Читать книгу Das Haus des Vaters - Helle Stangerup - Страница 4
Zweites Kapitel
ОглавлениеPt stand einen Meter von der Tür zur Halle entfernt und wurde mit Fragen und Rufen bombardiert. Sie war einen Schritt zurückgewichen. Nicht mehr.
Ein unsichtbares Bollwerk umgab ihren knochigen Körper, ein Schutzwall der Ruhe, und die Rufe schienen nicht zu ihr durchzudringen. Das Haar untadelig und die Hände locker nach unten hängend, vermittelte sie den Eindruck, gegen alles und jedes gewappnet zu sein. Den Willen auszuhalten. Die Fähigkeit zu überleben. Irgendwo hinter ihr, als Schatten, jedoch mit ihrer frühesten Kindheit verknüpft, jagte das siegreiche Rote Heer über winterkahle Äcker. Da mußten schon mehr kommen als Ulrik, Lisa, Alex, Tatjana und Camilla.
»So antworte doch, verdammt noch mal«, rief Ulrik.
Sie schaute durch alle hindurch, woandershin.
»Worum geht es bei dieser Testamentsänderung?« wollte Alex wissen.
Ihre Lippen bewegten sich. Es sah aus, als formten sie Worte, doch als fehlte Pt die Überzeugung, daß es die Mühe lohnte.
»Ich will ...«
»Was?« riefen alle und traten näher.
Pt bewegte einen Fuß, aber Alex sagte blitzschnell: »Du bleibst hier.«
»Ich will ...«
»Was?« brüllte Ulrik.
»Ihn zudecken«, erwiderte sie leise.
Sie schauten sie an, schauten einander an und schauten zum Bett mit der halbnackten Leiche. Die Augen starrten in die Luft, in dem offenen Mund waren gelbliche Zähne sichtbar. »Natürlich«, sagte Alex etwas unsicher.
Pt ging zwischen ihnen hindurch. Ihre Handlungen waren immer von untadeliger Korrektheit gewesen, nie hatte man diese Vollkommenheit auf die Hälfte oder ein Viertel reduziert erlebt.
Sie war von dieser besonderen Würde umgeben, die Menschen ausstrahlen, die ihre Funktion genau kennen. Sie griff nach der Bettdecke, schüttelte sie leicht und deckte Stiefvater zu, als lebte er noch.
Dann ein selbstverständliches Darüberstreichen. Die Hand, die die Decke glättete, schob für einen Augenblick die Wirklichkeit von Messer und Blut beiseite, und das Plumeau zog Nannas Blick auf sich, als enthalte es die eine oder andere Botschaft. Dann die wenigen Schritte ins Bad, zurück mit einem Handtuch, mit dem sie das Gesicht des Toten bedeckte. »Das kann sie perfekt«, sagte Ulrik leise. »Offenbar im Training. Wie viele sie wohl schon ins Jenseits befördert hat?«
Er lachte kurz. Aber niemand lachte mit, und er strich wieder seine Weste glatt.
Pt richtete sich auf und blieb bei dem Toten stehen. Eine Hand ruhte auf dem Bett, und das Haar glich für einen Moment dem Heiligenschein auf den Madonnenbildern.
Tatjana brach das Schweigen.
»Schluß jetzt. Ruft endlich die Polizei.«
Sie redete, als handle es sich um ein gestohlenes Fahrrad.
Nanna setzte sich müde auf einen Stuhl. Sie befand sich wie immer woanders als die anderen, wie durch eine Membran getrennt. Noch ein Gemälde, hoch oben über der Tür. Austern, Zitronen, Trauben und Wein in einem alten Glas, das Licht schräg von der Seite halbkreisförmig auf dem Rand des Glases.
Kleine Geschmacklosigkeiten gestalten eine Wohnung, aber zuviel des Schönen schlug im Haus Hvidager auf merkwürdige Weise in Häßlichkeit um. Nanna betrachtete das Bild. Eigentlich mochte sie die Natura-morta-Bilder.
»Weiß jemand die Nummer der Polizei?« fragte Ulrik.
Tatjana betete sie her.
Ulrik griff mit der einen Hand nach dem Telefon auf dem Nachttisch und mit der anderen Hand nach einem dünnen Büchlein, das daneben lag. Das Büchlein war in braunes Packpapier eingeschlagen, wie ein Schulbuch früherer Tage, und darauf klebte ein Etikett mit der Handschrift von Stiefvater.
»Was ist das?«
Ulrik legte abwesend den Hörer zur Seite und begann, in dem Buch zu blättern.
»Ich hatte keine Ahnung, daß Vater gelesen hat. Was soll denn das sein ...«
Er klappte das Buch zu und las das Etikett:
»›Buch der Laster‹ ...«
»Ruf endlich die Polizei an«, sagte Tatjana und gähnte.
»Warum hat er so etwas gelesen?«
Ulrik klang empört, so als wittere er einen Verrat. Er schlug das Büchlein auf: »Theophrast: Charaktere. Wozu brauchte er denn das?«
Hinter ihm stand Alex, den Blick nachdenklich auf die Bettdecke gerichtet.
»Was hat das zu bedeuten?«
Ulrik war den Tränen nahe, als er mit dem Daumen das Inhaltsverzeichnis aufschlug.
»... Über den Geiz ... Über die Feigheit ... Über die Liebedienerei ... Über den Hochmut ... und die Trägheit und die Prahlerei und das widerliche Wesen ... und über die Eitelkeit ... und über ...«
»Hör auf«, sagte Lisa, riß ihm das Buch aus der Hand und stellte apodiktisch fest: »Er ist tot. Basta. Ich rufe jetzt an.« Sie nahm den Hörer und wählte.
»Nein!« Alex drückte mit zwei Fingern die Gabel herunter.
»Nein, warte einen Augenblick.«
»Es geht um einen Mord. Wir müssen die Polizei verständigen«, rief Ulrik.
Ulrik war plötzlich ein anderer, wie auf allen Quartalsabenden, wenn Alex das Wort ergriff. Wie jedesmal, wenn Alex zur Tat schritt, angeblich schon, seit Alex so klein war, daß er lediglich existierte. Manchmal fand es Nanna erstaunlich, daß Alex die Wiege überlebt hatte.
Alex wiederholte sanft: »Einen Augenblick. Wir wollen uns hinsetzen. In aller Ruhe. Der Chef wurde ermordet. Was geschieht nun mit dem Kredit?«
»Vater ist ermordet worden. Das willst du doch vor der Polizei verheimlichen.«
Mit den Fingerspitzen fuhr Ulrik an dem unteren Rand der Weste entlang, als befände sich da, direkt am Saum, ein fernes Ziel.
»Was ist mit den Krediten?« sagte Alex. »Und wir verhandeln über den Kredit.«
Er blickte in die Runde.
»Vitale Anleihen.«
Keiner antwortete, und er fuhr fort, »Vater war gerade dabei, die Anleihen bei den Banken unterzubringen.«
Er machte eine kleine Pause und trat zwei Schritt vor, die Füße nach außen gestellt und die Stimme gedämpft. »Es gibt nichts, was so kleinlich, zickig und zum Kotzen moralisch ist wie die Banken. Sie überholen das Kirchenministerium mit Siebenmeilenstiefeln. Die Innere Mission auf dem Zielfoto. Ein Mord? Zur Not. Jede Familie kann schließlich mal Pech haben. Aber ein möglicher Mörder als Verhandlungspartner?«
»Das mit der Brauerei war schließlich deine schwachsinnige Idee.« Ulrik bekam einen hochroten Kopf.
»Die Lebensversicherungen haben wir immerhin«, erwiderte Alex beruhigend.
»Dies hier ist aber ein Mord. Der muß aufgeklärt werden«, protestierte Ulrik schon etwas leiser.
»Bist du sicher?« fragte Alex.
»Pt hat ihn erstochen, wegen des Testaments. Vater hatte genug von ihr.«
Tatjana streckte einen Finger in die Luft.
»Das mit Green, der kommen sollte, habe ja ich gewußt«, sagte sie. »Ich glaube nicht, daß Pt eine Ahnung hatte. Ich habe nur zufällig diesen Zettel auf dem Nachttisch gesehen, bevor ihn Vater verschwinden ließ. Mir kann es egal sein. Ich werde sowieso auf der Strecke bleiben. Pflichtteilanspruch, soweit reicht mein Jura, wie es mit den Unfähigen nun mal passiert.«
»Wir würden dich nie übervorteilen«, sagte Lisa entrüstet. Die Betonung lag auf dem »Nie«.
»Wer hat, dem wird gegeben ... und umgekehrt.« Tatjana zuckte mit den Schultern.
»Was steht denn im Testament? Im bestehenden? Und was hätte in dem neuen gestanden?« fragte Alex.
Ulriks Stimme klang hilflos. »Wie sollen wir das vertuschen? Das läßt sich nicht machen. Das ... allerdings, dieser Kredit ...«
Er stockte. Nanna schaute auf die Bettdecke, unter der das Drama der Nacht verborgen lag. Pts glättende Handbewegungen hinterließen gewissermaßen keine Spur, als sei die Nacht wie Staub unter den Teppich gekehrt.
Für die Aufklärung von Morden gab es drei Kategorien, erinnerte sich Nanna aus ihrer Studienzeit. Ein Repetitor hatte sie damals aufgezählt. Morde, die aufgeklärt wurden. Morde, die nicht aufgeklärt wurden. Morde, die nicht als Mord klassifiziert wurden, weil es auch Selbstmord, Unfall oder natürlicher Tod sein konnte. Diese Kategorie sei nicht zu beziffern. Nanna hatte nie recht geglaubt, daß die dritte Kategorie wirklich existierte.
»Aber es ist und bleibt Mord!« sagte Ulrik ratlos.
Nanna beugte sich über die Kommode und betrachtete Pts Porzellan mit kleinen gemalten Blumensträußen und vergoldeten Rändern. Die Silberlöffel waren sternförmig hingelegt. Nanna zählte acht Löffel. In einem Perlmuttrahmen befand sich die Fotografie eines Mädchens in Weiß mit langem Haar. Das Bild schien zu Beginn des Jahrhunderts gemacht worden zu sein. Es war von fünf Bernsteinherzen umkränzt. Und eines in der Mitte. Ein zierliches Arrangement, das Pt offenbar viel bedeutete. Im alten Ostpreußen wurde an der Küste einer der größten Bernsteinfunde gemacht, und was da auf der glatten Fläche der Kommode stand, war Pts Heimat. Vielleicht barg das Innere der Kommode noch mehr.
»Es ist kurz vor neun Uhr«, sagte Tatjana aufgeregt. »Um zehn kommt Rechtsanwalt Green. Was machen wir dann?« »Ich habe an das mit dem Kredit nicht gedacht«, sagte Ulrik erneut. »Aber ...«
»Das mit dem Totenschein organisiere ich«, sagte Alex. »Ich rufe Dr. Hvidt an. Sollte es Schwierigkeiten geben, ist es Schluß mit den Einladungen.«
»Er wird ohnehin Anzeige erstatten«, sagte Lisa verzagt.
Camilla kreischte: »Und die Schlagzeilen beim letzten Mal, als Claus starb. Widerlich, was die alles geschrieben haben.« »Kleinkram gegen das, was hier fällig ist. Jetzt werden wir richtig berühmt«, sagte Tatjana gleichmütig.
»O mein Gott«, hörte man Lisa. »Man kann doch eine Namensnennung verbieten?«
Alex ergriff wieder das Wort.
»Dr. Hvidt zeigt gar nichts an. Dafür hat er seine Gründe. Die mir bekannt sind. Es ist jetzt drei Minuten vor neun. Wir haben noch eine Stunde und drei Minuten, bis Rechtsanwalt Green eintrifft. Dr. Hvidt? Oder Polizei? Entscheidet euch! Ein Vermögen steht auf dem Spiel. Aber es muß gleich sein.«
»Du könntest im Fernsehen auftreten«, meinte Tatjana.
»Für wen entscheidest du dich?«
»Dr. Hvidt.«
»Und du, Ulrik?«
»Recht beeindruckend, wie vorbereitet ihr seid. Wenn ihr beiden im Rudel jagt, dann ...« Ulrik holte tief Luft. »Ihr seid immer so eine ... Brut gewesen.«
»Entscheide dich«, erwiderte Alex, unbeeindruckt von einer Unverschämtheit, die er allzuoft gehört hatte.
»Der Doktor«, sagte Ulrik, und Lisa und Camilla nickten still. Pt stand immer noch in der Tür. Ihr Alter wurde plötzlich an ihren Händen sichtbar, die wie Fallobst aussahen.
»Pt?« fragte Alex kalt.
Sie antwortete nicht.
»Pt?« wiederholte Alex. Es war etwas Vielsagendes, fast Warnendes in seinen Augen.
Keine Antwort, aber ein kurzer Dialog mit Blicken.
»Pt?« sagte Alex zum drittenmal.
»Dr. Hvidt«, antwortete sie und senkte den Blick.
Alex griff zum Telefon, da sagte Lisa schnell: »Du hast Nanna vergessen.«
»Nanna plaudert nicht. Frag Ulrik. Vater hat sie immer anständig behandelt.«
»Gerade deshalb. Und sie ist nicht erbberechtigt«, erwiderte Lisa scharf.
»Das verstößt aber doch gegen das Gesetz«, sagte Nanna automatisch.
Nach dreißig Jahren im Zimmer nebenan ging sie das Ganze nichts an. Die Dinge waren stets unabhängig von ihr passiert. Sie befand sich auf neutralem Gebiet und wollte nicht hinter alle die Umzäunungen des Familiengeheges gezogen werden. »Vergiß die juristischen Belanglosigkeiten, du hast es ja sowieso nie ...«
Alex verstummte, bevor ihm herausrutschte, daß sie nie das Examen geschafft hatte. Es war belanglos, wenn sie nur nicht so verwirrt gewesen wäre. Alex legte den Arm um sie, und wieder dieses wärmende Gefühl.
»Können wir es nicht so machen, daß du dich total raushältst? Du brauchst nichts zu sagen. Mußt überhaupt nichts tun. Vergiß es einfach, okay?«
Alle standen um sie herum, starrten sie an. Lisa und Camilla. Als Kind hatte sie von ihnen Geschenke bekommen und als Mutter starb ihren Trost, wie von besorgten Tanten. Und Alex. Er war ein bißchen der Bruder gewesen, den sie nie gehabt hatte. Tatjana, die Verliererin, jetzt konnte sie vielleicht ein besseres Leben beginnen. Und Ulrik, der ihr nie etwas angetan oder etwas Böses zu ihr gesagt hatte.
Ihr wurde flau, als trüge sie die Verantwortung für ihre Träume. Außerdem wußte sie nicht, wie ernst das mit dem Kredit war. Sie wußte im Grunde gar nichts. War gar nicht richtig hier und würde alles darum geben, einfach nach Hause zu fahren, sich die Zähne zu putzen und ein Bad zu nehmen. Sie hätten nicht fragen sollen. Aber es war wohl nicht so schlimm, Stiefvater zu einem Lehrbeispiel zu machen; ein Mord, der nicht entdeckt wurde, nun, nachdem ohnehin alles geschehen war.
Alex sagte leise: »Gut so, Nanna.«
Während Alex telefonierte, nahm Nanna eines der Bernsteinherzen auf der Kommode. In Bernstein befand sich gewöhnlich eine Fliege. Oder eine kleine Ameise, die im Harz ertrunken war. Sie hatte das als Kind einmal gesehen. Seltsam, gerade jetzt an so etwas zu denken.
In einer Ecke an der Decke war ein weißer, viereckiger Gegenstand befestigt, so groß wie eine Zündholzschachtel. Diese Dinger waren überall in Hvidager, Detektoren, die jede Nacht eingeschaltet wurden und bei der geringsten Bewegung im Zimmer einen Alarm auslösten. Sie hatte bis jetzt nie daran gedacht, daß damit vielleicht eher Stiefvater vor Eindringlingen geschützt werden sollte als die Einrichtung.
Hinter ihr legte Alex den Hörer auf und verkündete: »Habe mit der Sekretärin gesprochen. Green wird über Autotelefon benachrichtigt.«
Die Mordwaffe. Damit würde die Polizei ihre Fragen beginnen. Nanna konnte das Geschehene nicht einfach vergessen. Ein Skalpell, aber wer hatte Verbindung zu Ärzten? Bei einem Verhör hätte sie erklären müssen, daß zwar ihr Großvater Arzt gewesen und der Bruder ihrer Mutter es noch war, sie diese beiden aber nie gesehen, nie gesprochen, nie gekannt hatte, weil beiden daran gelegen war, sie abzuschaffen. Merkwürdig, daß ihr das gerade jetzt einfiel.
Links von Nanna hatte Ulrik wieder nach dem Büchlein auf Stiefvaters Nachttisch gegriffen. Er blätterte darin.
»Alles paletti«, sagte Tatjana munter. »Green wird abgefangen. Hvidt ist unterwegs. Aber was machen wir mit der Katze?«
»Den Hals umdrehen«, schlug Camilla sofort vor.
»Die Katze?« Ulrik schleuderte das Buch weg. Das Buch der Laster landete auf dem Boden unter Stiefvaters Bett. »Wo ist das verfluchte Raubtier?«
Er schaute sich um und brüllte: »Die Katze???«
»Was ist denn, Ulrik«, sagte Lisa erschrocken.
»Draußen«, sagte Tatjana.
Ulrik warf einen Blick in den Garten. Dann nahm er das Kaviargestell. Packte es mit beiden Händen und spuckte hinein. Und noch einmal. Und noch einmal. Seine Wangen glühten. Dann trat er zur Verandatür und warf die Schale und den Kaviar und das Silbergestellt nach der auf dem frisch gemähten Rasen sitzenden Katze.
Aber das Gestellt bohrte sich schon nach wenigen Metern mit einem Silberbein in die Erde. Die Schalen zerbrachen nicht. Die blaue blieb mit der Unterseite nach oben zwischen Kaviarportionen liegen. Ein Aufblitzen der Morgensonne am Glasrand war das einzige, was gelang. Die Katze blieb sitzen und glotzte.
Ulrik stand da, mit hochrotem Kopf, die Arme hingen kraftlos herunter. Nicht einmal Tatjana lachte. Pt schaute zur Katze, und Nanna meinte Sanftheit in ihren Augen zu erkennen. Lisa begann unverzüglich, mit einem Taschentuch Kaviarkugeln von Ulriks Hemd und Schlips zu entfernen. Aber sie hielt jäh inne.
Man hörte ein Geräusch. Das schwache Summen eines Motors. Ein dunkelblauer Mercedes glitt langsam auf Hvidager zu, als würde er sich anschleichen. An den Eseln vorbei. Die Hunde spitzten die Ohren, ohne zu bellen oder mit dem Schwanz zu wedeln. Die Katze stand zwischen zwei Kaviarhäufchen und starrte. Lisa knüllte das Taschentuch zusammen. Es war viertel nach neun. Rechtsanwalt Green kam trotzdem und zu früh.
Flemming Green war schon einige Jahre als Anwalt für Nannas Stiefvater tätig gewesen, wohlgemerkt nur in den Angelegenheiten, die Stiefvater jemandem wie ihm anvertrauen zu können glaubte. Für die schmutzige Wäsche waren andere zuständig. Nur einmal hatte Nanna Greens Bild im Wirtschaftsteil der Morgenzeitung gesehen und gelegentlich von ihm reden hören, ihn aber nie persönlich kennengelernt.
Rechtsanwalt Green wurde zum absoluten Star auf seinem Gebiet, nachdem zwei seiner Konkurrenten fast gleichzeitig Harakiri begangen hatten. Der eine, indem er den beträchtlichen Nachlaß eines landwirtschaftlichen Betriebes bei dem Versuch zugrunde gerichtet hatte, alles aufzuwerten, vom Maschinenpark über die Holzmenge der Waldgebiete bis hin zu den Pilo-Porträts im Saal. Der andere wegen einer peinlichen Affäre in einem Athener Nachtklub.
Während das zweite Ereignis in den Klatschspalten breitgetreten wurde, fanden die Einzelheiten der Nachlaßgeschichte über das Telefon und später in schriftlicher Form ihren Weg in die Direktionsräume. Alles war dokumentiert, auch daß Flemming Green der Mann war, der für den unmündigen Erben das Eigentum rettete.
Green hatte stets ein untadeliges Geschäftsleben geführt und dessen Normen erfüllt. Keine Scheidungen, keine Adresse am Whisky-Gürtel, sondern Wohnung in einem anonymen Haus in einer anonymen Straße in Gentofte. Nie bei Medienspektakeln in Erscheinung getreten, die zu einer wie auch immer gearteten Erwähnung in der Boulevardpresse hätten führen können.
Als Sohn eines beim obersten Gericht zugelassenen Anwalts nahm er schon von Kindesbeinen an die Paragraphen in sich auf, ebenso selbstverständlich wie den Zitronenpudding, den es in seinem geräumigen Elternhaus in der Stockholmsgade am Sonntag zum Nachtisch gab. Mit diesem verinnerlichten Wissen absolvierte er problemlos das Studium und erhielt einen Posten, der seit dem Tag seiner Geburt in der Kanzlei des Vaters auf ihn gewartet hatte. Er war jetzt zweiundvierzig Jahre alt. Die beiden Söhne studierten Jura. In Den Blå Bog waren alle Aufsichtsratsposten unter »Diverse« aufgeführt. Von seiner Frau redete niemand.
Es wurde Pt überlassen, schon beim Öffnen der Haustür von Hvidager Herzversagen als wahrscheinliche Todesursache zu erklären. Die Verandatür war verschlossen, ebenso die Tür von der Halle ins Schlafzimmer. Nanna wartete mit den anderen in dem nach Süden gelegenen Zimmer mit dem runden Erker, wo der bunte Bezug der Sitzmöbel seit Jahren im Krieg lag mit den geblümten Gardinen, den grünen Kronleuchtern, dem falschen Rokoko, den Farbklecksen von Opalinschreinen, dem gesamten Bestand an Staffordshire-Figuren und den vielfarbigen Figuralteppichen.
Das Zimmer war Pts ganzer Stolz. Hier wurde nach dem Kaviar gewöhnlich der Kaffee genommen. Hier hatte Lisa jedesmal wie ein Gebet ihre raffinierten, immer wieder neuen und immer ignorierten Gemeinheiten über Pts hinreißende Begabung zu einem versiebenfachten Farbspektrum zum Besten gegeben. Lisas persönliche Auffassung von einem Gastgeschenk.
Zum erstenmal schwieg sie. Nur Camilla zeigte mit einem Blick, daß ihr das Fehlen der Replik auffiel.
Sie erhoben sich und wirkten etwas benommen. Nanna fühlte sich wie seinerzeit im Klassenzimmer. Sie schaute hinauf zum Kronleuchter und dachte an die grüne Farbe der Examenstische. Pt strahlte Selbstbeherrschung aus, als sie den Anwalt hereinführte. Die Absätze klapperten im gewohnten Taxameterrhythmus.
Nanna war erstaunt über das Aussehen des Anwalts. Green war größer, als sie erwartet hatte. Und sah bedeutend besser aus. Kein Vergleich mit dem Schwarzweißfoto aus der Zeitung. Die Augen hinter der randlosen Brille blitzten unter den schwarzen Wimpern tiefblau. Die Augenbrauen buschig und schwarz wie sein Haar, das nach hinten gekämmt und weder zu kurz noch zu lang war.
Er trug einen leichten Sommeranzug. Ein helles Sakko, aber nicht von der Stange. Nur eine Narbe am Mundwinkel deutete auf etwas Persönliches, auf gelebtes Leben. Die Aktentasche hatte er an der Tür zum Erkerzimmer abgestellt.
»Mein herzliches Beileid«, sagte er ohne gespielte Trauer. Nannas Hand hielt er ein wenig länger.
»Ihr Stiefvater hat Sie oft erwähnt. Stets mit Freude.«
Dann wandte er sich um und blieb auf einem Isfahan stehen.
»Ich wußte, daß der Herr Direktor nicht mehr lange leben würde. Aber trotzdem ... so plötzlich ... sehr plötzlich.«
»Ja«, sagte Alex. »Unerwartet. Auch für uns.«
»Ihr Vater hat ja um eine Zusammenkunft gebeten, doch jetzt ...« Er machte eine kurze Pause. »Dann bleibt mir nur, die Wünsche des Verstorbenen bezüglich seines Begräbnisses bekanntzugeben. Es ist keine christliche Beisetzung vorgesehen.«
»Das wußten wir«, sagte Ulrik und blickte auf seine Schuhspitzen.
»Aber auf einem Friedhof. Und in geweihter Erde. Auch was den Sarg betrifft, bestehen gewisse Wünsche.«
»Mein Vater wollte verbrannt werden«, sagte Ulrik ernst.
»Darüber ist mir nichts bekannt.«
»Vater war krematoriumversichert.«
Alex’ Mund öffnete sich ein bißchen. Tatjanas Gesicht begann zu zucken. Plötzlich drehte sie sich zu dem Porzellan auf dem Fensterbrett, als ringe sie um Beherrschung.
»Er war was?« fragte der Anwalt.
»Eine Versicherung, die die Kosten der Verbrennung übernimmt. Das Begräbnis und natürlich auch die Urne sind inbegriffen«, antwortete Ulrik geschäftsmäßig.
»Davon habe ich nie gehört.« Greens Stimme klang sachlich. Sein klarer, blauer Blick ruhte auf Ulrik und drückte nichts aus. Er wartete. Ulrik antwortete nicht. Alex räusperte sich.
»Vielleicht zeigen Sie uns das Testament?«
»Ich werde Ihnen von dem, was das Begräbnis betrifft, eine Abschrift machen lassen.«
»Und das übrige?«
»Nach dem Begräbnis.«
Er streckte die Hand zu einer formellen Verabschiedung aus. Eine Sekunde lang schaute er auf die Kaviarflecken auf Ulriks Weste. Dann machte er kehrt und ging zur Tür. Pt folgte ihm schweigend. Alle Blicke waren auf die Aktentasche in Greens Hand gerichtet.
»Übrigens, mein Vater wollte doch heute eigentlich sein Testament ändern?« rief Tatjana hinter ihm her.
Flemming Green blieb einen Moment lang mit dem Rücken zu ihnen stehen. Nanna betrachtete seinen dunklen Nacken. Ihr Blick glitt über seinen Rücken. Zwei seiner Finger lösten sich vom Griff der Aktentasche, und er drehte den Kopf ein wenig.
»Gerade deshalb ist es paradox ...« Die zwei Finger legten sich wieder um den Griff. Eine fast unmerkliche Bewegung. Demonstration seiner Fähigkeit und Kraft. Wie ein Staatsanwalt, der die Wahrheit ans Licht bringt. Sei es eine existierende oder eine von ihm erfundene.
Die Bewegung der Anwaltfinger wirkte wie eine eisige Dusche, und mit einem Schlag war Nanna nüchtern. Fühlte sich mitten auf die Bühne gestoßen, die schützende Membran war zerrissen. Sie hatte bereits Sätze ihrer Rolle gesprochen und stand zwischen ihren Mitspielern.
Lisa legte das Gesicht in Falten, ein liebenswürdiges Lächeln, wie mit Nadeln festgesteckt. Camilla neigte den Kopf. Tatjana wie immer aufgelöst. Pt kalt wie ein Stück Metall. Ulriks Augen flackerten fieberhaft, und Alex’ Augen starrten auf dieselbe Stelle wie Nanna. Auf die Finger des Anwalts.
»Ich möchte gerne den Totenschein sehen. Umgehend.«
Dieser Forderung des Anwalts folgte ein Klicken der Tür und eine kurze Stille.
»Was zum Teufel bildet er sich eigentlich ein? Für wen hält er sich denn?« rief Alex. »Hoffentlich holt er nicht die Polizei!« »Es war deine Idee. Du hast uns das eingebrockt«, fauchte Ulrik. »Was machen wir jetzt?«
Nur wenige Meter entfernt lag ein Mann unter einer geglätteten Bettdecke, ermordet mit einem Skalpell. Aber das Wirkliche vermischte sich mit dem Unwirklichen. Nanna mußte sich beherrschen, um nicht ins Schlafzimmer zu gehen, die Decke wegzuziehen und sich von der Realität des Mordes zu vergewissern.
Links von ihr stand Lisa mit dem gleichen Lächeln, unbeeindruckt. Ihre Augen flogen von Gegenstand zu Gegenstand, als sei sie zum erstenmal in dem Erkerzimmer, und sie hauchte: »Immer mit der Ruhe. Dieser Anblick lähmt sogar die Denkfähigkeit eines Staranwaltes.«
»Er glaubt wohl, daß ihm das alles gehört. So sind sie alle«, sagte Camilla, und an Ulrik gewandt: »Woher hast du das mit der Krematoriumsversicherung?«
»Das habe ich nicht erfunden. Das ist wahr«, erwiderte Ulrik. Er fuhr fort, als sei Reden ein rettender Anker. Egal was gesagt wurde. »Als Ältester habe ich ...«
»Bloß keine Häuptlingsgefühle«, unterbrach ihn Alex.
»Als Ältester weiß ich um Dinge, die weiter zurückliegen«, sagte Ulrik unbeirrt. »Vater stammt aus einem armen Dorf in Westjütland. Dort wurden viele Kinder geboren. Überlebten sie, war das eine finanzielle Belastung. Aber auch wenn sie starben, mußten sie begraben werden. Und das kostete einiges.«
Nanna drehte sich um, hatte plötzlich das Bedürfnis, irgend etwas zu berühren. Ihre Hand glitt über die Porzellanfiguren, über das Glatte, über das Rauhe. Warum war sie noch hier, warum fuhr sie nicht nach Hause?
»So arm kann man unmöglich sein«, sagte Lisa gleichgültig.
»Besonders, wenn viele begraben werden mußten«, fuhr Ulrik fort. »Die Sterberate war hoch. Einige Versicherungsagenten erkannten die Situation. Geschäfte lassen sich auf viele Arten machen, na ja ...«
Er räusperte sich.
»So sind wir schließlich alle. Ein Teil der Kinder wuchs trotz allem auf. Früher oder später starben sie natürlich, einige auf dem Meer. Die Versicherung war ein Taufgeschenk. So kam Vater dazu. Durch seine Patin.«
»Wie vulgär«, sagte Camilla.
Die Standuhr schlug die Viertelstunde, der Arzt war immer noch nicht gekommen, und Nanna drehte sich zu dem in ohnmächtiger Nervosität redenden Ulrik um.
»Das war sicher gut gemeint. Taufgeschenke sind ja häufig für die Eltern. Aber das ist lange her. Na ja ... achtundachtzig Jahre. Vor einem Monat, im Mai. Am 7. Mai 1906 wurde er geboren.«
»Dein Großvater war doch nicht arm.« Lisas Protest klang scharf. »Er hatte eine Garnelenfabrik.«
»Nicht bei der Geburt von Vater. Erst später.«
Tatjana war sofort zur Stelle: »Für Lisa ist es sehr, sehr wichtig, mit der dritten Generation einer Familiendynastie verheiratet zu sein. Das ist nur möglich, wenn man die Garnelen hinzurechnet. Aber wo ist diese Versicherung?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Ulrik.
Alle schauten Pt an. Sie antwortete ruhig: »Ich weiß es auch nicht.«
»Dann verbrennen wir ihn einfach«, sagte Alex. »Wir scheißen auf die Police. Den Rechtsanwalt soll der Teufel holen. Das Begräbnis geht ihn gar nichts an.«
»Jetzt müssen wir mit unserem Urlaub in Monte Carlo warten, bis alles geregelt ist«, sagte Lisa verärgert. »Und dabei habe ich mich so gefreut. Und die wunderschöne Wohnung, die jetzt leersteht.«
»Soll doch Nanna hinfahren.« Ulriks Blick suchte die Uhr und bewegte sich von dort zu Nanna.
»Du mußt dringend einen reichen Liebhaber finden, nachdem dein ›Bilderverkäufer‹, den du nie hier in Hvidager vorgezeigt hast, nach Spanien abgedampft ist.«
Nanna antwortete nicht. Es gab Winkel in ihrem Leben, die nichts mit Hvidager zu tun hatten, und in den dreizehn Jahren, die sie und Oliver zusammengelebt hatten, hatte er Hvidager nie betreten. Die fehlende Heiratsurkunde war das sicherste, wenn auch ein vorgetäuschtes Alibi gewesen, daß jeder seine eigene Wohnung behielt. Sie das Reihenhaus, er die nette kleine Wohnung über der Galerie, spezialisiert auf Andy Warhol und Vasarely.
Oliver wurde nie in dieses Haus gezogen, war nie davon verschlungen worden. Auf einmal wurde noch deutlicher, wie wichtig die geheimen Winkel waren.
Doch mit Stiefvaters Abneigung gegen alles außerhalb seiner Reichweite und mit seiner besonderen Fähigkeit, Ansteckung zu verbreiten, war der Ausdruck ›Bilderverkäufer‹ erfunden worden und hängengeblieben.
Ein einziges Mal hatte sie protestiert: »Galeriebesitzer heißt das«, aber umsonst, denn in der Familie setzten sich Boshaftigkeiten fest, wenn sie nur boshaft genug waren. Oliver blieb der ›Bilderverkäufer‹ mit dem ätzenden Unterton des Hausierers.
Irgend etwas um Nanna fing zu sprießen an, wie eine schnell wachsende Pflanze, oder vielleicht wie etwas schon vor Jahren Gesätes. Unbewußt schaute sie hinunter auf das Parkett. »Ja gewiß«, sagte Lisa froh. »Es wird dir dort gefallen. Direkt am Fuße des Fürstenpalastes. Als wir die Wohnung vor zwei Jahren kauften, da ...«
»Als Vater sie kaufte«, unterbrach Alex. »Die Wohnung gehört zum Vermögen ... wie eigentlich alles, was wir Kinder haben. Alles nur geliehen. Deshalb keine Ausbildung. Die hätte er nämlich nicht behalten können. Keine Reisen. Die hätten ja nicht als Aktivposten in seiner Buchhaltung erscheinen können. Alles gehörte Vater. Die Firmenautos. Die Firmenhäuser. Die Stühle, auf denen wir sitzen. Die Tische, von denen wir essen. Die Betten, in denen wir schlafen. Alles registriert. Firmensilber. Firmenpelze. Firmen...« Alex griff an Lisas Hals.
»... Perlen.«
»Finger weg!« Lisa schlug seine Hand fort. »Ehrlich gesagt ...«
Ulrik wischte sich den Schweiß vom Gesicht, als sei eine Grenze erreicht.
»Aber jetzt gehört es uns«, sagte Lisa und legte eine beruhigende Hand auf Ulriks Arm.
»Eigentlich schön«, sagte Camilla mit einem versonnenen Blick auf die Goldkette, die Nanna von Stiefvater zum Abitur bekommen hatte.
Ulrik lief um die kitschig vergoldeten Möbel.
»Wo bleibt bloß der Arzt? Du und dein Organisationstalent. Der Anwalt kam. Der Arzt kommt nicht.«
Pt wischte unsichtbaren Staub von einem Sofakissen mit Gobelinbezug und sagte über die Schulter: »Lisa, bist du nicht früher einmal Krankenschwester gewesen?«
»Was?« sagte Lisa und griff nach ihren Perlen, überrascht, weil Pt seit zwanzig Jahren die erste Frage gestellt hatte.
»Das ist ja hochinteressant.« Tatjana strahlte vor Begeisterung. »Da weiß man, wie man zustechen muß.«
»Was zum Teufel bildest du dir ein«, rief Ulrik.
Tatjana machte eine weite, unbestimmte Handbewegung.
»Gab es nicht einmal einen Film, der so ähnlich hieß wie ›Der Mörder ist unter uns‹?«
»In dem Film waren sie alle schuldig«, sagte Nanna. »Sie hatten den Mord gemeinsam begangen.«
Ulrik und Alex schauten sie schweigend an. Sie selbst sah Green vor sich, im Gerichtssaal. Seine Finger, die sich wie eine Garrotte um ihre Hälse legten, mit seiner triumphierenden Version der Wahrheit.
Es klingelte.
»Dr. Hvidt«, sagte Alex und stürzte zur Tür.
»Gott sei Dank«, flüsterte Ulrik und umklammerte eine Stuhllehne.
Lisa hatte mit einer raschen Bewegung einen roten Staffordshire-Hund umgedreht und studierte den Stempel.
Die acht schwarzen Eisenbuchstaben Hvidagers prangten über der Eingangstür, bombastisch und vermutlich doppelt so groß wie das ursprüngliche Strandly, um zu garantieren, daß dessen Spuren am Mauerwerk für immer getilgt waren. Doch Hvidager hatte sich bereits verändert. Über dem Anwesen lag eine Spannung, wie vom Kampf der Ereignisse um Loslösung und Freiheit. Aber Stiefvaters Geist nagelte sie fest, an Stein, Mörtel, Gebälk und Ziegel.
Nanna steckte den Autoschlüssel ins Zündschloß, zögerte, fragte sich, ob sie in der Lage war zu fahren, und spähte zur Eingangstür.
Sie hatte Dr. Hvidt nicht gesehen, als er eintraf, Alex hatte ihn direkt ins Schlafzimmer geführt. Und Ulrik beschloß plötzlich, daß man aufbrechen sollte, und fuhr mit Lisa und Camilla und der auf dem Rücksitz protestierenden Tatjana davon. Das Gesicht über dem Lenkrad des schwarzen BMW war aschfahl, als er Hvidager hinter sich ließ. Pt blieb zurück und ging in die Küche.
Hoch oben trieben Regenwolken von Westen nach Osten und hinaus auf den Sund.
In all den Jahren hatte Nanna nie Wolken über Hvidager gesehen. Seltsam, wie weit eine Sperre reichen konnte. Und wie plötzlich sie verschwunden war. Aber gleichzeitig begann etwas anderes, sie einzuschließen. Sie hätte am liebsten um sich geschlagen.
Es lag lange zurück, ihr Abitur und dieser feuchte Juni und das Haus mit dem weißen Dach und dem im Gebüsch wartenden Tod. Auch damals parkte das Auto eines Arztes vor der Tür. Ein grüner Saab.
In einem Jahr machte Nikolai das Abitur. Heute schrieb er die Abschlußarbeit in Deutsch, ohne daß Nanna gespannt war. Die Zahl der von ihm erreichten Punkte war meistens zweistellig.
Vor einem Monat stand der Flur voller Plastiktüten. Die blonde, lebhafte Line zog ohne weiteres in Nikolais drei mal drei Meter großes Zimmer ein, weil ihre Mutter ein gräßliches Weib war. »Das bist du nicht«, sagte Nikolai mit einem breiten Grinsen und einem zerknautschten Blumenstrauß vom Supermarkt in der Hand. Line war ruhig und freundlich. Vielleicht traf es zu, daß ihre Mutter gräßlich war.
Nikolai hatte keinerlei Verbindung zu Hvidager, außer daß die Ehe seiner Eltern dort begonnen und geendet hatte.
Stiefvaters Kampf, Nanna zu bewegen, das Kind abzutreiben, dauerte nur kurz. Eine Christbaumniederlage genügte ihm offenbar. »Du kannst doch unmöglich von einem Amerikaner, der Charles heißt und Kierkegaard studiert, ein Kind bekommen.« Stiefvaters Entsetzen und das letzte Argument: Abscheu.
»Charlie«, hatte Nanna korrigiert und machte damit alles noch schlimmer. Charlie wurde an einen Ort zwischen Meer und Religiösem verdammt. Stiefvater nannte ihn immer nur Herr Morton.
Nanna mußte weit zurückdenken, um sich ein wenig an Charlie zu erinnern. Er war sehr ernst und sehr musikalisch gewesen. Nächte mit Beethoven am Plattenspieler hatten ihn für sie zum Helden gemacht. Das fünfte Klavierkonzert in einem Zimmer im Studentenheim mit lärmempfindlichen Nachbarn.
Am nächsten Quartalsabend wurde Charlie die Ehe nahegelegt, ein verwirrter Bräutigam, weil er soviel von der freien skandinavischen Frau gehört hatte. »Und es sollte in einer Methodistenkirche sein«, lautete Stiefvaters endgültiger Bescheid. Tiefer konnte Stiefvater nicht sinken.
Charlie hatte dunkles, glattes Haar gehabt, hatte eine Brille getragen und mit unbekümmertem, selbstverständlichem Genuß Kaviar gegessen. Letzteres weckte sämtliche Instinkte in Stiefvater.
Als der Bruch kam, als Charlie zurückwollte in die Staaten, weg von Babygeschrei und stinkenden Windeln, hatte Stiefvater längst herausgekriegt, daß sich hinter dem jungen Philosophiestudenten irgendwo in Kansas City ein beachtliches Unternehmen verbarg, errichtet auf der Herstellung von Hühnerfutter. Aber auch, daß das Familienvermögen bis zum letzten Dollar in einem Fonds festgelegt war.
Der neunte und letzte Quartalsabend der Ehe. Charlies nette, unglückliche Eltern waren gekommen, und beim Kaffee bewunderten sie Pts Erkerzimmer: »So bezaubernd europäisch.« Lisa wurde schwindlig. Das übrige fand hinter geschlossenen Türen statt, wo diskret eingeschleuste Rechtsanwälte es versäumten, sich darüber zu äußern, daß die neu gewonnene Freiheit der dänischen Frau auch die Pflicht zur Versorgung ihres Kindes einschloß.
Sie hatte Nikolai nie erzählt, daß die Raten für das Reihenhaus von einem Hühnerfutterfonds in Kansas City bezahlt wurden. Und das Geld für die Privatschule. Und daß Verlage keine monatlichen Schecks ausstellten. Hatte nie über die Kluft gesprochen zwischen öffentlicher Beachtung und finanzieller Realität.
Nikolai würde sicher nur grinsen. Nanna hatte sich nie vor Nikolais Reaktion gefürchtet, jedoch vor seinen Freunden und deren auf Erfolg fixierten Eltern. Nikolai nahm die Dinge leicht. Daß er nichts von seinem Vater hörte, betrachtete er als eine Tatsache, mit der er aufgewachsen war wie auch Nanna einmal. Offenbar interessierte ihn das nicht weiter. Doch Nikolai hatte immerhin einen Vater und wußte seinen Namen. In seinem Taufschein stand nicht das Wort »Unbekannt«. Andernfalls hätte Nanna das Gefühl gehabt, daß etwas nicht in Ordnung war.
Charlies Nachnamen behielt sie. Hauptsächlich, um den Familiennamen ihrer Mutter loszusein und damit jede Verbindung zu den Menschen, die sie hatten abschaffen wollen. So hatte sie sie abgeschafft. Außerdem bedeutete der Name einen Hinweis auf Nikolais eheliche Geburt, auch wenn sich seit ihrer Geburt die Begriffe radikal geändert hatten. Jedenfalls war das Wort »Unbekannt« damit vom Tisch. Das hatte mit etwas zu tun, was Nanna nie vergaß, Bemerkungen auf einem Schulhof, die an ihr festsaßen wie kalte Angelhaken.
Hvidagers Haustür öffnete sich, und ein blonder Mann trat heraus. Er hatte ein hageres Gesicht und schütteres Haar. Direkt hinter ihm kam Alex, der ihm mehrmals freundschaftlich auf die Schulter klopfte. Alex lächelte großzügig. Der blonde Mann versuchte sich ihm zu entziehen. Er drehte sich um und ging langsam die Haupttreppe hinunter.
Bei dem grünen Saab stellte er die Arzttasche ab und beugte sich nach vorne, als sei er zu erschöpft, einzusteigen. Hvidagers Haustür schloß sich im Bewußtsein des Sieges, und eine Woge der Angst verebbte in Nanna.
Nanna stieg aus und ging in dem kalten Wind auf den Arzt zu, hatte das Bedürfnis, sich zu bedanken. Aber er schien sie gar nicht zu bemerken.
»Guten Tag«, sagte sie und stand so nahe neben ihm, daß sie den Duft seines After-shave wahrnahm.
»Guten Tag«, wiederholte sie. »Ich bin Nanna Morton.«
Er drehte langsam den Kopf, schaute sie an, sagte aber nichts. Das Gesicht war wie versteinert. Obwohl man sehen konnte, daß er gerne lachte. Er hatte graue, runde Augen, die an ihr vorbeiblickten.
»Ich war heute nacht hier«, sagte sie.
Jetzt schaute er sie an. Feindselig und gequält. Im nächsten Augenblick riß er die Wagentür auf und warf die Arzttasche hinein. Sekunden später spritzte eine Fontäne nassen Schotters von den Reifen des Saab auf, und vor der Steintreppe Hvidagers blieb eine dunkle Spur zurück. Im Nu war er verschwunden.
Das war also der letzte Quartalsabend. Nanna hatte nie geglaubt, daß dieses Zerhacken des Jahres in vier große Teile jemals aufhören würde.
All die Abende in dem großen, weißen Haus erschienen in einer langen Reihe vor ihren Augen, glichen sich in Form und Oberfläche, aber jeder dieser Abende hatte ihr Aufschluß verschafft, durch ein Thema, einen Satz, eine Neuigkeit.
Jener Quartalsabend im September vor dem Tod von Nannas Mutter, als Stiefvater gerade den Zeitungsverlag gekauft hatte. Die Quartalsabende, an denen Alex mit einer neuen Frau erschien. Oder Tatjana mit einem neuen Mann. Als die Ikonen aufgehängt wurden. Als die Münzsammlung vorgezeigt wurde und beim Kaffee von Hand zu Hand ging. Dezember fünfundsiebzig, mit dem Ostwindsturm, der um die Hausecken pfiff, während Stiefvater mit dem Cognacschwenker in der Hand und wie nebenbei mitteilte, daß er durch geheime Aktienkäufe jetzt Eigentümer des Unicorn-Verlages war. Das Flüstern über fallende Immobilienpreise an den Quartalsabenden Ende der achtziger Jahre. Der große Lagerbrand im Winter zweiundneunzig. Und vorher: »Donnerwetter, der Alte hat doch tatsächlich die Bank auf den Fidschi-Inseln gekauft.« Es war Ulrik, der es an jenem Juniabend im Jahre neunzig zischelte.
All die Abende krochen auf sie zu. Näher als je zuvor, wie anmaßende, nicht geladene Gäste. Sie schauderte, ohne zu wissen, warum, ging zu ihrem Auto und fuhr los.
Der Motor klang dumpf, vielleicht brauchte er Öl, und sie mußte langsam fahren. Sie fuhr langsam an den Eseln und den Hunden und den zwei Säulen mit den weißen Lampen vorbei, die die Grenze bildeten zur Wirklichkeit.
»Schreib ein Buch«, hatte Stiefvater seinerzeit gesagt. »Du hast die besten Schulaufsätze geschrieben und immer gern Geschichten erzählt ... mein bester Lektor ... Ich will, daß du vorankommst, deinen eigenen Weg gehst ...« Jetzt erschienen ihr diese Worte plötzlich in einem anderen Licht. Als hätten sie eine andere Bedeutung, ohne daß sie recht wußte, welche.
Morgen die Verabredung mit dem Lektor, der unter seinem Schnäuzer vorwurfsvolle Seufzer von sich geben würde, daß sich Novellensammlungen nicht verkauften. »Schreib den großen Roman.« Das hatte er seit sechzehn Jahren gesagt. In der linken Ecke des kleinen Büros zur Straße stand ein Gummibaum.
Der Baum stand seit fast fünfzehn Jahren dort, seit sie ihre ersten kleinen Geschichten ablieferte, aber größer war er deshalb nicht geworden. Vielleicht aus Mangel an Licht oder aus Mangel an allem. Nanna würde antworten, daß sie nicht länger schreiben könne, weil sie so ungeduldig sei. Auch das hatte sie seit fast fünfzehn Jahren gesagt.
Die Einleitung dauerte jedesmal zwanzig Minuten, angefangen bei der Doppelrolle der Frau und dem Preis der Emanzipation und den Voraussetzungen für Kinderlosigkeit, mit Abstecher zu Blixens Verwendung einer Haushaltshilfe und Lagerlöfs Empfang in ihrem Heimatdorf nach dem Nobelpreis. Wieder in die niedrigen Gefilde des Alltags, mit Wasser im Keller und dem schrottreifen Auto, bis sie endlich zur Sache kamen: das Durchgehen des Manuskriptes.
Der gehobene Zeigefinger. Klinisch. Analysierend. Wo der Text zu unklar wurde. Wo die Geschichte Brüche aufwies. Wo der Auftrieb fehlte. Ein Funke. Eine besondere Tiefe. Ein Schmerz. All das im Manuskript an den Rand geschrieben, behutsam mit Bleistift, den man jederzeit ausradieren konnte. Trotz allem der Respekt vor dem Kreativen. Sie machte sich Notizen. Der Gummibaum stand in der Ecke, ließ die wenigen dicken Blätter hängen.
Damals, vor fast fünfzehn Jahren, war der Schnäuzer vermutlich noch schwarz gewesen. Letztes Mal war er weiß. Schließlich die Novelle, die wie immer abgelegt war mit der aufgeklebten Expertise: »Hier liegt Stoff für den großen Roman.« Die letzten drei Wörter mit großen Buchstaben: »Der Große Roman.« D. G. R. nannte sie ihn. Sie konnte die Wörter auswendig. Dem Markt fehlen Romane. Er gab nie auf.
Der Schotter knirschte unter den Reifen. Sie erhöhte die Geschwindigkeit, der Motor stotterte, und sie überlegte, ob sie in der Wärme arbeiten konnte, in dem grellen, südfranzösischen Licht. Ob die Sonne ihre Konzentration verbrennen und ihre Gedanken schweifen lassen würde, in die spanische Hitze und zu Oliver, der eine Ungehörigkeit zuviel gesagt hatte.
Auf die dreizehn Jahre mit getrennten Wohnungen folgte das halbe Jahr mit Adressen in verschiedenen Ländern und lediglich gemeinsamen Ferien und die Fiac-Messe in Paris, weil sie sich weigerte, Nicolai während der Schulzeit alleinzulassen. Gut ein halbes Jahr, in dem sie einundzwanzig Prozent von Olivers Leben teilte, die Tage und Nächte im nachhinein zusammengerechnet.
Es blieben die Briefe. Und die Sehnsucht nach dem Leben, das sie nicht teilten. Vom Erleben des Vogelfluges über die Alhambra, vom Traumbild kleiner Pferde mit karmesinroten Sätteln, von der Hoffnung, gemeinsam den Winternebel über die Klippe von Gibraltar treiben zu sehen. Die verbleibenden neunundsiebzig Prozent wurden zu einem Zusammenleben per Post.
Sie waren sich eines Tages im Oktober bei einer Vernissage begegnet, gerieten in Streit über Jorn als Keramiker, über Freddie als Pornograf, sie stritten über alles, und sie verknallte sich in seine freche Art, trotz all der von ihm gesagten Ungehörigkeiten. Vielleicht, weil er in diesem Punkt sogar Hvidager übertraf und weil sie selbst in Übung war.
Sie trennten sich endgültig in einer überheizten Bar bei einem Streit über Nikolai und den Wohnsitz in einer Steueroase, darüber, daß »der Junge doch in eine spanische Schule gehen kann, das schadet ihm doch nicht«. Der Streit, überhaupt Kinder zu haben. »Kleine Kinder, kleine Probleme – große Kinder, große Probleme.« Kinder bedeuten Probleme. Probleme bedeuten Zerstörung sämtlicher Freuden. Das Ganze bekam Übergewicht, als die ultimative Wahrheit gesagt werden mußte: »Der Kerl ist ein Hindernis gewesen, eine Belastung von Anfang an.«
Das war die Ungehörigkeit, mit der Oliver nicht gut abschnitt. Verliebe dich nicht in einen Mann mit poetischer Neigung. Verliebe dich nicht in einen Mann mit Problemphobie. Liebe keinen Mann, der dein Kind als eine Belastung empfindet.
Diese eine Ungehörigkeit zuviel ersparte es ihr, die vielen Tasten zu drücken, um die Stimme aus Sevilla zu hören und von dem schrecklichen Ereignis der Nacht zu erzählen. Es wurde ihr erspart, es überhaupt jemandem zu erzählen. Sie hatte keine Verwandten, und den ›Bilderverkäufer‹ hatte sie auch nicht mehr.
Auf einmal wieder das Gefühl, eingesperrt zu sein. Sie mußte weg, weit weg von allem, wie ein Flüchtling, der nur lief, ohne eine Richtung. Sie konnte nirgendwohin fliehen, ihr blieb nur Monaco.
Nikolai würde sie auch für verrückt erklären, wenn sie nicht auf der Stelle nach Monte Carlo flog. Und es zog sie nach dem kalten und verregneten Frühsommer in die Wärme, wo sie vielleicht das Geschehene vergessen konnte, wo vielleicht die Sonne die Erinnerung an ein Skalpell in ihrem Bewußtsein verblassen ließ. Und billige Ferien, ihre finanzielle Situation erlaubte keine großen Sprünge, trotz des Kansasfonds. Da fiel Nanna ein, daß sie Nikolai von dessen Existenz erzählen sollte.
Er war siebzehn. Es war höchste Zeit. Erst als Line auftauchte, wurde ihr klar, wie weit weg die Ameisen, die Käfer und die Playmobilmännchen waren. Und früher oder später würde Nikolai ohnehin merken, wie wenig die Schreiberei abwarf. Trotz der Arbeit fürs Fernsehen. Trotz aktueller Rezensionen, trotz des dreijährigen Arbeitsstipendiums vom Kunstfonds, der es ihr ermöglicht hatte, »Winterregen« zu schreiben, womit sie beinahe einen der Preise des Jahres bekommen hätte.
Zum Glück war Nikolai Mathematiker, das mußte er von Charlie haben, und Dänisch war sein schwächstes Fach. Nikolai sollte sich um alles in der Welt einen anderen Broterwerb suchen. Das Hühnerfutter trug schon seinen Teil dazu bei.
Was kostete wohl ein Billigflug nach Nizza und zurück, und würde sie kurzfristig einen bekommen? Der Motor hörte nicht auf zu stottern. Nanna hatte längst Strandvejen, die Hauptstraße, erreicht. Sie mußte eine Tankstelle finden und Öl nachfüllen lassen, aber hier schien keine zu sein. Sie bog beim Hotel Marina zum Supermarkt ab, konnte gleich einige Einkäufe machen.
Da sah sie den dunkelblauen Mercedes. Er hielt an der Ecke. Nanna erkannte den Fahrer wieder. Rechtsanwalt Flemming Green saß leicht vorgebeugt hinterm Steuer und telefonierte. Er schaute auf einige Papiere vor sich. Auf dem Sitz neben ihm stand die Aktentasche. Sie war offen.
Dann blickte er auf. Die tiefblauen Augen waren direkt auf sie gerichtet. Er hielt das Telefon etwas von sich weg, als sei er überrascht. Nur kurz. Dann redete er weiter. Sah sie dabei an. Von oben bis unten und ohne ein Nicken des Wiedererkennens.
Sie fühlte sich beschrieben. Größe, Alter, Gewicht, Kleidung, Haar und Augenfarbe. Eventuelle besondere Kennzeichen. Wie für einen Polizeibericht.
Sie setzte sich rasch ins Auto, ließ den Motor an und fuhr in südlicher Richtung davon.