Читать книгу Mit dem Fahrrad und Aphasie durch Europa. Band 2 - Helmut Friedrich Glogau - Страница 5

EIN ZWEITES VORWORT

Оглавление

Es ist Zeit, dass ich endlich den zweiten Teil des Buches »Mit dem Fahrrad und Aphasie durch Europa und durch mein erstes und zweites Leben« anfange.

Ein kleines bisschen müsste ich doch ausholen. Damals habe ich mich im Krankenhaus (es ist ewig her), mächtig gelangweilt.

An der Wand im Korridor waren Schilder angebracht, die komischen Zeichen konnte ich nicht deuten: »Vorsicht, Stufe« oder »Fahrstuhl« oder »Ruhe«, dann später habe ich ein Regal mit Büchern und ein Tisch mit Journalen entdeckt, ich hatte immer wieder die Buchstaben angeschaut, angestarrt, aber den Sinn der Buchstaben habe ich nicht begriffen. Eine steinalte Ärztin wollte sich über mich lustig machen, sie hatte mich gefragt, ob ich lesen könne oder ob ich nur die Bilder angucke. Bei der ersten Frage hatte ich verneint, mein Kopf heftig geschüttelt, sie hatte laut und albern gelacht und mich einfach stehen lassen.

Im Flur hatte ich immer wieder versucht den Sinn der Buchstaben herauszukriegen, denn ich war verunsichert. Die Buchstaben sind durch die Luft geflogen und wie durcheinander gepurzelt. Plötzlich hatten die Buchstaben in der Reihe angestanden und sind wohlgeordnet – ich kann lesen, ja – meine Seele war hoch erfreut, und gleichzeitig hätte ich die Welt umarmen können, trotzdem aber fiel es mir unwahrscheinlich schwer, das Lesen.

Dann hatte ich mich immer wieder als »Schriftsteller« versucht und sehr viel Zeit vergeudet; es ist mir ständig fehlgeschlagen, hier ist eine Kostprobe:

»Als ich war bin mit zweites Leben geboren im 4. Januar. Im Alter 43 Jahre alt. Bis 14. April kann ich nicht aufgeschrieben werden.

15. 4. 1996: Hannes (mein Sohn) hat Geburtstag. Ich habe morgens am sieben telefonierte um. Hannes sagt nichts. Und kann nichts.

16.4. Auf der Station ich war im Krankenhaus »Georg« bis 12. Februar.

17.4.: Ich habe die Kur am 5. 3. 1996 bis 30.4., schlecht schlafe. Lesen nicht Fortschritt. Sprechen und Fortschritt. Besuch Frau und Mutti.

18.4.: Ich spiele Tischtennis, schwimme und spiele Schach.

24.4.: Am 22.4. feierte ich den Geburtstag einer Tischtennis (kurz, 39 Jahre, klein) Saufen Schnaps 6 Flaschen/​Kopf tun.«

Aus dem tiefen Loch der Sprachlosigkeit habe ich mich aufgerappelt, es hat ein halbes Jahr gedauert, dass ich meine Hobbys (Tischtennis, Schach und Trompetenspielen – recht und schlecht – mehr schlecht) wieder langsam angefangen habe.

Am 8. November 1996 bin ich total ausgeflippt, weil ich zur zusätzlichen Eheberatung in die kognitive Tagesklinik musste (ich habe mich für ein ¾ Jahr therapieren lassen). Ich hatte einen, für mich wichtigen Zettel vergessen. Damals konnte ich wenig reden, fast gar nicht. Dieser Zettel beinhaltete wichtige Notizen, um mich zu verständigen. Anderen Leuten, wie z. B. der Diplompsychologin war das scheißegal. Meine Frau hat nur ihre Version dargestellt und viele, viele Worte gebraucht. Sie redete wie ein Wasserfall (Lügen, Halbwahrheiten und Wahrheiten). Ich wurde verurteilt, hatte keinen Widerspruch und keine Rechtfertigungen. Die Psychologin hat mich angeschnauzt und richtig ausgewettert.

Ich war sehr erbost und verzweifelt. Ich musste raus. Aller Krankheit und Aphasie zum Trotz. Die Jahreszeit war dafür allerdings denkbar ungünstig.

Ich war stinkig, na klar; über meine Frau oder über die Psychologin oder über alle beide! Oder vielleicht über mich? Sie, die Diplompsychologin, hatte sich um einige Zeit später bei mir entschuldigt, sie hätte vom »Ehekitten« keine Ahnung, sagte sie.

Ich nahm zu Hause einen Koffer und habe mich von meinem Sohn verabschiedet. Ich hatte gelogen, ich sagte, ich fahre nach Stendal und ging los. Ich hatte keinen Plan – nur ein kleines Plänchen: Ich möchte irgendwie nach Süd-Frankreich gelangen, wegen der Wärme, und bin einfach geradeaus gegangen mit dem Koffer.

Ich war megabescheuert.

Abends war ich schätzungsweise gegen einundzwanzig Uhr an dem Stausee in Knautkleeberg mit meinem Koffer angelangt. Immer geradeaus. Mitternacht. In der Nähe von Zwenkau. Der Koffer war schwer. Ich konnte nicht schlafen. Meine Hände waren kaputt. Ich hätte meine Hände wegschmeißen können. Um die Ecke war ich marschiert, ich hatte mich bloß umgeguckt, ohne Koffer, war weiter gelaufen. Plötzlich ist mir eingefallen, dass ich meinen Koffer suchen muss. Die Aktion dauerte anderthalb Stunden an, da es stockfinster war.

Der Tag fing an. Ich war in der Nähe bei Eytra südlich von Zwenkau. Ich bin getrampt, und ohne zu winken nahm mich ein junger Mann mit. Wir fuhren nach Großdalzig zum Bahnhof. Von dort aus fuhr ich nach Gera. Ich bin schwarzgefahren und die Schaffnerin kam sehr schnell. Mit ihr war nicht gut »Kirschen essen«, ich musste Strafgeld bezahlen. Gerade so hat mein Geld gereicht. Gleich nach meiner Ankunft suchte ich in Gera eine Sparkasse. Sonnabend und Sonntag hat das Bankhaus nicht geöffnet. Ich war enttäuscht.

Gera ist ein Drecknest für mich.

Die zweite Sorge galt dem Koffer, dass ich ihn irgendwie loswerden kann. Die Schließfächer sind zu teuer. Für die Zugfahrt hatte ich mein Geld in den Rachen der Bundesbahn geschmissen, ich war richtig arm. In der Nähe vom Bahnhof war ein wilder Platz mit vielen Büschen. Drei Mal war ich angelaufen, der Koffer war schwer, ich hatte ihn in die Mitte geworfen, damit ihn keiner finden kann. Also war das Problem erledigt.

Genug Zeit, um mich in der Stadt herumzutreiben. Dann suchte ich eine Möglichkeit zu schlafen, es war eine schwierige Angelegenheit. Bei dem DRK versuchte ich es, ich zeigte eine Geste, dass ich schlafen möchte. Eine relativ junge Frau hat mich nicht verstanden, sie hatte erstaunt und hilflos geguckt. Dann kam ein sehr junger Mann (schätzungsweise 20 Jahre), der hatte mich richtig heruntergeputzt, und wurde sogar regelrecht laut. Mit einem unfreundlichen Menschen hatte ich also zu tun, und das bei dem Deutschen Roten Kreuz, ich fasse es nicht.

Gerade in dieser Nacht begann An diesem Tag begann ausgerechnet die Nachtfrostperiode, glaube ich jedenfalls. Auf dem Bahnhof wurde zufällig ein Zug auf dem Nebengleis abgestellt war. Heimlich habe ich mich in den Zug reingeschlichen, um dort zu übernachten. Aber es war auch hundekalt.

Am Sonntag war ich beim Gottesdienst. Die Predigt war gut, vielleicht von dem verlorenen Schaf oder von dem verlorenen Sohn, ich hatte eine gewissermaßen freudige Hoffnung gehabt. Als der junge, vielleicht dreißig oder fünfunddreißigjährige Pastor die Predigt beendigt hatte, war ich zu ihm hingegangen. Der Pfaffe hatte aber überhaupt keine Zeit für mich, er hatte nur kurz mit einem anderen Menschen, ich glaube dem Küster gesprochen. Er hat kaum ein Sterbenswörtchen zur Kenntnis genommen, so schnell war er verschwunden. Die Predigt war gut, der Mensch, der Priester, war schlecht. Vielleicht hat der Kirchenmann wirklich keine Zeit, wer weiß.

Aber der Küster hat sich etwas Zeit für mich genommen. Ihm habe ich mein Leid geklagt. Es war schwierig, fast ohne Worte. Nach vergeblichen Versuchen hatte ich den Küster endlich überzeugt, dass ich dringend eine Übernachtungsmöglichkeit brauchte. Der Kirchendiener hat mir sehr geduldig geholfen, er hat mir dann einen Straßenbahnschnipsel und drei DM (für Übernachtung) geschenkt ich hatte es ihm nicht einmal zurückgegeben können, ich bin schlecht. Ich fuhr zum Obdachlosenheim.

Zum ersten Mal war ich dort. Es war verkeimt, es gab viele Spinnenganker aber Einzelzimmer für Gäste. Nachdem ich mein Zimmer bezahlt habe, hat mich mein Magen erinnert, dass ich für knapp zwei Tage nichts gegessen hatte. Ein Betreuer hat mir zum Beißen und Trinken hingestellt und ich bin überglücklich in das Bett gefallen.

Montag, nachdem ich die Sparkasse aufgesucht hatte, holte ich den Koffer. Ich habe den Koffer, die ganzen drei Tage nicht einmal geöffnet, eigentlich für die Katz. Gestern hätte ich eine warme Jacke aus dem Koffer überziehen können, weil ich die 400 Meter zum Bahnhof zurücklegen musste, doch war ich aber zu müde und zu faul.

Dann fuhr ich nach Leipzig zurück, selbstverständlich mit der eigenen Fahrkarte, nicht schwarz.

Mein Wochenendausflug war beendigt, ich hätte eigentlich auf dem Weg nach Süd – Frankreich sein müssen.

Gut zehn Jahre später war ich tatsächlich in Süd-Frankreich gewesen.

Meinen Koffer hatte ich zu Hause abgeliefert, dann fuhr ich zur Klinik. Die Leute von der Tagesklinik hatten sich rührig um mich gekümmert, eine Sozialtherapeutin hat mir eine Schlafstelle besorgt, ich wollte auf gar keinen Fall mit »meiner lieben Frau« zusammenkommen.

Manche Sachen habe ich manchmal falsch gemacht, meine liebe Frau (ohne Gänsefüßchen) hat sich einfach mit der ganzen Situation irgendwie überfordert gefühlt und die Kinder waren noch klein, und ich habe sowieso die Erziehungsaufgaben an meine Frau abgegeben. Die Angehörigen haben es doch doppelt so schwer, zum Beispiel »unsereiner Macken«, die Gedanken nicht mehr in Worte fassen zu können, also mit der »kaputten Sprache«, geduldig umzugehen und es zu ertragen.

Im Osten von Leipzig war mein Zimmer, es war zirka 20 Quadratmeter groß und mit alten Möbelstücken (beinahe antik) eingerichtet. Es gab hier eine kleine Frau. Sie umarmt uns alle. Sie war schwerbehindert. Für eine Übernachtung war es zu teuer, keine Frage: Zweiundvierzig DM, einschließlich Abendessen.

Die Tagesklinik hatte für mich alles erledigt, beispielsweise die Anmeldung für das Obdachlosenheim.

Auf dem Weg zum Obdachlosenheim habe ich mich erst mal verlaufen. Für die Übernachtung und das Abendessen bezahlte ich je drei Mark, sagenhaft billig. Das Mahl schmeckt ausgezeichnet und man wird richtig satt. Mit meinem athletischen und großen Zimmerkumpel hatte ich überhaupt gar keine Verständigungsprobleme, denn er war besoffen. Wie ein Buch erzählte er. Ich hatte eine Pause von ihm genutzt, um meine »Unsprache« zu erklären. Ich konnte nur sehr langsam reden und mit vielen Denkpausen. »Das stimmt nicht«, sagte er abwertend, »Ich lasse mich nicht von irgendwelchen Menschen verscheißern.«

Nicht immer, aber öfter, wurde dort die Nacht zum Tag erklärt, ich hatte sehr interessante Themen gehört, einer kam nach dem anderen zur Tür hinein, die quatschen und quatschen fast wie die Frauen, ich musste aber früh Morgens in die Tagesklinik fahren. Nur vier Tage habe ich – Gott sei Dank – im Obdachlosenheim im äußersten Westen von Leipzig zugebracht.

Am Sonnabend fuhr ich zu einem neuen Domizil in Lützschena, etwa acht Kilometer nördlich von Leipzig, ein kleines Obdachlosenheim, ein Männerhaus.

Für fünf Monate habe ich dort gelebt, ich habe mich von meiner Familie abgeseilt, lange genug.

Zur Arbeit brauchte ich nicht mehr zu gehen, ich bin EU-Rentner. Durch die kognitive Tagesklinik und durch meinen ehemaligen Betrieb, die Betonbude, wurde mir ermöglicht, dass ich meine Belastungsprobe durchführen konnte. Bei der Überprüfung auf Arbeitsfähigkeit bin ich richtig mit Pauken und Posaunen durchgerauscht. Ob es für mich richtig oder falsch war, konnte ich nicht entscheiden. Aber meine Fahrradreisen hätte ich wahrscheinlich nicht gemacht.

Nach anderthalb Jahren war meine EU-Rente durch und meine Betonbude hat mir ermöglicht, etwas zur EU-Rente dazuzuverdienen, also hatte ich zuerst 520 DM, dann 650 DM, jetzt 400 €. Meine Aufgabe war es eine Siebanalyse zu erstellen, es war recht langweilig und erheblich laut (durch das elektrische Schüttelsieb), aber ich hatte 35 Urlaubstage, also 7 Wochen.

Kaum habe ich die Schriftsprache neu erlernt, wofür ich 13 Monate brauchte, ich hatte weiter nichts zu tun als meine Erlebnisse und Gefühle in Form eines Buches »Die Unsprache« niederzuschreiben. Es waren übrigens jahrelange (dreieinhalb Jahre) mühevoller Arbeit, am Anfang schriftlich, dann mit Hilfe eines Computers. Mein Tischtenniskumpel, ein angenehmer Zeitgenosse, hat mir ermöglicht, dass ich mit seiner Hilfe einen gebrauchten Computer kaufen konnte. Anfangs habe ich für mich geschrieben, sozusagen als Rechtschreib- und Grammatikübung, dann habe ich überlegt, dass Geschriebene kann vielleicht für Andere wertvoll sein. Also habe ich wie verrückt geschrieben, viele freundliche Menschen halfen mir.

Zwischendurch habe ich zwei Jahre pausiert. Ich musste geduldig sein und hätte niemals erwartet aber ich habe doch gehofft, ein Buch herauszugeben. Bis es endlich, dank freundlicher Hilfe, das Buch gedruckt wurde. So hatte ich im Jahre 2003 mein Erstlingswerk in der Hand.

Die zahlreichen Reisetagebuchnotizen fügte ich zu einem Hefter zusammen, wieder mal halfen mir viele freundliche Menschen In vielen Verlagen hatte ich diesen Hefter gezeigt, die Verlage haben äußerst höfliche Form gewahrt – aber dankend abgelehnt. Ich musste also eine neue inhaltliche Verarbeitung erstellen.

Eine Studentin der Medizinischen Akademie (Schule für Logopädie) hat mir eine Karte für die Leipziger Buchmesse 2011 geschenkt, dadurch ließ sich der Draht zu einem verständnisvollen Verlag herstellen.

Noch ein kurzer Schwenker. Ich möchte noch einige Fehler aus dem 1. Teil korrigieren, zum Beispiel: Meine Fußreise nach Stendal war im Jahre 1999 nicht 1997. Eine Passage fehlt: Pfingstsonntag habe ich im erstaunlich sehenswerten Kopenhagen verbracht. Am Abend waren viele Dänen besoffen – noch viel erstaunlicher, die Alkoholpreise sind gepfeffert und ich nicht einmal die »Seejungfrau« gefunden.

Außerdem ist es erstaunlich, wie viele Rechtschreib- und Grammatikfehler sich eingeschlichen haben, ich musste noch mal korrigieren.

Zur Ausrüstung und Übernachtung hatte ich kein Wort verloren, ich bin einfach losgefahren ohne große Vorbereitungen. Ich wusste nur das Ziel ist Kopenhagen. Und ich hatte Glück gehabt, ich hatte immer in einer freien Natur und auf der »löcherlichen« Matte geschlafen. Nachts hatte ich mich mit einer gewöhnlichen Decke eingehüllt. Eine Tasche mit Wechselklamotten habe ich mitgenommen. Erst nach Frankreich habe ich mir die Seitentaschen für das Fahrrad angeschafft.

Da ich den Leser nicht durcheinanderbringen möchte, erlaube ich mir den Hinweis, dass nachfolgend die Vergangenheit in kursiv dargestellt wird.


Das zweite Fahrrad

Mit dem Fahrrad und Aphasie durch Europa. Band 2

Подняться наверх