entwickelte ich eigene Meinungen, die wiederum verfestigten auch meine Position als Eigenbrötler, den andere mieden und mobbten. Ich liebte meine Freiheit, auch weil ich noch nicht sah, dass meine Sozialisation darunter litt. Meine empathischen Fähigkeiten blieben so lange rudimentär. Meine Freiheit gab mir die Möglichkeit das zu tun, was ich wirklich wollte. Die anderen konnten mich nicht ausbremsen. Wie ein Besessener trainierte ich im Schwimmverein oder übte an Bass und Klavier. Da vergaß ich sowieso den Rest der Welt. Beim Sport brachte mich mein Ehrgeiz weit, beim Klavierspiel kompensierte er nur mangelndes Talent. Ich war mit meiner Mittelmäßigkeit aber zufrieden, denn es ist schön Musik selber zu machen. Da wo ein gemeinsames Interesse mich mit anderen verband, wie z.B. beim Jammen von Jazz-Klassikern, war vorübergehend auch eine friedliche Koexistenz mit den anderen angenehm. Ansonsten ging ich Menschenansammlungen aus dem Weg. Sämtlichen Abi-Feierlichkeiten blieb ich fern. Das Zeugnis ließ ich mir zuschicken. Für gesellschaftliches <Rumgelaber> war mir meine Zeit zu kostbar.
Das änderte sich auch nicht bei der Marine und führte schon mal zu Spannungen, weil andere Soldaten glaubten, ich meide sie weil ich etwas gegen sie habe. Während einer Art Bordpraktikum zu meiner Ausbildung als Tastfunker auf einem Kriegsschiff provozierte allerdings mein Widerstand gegen die Gruppendynamik massive Gegenreaktionen. Dort führte mein Verhalten bei den regelmäßigen Besäufnissen im Deck mit viel Hochprozentigem, den es bei jeder Seefahrt zollfrei an Bord zu kaufen gab, zum Eklat. Meine Weigerung in geselliger Runde im Deck mehr als nur ein Bier zu trinken, sah man als Missachtung der Deckskameradschaft. Mein beleidigendes Verhalten löste mehrmals alkoholinduzierte, gruppendynamische Prozesse aus, die der Decksälteste unter dem Gröhlen der Kameraden als notwendige erzieherische Maßnahme einstufte. Die folgenden Gewalttätigkeiten, wurden auch von Offizieren gutgeheißen. Mein direkter Vorgesetzter, der regelmäßig zum Trinken eingeladen wurde, meinte dazu: „Es ist besser die regeln das im Deck wie Männer“. Da ich weiter massiv Widerstand leistete und nicht einlenkte (dabei fehlte mir leider auch ein wenig psychologisches Gespür und Erfahrung im Umgang mit Gemeinschaften), wurde mir recht bald die vorzeitige Versetzung mitgeteilt.
Den Vertrauensbruch, den ich ausgelöst hatte, indem ich den Wehrbeauftragten einschaltete, konnte man mir nicht verzeihen. Die Begründung der Versetzung von meinem verständnislosen Kommandanten, der immerhin an der Hochschule der Bundeswehr Sozialwissenschaften studiert hatte, war mangelnde Sozialisation, um in einer Bordgemeinschaft als Kamerad zu bestehen, auf den sich die Gemeinschaft auch in schwierigen Situationen verlassen kann.
So verlief mein Aufenthalt in der Bundesmarine weiterhin alkoholarm. Auf allen weiteren Kommandos war das Trinken freiwillig und eher ein Privileg kleiner verschworener Gemeinschaften von Zeitsoldaten. Eine einzige Ausnahme machte ich zu einer Jahreswende. In Flensburg hatte ich während eines Lehrgangs den Wachdienst mit einem Soldaten aus einer anderen Kompanie getauscht, weil er mich dafür bezahlt hatte. Ich wollte eh nicht wegfahren. Freunde hatte ich keine. Stattdessen hoffte ich über die Feiertage an den wachfreien Tagen auf gutes Surfwetter auf der Förde. Der Deal war gut. Die Wachtage an einem langen Wochenende ließen genug Freizeit übrig für eine besondere Surfaktion.
Das Wetter blieb leider schlecht. Es war nasskalt bei Dauerregen bis einschließlich zum Jahresultimo. Am 31. Dezember war meine Wache morgens erledigt. Es regnete immer noch in strömen. Als ich in meinen Block zurückkam, ging ich durch leere Gänge. Mein Kasernenblock war wie ausgestorben. Ich war der einzige, der nicht Urlaub genommen hatte. Selbst die Aufgabe des Unteroffiziers vom Dienst wurde von einem anderen Block übernommen. Merkwürdig laut hallten meine Schritte im einsamen Flur wider. An Outdoor-Aktivitäten war nicht zu denken. Ich merkte, dass das wohl ein sehr langweiliger Tag werden würde. Ich fuhr in die Stadt und es tat gut unter Menschen zu sein, auch wenn sie nur im Regen an mir vorbeieilten. Ich entschied mich einige Lebensmittel zu kaufen. Auf dem Wochenmarkt roch es sehr gut nach frisch geräuchertem Aal. Ich kaufte einen und hatte eine Idee.
Ich hatte mehrfach erlebt, dass Leute beim Aal essen auch Krabben puhlten und Schnaps tranken. In etwas Schnaps wurden dann auch die fettigen Hände gewaschen. Ich konnte es mir doch auf meiner Vierbettbude im Block einigermaßen gemütlich machen. Von meiner Bordzeit, die mittlerweile einige Monate zurück lag, hatte ich noch eine Flasche Whisky, die ich damals zollfrei erstanden hatte. Also kaufte ich noch ein Pfund Krabben, Heilbutt und Kieler Sprotten. Außerdem noch Cola, Schokolade und Kuchen. Damit sollte ich doch diesen und den nächsten Tag gut rumkriegen können. Eine Stunde später konnte mein Aalessen beginnen. Den Whisky dazu stilecht pur zu trinken wollte ich nicht. Sowieso schüttete ich erst einmal ein Drittel des Inhalts der 0,7 l Flasche in den Ausguss. Rein präventiv. Ich mag kontrollierte Bedingungen. Da fühle ich mich sicherer und folglich auch entspannter. Ich mischte den Whisky mit reichlich Cola, um ihn genießbar zu machen. Ich genoß mein Mahl und wurde sehr satt. Allein der Aal hätte für mehrere Personen gereicht. Dazu trank ich reichlich Whisky-Cola. Ich sah das Trinken auch als Gelegenheit herauszufinden, was ich beim Trinken mit den sogenannten Deckskameraden auf dem Bordkommando möglicherweise verpasst hatte. Ich wollte wissen wie es sich anfühlt, wenn Alkohol anfängt zu wirken. Ich war ja jetzt allein und konnte das ungeniert und ohne Gruppendruck probieren. Wenn es zu stark werden würde, könnte ich ja einfach aufhören, ohne dass jemand das nächste Glas füllte und mich nötigte weiterzutrinken. Unter diesen kontrollierten Bedingungen, fühlte ich mich sicher genug für ein solches Experiment.
Lange tat es keine Wirkung und so trank ich weiter bis ich euphorischer wurde. Schon eine weitere halbe Stunde später wurde mir zunehmend schlecht. Ich entschied schnell den Tisch abzuräumen und mich ins Bett zu legen. Gegen 16 Uhr etwa schlief ich ein. Vom Neujahrsfeuerwerk hörte ich nichts. Am nächsten Morgen wachte ich gegen sechs Uhr morgens mit höllischen Kopfschmerzen auf. Draußen hatte es aufgehört zu regnen. Der Wind bewegte durch das auf Kipp geöffnete Fenster die Vorhänge. Etwas später ein Schauer. Das musste eine durchziehende Kaltfront sein, die das dauernasse Warmfrontwetter ersetzte. Genauer konnte ich das im Moment nicht beurteilen, denn es fiel mir schwer die Horizontale zu verlassen. Auf jeden Fall sah das nach guten Surfbedingungen aus. Ich fing an mich zu ärgern, weil ich keine Chance sah für einen sportlichen Kick auf der Förde. Ich war doch extra nicht in Urlaub gegangen, weil ich surfen wollte. Die Leidenschaft war groß. Immer wieder zwang sie mich, mich aufzurichten und zu versuchen, ob es nicht doch allmählich ginge, aber der Kater zwang mich wieder zurück in die Horizontale. Eines wusste ich jetzt, eine Trinkmenge von 0,35-0,4 l Whisky war zu viel für mich. Noch wichtiger war die Erkenntnis, dass es eine Weile dauerte, ja eigentlich für meinen Geschmack recht lange sogar, bis Alkohol wirkte. Größere Trinkpausen wären da angebracht. Das Fazit dieses Tages war: Anders trinken mit längeren Pausen, macht vielleicht mehr Spaß aber Surfen bei ordentlich <Hack> ist um Längen besser, denn das ist ein aktiver und nachhaltiger Kick. Und diese Chance drohte mir hier zu entgehen.
Was war ich glücklich, als sich nach Stunden und reichlich Paracetamol Besserung ankündigte. Ich schnappte meine Sporttasche, die ich in meiner Vorfreude bereits vor Tagen gepackt hatte und lief zu meinem Rennrad mit dem Anhänger. Natürlich besaß ich kein Auto, der Umwelt zu Liebe. Es war bereits Nachmittag, als ich ans Ufer der Förde kam. Den Neoprenanzug hatte ich wegen der Kälte bereits in der Kaserne angezogen. In wenigen Momenten war ich startklar. Mit einer kräftigen Bö startete ich und beschleunigte gleich so, dass ich lange Arme bekam und es einen Augenblick dauerte, bis ich mich ins Trapez eingehängt hatte. Jetzt, wo ich den größten Teil der Segelkraft tief zurückgelehnt mit dem Oberkörper hielt, konnte ich bequem mit den Armen steuern und die Geschwindigkeit genießen. Ein Blick zurück zeigte mir, die ersten 1000 m waren geschafft. Ich fühlte mich wieder frei. Alles fühlte sich gut an. Der Wind hatte satte sechs Beaufort, in Böen bis sieben. Die Förde war übersät mit kleinen Kabbelwellen. Wie über Kopfsteinpflaster schoss das Brett holpernd über die dicht gedrängten Wellen, die weiter draußen mit etwas Dünung liefen. Optimale Bedingungen also, um heute Mal rüber nach Dänemark zu fahren. Da hinten auf der Ochseninsel, da wollte ich immer schon mal landen.
Diese Befriedigung die ich erlebte, wenn ich mit <´nem-Affenzahn-übers- Wasser-heizte> und das Brett über die steilen Windseen hüpfte, war gigantisch. Dann schrie ich in jede Bö hinein, die mich nicht schmiss. Und wenn sie es doch tat – na und. Nach einer Weile spürte man nicht mehr die Schmerzen, die die wahnsinnigen Kräfte verursachten das Brett zu sortieren, um erneut aus dem eiskalten Wasser zu starten. Es musste weitergehen. Ich konnte doch nicht mitten in der Förde sagen, ‚ich mag nicht mehr‘. Das Wasser war im Januar auch viel zu kalt zum Ausruhen. Die Kopfschmerzen des Katers spürte ich erst wieder, als ich vom Strand der Ochseninsel aus westwärts nach Flensburg rüberschaute. Lange blieb ich nicht. Ich musste schnell zurück. Die winterliche Abenddämmerung kommt früh. Also surfte ich zurück, der Steilküste entgegen, die langsam im ersten Dunkel der Nacht verschwand. Als Silhouette blieb sie bald nur noch als leichter Streifen sichtbar, aber die kleine Bucht wo mein Fahrradanhänger parkte, war schon im Schwarz der Nacht versunken. Vorsichtshalber ging ich etwas mehr an den Wind und steuerte großzügig backbord am Ziel vorbei. So hoffte ich, wenn ich näher kam, mehr zu sehen, um dann raumschots die Steilküste nach meinem Startplatz abzusuchen. Der Wind hatte mittlerweile auch deutlich nachgelassen. Vier Beauford reichten aber, um meinen kleinen Semisinker unter den Füßen nicht untergehen zu lassen. Der Nachteil schneller Bretter ist nun mal der <Wasserski-Effekt> durch geringes Auftriebsvolumen. Kleine Surfbretter sind auch nur ab einer Mindestgeschwindigkeit tragfähig. Was für ein Tag! Die hier erlebten Gefühle, die sich selbst später Zuhause im Bett noch trotz völliger Erschöpfung feierten, waren ultimatives Erleben.
Das <double feature> aus Alkoholexzess und anschließender, mit viel Glück noch möglicher, Surf-Extase, war ein einschneidendes Ereignis. Es hat in seiner Gegensätzlichkeit mein Leben geprägt. Bis heute kann Alkohol für mich nur ein netter aber unzulänglicher Ersatz für richtige <Kicks> sein. Das ist auch logisch, denn Erleben braucht Wahrnehmung. Die ist beim Trinken eingeschränkt, beim Surfen aber ist sie bis in die Fingerspitzen aktiv. Nur bei aktiven Herausforderungen reite ich auf einer Welle von Eindrücken, die mich mitreißen, während starker Alkoholkonsum nur meinen Wunsch nach tiefem Schlaf weckt. Das ist durchaus angenehm, aber eben nicht konkurrenzfähig.
Mit Beginn meines Studiums veränderte sich mein Alkoholkonsum kaum. Im Durchschnitt konsumierte ich 1-2 Biere im Semester. Ich war kein Kneipen- oder Diskogänger und hatte dafür auch nicht die passenden Freunde mit steter Feierlaune. Sowieso ließ das Studium nur wenig Freizeit. Das Studium war stressig. Es war bekannt, dass unnötige Härten dazu gehörten. So sollten die hohen Studentenzahlen heruntergedrückt werden. Nur durch knallharte Selektion war es möglich, die Plätze für Laborpraktika zu besetzen und gleichzeitig behaupten zu können, dass jeder einen Platz bekommen hatte. Das sollte ein Vorgeschmack sein, auf das, was noch zu erwarten war, auf dem Weg zur nächsten Selektionshürde, dem Vordiplom. Die spätere Diplomprüfung war dagegen ein Kinderspiel. Das endlose Pauken sollte zermürben. Wir mussten obendrein so viele spezielle Dinge lernen, die weit über Grundlagen hinausgingen. Die Ableitung der Schrödinger-Gleichung ist meiner Meinung nach nichts, was in den Matheschein eines Grundstudiums gehört. Naja, manchmal wollten die <Hiwis> (Hilfswissenschaftler) auch einfach nur ein bisschen angeben. Im Grundstudium sollte es reichen zu wissen was die Gleichung erklärt. Nicht wenige Kommilitonen brachen das Grundstudium ab. Ich empfand das schon als Schikane. Die Wut darüber machte meinen Durchhaltewillen noch größer. Mein Ehrgeiz war geweckt und ich war bereit zu leiden. Das war wirklich keine Zeit zum Abhängen. Selbst bei den Heimfahrten im Zug und zu Hause bei meinen Eltern habe ich gepaukt. Eine Wohnung wollte ich mir so lange nicht leisten, wie der Erfolg ungewiss war. Außerdem waren die täglichen Zugfahrten günstiger als eine Warmmiete.
Im Hauptstudium änderte sich alles. Deswegen hatte ich auch Zeit mein Interesse für andere Fachrichtungen zu entdecken. Die Lektüre des Vorlesungsverzeichnisses war ansteckend. Innerlich entschied ich mich immer mehr zu einem Studium Generale. Es gab nichts, was uninteressant war. So entschied ich mich auch für so unterschiedliche Vorlesungen wie katholische Dogmatik und Finanzwirtschaft. Immer wieder besuchte ich philosophische Veranstaltungen.
Das tolle an der Philosophie ist, dass sie grundlegende Sinn- und Lebensfragen stellt. Hier lernte ich ein Stück weit das Leben zu verstehen. Ich lernte das Leben besser und tiefer zu verstehen, weil sich Antworten und neue Fragen auftaten. Aber auch das Bekannte, mir Selbstverständliche fand hier seinen Widerhall und Bestätigung.
Es ist unmöglich all das aufzuzählen was an philosophischen Inhalten Einzug in mein Leben hielt. Erwähnen will ich hier nur Immanuel Kant, dessen Bücher ich zuvor immer wieder schnell beiseite gelegt hatte. Er blieb mir lange unverständlich. Seine ellenlangen, verschachtelten Sätze und seine gespreizte Ausdrucksweise waren zu abschreckend. Erst mit dem richtigen Dozenten konnte ich behaupten: ‚Ja ich fange an Kant zu verstehen‘. Seine Definition der Pflicht wurde mir zur Maxime meines Handelns.
Anstoß waren Freunde, die sich gesellschaftlich engagierten meist im ASTA oder der Friedensbewegung und ihr Engagement als selbstlos beschrieben. Das war mir manches Mal suspekt, denn wenn ich aus Überzeugung handle, dann erfahre ich dadurch auch innere Befriedigung. Deswegen ist unter Umständen auch die Tat eines Märtyrers nicht selbstlos. Erst wenn Angst vor Konsequenzen mich nicht stoppen kann das Richtige zu tun, handle ich selbstlos. Pflichterfüllung ist nach Kant das Handeln aus einer moralischen Erkenntnis heraus unabhängig von den Folgen.
Gegen Atomkraft zu demonstrieren oder sich mit <Occupy Wallstreet> zu solidarisieren, hat mehr Wert als jedes Stammtischgerede. Es auch zu tun, weil es gerade anerkannt und In ist oder um die Freundin zu beeindrucken, ist legitim. Wichtig ist aber auch dann dem eigenen Gewissen zu folgen und im Willen um Wahrheit und Gerechtigkeit die Stimme zu erheben, wenn es nicht opportun ist z.B. trotz einer schweigenden Mehrheit. Diesem Pflichtgedanken wollte ich folgen. Kant zu verstehen mit Alkohol, unmöglich! Alkohol nach Kant? Nein, mit Kant im Kopf schläft man ein!
Ausgehen und trinken gewöhnte ich mir auch im Hauptstudium nicht an. Ich war einfach viel zu gerne viel zu viel mit Leidenschaft anderweitig beschäftigt. Ich studierte praktisch zwei Studiengänge und im Hochschulsport trat ich der Wettkampfmanschaft im Schwimmen bei.
Wenn ich wirklich etwas Zeit hatte, hing ich an meinem DX-7. Das war ein kultiger Synthesizer, mit dem man sehr traditionell aber auch effektvoll spielen konnte. Durch die Anschlagsdynamik waren neben klassischen Synthi-Effekten auch tolle E-Piano Emulationen möglich. Das Alleinsein mit meinem Keyboard gehörte zu den schönsten Stunden während des Studiums und ich konnte dieses Erlebnis jeden Tag genießen. Mein kleines 12 qm großes Wohnheimzimmer verlor sich in den Fluren und Etagen des riesigen Gebäudes. Hier hatte ich mich selbst. Hier zelebrierte ich mich selbst. Entspannt konnte ich mich genießen, weil mich niemand vermisste. Hier ließ ich meine Gedanken fahren und fand für jede Stimmung eine Tonart.
Meine Leistung brauchte Anstrengung. Ich hatte nicht das Talent, mich in den Harmonien so zu verlieren, dass ich mich wundern könnte, wohin mich die Musik trägt. Ich verliere den harmonischen Rahmen, wenn ich mich nur gehen lasse. Ohne meinen kontrollierenden Verstand, in dem Tonarten und Modulationstechniken gespeichert sind, werde ich schlecht. Das schließt Alkoholdoping zwangsläufig aus. Hier liegt der wesentliche Unterschied zwischen Jimi Hendrix und mir. Nur die intuitive Basis eines großen Talents kann den Einfluss von Drogen auf die Musik kompensieren und eventuell fördern, wobei ich selbst für Profis keine Vorteile für den Einsatz von Alkohol sehe, wegen seines vornehmlich sedierenden Effekts. Alkohol ist sicher keine kreative Droge.
Das Schwimmen war mir beim Uni-Sport besonders reizvoll wegen einer spanischen Doktorandin, die vor Jahren in einem spanischen Nationalkader schwamm. Das war schon eine tolle Herausforderung mit der immer noch schnellen Frau mitzuhalten. Ich hätte nicht gedacht, dass ich Jahre nach meinen Teilnahmen an deutschen Meisterschaften nochmals so ehrgeizig trainieren würde.
Als ich meine heutige Frau kennenlernte, ging mein geringer Bierkonsum bald auf Null. Sie trank überhaupt keinen Alkohol, denn ihrer Leber fehlt ein Enzym zum Abbau von Alkohol. Auf einer Geburtstagsparty hatte sie das festgestellt. Da wurde eine Altbierbowle mit Erdbeeren kredenzt, die sie lecker fand. Zum Austrinken ihres Glases kam sie nicht. Irgendwann drückte sie mir das halbvolle Glas in die Hand, umklammerte mich und rutschte an mir runter zu Boden. Sie war kollabiert. Nachdem wir sie ordentlich hingelegt und die Beine höher gelagert hatten, kam sie schnell wieder zu Bewusstsein. Jetzt wusste sie, dass sie genetisch zur Linie ihres Vaters gehörte, dem das auch schon passiert war und der deshalb abstinent lebte. In seiner Familie hatten mehrere Personen diese in Asien häufige ethnische Variante mit der fehlenden Aldehyd-Dehydrogenase. Da sie fortan wusste, dass sie auch geringe Mengen Alkohol nicht vertrug und ich mir aus Alkohol nichts machte, ich hatte da schon geschmacklich Bedenken, begann eine alkoholfreie Zeit.
Das blieb auch ungefähr so nach meiner Promotion. Mein Jahresverbrauch an Bier lag bei etwa einer halben Kiste. Andere Alkoholika trank ich gar nicht. In meinem Institut in dem ich als Postdoc arbeitete, gab es ein Labor, in dem vorwiegend Pharmazeuten forschten. Mit ihnen nutzte ich einige Geräte gemeinsam. Einige von ihnen verkürzten nächtliche Versuche mit Zubereitungen von alkoholischen Zaubertränken, die sie aus medizinischem Alkohol mischten. Wenn ich den Gaschromatographen in ihrem Labor benutzte, erlebte ich das öfter. In Versuchung mitzutrinken kam ich nie. Ich mochte einfach den Rahmen nicht. In Gesellschaft fühle ich mich immer etwas unsicher. Alkohol hätte dieses Gefühl verstärkt. Meist verschwand ich schnell, wenn meine Arbeit erledigt war und die Gespräche immer banaler wurden. Außerdem störte mich der Gedanke nachts noch zehn Kilometer mit dem Rad nach Hause fahren zu müssen. Das wäre mir unter Alkohol eine unakzeptable Qual gewesen. Da hätte man besser danach zu Hause trinken können, aber da wartete meine Freundin, und das war immer noch die mit dem fehlenden Leberenzym.
Die Jobsuche für eine Festanstellung war langwierig. Die Bewerbungszeit für eine Festanstellung nutzte ich für einige <Temp Jobs>, die ich über eine Londoner Arbeitsagentur erhielt; das waren zeitlich sehr befristete Vollzeitjob. Ein solcher Job war auch eine Montagetätigkeit in Algerien. Die Fermentationsanlage für Hefen entstand in einem Industriepark. Dort war es sommerlich heiß. Obwohl die Baracken der Monteure nochmals abgedeckt waren durch eine darüber gespannte Plane, herrschte drinnen eine brüllende Hitze. Technisch lief viel schief, trotzdem brach die Stromversorgung durch einen Generator nie zusammen. So konnten die Ventilatoren und einige Klimaanlagen 24 Stunden am Tag laufen. Für fünf Tage ruhte die Arbeit wegen logistischer Probleme. Das waren endlose Tage in dieser Öde. Die meisten Arbeiter schlugen die Zeit tot mit Kartenspielen und Weintrinken. Es gab reichlich algerischen Rotwein. Ich hatte das nicht erwartet in einem muslimischen Land. Ich schlief die meiste Zeit und trank auch von dem algerischen Tropfen. Zum Mittag, wenn andere ihre zweite oder dritte Flasche öffneten, trank ich meine erste Flasche und machte Siesta bis zum Abendessen. Zum Abendessen genehmigte ich mir eine zweite Flasche. So konnte ich bequem weiterschlafen. Auf diese Weise konnte ich mit Schlaf die endlos gewordene Zeit vertun und musste nicht mit den anderen Monteuren abhängen, mit denen ich so schwer ein gemeinsames Gesprächsthema fand. Morgens lag ich dann bis zum Mittag im Bett und las <The Sun> und andere britische Yellow Press von der vergangenen Woche.
Nach dem Wüstenjob deponierte ich meine übersichtlichen Habseligkeiten bei meiner Freundin und setzte mich mit meinem Montagelohn für ein halbes Jahr nach Südamerika ab. Ich reiste bis runter nach Patagonien um Gletscher zu sehen, die direkt ins Meer kalben und durchquerte die Atacamawüste. In Vailparaiso übte ich Wellenreiten und gab Englischkurse an einer Universidad Popular (eine Art Volkshochschule). Als ausländischer <Gringo> hielt man mich für besonders geeignet. Hier lernte ich einige Amerikaner kennen, denen ich mich anschloss, um in einer Expedition ins Altiplano den Ojos del Salado zu besteigen. Der Berg ist mit 6880 Metern der höchste Kegelvulkan der Erde. Technisch war die Besteigung keine so große Sache. Die Steigungen sind nicht extrem. Eigentlich war es wie Bergwandern in großer Höhe. Körperliche Fitness war trotzdem sehr wichtig, um die langen, monotonen Märsche in eisiger Kälte zu bewältigen. Auch intensive Akklimatisation in verschiedenen Höhen, schützte mich nicht vor Symptomen der Höhenkrankheit. Der Vulkan ist nun mal mehr als doppelt so hoch, wie die Zugspitze. So wurde das Gipfelglück zum Stress. Ich wollte schnell wieder runter. Durchgehalten hatte ich nur wegen der Gruppe. Alleine wäre ich vorher umgekehrt. Ich war doch kein Masochist, der sich soviel Kopfschmerz und Übelkeit freiwillig antat. Natürlich verschwendete ich bei so großartigen Erlebnissen keinen Gedanken für Alkohol.
In meiner ersten Firma, in der ich danach neun Jahre arbeitete, war der Umgang mit Alkohol immer sehr offiziell. Ein oder zwei Biere, die ein Chef mit seinen Mitarbeitern z.B. auf Tagungen trank, galten als vertrauensbildende Maßnahme. Größere Mengen waren verpönt und bei Anlässen mit Geschäftskunden unerwünscht. Ich achtete sehr darauf, allein um schon bei meinen Chefs nicht leichtfertig Minuspunkte zu sammeln, schließlich konkurrierte ich mit den Kollegen um Projekte. Mehr als die Kollegen achtete ich bei meiner Arbeit auf Contenance. Ich war unsicher und ohne besondere Empathie im Umgang mit Menschen im Allgemeinen und mit Geschäftskunden im Besonderen. Öffentliche Auftritte waren mir harte Arbeit. Ich litt an meinen Mangel an sozialer Kompetenz. Deswegen wollte ich ja diesen Job in Vertrieb und Marketing. Mit dem täglichen Training durch diese Herausforderung, hoffte ich allmählich meinen Mangel zu eliminieren. Außerdem wollte ich mir ein neues Berufsfeld erschließen. Ich kam aus der Grundlagenforschung und wollte raus aus der Ecke des Spezialisten, der sich nur auf sein technisches- und chemisches Fachwissen verstand. Ich wollte nicht so sein, wie mein alter Mathelehrer, der als Fachidiot belächelt wurde. Er war absolut fit, bekam es aber überhaupt nicht gebacken, sein Wissen an die Schüler zu vermitteln. Ich wollte, dass Menschen erkannten, dass mein Know-How ihnen nützen konnte. So wurde mir der Kundennutzen an den Produkten meiner Firma zur Lebensaufgabe. Ich war dankbar, dass man mir diese Aufgabe gab. Ich fand es klasse, dass mein Chef neben meinen Fähigkeiten und Mängeln auch den Ehrgeiz sah, um das zu kämpfen, was mir in dem Job noch fehlte. Er war der Überzeugung, dass Mängel ein guter Grund sind für Fortschritt. Ich pflichtete ihm bei und wies daraufhin, dass das mit dem nötigen Ehrgeiz durchaus zu schaffen sei. Von meinem Erfolg war ich überzeugt solange ich mutig und gründlich plante. Größere Ziele brauchten nur mehr Durchhaltewillen und mehr Teilziele auf dem Weg zum Gipfelglück. Letztlich konnte ich mir mit dieser repräsentativen Aufgabe beweisen, dass auch nur rudimentär ausgebildete emotionale Eigenschaften trainierbar und entwicklungsfähig sind. Es brauchte nur meine Entschlossenheit und totale Aufmerksamkeit im Praxistest. Nebenbei zu trinken wäre mir unmöglich gewesen. Das wäre eine unzulässige Ablenkung, die alles kaputtgemacht hätte. Davor hatte ich Angst. Ich brauchte Kontrolle. Die macht mich sicherer. Selbst ein Geschäftsessen in einem Sterne-Restaurant konnte ich nicht wirklich genießen. Alle Aufmerksamkeit war beim Kunden. Ich strengte mich gerne so an, weil die Belohnung stimmte. Ich sah, wie ich an solchen Herausforderungen persönlich wuchs. Jeder Geschäftsabschluss war wie eine Goldmedaille für mich. Auch dann gab es keinen Alkohol. Erfolge musste ich pur genießen. Nur dann konnte ich einen Erfolg in seiner Größe und seinen Details schätzen. Nur dann wurde ich jedem vergossenen Molekül Adrenalin gerecht. Außerdem, was bedeuteten schon Erfolge. Erfolge sind Etappenziele. Hinter dem Horizont geht es weiter. Weder Abitur, Diplom noch Promotion hatte ich gefeiert. Das waren erfreuliche aber auch notwendige Erfolge. Sie waren das logische Ergebnis einer konsequenten, zielgerichteten Handlungsweise.
Bei Geschäftsessen konnte ich sehr gut zuhören, wenn über Wein gefachsimpelt wurde, um dann pflichtgemäß zu kosten. Danach aber trank ich mein Mineralwasser. Ich bin Purist beim Genießen von gutem Essen. Ich empfinde keine geschmackliche Verbesserung, wenn ich Wein zu einem Menü trinke. Ich habe eher den Eindruck Wein verfälscht, weil er eine nicht neutrale Note mit in das Geschmackserlebnis einbringt. Der Wein schafft eine Tendenz. Er betont viel zu sehr. Das richtige Mineralwasser hingegen, hebt den Eigengeschmack eines Menüs besser hervor durch Zurückhaltung. Mein wichtigstes Kriterium für die Getränkewahl ist der Kohlensäuregehalt der bereitgestellten Mineralwassersorten.
Meine Mineralwassertheorie war übrigens bei Tisch immer ein beachtetes Thema. Später bekam ich hierfür zusätzliche Rückendeckung, nachdem ich auch in einem Gourmetmagazin ein noch viel differenzierteres Mineralwasser-Credo las.
Als meine Frau schwanger wurde und es war ja geplant, betrachtete ich die Begleitumstände der Schwangerschaft als Gott gegeben und stellte mich darauf ein. Ich stellte alle Aktivitäten außer Haus ein. Das betraf vor allem den Sport. Die neue Häuslichkeit war mir schon sehr passiv und spießig. Ich ertrug es, indem ich dem Vorbild einiger Kollegen folgte und die Gemütlichkeit beim Wein vor dem Fernseher suchte. Denn eins war mir klar. Sobald die Schwangerschaft, oder besser gesagt, die begleitenden Empfindlichkeiten meiner Frau vorbei wären, würde ich wieder frei sein mein Leben wie bisher zu führen. Bis dahin würde ich weiter Spannungen mit meiner Frau meiden und ihr alles recht machen. Vorwürfe gegen ihren vorübergehenden, emotionalen Wandel mochte ich nicht äußern, denn sie war es, die eine enorme hormonelle Umstellung ertrug, um ein Kind auf die Welt zu bringen. Einem solchen Engagement verdanke ich auch mein Leben. Im Grunde genommen war ich ja froh, dass nicht Männer der Tortur einer Schwangerschaft ausgesetzt sind. Ich verhielt mich also weiter ruhig und so zuvorkommend wie möglich. Langsam fand ich Gefallen am Fernsehen mit einer Flasche Wein. Ich vergaß meinen Sport vorübergehend und trat in eine neue Welt ein. Der Wein machte mich auch immun gegen jede Laune meiner Frau. Ich schluckte jeden Angriff ohne das Bedürfnis zurückzugiften. So konnte ich mein Schicksal ertragen und gleichzeitig charmant sein.
Trotzdem musste ich für den Einstieg ins abendliche Trinken eine Hürde nehmen. Trinken passte nicht so recht zu meiner euphorischen Grundstimmung mit der ich durch einen Tag ging und meine Herausforderungen suchte. Statt Energie raus zulassen, ging es jetzt darum Energie zu zügeln. Ein Bedürfnis zum Trinken fehlte zur Unterstützung. Dem Bauchgefühl war das Vorhaben zu neu und ungewohnt. Die Entscheidung brauchte Überwindung. Die Situation ähnelte grundsätzlich dem Fallschirmspringen. Da blockierte mich ja auch eine innere Stimme, die im Adrenalinschub sehr dominant wurde, daran, aus dem Flugzeug zu springen. Kurz vor der Tat sind in beiden Fällen die Bedenken am größten. Der Kopf gibt das <Okay>, weil der sich durchringt festzustellen, dass ja nichts passieren kann, weil die Sicherheit gecheckt ist. Die Entscheidung wird durch das Veto der Ratio gegenüber der diffusen Emotion gefällt.
Schon sehr bald ging meine Frau auch sehr früh zu Bett. Das unterstützte ich natürlich, wo sie doch in anderen Umständen war und öffnete in ihrer Abwesenheit eine zweite Flasche. Eine 0,7 l Flasche war eh zu wenig für einen ganzen Abend. Die zweite Flasche Wein hatte zudem den großen Vorteil, dass ich schnell müde wurde. Die Müdigkeit erlöste mich vom Fernsehen, so dass auch ich recht früh zu Bett ging und einen tiefen traumlosen Schlaf hatte. Morgens war ich ausgeschlafen. Wahrscheinlich hatte ich auch den Kater verschlafen. Spuren von dem vorhergegangenen Fernsehabend spürte ich jedenfalls nicht.
Als meiner Frau die vielen leeren Flaschen auffielen und sie zur Mäßigung mahnte, ersetzte ich ganz pragmatisch die zweite Flasche Wein abends durch einen Flachmann (0,2 l) mit Doppelkorn. Das war in reinen Alkohol umgerechnet sogar eine geringere Menge. Die Wirkung war trotzdem vergleichbar, weil man den Flachmann schneller trinkt. So flutet der Alkohol in einer größeren Welle an. Den Flachmann kaufte ich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause an einer Tankstelle und deponierte ihn im Kofferraum zwischen den Firmenutensilien für Geschäftsverhandlungen. So wurde die Entscheidung nach der Flasche Wein weiterzutrinken eine aktive Entscheidung, die erforderte, dass ich abends nochmals rausging in die Garage. Das gefiel mir, weil so der Automatismus gebrochen war, aus dem Fernsehsessel heraus ohne nachzudenken nach der zweiten Flasche zu greifen. Ich neige nun mal zum Zweifeln. Meine Skepsis ist immer präsent. Sie ist immer in Alarmbereitschaft, weil ich meinen intuitiven Wahrnehmungen nicht traue. Das Rausgehen brach mit einer Gemütlichkeit, die mein Bewusstsein auf erhöhte Alarmbereitschaft stellen sollte. Ich musste dafür vorübergehend die Gemütlichkeit des Sessels aufgeben.
Mir gefiel diese Regelung. Regeln bedeuten Kontrolle und Kontrolle schafft Sicherheit. Ich hatte viele Regeln. Beim Einkaufen beispielsweise, hatte ich immer nur wenig Bargeld und nie Kartengeld dabei. So musste jeder Kaufwunsch überschlafen werden. Die Regel schützte mich zuverlässig vor unüberlegten Ausgaben. Viele solcher Erfahrungen hatten mich überzeugt, dass Regeln das Leben einfacher machen.
Als unsere Gynäkologin bei den Geburtsterminberechnungen immer kürzere Abstände nannte, wurde es Zeit für mich zu reagieren. Drei Wochen vor der berechneten Entbindung, entschied ich mich, auf den Flachmann zu verzichten. Zwei Wochen vor dem Geburtstermin trank ich gar nicht mehr. Das Rumsitzen im Wohnzimmer hielt ich kaum aus. Tatsächlich erdreistete ich mich zum Joggen rauszugehen und traf nicht auf den erwarteten Widerstand meiner Frau. Ich bekam sogar verständnisvolle Worte zu hören. Meine Frau fragte gar, ob ich unter ihrem Zustand leide. Ich habe das natürlich kategorisch verneint und bin so exzessiv joggen gegangen wie nie zuvor.
Zwei Tage nach der Geburt kam meine Schwiegermutter eingeflogen. Sie sollte für genau fünf Wochen bleiben. Mein Verhältnis zu ihr war belastet. Den Umgang mit ihr fand ich anstrengend. Wie viele Schwiegermütter war sie der Meinung, ihre Tochter hätte eine bessere Partie finden können. Sie hatte das doch richtig vorgemacht. Musste es als Ehepartner unbedingt eine Langnase (ein in Asien verbreiteter Begriff für weiße Ausländer) sein? Wenigstens in Zukunft sollte ihre Tochter und jetzt natürlich auch ich, denn ich gehörte nun mal zum Clan, besser auf sie hören. Ihr Missfallen ließ sie gerne jeden spüren.
Mit Schwiegerpapa wäre das noch eine andere Sache gewesen. Der war sehr jovial und hatte seine Tochter in ihrer Entscheidung mich zu heiraten unterstützt. Seine Stimme hatte zu Lebzeiten ein Gewicht, das jetzt fehlte. Mit der Ankunft von Schwiegermama war also meinerseits ein besonderer Verhaltenskodex gefordert. Immer höflich und zuvorkommend sollte ich bleiben.
„Das fällt euch im Westen besonders schwer“, meinte meine Frau: „Und immer Hilfe anbieten, auch wenn es unnötig erscheint.“
Ich sagte zu, kompromisslos jede Unterwürfigkeit zu zeigen und ihren Anordnungen nicht zu widersprechen. Letzteres war wichtig, denn sie sah sich nicht nur als Gast, sondern in erster Linie als Clanoberhaupt. Wenn ich Widerstand in mir zu brodeln spürte, so riet mir meine Frau vertrauensvoll, dann solle ich nur daran denken, dass das alles nur dem Wohle des Kindes diene. Konnte ich da widersprechen?
Ich tat also wie befohlen und verordnete mir am Ankunftstag von Schwiegermama eine Verlängerung meiner Trinkgewohnheit um etwa einen Monat. Stichtag war der Abflugtermin von Schwiegermama. Der Auslöser für diese Entscheidung war, dass ich das Ehebett für meine Schwiegermama räumen sollte. So konnten die Frauen sich besser um das Kind kümmern, wozu Väter nach Ansicht von Schwiegermama nicht taugten. Sowieso gab sie zu verstehen, dass meine Anwesenheit unnötig sei. Meine Abwesenheit gab ihr das gute Gefühl, dass ich meiner Arbeit nachging, und dazu seien Väter schließlich da. Ich trank jetzt keinen Wein mehr, sondern nur noch zwei Flachmänner. Das war diskreter. Ich parkte zudem das Auto nach Feierabend lautlos in der Garagenauffahrt, indem ich es mit Schwung im Leerlauf bei ausgeschaltetem Motor hochrollen ließ. Die Auffahrt war von keinem Fenster einsehbar. Das Küchenfenster zur Straße war mit einer automatischen Jalousie ausgestattet, die bereits runtergefahren war, wenn ich abends kam. Außerdem konnte ich von der anderen Seite kommen, dann passierte ich das Küchenfenster nicht. Das jemand rauskam war unwahrscheinlich. Den Hausmüll brachte nur ich zur Mülltonne. Sollte trotzdem jemand kommen, so war es einfach zu behaupten, dass ich erst gerade angekommen sei. So blieb meine Ankunft unbemerkt und ich konnte am Laptop noch eine Stunde weiterarbeiten, während ich den ersten Flachmann trank. In Asien galt es ja auch als ein gutes Zeichen, wenn die Männer spät von der Arbeit kamen. Interessanterweise hatte der Alkoholeinfluss eine positive Wirkung auf meine administrativen Arbeiten, die ich sonst gerne vor mir herschob. Besonders Gesprächsprotokolle und Reisekostenabrechnungen waren mir sonst ein Graus. Ich hatte also kein Problem nochmal eine Stunde im Auto zu verbringen, um einfache Arbeiten zu erledigen. So schien es auch gut zu sein, denn ich hatte den Eindruck, ich wurde gar nicht vermisst. Mein Sohn war der Alleinunterhalter. Den Erwachsenen blieb die Rolle der Statisten. Noch immer ging man früh zu Bett, was für mich der Anlass zum Gang zum Kofferraum wurde, wo ein zweiter Flachmann lag. Manchmal genehmigte ich mir bei der Gelegenheit auch noch einen weiteren Flachmann. Den durfte ich aber nur zur Hälfte trinken. So konnte ich mir beweisen, das kein Zwang vorlag zum weitertrinken. So war weiterhin alles im grünen Bereich. Und das Ende war eh so nah. Ist die Schwiegermutter erst mal weg, würde sich alles ganz schnell normalisieren. Ich vermisste meine gute alte Zeit schon sehr. Diesmal würde es noch besser kommen. Dann würden wir endlich Familie sein.